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EINLEITUNG

Von Wladimir Fischer-Nebmaier und Anatol Schmied-Kowarzik

Die Kriegsregierungen bis zum Tod Franz Josephs (3) – Das Ende der Zivilgesellschaft (11): a) Schließung aller parlamentarischen Vertretungen (12), b) Wohlvorbereitete Grundrechtsdemontage: das Dienstbuch J-25a (12), c) Bürgerrechte Adieu! (13), d) Eingriffe in Regierungs- und Vollzugsgewalt (14), e) Rechtsprechung im Krieg (16), f) Zensur und Propaganda (19), g) Repressionen und Exzesse gegen Zivilisten (20). – Der Weg in den wirtschaftlichen Kriegsabsolutismus (23): a) Ungenügende wirtschaftliche Kriegsvorsorgen (24), b) Der Kampf um das Schuldenmoratorium (26), c) Gegen die wirtschaftlichen Folgen der Mobilisierung (28), d) Eingriffe in die Sozialgesetzgebung (31), e) Eingriffe in Unternehmen (34), f) Außenhandelspolitik (36), g) Das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (38), h) Maßnahmen zur Versorgung der Bevölkerung (39), i) Sicherung von Arbeitskräften für die Versorgung (41), j) Streit um die Regulierung der Getreideversorgung (42), k) Von der Approvisionierungskommission zum Amt für Volksernährung (45), l) Sicherung von Kohle, Erdöl und Metall (49). – Die Staatsfinanzen im Krieg (51): a) Der Kampf um Notenbankkredite 53), b) Der Kampf um die Kriegsanleihen (57), c) Der Weg zu höheren und neuen Steuern (60), d) Landesfinanzen, Münzgeld, Börse, Kriegsdarlehenskasse (63). – Menschliche Kriegsfolgen (67): a) Der Rotkreuz-Orden als Kriegsvorbereitung (67), b) Mobilisierung, Rekrutierungen und militärische Jugendausbildung (69), c) Regelung von Versorgungsansprüchen infolge Militärdienstleitung (70), d) Sondermaßnahmen gegen galizische Anwälte in Wien (72). – Die Staatsbediensteten im Krieg (73): a) Urlaube, Beförderungen und Auszeichnungen (74), b) Das Kriegskreuz für Zivilverdienste (75), c) Unterstützungen für Beamte (79), d) Sonstiges (80). – Der Dualismus im Krieg (80): a) „Cisleithanien“ wird Österreich (81), b) Verhandlungen zum Wirtschaftsausgleich 1917 (84). – Weitere Themen des Ministerrates (85): a) Themen mit Kriegsbezug (85), b) Fortsetzung von Themen aus der Zeit vor dem Krieg (86), c) Sonstiges (88). – Tätigkeit des Ministerrates mit erweitertem Wirkungskreis (89). – Zu den § 14-Verordnungen (91). – Zur Überlieferung der Protokolle (93).

ℹ️Karl Reichsgraf Stürgkh wurde vom österreichisch-ungarischen Ultimatum an Serbien am 23. Juli 1914 keineswegs überrascht, hatte er diesen Schritt doch zwei Wochen zuvor im gemeinsamen Ministerrat vom 7. Juli mitgetragen1. Bekanntlich war er ein vehementer Vertreter der Kriegspartei, und das auch nicht erst seit dem ℹ️Attentat von Sarajewo: ℹ️Bereits am 3. Oktober 1913 hatte er im gemeinsamen Ministerrat gesagt, „eine Auseinandersetzung mit Serbien und eine Demütigung desselben sei die Lebensbedingung der Monarchie. Wenn dieselbe heute nicht erfolgen könne, so müsse man sich doch gründlich darauf vorbereiten“2. Mit dem Attentat vom 28. Juni 1914 war für ihn der Zeitpunkt für diese Demütigung Serbiens gekommen. Im gemeinsamen Ministerrat vom 7. Juli wurde Serbien auf Wunsch des ungarischen Ministerpräsidenten István Graf Tisza v. Borosjenő und Szeged zwar nicht unmittelbar der Krieg erklärt, es sollte zunächst ein Ultimatum gestellt werden. Dabei wurde aber ausdrücklich festgehalten, „dass die an Serbien zu richtenden Forderungen sehr harte sein sollten, jedoch nicht solcher Art, dass man unsere Absicht, unannehmbare Forderungen zu stellen, klar erkennen könne. Sonst hätten wir eine unmögliche rechtliche Grundlage für eine Kriegserklärung“3. Diese Sitzung kann als Ausgangspunkt des eigentlichen Krieges gelten4. Anwesend waren die drei gemeinsamen Minister (Außen-, Kriegs- und gemeinsamer Finanzminister), Stürgkh und Tisza, zugezogen außerdem Generalstabschef Franz Conrad Freiherr v. Hötzendorf und Konteradmiral Karl Edler Kailer v. Kaltenfels als Stellvertreter des Marinekommandanten.

ℹ️Nicht anwesend waren die cisleithanischen Minister, sie wurden zwei Tage später von Stürgkh informiert5. Allerdings gab es eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Beschluss des gemeinsamen Ministerrates und der Darstellung Stürgkhs im cisleithanischen Ministerrat. Er sagte, man habe sich „dahin geeinigt, dass zunächst eine energische diplomatische Aktion in der Form zu unternehmen sei, dass dem Kabinett in Belgrad konkrete Forderungen gestellt werden, die einerseits gewisse Bürgschaften für ein korrektes Verhalten der serbischen Regierung in Zukunft bieten und anderseits der Monarchie vor den Augen Europas eine ausreichende Satisfaktion verschaffen. Von der Haltung Serbiens werde es dann abhängen, ob mit diesem friedlichen Schritte die Aktion zum Abschluss kommt“. Dies war ganz offensichtlich das Gegenteil dessen, was im gemeinsamen Ministerrat beschlossen worden war, nämlich Serbien keine Chance zum Einlenken zu lassen und so eine friedliche Lösung zu verhindern. Insofern war Stürgkhs Mitteilung an seine Kollegen Teil der Verschleierungstaktik, auf die sich der gemeinsame Ministerrat geeinigt hatte. Serbien sollte mit der Ablehnung des unannehmbaren Ultimatums für den Krieg verantwortlich gemacht werden. Um das sicherzustellen, ließ Stürgkh – zumindest für das Protokoll – sogar seine eigenen Minister im Unklaren. Um allgemein den Eindruck zu erwecken, dass nichts Ungewöhnliches im Gange sei, nahmen die Minister, aber auch hochrangige Militärs, nach dem gemeinsamen Ministerrat vom 7. bzw. nach dem cisleithanischen Ministerrat vom 9. Juli Urlaub6. Auch der Deutsche Kaiser Wilhelm II. war zu seiner üblichen Nordlandfahrt aufgebrochen7.

ℹ️Das Ultimatum wurde Serbien am 23. Juli überreicht. An diesem Tag trat auch der cisleithanische Ministerrat (zum ersten Mal seit dem 9. Juli) zusammen. Frühzeitig waren die Minister aus ihrem Urlaub geholt worden, mussten sie nun doch alle Vorbereitungen treffen, damit „im Bedarfsfall diese Verfügungen auf ein kurzes Aviso hin in Kraft treten können“8. Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg und ℹ️feuerte am 29. Juli kurz nach zwei Uhr von drei Monitorschiffen der Donauflotille aus die ersten Schüsse des Krieges Richtung Belgrad ab9.|| ||

Die Kriegsregierungen bis zum Tod Franz Josephs

Die Regierung Stürgkh

ℹ️Stürgkh war bereits seit 3. November 1911 Ministerpräsident in Cisleithanien, als Österreich-Ungarn in den Ersten Weltkrieg eintrat. Vor Ausbruch des Krieges hatte es schon einige Ministerwechsel gegeben. Stürgkh nicht mitgerechnet waren von zehn Ministern sechs von Anfang an dabei: Innenminister Karl Freiherr Heinold v. Udyński, Justizminister Viktor Ritter v. Hochenburger, Minister für Kultus und Unterricht Max Ritter Hussarek v. Heinlein, Eisenbahnminister Zdenko Forster Freiherr v. Philippsberg, Minister für öffentliche Arbeiten Ottokar Freiherr Trnka und Minister für Landesverteidigung Friedrich Freiherr v. Georgi; Stürgkh, Hochenburger und Georgi hatten schon der Vorgängerregierung angehört. Zwei traten ihr Amt am 21. September 1912 an, nämlich Handelsminister Rudolf Edler Schuster v. Bonnott und Ackerbauminister Franz Zenker. Ende 1913 wurde August Freiherr Engel v. Mainfelden Leiter des Finanzministeriums und Anfang 1914 Zdisław v. Morawski-Dzierżykraj für Galizien zuständiger Minister ohne Portefeuille. In zwei Fällen war der Tod des Amtsvorgängers Ursache der Neubesetzung: Am 1. Juli 1912 starb Ackerbauminister Albín Bráf. Daraufhin führte Heinold interimistisch auch das Ackerbauministerium, das drei Monate später definitiv mit Zenker besetzt wurde. Am 9. Oktober 1913 konnte Finanzminister Wenzel Graf v. Zaleski aus gesundheitlichen Gründen sein Amt nicht mehr ausüben und der damals als Sektionschef im Finanzministerium tätige Engel wurde mit der Leitung des Ministeriums betraut. Am 24. Dezember starb Zaleski, Engel behielt diese Stellung und wurde schließlich am 24. Oktober 1914 offiziell Finanzminister. Am 20. September 1912 wurde Handelsminister Mauritz Ritter v. Roeßler– bei gleichzeitiger ℹ️Verleihung des Freiherrenstandes – aus gesundheitlichen Gründen entlassen10, ℹ️während der Minister für Galizien Ladislaus v. Długosz wegen Korruptionsvorwürfen am 26. Dezember 1913 seines Amtes enthoben wurde, Morawski trat seine Nachfolge am 1. Jänner 1914 an11. Diese Ministerwechsel waren also nicht Ausdruck einer neuen Regierungspolitik.

ℹ️Altersmäßig waren bei Kriegsausbruch die meisten der Minister in der zweiten Hälfte ihrer 50er Jahre. Der älteste Minister (Georgi) war 62 Jahre alt, der jüngste (Trnka) war 33. Das macht den Arbeitsminister zur Ausnahmeerscheinung (der Nächstjüngere, Hussarek, war schon 49).


ℹ️Das Ministerium Stürgkh war ein auf den parlamentarischen Konflikt von deutschen und tschechischen Nationalisten zugeschnittenes Kabinett, das eigentlich Brücken bauen sollte: Stürgkh als ausgleichende Kraft, und fünf Minister, die entweder aus Böhmen stammten, dort in der Landesverwaltung Karriere gemacht hatten oder zumindest Proponenten einer Zusammenarbeit waren (Heinold, Hussarek, Zenker, Forster und Trnka). Einer davon war deklarierter Tscheche (Trnka), und auch Zenker votierte 1918 für die Tschechoslowakische Republik. Die anderen drei waren deutsch sozialisierte Böhmen. Nur ein Minister gehörte dem deutschnationalen Lager an (der Steirer Hochenburger)12. Die galizischen Interessen hatte Morawski zu vertreten und sicherte damit der Regierung die Zustimmung des Polenklubs. Zwei Minister waren nicht national deklariert (aber deutsch sozialisiert) und besonders für ihre wirtschaftsliberalen bzw. budgetkonservativen Standpunkte bekannt, Schuster und Engel. Als Landesverteidigungsminister war Friedrich Freiherr v. Georgi der Vertreter des Militärs und die besondere Vertrauensperson Franz Josephs. Das Kabinett Stürgkh bestand also vor allem aus Männern, die mit den böhmischen Materien und den ethnisch tschechischen und deutschen Abgeordneten Böhmens und Mährens vertraut waren. Es war konservativ im kulturellen, liberal im wirtschaftlichen Sinn. In ihrer Gesamtheit vertrat die Regierung keine bestimmte nationale Position, sie war habsburgisch-übernational.

Doch wie seine Vorgänger scheiterte auch Stürgkh an der tschechisch-nationalen Fundamentalopposition in Böhmen und der deutschnationalen Politik der Wahrung des Besitzstandes, die jegliche Kompromisse verhinderte. Als Reaktion auf die Konflikte hatte sich Stürgkh genötigt gesehen, den ℹ️böhmischen Landtag am 26. Juli 1913 aufzulösen und statt der ℹ️Landesregierung eine ℹ️Landesverwaltungskommission einzusetzen13. Am 16. März 1914 hatte er zudem den ℹ️Reichsrat vertagen lassen14. Seitdem regierte er mithilfe von kaiserlichen Verordnungen aufgrund von § 14 des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 141/1867, die es der Regierung ermöglichte, vom Parlament zu beschließende Gesetzesmaterien im Verordnungsweg zu erlassen15. So wurde die Brückenbauregierung wohl oder übel zur Totengräberin des Parlamentarismus.

ℹ️Nach Kriegsbeginn stand Stürgkh dem Ministerrat noch ungefähr zwei Jahre vor, bis er am 21. Oktober 1916 von Friedrich Adler, dem Sohn des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Victor Adler, erschossen wurde. Danach kam es zu einem zweimonatigen Intermezzo der Regierung Koerber II, das nicht länger währte als bis kurz nach dem Tod Franz Josephs am 21. November 1916. Sie wurde am 20. Dezember 1916 vom neuen Kaiser Karl entlassen16.


ℹ️Vom Hintergrund her waren die meisten der Minister Beamte17. Von den – Stürgkh eingerechnet – elf Ministern, mit denen Cisleithanien in den Ersten Weltkrieg zog, führten zehn einen Adelstitel, nur ℹ️Trnka nicht, der den Freiherrntitel erst 1916 erhielt. Bis auf Stürgkh gehörten die anderen Minister keiner alten adligen Familie an; in drei Fällen war bereits der Vater nobilitiert worden (Heinold, Hussarek und Schuster); die sechs anderen Minister erhielten den Titel während ihrer Beamtenlaufbahn oder als Minister.

Karl Reichsgraf Stürgkh stammte aus einer alten Adelsfamilie, die seit dem 16. Jahrhundert in der Steiermark beheimatet war. Stürgkh selbst hatte eine humanistische Ausbildung genossen und interessierte sich privat für die klassischen Sprachen. Er war Gutsbesitzer in der Steiermark und gehörte folgerichtig auch der Partei des verfassungstreuen Grundbesitzes an (so wie auch der spätere Außenminister Czernin). 1886 trat er als Beamter ins Kultus- und Unterrichtsministerium ein und wurde 1891 in den Reichsrat gewählt. Er gehörte als Kultusminister den kurzlebigen Kabinetten Bienerth und Gautsch an, bis er 1911 selbst das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. In dieser Zeit begann er, ein eigenes politisches Blatt, die ℹ️Wiener Montagspost, herauszugeben, um dort Regierungspositionen zu vertreten18.

ℹ️Stürgkh war Gegner des allgemeinen gleichen Männerwahlrechts und Vertreter des Kurienwahlrechts. Er kam deswegen mit Ministerpräsident Max Wladimir Freiherr v. Beck, der diese Wahlrechtsreform 1906 durch das Parlament brachte, in Gegensatz. Als Stürgkh daraufhin sein Mandat im Abgeordnetenhaus verlor, ernannte ihn der Kaiser zum Mitglied des Herrenhauses, wo er der Verfassungspartei beitrat19.

ℹ️Mit den „slawischen“ Parteien stand Stürgkh auf gutem Fuß20. Er gehörte mit Hussarek zu den „Brückenbauern“, die einen böhmischen Ausgleich21 wünschenswert fanden und deshalb mit dem Klubobmann der jungtschechischen Fraktion und Vizepräsident des Reichsrates22 Karel Kramář Kontakt hielten. Nach dessen Verhaftung am 21. Mai 1915 und während seines Hochverratsprozesses setzte sich Stürgkh, wie auch Heinold und Engel, zu Kramářs Gunsten ein. Stürgkh geriet deswegen mit Generalstabschef Conrad und Armeeoberkommandant Erzherzog Friedrich in Konflikt23.

ℹ️Die Konflikte der Regierung und ihrer Minister mit dem Militär kommen in den Ministerratsprotokollen nur punktuell zum Vorschein. Dass das Militär immer wieder in Kompetenzen der Regierung eingriff24, drang in der Regel nicht bis in den Ministerrat vor, nur die Ministerialakten zeugen von den zahlreichen Verhandlungen der Ministerien mit dem Armeeoberkommando. Hier widersetzten sich die Minister dann, wenn es galt, Eingriffe in ihre während des Krieges noch verbliebenen zivilstaatlichen Kompetenzen oder pauschale Aktionen gegen Tschechen abzuwehren25. Ansonsten gilt wohl, wie Manfried Rauchensteiner festhielt, dass „Ministerpräsident Graf Stürgkh in der Unterordnung der zivilen Verwaltung unter die militärischen Behörden und vor allem unter das Armeeoberkommando eine selbstverständliche Maßnahme“ sah26.

ℹ️Dass Stürgkh und seine Minister sich im Krieg immer wieder mit dem politischen Druck und den Begehrlichkeiten des Militärs auseinandersetzen mussten, hatte sich Stürgkh als Teil der Kriegspartei allerdings selbst zuzuschreiben. Außenpolitisch war Stürgkh bereits im Frieden alles andere als pro-slawisch. Er trat für die Zurückdrängung Russlands am Balkan und für die Verhinderung der südslawischen Kollaboration über die Reichsgrenzen hinaus ein. Im gemeinsamen Ministerrat vom 3. Oktober 1913 hatte er ja die Auseinandersetzung mit Serbien gefordert. Seine Haltung war der Öffentlichkeit unter anderem aus seinem publizistischen Sprachrohr, der ℹ️Wiener Montagspost ℹ️, bekannt, wo es im September 1913 hieß: „Die Monarchie hat gegenwärtig keinen Freund am Balkan […]. Das Slawentum erhebt heute gefahrdrohender denn je sein Haupt gegen das Germanentum.“27 Dieses Image als Kriegstreiber, seine bereits seit März 1914 verfolgte Politik, ohne Parlament zu regieren, die Repressionspolitik im Krieg28, die permanent geforderten und sich steigernden Opfer der Bevölkerung und die zunehmenden Schwierigkeiten in der Nahrungsmittelversorgung ließen seine Regierungsführung in verschiedenen Teilen der Bevölkerung zum roten Tuch werden. Je unbeliebter der Krieg und seine Begleiterscheinungen, desto unbeliebter wurde ℹ️Stürgkh. Das war es, was ihn zum Ziel für Friedrich Adlers propagandistisch angelegtes Mordattentat am 21. Oktober 1916 machte.

ℹ️Am längsten im Amt waren Georgi, Trnka und Hussarek. Der Minister für Landesverteidigung Friedrich Freiherr v. Georgi, ein persönlicher Freund von Generalstabschef Conrad, trat sein Amt 1907 an, kurz nachdem er zum Feldmarschallleutnant befördert worden war, und behielt es bis zum 23. Juni 1917. Die Minister für Landesverteidigung waren persönliche Vertrauenspersonen des Monarchen und überdauerten oft viele Regierungen. Eine lange Amtszeit war daher die Regel in diesem Portefeuille.

Ottokar Trnka, ab 1916 Freiherr Trnka29, begann als Arbeitsminister 1911 unter Stürgkh und blieb bis zum Ende der Regierung unter Heinrich Graf Clam-Martinic. Trnka war auf Stürgkhs Vorschlag geholt worden, offenbar um einen gemäßigten Tschechen in der Regierung zu haben. Außerdem waren die Arbeitsminister vorher ebenfalls Tschechen gewesen30. Seine fachlichen Qualifikationen bezog er unter anderem aus seiner Tätigkeit als Direktor der Staatseisenbahn-Gesellschaft ab 1909 und als Sektionschef im Eisenbahnministerium. Als Schnittstelle unter anderem von Kohleproduktion und Gütertransport stand sein Ministerium im Brennpunkt der Probleme im Krieg.

Max Ritter Hussarek v. Heinlein amtierte als Minister für Kultus und Unterricht vom 3. November 1911 bis zum 23. Juni 1917. Er war ein christlich-sozialer Politiker, katholisch ausgerichtet und wurde dem Kreis Erzherzog Franz Ferdinands zugerechnet. Wie Stürgkh war er ein „Verfechter der deutsch-slawischen Ausgleichsidee“31. Zum Ärger der Deutschnationalen schickte Stürgkh ihn 1912 zur Teilnahme an den tschechischen Palackýfeiern, als ein Teil der Strategie, gute Beziehungen zu Kramář und anderen führenden tschechischen Politikern zu pflegen und zu zeigen, dass man sich genügend für deren Sache einsetze (aber nicht mehr als das)32. Andererseits legte sich Hussarek beim Militär weniger quer als manche Kollegen. Beispielsweise kam er dem Armeeoberkommando bei den Schulreformplänen entgegen (um die Zersetzung der Moral hintanzuhalten, wie es hieß), nur gegen eine Verstaatlichung des Volksschulwesens berief er sich auf die Verfassung33.

Zdenko Forster Freiherr v. Philippsberg war Eisenbahnminister bereits in der Regierung unter Richard Freiherr v. Bienerth, dann bei Stürgkh und – nachdem er in der kurzlebigen zweiten Regierung Ernest v. Koerber nicht vertreten war – erneut unter Ministerpräsident Clam-Martinic. Der 1860 geborene Abgeordneten- und Gutsbesitzerssohn stammte wie Trnka aus Prag und hatte in Böhmen als Beamter der Prager Postdirektion, dann im Handelsministerium in Wien, und schließlich ab 1896 als Sektionschef im Eisenbahnministerium Karriere gemacht34. Er verfolgte vor allem Bahnprojekte in Böhmen, aber auch in Niederösterreich, und arbeitete zu diesem Zweck mit böhmischen Hochadeligen zusammen. Das Eisenbahnministerium war eines der wichtigsten Ministerien im Krieg. Nicht nur musste es bei der Mobilisierung und allen Kampagnen helfen, Truppen und Kriegsmaterial zu bewegen. Es war auch für die Versorgung der Zivilbevölkerung und der Kriegsindustrie mit Nahrung, Kohle und Rohstoffen von entscheidender Bedeutung. Hier, in Verbindung mit der Kohle, lag, wie sich herausstellen sollte, die verwundbarste Stelle der Monarchie im Krieg35.

Die meisten anderen Minister dienten bis zur Ernennung der Nachfolgeregierung Koerber II (31. Oktober 1916). Ackerbauminister Franz Zenker hatte ebenfalls ein kriegswichtiges Portefeuille, weil es die nun so wichtige Lebensmittelversorgung, sowohl der Bevölkerung als auch der Armee, umfasste. Er kann als tschechischer Gegenspieler Hochenburgers gelten, wenn er auch laut Alois Czedik Freiherr v. Bründlsberg und Eysenberg „seine czechische Nationalität nicht in den Vordergrund stellte“36. Gebürtig aus Katzow in Böhmen, wurde der studierte Jurist 1884 im Justizministerium leitender Beamter und 1908 Kanzleidirektor des Senats des Verwaltungsgerichtshofs37. Dort bemühte er sich, die Zahl der tschechischen Beamten zu erhöhen38, so wie umgekehrt Hochenburger bemüht war, den Anteil deutscher Richter in Böhmen zu erhöhen (s. u.). Kriegswichtig39 in Zenkers Bereich waren vor allem die Handhabung der Ernten und der Erntearbeiter, die Agrarsubventionen, die Ameliorisation (Bodenverbesserung) und die Suche nach Möglichkeiten, künstlichen Dünger herzustellen40.

Justizminister Viktor Ritter v. Hochenburger war das umstrittenste Mitglied des Kabinetts. Er wurde seit den Debatten um die Sprachenverordnungen Badenis 1897 den radikalen Deutschnationalen zugerechnet und war deshalb bei den Tschechen sehr unbeliebt, ebenso bei den Sozialdemokraten wegen seiner Rolle bei den Verurteilungen nach den Septemberunruhen 1911. ℹ️Aus diesem Grund gab es auf ihn auch ein Attentat, dem er und Stürgkh im Abgeordnetenhaus knapp entgingen41. ℹ️Hochenburger, der vor seinem Ministeramt als Rechtsanwalt und kurz als Abgeordneter tätig gewesen war, stammte wie Stürgkh aus der Steiermark, von diesem war er in die Regierung Bienerth I geholt worden42. Das Moratorium privatrechtlicher Geldforderungen gehörte in seinen Wirkungskreis als Justizminister, ebenso die Reform der Notverordnungen im Zivilrecht und Teile der Regelungen der Zivilversorgung43.

Der für Galizien zuständige Minister „ohne Portefeuille“ war in dieser Zeit Zdisław v. Morawski-Dzierżykraj, Globetrotter und nach seinem Studium in Krakau Jurist, der dem Landadel aus dem preußischen Posen entstammte. Er kam über den Umweg der Wiener Finanzprokuratur und des Pressedepartements des Ministerrates in die Regierung44. Sein „Nicht-Portefeuille“ war die Region, die als Grenzgebiet zu Russland besonders vom Krieg betroffen war, Wiederaufbau und Flüchtlingshilfe gehörten zu seinen dringenden Aufgaben.

ℹ️Die Konflikte mit dem Militär, die Probleme in der Nahrungsmittelversorgung und die zunehmenden finanziellen Probleme machten am 30. November 1915 eine Regierungsumbildung notwendig, der drei Minister zum Opfer fielen, Heinold, Engel und Schuster45, sie amtierten nur etwa eineinhalb Kriegsjahre und folgen hier als die letzten drei Minister in der Aufzählung.

Innenminister Karl Freiherr Heinold v. Udyński wurde als Sohn eines Feldmarschallleutnants in Udine geboren und absolvierte ein Rechtsstudium in Wien und Graz. Karriere machte er in Mähren, wurde Landespräsident von Schlesien und dann Statthalter von Mähren. Deswegen war er mit deutsch-tschechischen Fragen wohlvertraut, er nahm an den deutsch-tschechischen Ausgleichsverhandlungen für Böhmen 1912/13 teil. Bei der Einrichtung der böhmischen Landesverwaltungskommission 1913 machte er sich bei deutschen und tschechischen Böhmen gleichermaßen unbeliebt46. Er war ein persönlicher Freund des Ministerpräsidenten47.

Der Innenministerposten war sein erster in der Hauptstadt Wien. Als Innenminister hatte er, „da durch die Ausnahmsverfügungen die verfassungsmäßigen Einrichtungen suspendiert wurden, […] die schier unerfüllbare Aufgabe […], Übergriffe der Militärverwaltung auf dem ganzen Gebiete der inneren Einrichtungen abzuwehren“48. Allerdings hatte er schon im März 1914 die Vertagung des Reichsrates mitgetragen, um nun über kaiserliche Verordnungen, die Notverordnungen, zu regieren49. Wenn sich Heinold dem Armeeoberkommando entgegenstellte, tat er das oft, um Generalverdächtigungen gegen Tschechen entgegenzutreten50. Allerdings war er es, der seinen Ministerkollegen erklärte, dass es „in solchen Fällen, wo eine konkrete strafbare Handlung nicht nachgewiesen werden und somit eine Verurteilung nicht Platz greifen könne“, klar sei, „dass die Regierung […] über das Gesetz hinausgehen müsse“, wodurch Verhaftungen ohne Beweis ermöglicht werden sollten. Seinen Vorschlag, diese Aktionen ohne legale Basis zu dulden, nahm der Ministerrat stillschweigen an, indem befunden wurde, „dass von der Schaffung einer gesetzlichen Grundlage in dieser Richtung abzusehen wäre“51. Im Gespräch mit Josef Redlich kritisierte er Todesurteile der Divisionsgerichte52 und das gesamte Militär wegen dessen Approvisionierungspolitik53. Sein Rücktritt erfolgte am 30. November 1915.

Die Karriere von August Freiherr Engel v. Mainfelden verlief gänzlich in Wien. Als Finanzbeamter stieg er im Finanzministerium bis zum Sektionschef auf, bis er nach der Erkrankung von Finanzminister Zaleski zunächst provisorisch, nach dessen Tod dauerhaft die Leitung des Ministeriums übernahm und schließlich am 24. Oktober 1914 definitiv Finanzminister wurde54. Engel galt als strenger Wächter über die Finanzen, wofür er in seinem Ministerium eine eigene Abteilung einführte55. Seine Politikgrundsätze waren wirtschaftsliberal. Deshalb hatte er mit dem Agieren in einer Kriegswirtschaft große Probleme. Zunächst lehnte er die Kriegsfinanzierung durch Kriegsanleihen ab. Erst im November 1914, nachdem Mitglieder der Staatsschulden-Kontrollkommission, der auch Czedik angehörte, am 14. Oktober 1914 bei Stürgkh interveniert und mit Verweigerung der Gegenzeichnung von Finanzmaßnahmen sowie mit Rücktritt gedroht hatten, stimmte Engel der ersten Kriegsanleihe zu56. Außerdem versuchte Engel, Steuererhöhungen zu vermeiden57. Er nahm gleichzeitig mit Heinold seinen Hut, ebenso wie sein Kollege aus dem Handelsressort.

Handelsminister Rudolf Edler Schuster v. Bonnott war am 21. September 1912 vom Posten des Postsparkassengouverneurs in den Ministerrat gewechselt, als Nachfolger des verstorbenen Roeßler. Noch vehementer als Engel vertrat er seine ausgeprägten wirtschaftsliberalen Ansichten. Redlich, einer seiner Kritiker, notierte einen für ihn typischen Ausspruch: „Österreich ist kein sozialer Staat, die Approvisionierung gehört in den Pflichtkreis der autonomen Verwaltung“58. Gerade in der Frage von Preis- und Handelsregulierungen – d. h. bei Eingriffen in den freien Markt – zeigte er sich als Anhänger der Österreichischen Schule der Volkswirtschaft und leistete lange Widerstand, musste aber im November 1914 dem Druck der Verhältnisse doch nachgeben. Der zunehmende Widerspruch zwischen der Wirtschaftspolitik, die wegen schwindender Ressourcen immer stärker in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen musste, und seinen wirtschaftspolitischen Überzeugungen scheinen ein entscheidender Grund für seinen zeitgleichen Rücktritt mit den anderen Ministern gewesen zu sein. Sein Abschied wurde ihm mit dem Freiherrnstand versüßt.

ℹ️Die Unzufriedenheit mit der Regierung Stürgkh ging über Lagergrenzen hinweg. Am 11. Oktober 1914 notierte der spätere k. k. Finanzminister Joseph Redlich in sein Tagebuch: „Stürgkh, sagt [Koerber], steht ganz unter Kramářs Einfluss, der von Thun gehalten wird. Die ganze tschechische Intelligenz ist slawophil! Und noch immer will man oben nicht einsehen, dass nur auf Deutsche und Magyaren ein Verlass ist!59Heinold, Engel und Schuster traten nach verschiedenen Initiativen von Militär, Herrenhausmitgliedern und der Staatsschulden-Kontrollkommission gegen die Regierung Stürgkh zurück. Erfolgreich scheint davon letztlich die Initiative der Herrenhausmitglieder gewesen zu sein. Czedik schilderte ausführlich die Intervention von Maximilian Egon Fürst Fürstenberg (Verfassungspartei), Graf Agenor Gołuchowski (Gruppe der Rechten) und ihm selbst (Mittelpartei)60 bei Stürgkh, in der sie ihm praktisch ihr Misstrauen aussprachen. Die Erklärung enthielt die Punkte Nahrungsmittelversorgung und Teuerung, wirtschaftliches Verhältnis zum Deutschen Reich, Neuordnung der innerstaatlichen, nationalen und parlamentarischen Verhältnisse, eine nicht zufriedenstellende Verwaltung und das Verhältnis zu Ungarn61. Diese Intervention war laut Czedik ein Anlass gewesen, der Franz Joseph zu der Regierungsumbildung veranlasste, wobei zwei Minister wegen dieser Kritikpunkte der Herrenhausmitglieder gehen mussten, vermutlich Engel und Schuster62. Der Innenminister war hingegen zuvor von militärischer Seite angefeindet worden. Heinold kehrte in seine Heimat Mähren als Statthalter zurück, wo er mit Sympathien empfangen worden sein soll63. Schuster übernahm wieder die Postsparkasse und Engel zog sich ins Privatleben zurück; gleichzeitig mit der Entlassung wurde er zum Mitglied des Herrenhauses ernannt, wo er sich der Mittelpartei anschloss. An die Stellen der drei Minister traten Hohenlohe, Leth und Spitzmüller.

Der 51-jährige Konrad Prinz zu Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst, der das Innenressort übernahm, war ein Hochadeliger (und Schwager Fürstenbergs) mit schillernder Karriere, die in der Prager Statthalterei ihren Anfang genommen hatte. Er galt als arbeiterfreundlich, besonders nach der Schlichtung eines Bergarbeiterstreiks in Böhmen, und hatte Erfahrungen mit komplexen ethnonationalen Konflikten. Als Statthalter von Triest war er wegen seiner Politik Anfeindungen italienischer Nationalisten ausgesetzt. Er wurde abberufen, weil er eine Belastung für das Verhältnis Österreich-Ungarns zu Italien geworden war. Hohenlohe hatte wie Hussarek zum engeren Umfeld Franz Ferdinands gehört, 1906 war er übergangsweise Ministerpräsident gewesen64 und kehrte danach erneut als Statthalter in das Küstenland zurück, wo er bis 1915 blieb. Hohenlohe war auch 1915 schon als Nachfolger Stürgkhs genannt worden (von Generalstabschef Conrad, auf Anraten von FML. Ferdinand Ritter v. Marterer, damals stellvertretender Chef der Militärkanzlei Sr. Majestät). Er galt als durchsetzungsfähig. Dies war vermutlich der Grund, warum er Heinold nachfolgte, der ja vom Militär für die (angeblich) um sich greifenden staatsgefährdenden Umtriebe der nichtdeutschen Nationalitäten verantwortlich gemacht wurde. Diese hatte zuvor Armeekommandant Erzherzog Friedrich beklagt65. Anscheinend im Sinne jenes Punktes der Forderungen der Parlamentarier an Stürgkh, der die Neuordnung der innerstaatlichen, nationalen und parlamentarischen Verhältnisse betraf, entwickelte Hohenlohe als Innenminister Pläne zu einer grundlegenden staatsrechtlichen Umgestaltung des Reiches mit vier konstituierenden Staaten66. Er war aber nicht einmal ein Jahr im Amt, zu wenig, um diesen wenig realistischen Plan in Angriff zu nehmen. Wegen seiner angegriffenen Gesundheit war Hohenlohe von 28. August bis 23. Oktober 1916 beurlaubt.

So wie Czedik und die anderen Herrenhausmitglieder es gefordert hatten, trat Hohenlohe gegenüber seinen Kollegen auch für eine Reaktivierung des Parlaments ein. Pläne dazu arbeitete Erasmus Freiherr v. Handel aus, der Hohenlohe bereits während dessen zweimonatiger Abwesenheit vertreten hatte. Handel sollte das Innenressort dann unter Ministerpräsident Clam-Martinic erneut und jetzt definitiv innehaben67.

Auch der 54-jährige neue Finanzminister Karl Ritter v. Leth wirkte in diese Richtung68. Wie Ex-Handelsminister Schuster war der Wiener Leth zuvor Gouverneur der Postsparkasse. In dieser Eigenschaft war er maßgeblich in die ersten beiden Kriegsanleihen eingebunden. Anders als Engel schreckte er nicht vor neuen oder höheren Steuern zurück, den Plan einer Vermögensabgabe musste er aber zugunsten der Kriegsgewinnsteuer 1916 zurückstellen69.

ℹ️Der neue Handelsminister Alexander Spitzmüller, der 1917 den Titel Freiherr v. Harmersbach erhielt, setzte sich laut Czedik entgegen eigenen Ankündigungen nicht für das Parlament ein, was Spitzmüller in seiner 1955 erschienenen Autobiografie anders darstellte70. Eine besonders wichtige Materie in seiner Amtszeit waren die letzten Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn, an denen auch Leth beteiligt war71. Spitzmüller trat mit dem Ende des Kabinetts Stürgkh zurück, wurde unter Clam-Martinic Finanzminister und in den letzten beiden Kriegsmonaten war er schließlich noch der letzte gemeinsame Finanzminister.

ℹ️Die Regierung Koerber

Die dem Ministerium Stürgkh nachfolgende Regierung unter Ernest v. Koerber blieb etwa eineinhalb Monate im Amt. Sie war nicht auf das deutsch-tschechische, sondern auf das cisleithanisch-ungarische Verhältnis hin zusammengesetzt, bestand also aus Experten für Fragen des Dualismus, da eine ihrer wichtigsten Aufgaben die Verhandlung der 1917 anstehenden Verlängerung des Wirtschaftsausgleichs war72. Leider sind die Ministerratsprotokolle dieser Regierung fast vollständig verbrannt. Der neue Kaiser Karl hatte jedoch grundsätzliche Differenzen mit Koerber, insbesondere was die Wiedereinberufung des Reichsrates anbetraf, und entließ den Ministerpräsidenten, weil er, wie Karl es selbst formulierte, „ein Wurschtler des alten Systems war“73. Am 13. Dezember 1916 bot Koerber die Demission der Gesamtregierung an, die Karl am selben Tag annahm. Spitzmüller blieb interimistisch mit dem Vorsitz im Ministerrat betraut, bis sieben Tage später, am 20. Dezember 1916, die neue Regierung unter dem dritten Kriegskanzler Heinrich Graf Clam-Martinic angelobt wurde74.

Das Ende der Zivilgesellschaft

Als Stürgkh schließlich am 23. Juli 1914 dem Ministerrat die Nachricht vom erfolgten 48-Stunden-Ultimatum an Serbien und von der Möglichkeit einer Mobilisierung mitteilte, waren die ersten Maßnahmen, die in die Wege geleitet wurden, Sicherheitsmaßnahmen. Diese richteten sich nicht nur gegen Feindstaaten, sondern insbesondere auch gegen die eigene Bevölkerung und parlamentarische Vertretungen. Die Zivilgesellschaft, wie sie sich in Cisleithanien in den vorausgegangenen Jahrzehnten durchaus herausgebildet hatte75, wurde Schritt für Schritt demontiert und wenig sollte davon übrigbleiben. Die größten Schritte dazu setzten die Regierungen gleich bei Kriegsbeginn. Hierbei war der 23. Juli nicht nur das Datum der Ultimatumsübergabe, sondern auch das Datum, an dem eine lange Reihe von vorsorglichen Maßnahmen beraten wurde, welche im Folgenden immer wieder eine zentrale Rolle spielen werden.

ℹ️Schließung aller parlamentarischen Vertretungen

Die allererste innenpolitische Maßnahme am 23. Juli 1914 war die Schließung des Reichsrates, der seit 16. März ja schon vertagt war76. Als Begründung nannte Stürgkh, dass man die Immunität der Abgeordneten beenden wollte, um nicht bei der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, die Abgeordneten drückten sich vor dem Militärdienst. Was er nicht sagte, war, dass so auch die politische Verfolgung Abgeordneter möglich wurde, wie Stürgkh im Falle von Karel Kramář aus nächster Nähe erleben sollte. Der Unterschied zwischen Vertagung und Schließung war bedeutend: Als der Reichsrat nur vertagt war, arbeiteten viele seiner Ausschüsse noch. Jetzt wurde auch der permanente Sozialversicherungsausschuss des Reichsrates auf Vorschlag Heinolds geschlossen. Mit anderen Worten: Die Regierungsarbeit konnte nun noch weniger vom Parlament kontrolliert werden als zuvor.

Nur eine parlamentarische Institution blieb bestehen: die Staatsschulden-Kontrollkommission, die auch in parlamentsloser Zeit tätig blieb77. Eine weitere Sonderstellung hatten die Herrenhausmitglieder, denn sie behielten ihre Position78. Genau aus diesen beiden Gremien – Staatsschulden-Kontrollkommission und Herrenhaus – sollte sich bald Widerstand gegen die Regierung regen, welcher zur Regierungsumbildung 1915 wesentlich beitrug79.

ℹ️Die vertagten Landtage von Niederösterreich, Oberösterreich, Steiermark, Krain, Görz und Gradiska, Mähren, Schlesien und Dalmatien wurden geschlossen. ℹ️Der Böhmische Landtag war bereits 1913 aufgelöst worden, 1914 ebenso der Tiroler, der Istrische und der Galizische Landtag80. ℹ️Die anderen Gebietskörperschaften, jene von Salzburg, Kärnten, Vorarlberg, der Bukowina und von Triest, blieben vertagt.

ℹ️Wohlvorbereitete Grundrechtsdemontage: das Dienstbuch J-25a

Als Nächstes auf der Agenda stand am 23. Juli, vorsorglich für den Fall der Mobilisierung massive Eingriffe in die geltende Verfassung vorzubereiten81, nämlich die Aussetzung wichtiger Staatsbürgerrechte, Eingriffe in die Regierungs- und Vollzugsgewalt und in die richterliche Gewalt. Betroffen waren drei zentrale Gesetze der Staatsgrundgesetze vom 21. Dezember 186782. Die Ah. Entschließung dazu wurde am selben Tag beantragt und vom Kaiser am 24. Juli „bedingungsweise“ erteilt, um sie sofort mit der Mobilisierung in Kraft zu setzen83. Einen Tag später, am 25. Juli, nachdem die serbische Antwort auf das Ultimatum vom Gesandten in Belgrad, FML. Wladimir Giesl Freiherr v. Gieslingen, als ungenügend erklärt worden war, wurden die Maßnahmen im Reichsgesetzblatt veröffentlicht und traten dadurch in Kraft.

Die beantragten Eingriffe in die Verfassung waren lange in den Schubladen gelegen. Sie gehörten zu einem Maßnahmenbündel, das auf den als Schweinekrieg bekannt gewordenen Zollkrieg mit Serbien im Sommer 1906 zurückging und 1912 nach dem Ersten Balkankrieg erneuert worden war84. Das Maßnahmenbündel war seit 1913 in Form eines streng geheimen „Orientierungsbehelfs über Ausnahmsverfügungen für den Kriegsfall, Dienstbuch J-25a“ in allen cisleithanischen Amtsstuben bereitgelegen. Es ist in Etappen entstanden (Annexionskrise, Erster und Zweiter Balkankrieg). Die Verfassungseingriffe waren ein zentraler Teil dieses Orientierungsbehelfs85. Außerdem gehörten zu den am 23. Juli beschlossenen Maßnahmen zwei Eingriffe in den Zolltarifsvertrag von 190786 bzw. die Aktivierung der Bestimmung unter dessen Artikel VII. Hierbei wurden die Ein- und Ausfuhr bestimmter kriegsrelevanter Artikel beschränkt. Zudem wurden Waffen-, Sprengstoff- und Munitionsbesitz untersagt87.

Es handelte sich konkret um fünfzehn schon vorbereitete und zwei neue Verordnungen88, und zwar sowohl kaiserliche Verordnungen, also gesetzliche Regelungen, als auch ministerielle Verordnungen.

ℹ️Bürgerrechte Adieu!

Die meisten der am 23. Juli beratenen Maßnahmen aus dem Orientierungsbehelf richteten sich gegen die allgemeinen Bürgerrechte89, hier die Art. 4, 8 bis 10 und 12 bis 1390. Die Bürgerrechte in diesen Artikeln hatten schon von Anbeginn eine Sollbruchstelle, denn sie konnten gemäß Art. 20 des Staatsgrundgesetzes eingeschränkt oder aufgehoben werden, was durch das Gesetz v. 4. 5. 1869 geregelt wurde und das am 25. Juli 1914 in Wirksamkeit gesetzt wurde91.

Im Einzelnen suspendiert oder eingeschränkt wurden:

Art. 8, Schutz der Staatsbürger gegen staatliche Übergriffe: willkürliche Verhaftung wurde möglich, die 48-Stunden-Frist für Haft ohne Anklage wurde auf acht Tage erweitert.

Art. 9, das Hausrecht: Durchsuchungen waren nun auch ohne richterlichen Befehl möglich.

Art. 10, das Briefgeheimnis: Beschlagnahme und Eröffnung von Briefen wurde ohne richterlichen Befehl möglich92.

Art. 12, das Vereins- und Versammlungsrecht: zur Vereinsbildung war nun eine behördliche Zustimmung statt zuvor das Ausbleiben einer Nichtuntersagung93 notwendig; Vereinstreffen wurden an Bedingungen geknüpft; Versammlungen nach dem Versammlungsrecht von 186794 waren generell verboten95.

Art. 13, Meinungs- und Pressfreiheit, Einführung einer Vorzensur96.

Art. 4, die persönliche Freizügigkeit: sie wurde durch Änderungen im Passwesen beschränkt97.

Am 31. Juli, mit Generalmobilmachung, wurden diese Einschränkungen zusätzlich erweitert98.

ℹ️Eingriffe in Regierungs- und Vollzugsgewalt

Das Staatsgrundgesetz über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt, RGBl. Nr. 145/1867, bestimmte in Artikel 11, dass die Staatsbehörden innerhalb ihres Wirkungskreises befugt waren, aufgrund der Gesetze Verordnungen zu erlassen und Befehle zu erteilen. Doch schon in diesem Artikel war eine weitere Sollbruchstelle enthalten, nämlich, dass „die Befugnisse der bewaffneten Macht zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit, Ruhe und Ordnung dauernd organisirt oder in besonderen Fällen aufgeboten wird“. Durch eine kaiserliche Verordnung wurde am 25. Juli 1914 in Dalmatien die Regierungsgewalt auf den Höchstkommandierenden der Balkanstreitkräfte übertragen99. Hier konnte die Militärführung die Befugnisse der politischen Behörden in Form von Verordnungen und Befehlen und die Aufsicht über die Ein- und Ausreisekontrolle übernehmen100. Außerdem wurden die Gemeinden durch RGBl. Nr. 154/1914 zur Mitwirkung an der Landesverteidigung und Bestrafung von Verletzungen der Amtspflicht verpflichtet.

Die beschlossenen Verordnungen waren nur auf den sogenannten Kriegsfall B (Balkan) abgestimmt und enthielten deshalb einige im Orientierungsbehelf vorgesehene Verordnungen nicht bzw. noch nicht. Auch galten einige Verordnungen nur für die im Kriegsfall B betroffenen Gebiete101. Die Übertragung von Befugnissen der politischen Verwaltung an den Höchstkommandierenden der zu Kriegsoperationen bestimmten Teile der bewaffneten Macht galt deshalb zunächst nur für Bosnien, Herzegowina und Dalmatien. Das sollte sich nach wenigen Tagen ändern. Am 30. Juli, nach Bekanntwerden der russischen und damit der Entscheidung zur eigenen Generalmobilmachung, die am 31. erfolgte, wurden alle Maßnahmen, die nur Serbien bzw. an Serbien grenzende Gebiete betrafen, auch auf Russland und die angrenzenden eigenen Territorien ausgeweitet. Allerdings erwog Heinold, den Namen Russlands vor dem Kriegszustand nicht zu erwähnen und einige Verordnungen nicht auf das Küstenland auszudehnen, vermutlich, um Italien nicht zu beunruhigen102.

Die Befugnisse der politischen Verwaltung wurden mit der Generalmobilmachung am 31. Juli 1914 auch in Galizien, der Bukowina, Schlesien und Teilen Mährens auf das Militär übertragen103, sowie neun Monate später, nach der italienischen Kriegserklärung, auch im Küstenland, Krain, Kärnten sowie Tirol und Vorarlberg104. Im April 1915 wurde auch im Gebiet von Festungen die Unterstellung der öffentlichen Verwaltung unter den Festungskommissär beschlossen105. Der Großteil der Monarchie stand somit unter Militärverwaltung.

ℹ️Die Gebiete, in denen das Militär die politische Verwaltung übernommen hatte, waren das sogenannte „Gebiet der Armee im Felde“106. Dazu gehörten mit Mai 1915 alle cisleithanischen Gebiete bis auf Nieder- und Oberösterreich, Salzburg, die Steiermark, Böhmen und bestimmte Teile Mährens107. Dies galt bis Jänner 1917108. Die Definition des „Gebietes der Armee im Felde“ war auch für andere Belange wichtig. Im Bereich der Rechtsprechung konnte sie über Leben und Tod entscheiden.

ℹ️Rechtsprechung im Krieg

Durch die am 23. Juli 1914 vorsorglich in die Wege geleiteten Einschränkungen wurde auch in die richterliche Gewalt eingegriffen, die durch das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 144/1867, geregelt war. Derartige Eingriffe allerdings waren dort bereits in Abs. XX vorgesehen: die Ausweitung der Militärgerichtsbarkeit und der Militärverwaltung auf Zivilpersonen – eine weitere Sollbruchstelle.

Die Militärgerichtsbarkeit hielt also auch in der Zivilrechtspflege Einzug. Zivilisten, die beschuldigt wurden, gegen die Kriegsmacht gehandelt zu haben, kamen vor ein Militärgericht109, ebenso für bestimmte andere Delikte (Hochverrat, Majestätsbeleidigung, Aufruhr, Sabotage, Mord, Drohungen oder Angriffe auf Amtspersonen etc.)110. Dabei musste das Militärgericht aber das allgemeine Strafrecht anwenden. In ganz Cisleithanien galt in diesen Fällen also die Militär- statt der Zivilstrafprozessordnung, aber weiterhin das Zivilstrafrecht. ℹ️Im cisleithanischen Hinterland fielen während des Krieges 162.200 Strafsachen an. Bei den Wiener Militärgerichten entfielen an Verbrechen und Vergehen mehr als die Hälfte auf Diebstahl und Plünderung, etwas über 20 % auf militärische Tatbestände (also Meuterei, Befehlsverweigerung, Feigheit, Desertion etc.). Diese Wiener Zahlen unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und Militärpersonen111. Zahlen aus Böhmen, Mähren und Schlesien zeigen insgesamt einen Rückgang der Fälle von 1914 bis 1916 (wobei Verhaftungen 1914 leicht zunahmen) und danach einen starken Anstieg bis 1918. 1918 gab es fast doppelt so viele Fälle wie 1913, was vor allem auf Diebstahlsfälle zurückzuführen ist – sie hatten sich bis 1918 mehr als vervierfacht. Die gerichtlich bestätigte Beschlagnahme von Druckschriften nahm 1914 deutlich zu, um dann stark abzusinken. Prozesse wegen Hochverrats sowie Todesstrafen nahmen nicht signifikant zu. Die Zahl der Verurteilungen wegen Aufwiegelung und Aufreizung stieg aber nach einem Rückgang 1914 kontinuierlich an, mit einem Höhepunkt 1917112.

Tabelle Nr. 1: Innere und Justizverwaltung im Krieg (bis 1917)

Verwaltungsbereich besondere Fälle Zivilisten unterliegen Teilmobilisierung 28. 7. 1914 Generalmobilmachung 31. 7. 1914 Kriegseintritt Italiens 23. 5. 1915
wirksam in eingef. mit MR. v. wirksam in eingeführt mit MR. v. wirksam in eingef. mit MR. v.
Gebiet der Armee im Felde politische Verwaltung Militärverwaltung Dalmatien RGBl. Nr. 153/1914 23. 7. 1914/IV Teile Mährens, Schlesien, Galizien, Bukowina, Dalmatien RGBl. Nr. 186/1914 30. 7. 1914/III

Kärnten, Krain, Küstenland, Tirol, Vorarlberg, Teile Mährens, Schlesien, Galizien, Bukowina, Dalmatien

RGBl. Nr. 133/1915 19. 5. 1915/II
Justizverwaltung MilStPO MilStG AVA., JM., allg. 27061/1914 nicht besprochen AVA., JM., allg. 17363/1915 nicht besprochen
deklarierte Gebiete MilStPO, Standrecht MilStG
Frontbereich MilStPO, Feldverfahren MilStG
unmittelbarer Frontbereich MilStPO, verkürztes Feldverfahren MilStG
übrige Gebiete politische Verwaltung Zivilverwaltung Nieder-, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain, Küstenland, Tirol, Vorarlberg, Böhmen, Mähren, Schlesien, Galizien, Bukowina Nieder-, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain, Küstenland, Tirol, Vorarlberg, Böhmen, Teile Mährens Nieder- und Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Böhmen, Teile Mährens
Justizverwaltung StPO StG
Strafbare Handlungen wider die Kriegsmacht MilStPO MilStG RGBl. Nr. 164/1914 23. 7. 1914/IV
Hochverrat, Majestäts-beleidigung, Mord, Angriffe auf Amts-personen etc. MilStPO StG mobilisierte Gebiete, also ab 31. 7. 1914 das gesamte Hinterland RGBl. Nr. 156/1914 23. 7. 1914/IV gesamtes Hinterland gesamtes Hinterland

ℹ️Anders als im Hinterland war ab 3. August die Situation im Gebiet der Armee im Felde (siehe oben). Ab diesem Zeitpunkt galt dort auch für Zivilisten das Militärstrafrecht, das gegenüber dem Zivilstrafrecht bei gleichen Delikten erhöhte Strafen, oft auch die Todesstrafe, vorsah. Zusätzlich ordnete hier an diesem Tag das Armeeoberkommando das Standrecht an, wie das Ministerratspräsidium den betroffenen Statthaltereien bzw. Landesregierungen mitteilte113. Allerdings behielten die Zivilgerichte die Prozessführung. Das Standrecht war bereits am 25. Juli 1914 verschärft worden114.

ℹ️Die Quantifizierung der Prozesse nach dem Militärstrafrecht ist wegen der Aktenlage schwierig. Einen Einblick gibt Oswald Übereggers Arbeit zu Tirol mit 5809 analysierten Verfahren. 15,3 % der Verfahren richteten sich gegen Zivilisten, davon 30 % Frauen. Es ging also meist gegen Militärpersonen. Nur 31,6 % der Verfahren endeten mit einem Urteil, nicht zuletzt weil die Angeklagten oft flüchtig waren. 65 % der Verurteilten erhielten niedere Arrest- oder Kerkerstrafen, 2,7 % die Todesstrafe, meist in Standrechtsprozessen, wobei nur fünf der 43 Urteile vollzogen wurden, ähnlich wie bei den anderen verurteilten Militärpersonen, die mehrheitlich wieder in den Dienst geschickt wurden115.

ℹ️Ab 24. August 1914 wurde das Feldverfahren nicht nur bei mobilen, sondern auch bei allen stabilen Kommandos im Bereich der Armee im Felde (Krakau, Przemyśl, Lemberg, Dalmatien) eingeführt und schrittweise ausgeweitet. Im Unterschied zum normalen Standrecht konnten im Feldverfahren auch Offiziere ohne juristische Ausbildung bei Gericht zum Einsatz kommen. Gegen ein Todesurteil gab es kaum Berufungsmöglichkeiten116. Am extremsten war es im unmittelbaren Frontbereich, dort urteilten Feldgerichte, teilweise im verkürzten Feldverfahren, d. h. gegen Todesurteile gab es keine Berufungsmöglichkeit, sie konnten sofort vollstreckt werden; die Möglichkeit der Begnadigung stand nur dem anwesenden Kommandanten zu117. Während des Krieges wurden in der Gesamtarmee 754 Militärpersonen im Feldverfahren verurteilt, alle zum Tode, hingerichtet wurden 737 Militärpersonen118.

Am 30. Oktober ging es weiter mit der Ausweitung der Militärjustiz für Zivilisten: Wenn in ihren Bezirken die Gerichte nicht amtieren konnten, vornehmlich wegen kriegerischer Handlungen, wurden im Gebiet der Armee Zivilstrafprozesse auch von den Militärgerichten – stabilen und Standgerichten – verhandelt119.

ℹ️Es gab sogar Versuche seitens des Militärs, noch strengere Maßnahmen durchzusetzen, allerdings solche, die nicht den Weg in die Tagesordnung des Ministerrates fanden. So verlangte das Armeeoberkommando 1915, dass Zivilisten auch nach dem Krieg unter der Militärstrafprozessordnung bleiben sollten120. Stürgkh sah 1915, anders als das Armeeoberkommando, nicht die Notwendigkeit, in Böhmen die Repressionsmaßnahmen noch weiter zu verschärfen121, und stellte sich insbesondere 1916 gegen die systematische Verletzung der Militärstrafprozessordnung, die eigenmächtige Ausweitung des Feldverfahrens122. Diese Praxis wurde aber erst Anfang Juli 1917, nach Stürgkhs Tod, unter Kaiser Karl beendet123.

Am 22. August 1916 schrieb Stürgkh dem Armeeoberkommando, dass man selbstverständlich die „radikale Ausmerzung der staatsfeindlichen Erscheinungen“ betreibe, aber, da es sich „vielfach um Maßnahmen sehr weittragender Bedeutung“ handle, deren Prüfung nun einmal Zeit brauche, weshalb sich die Regierung „vorbehalte, die ihr verfassungsmässig zustehenden Verfügungen innerhalb ihres Wirkungskreises in dem ihr geeignet erscheinenden Zeitpunkte zu treffen“. Stürgkh verwahrte sich also gegen Drängelei bei politischer Verfolgung, betrieb diese aber durchaus, nur im eigenen Tempo und mit eigenen Prioritäten124.

Im Ministerrat besprochen wurden neue und modifizierte Maßnahmen. Erhalten ist ein Plan, Verräter, also Staatsbürger, die zum Feind übergelaufen waren, in Haftung zu nehmen. Neu war eine Kampagne gegen Verräter, die der Ministerrat mit Gesetzen bestritt, und zwar Ende Mai und nochmals im Dezember 1915, da speziell gegen Anwälte, die für ihr Verlassen des Staates mit dem Verlust öffentlicher „Befugnisse, Stellungen und Rechte“ bestraft wurden, und 1916 wurden Strafen für das Verlassen des Staates überhaupt ausgeweitet125.

Grundsätzlich waren aber die heiklen Fragen der Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit, die im Grunde immer wieder Rechtsbrüche bedeuteten, seit dem Ministerrat vom 29. August 1914 nicht mehr Thema im Ministerrat. Man hatte die Angelegenheit auf andere Verwaltungsebenen bzw. an die militärischen Behörden relegiert, mit anderen Worten auf einen Staat im Staat, der sich wie ein Karzinom ausbreitete126.

ℹ️Und in noch einen Bereich der Zivilgerichtsbarkeit wurde am 23. bzw. 25 Juli eingegriffen, in die Geschworenengerichte. Diese waren laut Art. 11 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 144/1867, bei mit schweren Strafen bedrohten Verbrechen zuständig. Sie wurden 1914 für Dalmatien auf ein Jahr eingestellt127, mit Generalmobilmachung am 31. Juli auch im Gebiet der Armee im Felde in Galizien, der Bukowina und Teilen Mährens128. Dies wurde am 27. August auf ganz Cisleithanien ausgedehnt. Hochenburger begründete dies nicht nur mit dem Fehlen von Geschworenenkandidaten wegen der Wehrpflicht, sondern auch damit, dass wegen der Kriegsereignisse „die Geschwornen […] nicht mehr die [nötige] innere Ruhe und Überlegung besitzen“, außerdem solle man nicht „wirtschaftliche Kräfte vergeuden und der Bevölkerung eine Bürde auferlegen, die zu tragen sie kaum imstande wäre“129.

ℹ️Die Einschränkung der Zivilgerichtsbarkeit beschäftigte den Ministerrat auch 1915. Da Geschworenengerichte nicht länger als ein Jahr eingestellt werden durften, wurde ihre „zeitweilige Einstellung“ erst bis Ende März und dann bis Ende Dezember 1916 erwirkt130. Da die Geschworenengerichte 1914 aber nur bis Mitte des Jahres 1915 aufgehoben worden waren, mussten Geschworenenlisten für das Jahr 1915 bestimmt werden. Entsprechend wurden die Gemeinden angewiesen, bis Ende April 1915 Urlisten der Geschworenen anzulegen131. Probleme bei der Bildung dieser Listen kamen im Ministerrat vom 3. Mai 1915 zur Sprache, worauf zunächst „die Bildung der Geschwornenlisten für das Jahr 1915 ergänzt und abgeändert“132 und dann, nachdem die Geschworenengerichte bis über das Jahr 1915 hinaus eingestellt worden waren, gänzlich „außer Kraft gesetzt wurden“133. Für 1916 wurde die Bildung von Geschworenenlisten dann wieder angeordnet134, aber mit der Aufhebung der Geschworenengerichte bis Ende 1916 wieder sistiert135. Die letzte Verlängerung der Einstellung der Geschworenengerichte erfolgte dann Ende 1916 für ein Jahr, bereits unter der neuen Regierung Clam-Martinic136.

Tatsächlich wurde somit eine Institution außer Kraft gesetzt, die dem Monarchen und der Regierung seit jeher lästig fiel, da sie besonders für Presseprozesse zuständig war und einer effektiven Kontrolle der Medien im Wege stand137. Dieser Eingriff in die richterliche Gewalt war also gleichzeitig auch ein Eingriff in die Meinungsfreiheit.

ℹ️Zensur und Propaganda

Auch die Einschränkung der Meinungs- und der Pressefreiheit gehörte zu den Maßnahmen, die der Ministerrat am 23. Juli 1914 in die Wege leitete und die am 25. Juli umgesetzt wurden, und war somit Teil der Suspension vieler Grundrechte138. Über den Krieg durfte nun nur mehr anhand der offiziellen Mitteilungen, „welche durch das k. k. Telegraphenkorrespondenzbureau, durch offizielle Blätter oder mit Genehmigung des Kriegspressequartiers des k. u. k. Armeeoberkommandos oder des Pressebureaus des k. u. k. Kriegsministeriums zur Öffentlichkeit gebracht wurden,“ berichtet werden. Die Zensur selbst kam nach ihrer Einführung im Ministerrat nur noch einmal zur Sprache, nämlich Ende 1915 im Zusammenhang mit einer angestrebten „Vereinfachung der Wiener Zensurverhältnisse“139.

ℹ️Jedoch konnten „wegen des ungeheuren Bedürfnisses der Öffentlichkeit nach Nachrichten“ Mitteilungen über den Krieg nicht einfach nur ausgeklammert werden. Vielmehr sollte die Bevölkerung das Gefühl haben, aktuell informiert zu sein. Aus diesem Grund wurde die seit 1848 verbotene Zeitungskolportage140 für Sonderausgaben „mit Nachrichten, die mit den Kriegsereignissen zusammenhängen“ wieder bewilligt141. Die Stunde der berüchtigten und uns durch Karl Krausʼ „Die letzten Tage der Menschheit“ bis heute präsenten „Extraausgabee —!“ hatte geschlagen.

ℹ️Das erschien der Regierung aber nicht genug an Information und sie beschloss Ende 1914, nach deutschem Vorbild eine Denkschrift über die von ihr aus Anlass des Krieges getroffenen Maßnahmen zu veröffentlichen, weil, wie Eisenbahnminister Forster ausführte, die Bevölkerung „über die in dieser Richtung entfaltete intensive Tätigkeit der Regierung doch nicht ganz orientiert sei und sich daher nicht genügend Rechenschaft gebe, dass die relativ günstige Wirtschaftslage in einem fortgeschrittenen Stadium des Krieges zum Teil gewiss auf jene Maßnahmen zurückzuführen sei“142. 1915 erschien dann eine entsprechende Denkschrift über die bis Ende Juni des Jahres getroffenen Maßnahmen143. Weil sich der Krieg in die Länge zog, wurden noch drei weitere solche Denkschriften veröffentlicht144.

ℹ️Am 6. Februar 1915 beriet der Ministerrat über ein Handschreiben, „mit welchem der Bevölkerung für ihre opferfreudige und hingebende Haltung während des Kriegszustandes die Ah. Anerkennung und der Dank bekanntgegeben wird“145, es scheint aber kein entsprechendes Handschreiben erlassen worden zu sein. Der ℹ️Kriegseintritt Italiens machte dann aber ein ℹ️Handschreiben an Stürgkh notwendig, in dem, nach einem halben Jahr Krieg an der italienischen Grenze, der „Bevölkerung im südwestlichen Kriegsgebiete“ für „Opfermut“ und „Standhaftigkeit“ bei der Unterstützung des Heeres gedankt wurde146. Ebenfalls der Aufrechterhaltung der Moral diente die am 1. Juli 1916 eröffnete Kriegssaustellung im Wiener Prater, wo es auch einen nachgebauten Schützengraben „mit feindlichen Stellungen nach der Natur“ zu sehen gab147. Ihre Verlängerung auf das Jahr 1917 kam ebenfalls im Kreis der Minister zur Sprache148.

Repressionen und Exzesse gegen Zivilisten

Ein besonders heikler Eingriff in die Bürgerrechte war der Umgang mit sogenannten verdächtigen und unzuverlässigen Elementen. Bereits 1913 war zwischen Ministerium des Innern und Kriegsministerium erörtert worden, dass die Verhaftung „alle[r] sich im Aufmarschraume aufhaltenden gefährlichen Elemente“ die Frage ihrer „Verwahrung“ bedingen würde. Das Kriegsministerium kam zu dem Schluss, dass ihre „Verwahrung im Aufmarschraume selbst“ eine „Kalamität“ bedeuten würde, weshalb „sie […] nach den Intentionen der operativen Leitung schon in den ersten Mobilisierungstagen in möglichst geschlossenen Transporten in solche Orte geschafft werden [sollen], in welchen ihre polizeiliche Überwachung wegen der dort ansässigen unbedingt verläßlichen Bevölkerung und lokaler Verhältnisse halber erleichtert wird“149.

ℹ️Am 29. August 1914 wies dann Innenminister Heinold im Ministerrat darauf hin, dass die Festsetzung von Zivilisten ohne Grund eigentlich gesetzwidrig ist. Zwar könne eine rechtliche Grundlage geschaffen werden, aber, so befürchtete Heinold, diese würde zu dann noch weiterführenden „Übergriffen verleiten“. Daher tolerierte die Regierung stillschweigend gesetzwidrige Freiheitsberaubungen letztendlich, indem sie das Thema nicht mehr behandelte und stattdessen den „Behörden“ überließ zu entscheiden, ob „weitere Inhaftbehaltung trotz des Mangels konkreter Tatbestandsmomente im Interesse der Kriegführung unerlässlich“ seien150. Man wollte das Unrecht nicht öffentlich festschreiben, ohne es zu verhindern. Zu diesem Zweck übertrug man die Verantwortung auf die Bezirksbehörden in Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften. Das waren Polizei, Gendarmerie, Militär und insbesondere das Kriegsüberwachungsamt.

ℹ️Dass nicht nur das Militär Exzesse gegenüber der Zivilbevölkerung beging, sondern auch die Zivilbehörden, war ein Resultat dieses Abschiebens von Verantwortung seitens des Ministerrates. In Cisleithanien wurden zehntausende Untertanen meist ruthenischer, serbischer, später auch italienischer Nationalität verhaftet und interniert. Zu den Massenverhaftungen trugen gerade auch die Zivilbehörden wesentlich bei151.

ℹ️Freilich war die Lage dort am schlimmsten, wo das Militär operativ vorging. Es kam zu massenhaften Tötungen und verbreiteten willkürlichen Hinrichtungen aufgrund dubioser Denunziationen, insbesondere in Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Böhmen und Galizien. Bei militärischen Aktionen wurden tausende Menschen hingerichtet oder einfach getötet152. Wohlgemerkt handelte es sich hier um die eigenen Staatsangehörigen, nicht feindliche Soldaten oder andere Ausländer.

ℹ️Gegen die willkürlichen Verhaftungen wurde zunächst nichts unternommen. Doch am 24. August 1914 zeigte ein vertraulicher Vermerk in einem Akt des Kriegsministeriums, dass die Verhaftungen auch vor den Familien militärischer Prominenz nicht Halt machten, ja auch eminente Ungarn betroffen waren: „Exz[ellenz] KM wünscht, daß den – gewiss nicht immer gerechtfertigten Verhaftungen pol[itischer] Verdächtiger Einhalt getan werde (Sohn von Exz[ellenz] B[a]r[on] Házai, Frau eines aktiven F[eld]m[arschall]l[eu]t[nant]s etz.).“ Gemeint war der Sohn des ungarischen Landesverteidigungsminister FML. Samuel v. Hazai. Auch die verhaftete Dame gehörte zu einem exklusiven Personenkreis, gab es doch nur etwa 100 Feldmarschallleutnants153. Interessant ist das „etc.“, das auf weitere Verhaftungen Prominenter hindeutet. Informiert wurde auch Major des Generalstabskorps Akusius Kárpáthy. Drei Tage später, am 27. August 1914 wies dann das Kriegsüberwachungsamt für Cisleithanien und Bosnien-Herzegowina sowie das Kriegsministerium für Ungarn in einem Erlass alle Militärkommanden an, „in Fällen, in denen kein strafbarer Tatbestand vorliegt oder erweislich ist, die Beschuldigten der politischen Behörde zu überstellen, die zu prüfen haben wird, ob eine Verwahrung dieser Personen zur Hintanhaltung von Gefahren für die Kriegführung tatsächlich geboten erscheint. Zugleich werden die Militärkommanden unter Hinweis auf vorgekommene Fehlgriffe angewiesen, weitere Verhaftungen nur dann vorzunehmen oder zu veranlassen, wenn gegen eine Person wirklich ein begründeter Verdacht vorliegt […] Fehlgriffe (wie die Verhaftung einwandfreier Personen, so insbesondere hoher österr[eichisch-]ung[arischen] Offiziere des Ruhestandes oder hochstehender Persönlichkeiten und ihrer Angehörigen, deren Stellung und Vorleben schon eine Gewähr für ihre loyale Gesinnung bietet) sollen wohl nicht mehr vorkommen.“ Die gesellschaftliche Stellung einer Person wurde also als Gewähr für Loyalität angesehen154.

ℹ️Die Willkür an sich wurde nicht als problematisch angesehen, sondern vielmehr die Überlastung der Gefängniskapazitäten. Schließlich sah sich Franz Joseph am 17. September genötigt, ein Befehlsschreiben wegen willkürlicher Verhaftungen an das Militär etc. zu erlassen155. Es brauchte die den Dualismus tangierende Peinlichkeit der Verhaftung eines ungarischen Ministersohnes, damit etwas geschah. Dieser Ah. Befehl änderte aber für die meisten Betroffenen wenig in der Praxis156.

ℹ️Freiheitsstrafen nahmen ein solches Ausmaß an, dass die Behörden die Zahl der Gefangenen nicht mehr bewältigen konnten, geschweige denn wussten, wer wo gefangen war und warum157, wie auch in dem geheimen Vermerk zu willkürlichen Verhaftungen deutlich wurde: „Alle Internierungsorte überfüllt Mangel an Bewachung, Kostenfrage (Da KM zahlt wird die Sache immer größere Dimensionen annehmen) Vertraulich“158. Und das waren nur die „einheimischen“ Zivilinternierten. Hinzu kamen die internierten fremden Staatsangehörigen und die riesige Zahl der Kriegsgefangenen159.

ℹ️Die Deportierten waren zwar keine Opfer von Massenverhaftungen, doch auch sie belasteten die Kapazitäten und wurden in Lager gesteckt. Am 10. August erschien eine Notverordnung zum Schutz der Bevölkerung in Gefahrenzonen, die eine massenhafte Evakuierung bzw. Deportation v. a. aus Galizien und Istrien zur Folge hatte160. Alle deportierten Menschen mussten natürlich untergebracht und versorgt werden161.

ℹ️An der Sicherheits- bzw. Repressionspolitik änderte sich 1915 bis 1916 wenig. Die Gewaltexzesse der Mobilisierungsmonate wiederholten sich in diesem Ausmaß im Hinterland nicht, wohl aber im Frontbereich bei der Rückeroberung Galiziens 1915162. Zusätzlich brachte der Krieg mit Italien ab 23. Mai 1915 die italienischsprachigen Bürger Cisleithaniens verstärkt ins Visier der Behörden. Sie schlugen bald mit über 10.000 Menschen bei den Zivil-Internierten zu Buche163. Die Gebiete, wo das Standrecht galt, umfassten nun auch Tirol und damit den Großteil Cisleithaniens. Am 3. und 20. Mai 1915 beriet der Ministerrat über Maßnahmen in Frontgebieten für den Kriegsfall mit Italien164, am 19. Mai die Vorbereitung der „Ausnahmsverfügungen Kriegsfall I“165. In dieser Zeit begann Karl Kraus mit den Vorarbeiten an den „Letzten Tagen der Menschheit“.


Prominentestes Ziel der Repression war Karel Kramář, der am 3. Juni 1916 von einem Militärgericht zum Tod verurteilt wurde, dessen Urteil aber nicht vollstreckt und der ein Jahr darauf amnestiert wurde166. Nicht minder aufsehenerregend war die Hinrichtung des Abgeordneten Cesare Battisti am 12. Juli 1916, der sich allerdings im Gegensatz zu Kramář tatsächlich als Kombattant eines feindlichen Heeres eindeutig strafbar gemacht hatte. Diese Hinrichtung sollte in die Literatur eingehen und fester Bestandteil des italienischen wie des österreichischen historischen Gedächtnisses werden167.

Letztendlich waren die Entrechtungs- und Repressions-, aber auch die Schutzmaßnahmen verheerend für das gegenseitige Vertrauen in der Gesellschaft. Freiheitsentzug, Deportierung und Tötung wurden weitgehend willkürlich durchgeführt, richteten sich aber erkennbar gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen. Diese Rechtlosigkeit und Willkür sollte später auf die Regierung zurückschlagen. Stürgkhs Mörder Friedrich Adler nannte den „Kriegsabsolutismus“ als eines seiner wichtigsten Tatmotive168.

Der Weg in den wirtschaftlichen Kriegsabsolutismus

Die im Frieden mit der Zeit gewachsenen und eingespielten Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen der Volkswirtschaft müssen durch einen Krieg massiv gestört werden. So treten neben die bisherigen Bedürfnisse der Friedenswirtschaft zusätzlich die neuen militärischen Forderungen. Es ist aber nur bedingt möglich, diesen gesteigerten Bedarf parallel zu dem bisherigen zu erfüllen. Zum einen kann die Produktion – von Rohstoffen und weiterverarbeitender Industrie – nicht beliebig vermehrt werden und zum anderen bedarf es einer entsprechenden Ausweitung der Transportkapazitäten, um die Zivil- und die neuen Militärbedürfnisse gleichzeitig zu befriedigen. Da dem Militär- vor dem Zivilbedarf Vorrang eingeräumt wird, bedeutet das konkret eine Reduktion des Zivil- zugunsten des Militärbedarfs: erstens, indem das Militär immer mehr der vorhandenen Ressourcen und Transportkapazitäten verlangt, zweitens, indem der Bedarf des Militärs nach Soldaten das Reservoir an arbeitsfähiger Bevölkerung reduziert und damit die Möglichkeit zur Produktion selbst einschränkt. Somit nimmt die Produktion für den Kriegsbedarf absolut zu, während gleichzeitig die Gesamtproduktion immer geringer wird. Die Zivilversorgung reduziert sich zunehmend auf den Minimalbedarf und rutscht in Krisenfällen auch darunter.

ℹ️Selbstverständlich ist es möglich, die für den Bedarf fehlenden Güter durch Einfuhren zu decken. Dieser Weg war aber für Österreich-Ungarn aus zwei Gründen von Anfang an stark limitiert. Zum einen errichtete Großbritannien schon zu Kriegsbeginn eine Handelsblockade, die den Handel der Mittelmächte faktisch nur auf ihre unmittelbaren Nachbarn – einschließlich der skandinavischen Länder – reduzierte. Zum anderen musste die Bedarfsdeckung durch Güter aus dem Ausland notwendig zu einer zunehmenden Auslandsverschuldung führen. Und hier stellte sich die Frage, inwieweit das Ausland dazu bereit war, denn die tatsächliche Fähigkeit zur Rückzahlung war natürlich vom Ausgang des Krieges abhängig, d. h. in hohem Maße ungewiss.

ℹ️Es ist klar, dass in allen kriegführenden Staaten der Militärbedarf Vorrang vor dem Zivilbedarf hatte. Daher bedeutete der Krieg auf jeden Fall eine Einschränkung des Zivilkonsums, eingeengt durch den absolut steigenden Bedarf des Militärs und durch eine schrumpfende Gesamtproduktion. Dennoch bildet die physische Minimalversorgung der Bevölkerung mit Nahrung und Energieträgern (Kohle) eine natürliche Grenze der Reduktion des Zivilkonsums. Dies aber weniger aus humanen Gründen als aus der Notwendigkeit, Produktion und innere soziale Ruhe aufrechtzuerhalten. Zwischen diesen beiden Polen musste die Politik daher einen Weg finden, um den Krieg überhaupt führen zu können. Dies war eine der zentralen Aufgaben, mit der sich der cisleithanische Ministerrat während des Krieges permanent beschäftigte169.

ℹ️(Ungenügende) wirtschaftliche Kriegsvorsorgen

Als sich Österreich-Ungarn im Juli 1914 zum Krieg gegen Serbien entschloss, begann ein Uhrwerk zu ticken, wobei die Behörden nach einem genauen Zeitplan schon lange vorbereitete Verordnungen erließen. Dies traf selbstverständlich auf den Transportbereich zu, ganz besonders die Einführung der Kriegsfahrordnung der Eisenbahnen. Für die Planung der Umstellungen war eine eigene Abteilung des Armeeoberkommandos zuständig. Die Pflicht zum Stellen von Pferden und Fuhrwerken für den rein militärischen Bedarf war hingegen Angelegenheit beider Teile der Monarchie, die 1912 geregelt worden war170. Neben dem rein militärischen Bedarf gab es aber auch die Notwendigkeit, für anderweitige kriegerische Aufgaben vorzusorgen, wie beispielsweise den Bau von Verteidigungsstellungen, also Arbeitsleistungen, aber auch Zurverfügungstellung von Privatbesitz, wie etwa Kraftfahrzeugen, Tieren, Liegenschaften. Die Pflicht zu diesen Leistungen der Bevölkerung war ebenfalls im Dezember 1912 durch das Kriegsleistungsgesetz sichergestellt worden171, das 1914 nur noch aktiviert werden musste172. Novellierungen dieses Gesetzes kamen während des Krieges mehrfach in den Ministerrat173.

ℹ️Das Kriegsleistungsgesetz stellte zusätzlich in seinem § 18 die Besitzer von Betriebs- und Industrieanlagen, die nach diesem Gesetz in Anspruch genommenen wurden, vor die Wahl, „ihren Betrieb weiterzuführen oder aber samt Personal (§ 6) [dem Staat] zum Gebrauche zu überlassen“ und es enthielt in § 6 die Pflicht der Arbeiter der zu Kriegsdiensten verpflichteten Gewerbe- oder Transportunternehmungen, „für die Dauer der Inanspruchnahme des Unternehmens […], in ihrem bisherigen Dienst- oder Arbeitsverhältnisse zu verbleiben“174. Somit stellte das Kriegsleistungsgesetz sowohl für Arbeitende wie für Unternehmer einen Eingriff in ihre auch rechtlich definierten wirtschaftlichen Entscheidungsmöglichkeiten dar175. Aber abgesehen von diesen eher allgemeinen Regeln gab es keine weiteren Planungen zu Eingriffen in das wirtschaftliche Leben176.

Der Hintergrund scheint ein ideologischer gewesen zu sein. Vermutlich dachten die leitenden Politiker und Beamten, dass der Markt die Warenströme schnell entsprechend den neuen Marktgegebenheiten selbst lenken werde, sodass rechtliche Eingriffe überflüssig seien und, gemäß wirtschaftsliberalen Theorien, jeder staatliche Eingriff die Situation nur verschlimmern würde. Für die „österreichische Schule der Volkswirtschaft“ nahmen die Preise die zentrale Rolle in der Selbstregulierung des Marktes ein. Diese Denkrichtung war stark an cisleithanischen Universitäten vertreten, worauf auch ihr Name hindeutet. Mit Eugen Böhm Ritter v. Bawerk war einer ihrer zentralen Theoretiker mehrmals Finanzminister gewesen, so auch 1900 bis 1904 im Kabinett von Ministerpräsident Koerber. Ein weiterer zentraler Denker dieser Schule war Friedrich Freiherr v. Wieser, der 1914 Präses der in der Beamtenausbildung wichtigen theoretischen Staatsprüfungskommission für die rechts- und staatswissenschaftlichen Studien in Wien war und der in den letzten drei Kriegsregierungen (1917/18) Handelsminister sein sollte. Dieser Hintergrund würde die mangelnde wirtschaftliche Kriegsvorbereitung in Cisleithanien und das Zurückschrecken der zuständigen Minister auch nach Kriegsbeginn erklären.

ℹ️ Die Verwerfungen, die der Krieg mit sich brachte, machten dann aber dennoch auf verschiedensten Ebenen staatliche Eingriffe notwendig. Entgegen anderen politischen Bereichen stellen daher die kriegswirtschaftlichen Veränderungen, besonders der ersten Kriegsmonate, aber auch während des gesamten Krieges, kein aufeinander abgestimmtes Ganzes dar. Es handelte sich vielmehr um immer wieder durch die Not getriebene Akuthilfen, die dabei aber möglichst wenig in das Wirtschaftsleben eingreifen sollten. Wenn die Eingriffe dennoch ganz massiv waren, so lag es nicht am mangelnden Willen der Regierung, dies zu vermeiden, sondern an der Größe der Probleme. Letztlich hinkten diese Anpassungen den realen Verhältnissen ständig hinterher.

ℹ️Der Kampf um das Schuldenmoratorium

Ebenfalls nur zögerlich wurde das Schuldenmoratorium geregelt. Tatsächlich war die Regierung 1912 auch darangegangen, „auf dem Gebiete des Geld- und Zahlungswesens“ für den Kriegsfall vorzusorgen „in einem Zeitpunkt, in dem die Vorbereitungen ohne jede Aktualität sind und deswegen mit ruhiger Überlegung getroffen werden können“177. Bei einer Mobilisierung wurde Geldverkehrsstockung erwartet. Das machte ein Moratorium notwendig, also einen Zahlungsaufschub privatrechtlicher Geldleistungen, welcher „einerseits einen Schutz des Hauptschuldners“ enthalten sollte, „der wegen der Verkehrs- und Geschäftsstockungen seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen kann, anderseits Vorkehrungen zu Gunsten der Wechselgläubiger, denen die kriegerischen Ereignisse die Einhaltung der Präsentations- und Protestfristen unmöglich machen“178.

Obwohl also der dafür zuständige Justizminister Hochenburger auf zweieinhalb Jahre Vorbereitungszeit zurückblicken konnte, wies die am 31. Juli 1914 erlassene kaiserliche Verordnung „alle Merkmale einer überstürzten Arbeit auf“179, zumal es sich um die Überarbeitung einer bereits sanktionierten kaiserlichen Verordnung handelte: Ein am 27. Juli vom Ministerrat beschlossener Entwurf des Justizministeriums erhielt zwei Tage später die zustimmende Ah. Entschließung180. Mit dieser kaiserlichen Verordnung sollte kein generelles Moratorium ausgesprochen werden, weil, wie Hochenburger bemerkte, „ein Wechselmoratorium eine zweischneidige Waffe ist, deren Wirkungen sich von vornherein nicht mit voller Sicherheit abschätzen lassen“. Stattdessen war vorgesehen, „nach Maßgabe der entstehenden Verkehrs- und Geschäftsstockungen für einzelne Gebiete und in einer den Umständen entsprechenden Weise“ lokale Moratorien zu erlassen181. Diese kaiserliche Verordnung wurde aber nie publiziert, weil sowohl Ungarn als auch die Oesterreichisch-ungarische Bank dagegen sofort Sturm liefen. „Mit allem Nachdruck“ forderte der ungarische Finanzminister János Teleszky, sekundiert von der Notenbank, „dass die Erlassung eines allgemeinen Moratoriums eine unbedingte Notwendigkeit sei, soll nicht eine finanzielle Katastrophe eintreten“182. Deshalb musste Cisleithanien seine bereits bewilligte kaiserliche Verordnung zurückziehen, noch bevor sie publiziert worden war. Wenn es Finanzminister Engel – der Cisleithanien in diesen Verhandlungen vertrat – auch nicht gelang, ein allgemeines Moratorium zu verhindern, so erreichte er doch, „dass das zu erlassende Moratorium ein möglichst kurzfristiges sei“183. Demnach sollten privatrechtliche Geldforderungen bis 14. August bzw. für 14 Tage gestundet werden, wobei für die gestundete Zeit „die gesetzlichen oder die nach dem Vertrage gebührenden höheren Zinsen zu entrichten“ waren184. Ausnahmen waren Abhebungen bis 200 K aus Einlagen bei Kreditinstitutionen, Gehaltszahlungen, Mieten, Rentenforderungen und Leistungen für Staatsschulden.

So wurde in den letzten Julitagen 1914 ein cisleithanischer Alleingang mit dem Ziel, ein allgemeines Moratorium zu verhindern, von Ungarn und der Oesterreichisch-ungarischen Bank abgewendet. Am 2. August genehmigte Franz Joseph eine weitere kaiserliche Verordnung, mit der weitere Ausnahmen von der Stundung verfügt werden sollten, die aber „erst in jenem Zeitpunkte zur Verlautbarung zu gelangen hätte, in welchem sich die Notwendigkeit ergibt“, von den Bestimmungen Gebrauch zu machen185. Dies trat aber nicht ein, sodass diese kaiserliche Verordnung nicht publiziert wurde.

Allerdings hatte sich die Situation 14 Tage nach Ablauf des Moratoriums immer noch nicht so weit normalisiert, dass es einfach hätte auslaufen können. Daher wurde es bis Ende September verlängert, wobei zusätzliche Ausnahmen von Stundungen gemacht wurden186. Es musste aber schnell nachgebessert werden, „da die vorerwähnte kaiserliche Verordnung [vom 13. August 1914, RGBl. Nr. 216/1914,] in diesen Richtungen keine präzisen Anhaltspunkte biete“187. Es galt zu klären, ob auch bei Warenlieferungen „die Zahlungspflicht durch das Moratorium sistiert“ sei und ob „unter Grundstücken […] auch Häuser zu verstehen“ seien188. Auch in der Folgezeit stand das Moratorium immer wieder auf der Tagesordnung. Dabei wurden Ausnahmen vermehrt189, aber ab Ende September 1914 auch die schrittweise Rückzahlung der gestundeten Schulden in die Wege geleitet190. Diesen Schritt glaubte man wagen zu können, weil sich das wirtschaftliche Leben wieder erholte und die Produktion angesichts des Rüstungsbedarfes florierte. Der weitere Abbau der gestundeten Schulden und Zinsen wurde dann in der fünften und schließlich der sechsten Stundungsverordnung geregelt, sodass im August 1915 das Moratorium endete191.

In Galizien und der Bukowina aber konnte von einer solchen „Normalisierung“ nicht die Rede sein. „Nach Erscheinen der kaiserlichen Verordnung vom 27. September 1914 seien Stimmen laut geworden, welche darauf hinwiesen, dass die infolge der kriegerischen Ereignisse eingetretenen wirtschaftlichen Verhältnisse in Galizien und in der Bukowina eine Änderung der Stundungsanordnung für jene Gebiete dringend nötig machen“, stellte Hochenburger fest, als der erste Rückzahlungstermin nahte. Beide Gebiete wurden daher Mitte Oktober 1914 von dem sukzessiven Abbau der Schulden ausgenommen und das Galizien-Moratorium bis Kriegsende achtmal verlängert192. Mit dem ℹ️italienischen Kriegseintritt wurden auch Ausnahmen für die neuen Frontgebiete und ihre Bevölkerung notwendig. Mit der Verordnung des Gesamtministeriums vom 28. Juni 1915 wurden die bestehenden Regelungen durch einen § 24 „Sonderbestimmungen für den südlichen Kriegsschauplatz“ ergänzt, der nun – zum ersten Mal – auch dem Kriegsgebiet Dalmatien Rechnung trug. Er fror den Rückzahlungsstand des Moratoriums beim Stand Mitte 1915 ein. Dieser § 24 wurde bis Kriegsende nicht außer Kraft gesetzt193.

In der Frage des Moratoriums fehlte es folglich nicht an Pannen. So waren die Formulierungen teilweise derart unpräzise, dass Zusatzverordnungen den Inhalt des Moratoriums klären mussten. Als man im September 1914 daranging, die gestundeten Zinsen und Rückzahlungen schrittweise abzubauen, wurde zunächst übersehen, dass Galizien und die Bukowina bzw. deren geflohene Einwohner sich dies nicht leisten konnten, hier konnten die Stundungen nur fortgeschrieben werden. Diese Ausnahme gestand man zunächst Dalmatien nicht zu, das ja ebenfalls von Anfang an Kriegsgebiet war und das wegen seiner geografischen Lage und dem fehlenden Eisenbahnnetz in einer besonders prekären Versorgungslage war. ℹ️Dem wurde erst nach dem Kriegseintritt Italiens Rechnung getragen.

ℹ️ Österreich-Ungarn trat also trotz mehr als zweijähriger Planungszeit gänzlich ohne Vorbereitung in der Frage des Umgangs mit privatrechtlichen Forderungen in den Weltkrieg ein, von einem koordinierten Vorgehen beider Teile der Monarchie konnte keine Rede sein. Dies traf auch auf andere wirtschaftliche Bereiche zu.

ℹ️ Gegen die wirtschaftlichen Folgen der Mobilisierung

Die Mobilisierung griff tief in das Wirtschaftsleben ein. Millionen Reservisten wurden ihren zivilen Berufen entrissen und hinterließen gerade bei den einsatzfähigsten Arbeitern Lücken in den Betrieben194. Es gab aber in den ersten Kriegsmonaten einen weiteren Faktor, der die Folgen des Arbeitskräfteentzugs für die Wirtschaft verstärkte: den Aufmarsch der Armeen. In der Nacht zum 30. Juli 1914 ging Österreich-Ungarn auf allen für den Balkankrieg relevanten Strecken und in der Nacht zum 6. August auf dem gesamten Eisenbahnnetz von der Friedens- zur Kriegsfahrordnung über195. Dadurch wurde das sogenannte „rollende Material“ komplett dem Zivilverkehr entzogen. Dies führte im Hinterland unmittelbar zu Versorgungsproblemen, weil „die Erschwerung bzw. Sistierung des Güterverkehres auf den Bahnen eine bessere Verteilung des vorhandenen Quantums nicht recht gestatte“. Mehrere Statthaltereien hatten sich Anfang August mit besorgniserregenden Berichten unaufgefordert an den Innenminister gewandt. Den Ausweg sah der Ministerrat in den ersten Augusttagen noch darin, „dass man mit der Kriegsverwaltung wegen Freigebung entsprechender Züge ein Arrangement werde treffen können und müssen“196.

ℹ️Weitere Schritte aber wurden zunächst nicht unternommen, gab sich die Regierung doch noch der Hoffnung hin, die wirtschaftlichen Verwerfungen entstünden nur „durch die weitgehende Inanspruchnahme der Eisenbahnen für rein militärische Zwecke“197, die sich folglich mit dem Ende dieser Inanspruchnahme wieder legen würden. Weil aber Unternehmer über die Bahn weder Arbeitsmaterialien (einschließlich der Kohle, die alle Maschinen in Bewegung hielt) beziehen, noch ihre Produkte absetzen konnten, kam die gesamte Produktion zum Erliegen. ℹ️Dies stellte sich den Ministern aber zunächst nicht als wirtschaftliches, sondern lediglich als soziales Problem dar, denn dadurch explodierte die Arbeitslosigkeit – trotz der Verminderung der Arbeiterschaft durch die Mobilisierung. Sie stieg unter den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern von 5 % im Juli auf 18,3 % im August an und zwar bei Frauen stärker (3,5 auf 25,3 %) als bei Männern (5,5 auf 16,7 %)198. Dieser geringere Anstieg der Arbeitslosigkeit bei Männern zeigt, dass der Arbeitskräfteentzug durch die Mobilisierung in der Anfangszeit also nicht produktions-, sondern – zynisch formuliert – arbeitslosigkeitssenkend wirkte.

ℹ️Eine staatliche Arbeitslosenunterstützung gab es nicht, stattdessen betriebliche, karitative und gewerkschaftliche Einrichtungen. Von diesen entfielen aber die betrieblichen und karitativen Einrichtungen großteils, flossen deren Gelder doch zu einem erheblichen Teil in direkte Unterstützungen von Kriegsopfern. Die Gewerkschaften kämpften ihrerseits mit einem massiven Mitgliederschwund, weil die vom Militär eingezogenen Arbeiter die Gewerkschaften verließen. Hatten die freien – also sozialdemokratischen – Gewerkschaften 1913 am Ende des Jahres 415.195 Mitglieder, die 8,686.698,85 K Mitgliedsbeiträge (85 % aller Einnahmen) zahlten, waren es Ende 1914 nur mehr 240.681 Mitglieder (ein Rückgang um 42 %) mit Mitgliedsbeiträgen (die 80 % aller Einnahmen ausmachten) von 6,594.084,75 K (ein Minus von 24 %). Die Arbeitslosenunterstützungen stiegen hingegen von 2,204.801,09 auf 3,023.780,11 K, eine Zunahme von 37 %199. Daher ließ der Krieg zu Beginn nicht nur die Arbeitslosenzahlen in die Höhe steigen, er brachte zudem die Gefahr eines Kollapses der bisherigen Unterstützungssysteme.

ℹ️Weil wegen der Arbeitslosigkeit „unausweichliche Folgeerscheinungen“ – also soziale Unzufriedenheit – erwartet wurden, konnte die Regierung bei dieser Entwicklung nicht tatenlos zusehen. Zunächst wurden also nur Maßnahmen zur Reduktion der Arbeitslosigkeit selbst ergriffen, die im Folgenden beschrieben werden – darüber, die Arbeitslosenunterstützung staatlich zu organisieren, dachte die Regierung erst ab Mitte des Krieges nach200.

ℹ️Eine erste wichtige Maßnahme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sah die Regierung darin, mit vermehrten Eisenbahnzügen für den Zivilverkehr „dem Stillstande der Industrie wirksam entgegenzutreten“. Der Ministerrat beschloss am 24. August, der Eisenbahnminister solle „die ihm zugänglichen militärischen Stellen unter voller Wahrung der zugunsten der unmittelbar militärischen Bedürfnisse notwendigen Vorbehalte auf die wirtschaftliche Kehrseite der Angelegenheit aufmerksam […] machen und sie für diese letztere […] interessieren“201.

ℹ️Auch der Ministerpräsident trat in Aktion. Nachdem Heinold ihm am 23. August berichtet hatte, dass die „Verfügungen der ungarischen Regierung […] sich tatsächlich mehr gegen die Folgen des Waggonmangels richten“ und dass „die von österreichischen Interessenten bereits [in Ungarn] angekauften Lebensmittel nicht an ihre österreichischen Bestimmungsstation abtransportiert werden konnten“, schrieb Stürgkh an den ungarischen Ministerpräsidenten Tisza und an Kriegsminister Krobatin, damit von „kompetenten militärischen Stellen der Auftrag erteilt würde, sobald es nur irgend möglich ist, den in Frage kommenden ungarischen Stationen gedeckte Waggons wieder zur Verfügung zu stellen, mittelst welcher Getreide und Mehl unseren Alpengebieten zugeführt werden würde“. Stürgkh schrieb dem Kriegsminister ins Stammbuch: „Deshalb möchte ich es auch als ein militärisches Interesse bezeichnen, dass die durch die Eisenbahnen beförderten Lebensmittelzufuhren, soweit als dies mit den Bewegungen des Heeres irgend vereinbar ist, aufrecht erhalten bleiben.“ 202 Dass Stürgkh die Versorgung der Zivilbevölkerung und dafür den Ziviltransport als kriegswichtig bezeichnete, war so wie oben im Falle Forsters, eine Einsicht in das Kernproblem des Krieges für Österreich-Ungarn. Eine Einsicht, der sich das Militär aber nur so weit öffnete, wie es unbedingt notwendig schien.

ℹ️Forsters – von Stürgkh sekundierter – Vorstoß bei den militärischen Stellen war auf jeden Fall erfolgreich, wie er am Ministerrat vom 27. August 1914 berichten konnte203. Anfang September stellte die Eisenbahn von der Kriegs- auf eine „beschränkte Friedensfahrordnung“ um204.

Der Ministerrat beschloss auch viele andere Eisenbahn-Maßnahmen, wie etwa die „Sanierung der Südbahn205, nach der Eroberung Serbiens die „Führung des Balkanzuges Berlin–Konstantinopel206 und die „Regelung des Vorgangs bei Ermittlung der Kriegsschäden an Eisenbahnen“207, ebenso die Errichtung oder der Ausbau von Eisenbahnanlagen, so – eines von vielen Beispielen – am 6. Juni 1916 die „Erklärung der Herstellung einer neuen Zugförderungsanlage in Lemberg als begünstigten Bau“208.

ℹ️Eine weitere Möglichkeit „zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit während der Kriegsdauer“ wurde auch in der „Durchführung staatlicher und sonstiger öffentlicher Bauten“209 gesehen. Die von den beauftragten Unternehmern zu hinterlegenden Kautionen, die für die Vergabe staatlicher Lieferungen und Arbeiten eigentlich vorgeschrieben waren210, konnten diese „unter den gegenwärtigen Geldverhältnissen“ nicht aufbringen. Daher wurde den Behörden gestattet, von Kautionen ganz abzusehen211. Mitte Oktober 1914 kam es zu weiteren Erleichterungen durch beschleunigte Bewilligungsverfahren von Projekten als sogenannte „begünstigte Bauten“. Der Minister für öffentliche Arbeiten begründete dies „neben dem sachlichen Momente“ ausdrücklich damit, es „spiele bei solchen Bauten auch der sozialpolitische Gesichtspunkt mit, durch Bauführungen der notleidenden Bevölkerung Arbeitsgelegenheit zu bieten“212. Dieses Moment der Arbeitslosenbekämpfung wurde im Jahr 1914 immer wieder als Begründung für die Begünstigung eines Baues angeführt213. Wie wichtig dieses Argument war, zeigte Engel, indem er für einen Bauantrag in einem Fall explizit keinen „zwingenden Grund, diesen Bau als Notstandsbau zu behandeln“ sah, „weil die noch in großem Umfange in Ausführung begriffenen militärischen Befestigungsarbeiten eine große Zahl von Arbeitern in Anspruch nehmen, sodass von einer Arbeitslosigkeit dermalen nicht gesprochen werden kann, im Gegenteile sich ein gewisser Arbeitermangel bemerkbar macht“214.

ℹ️Ab 1915 ging die Arbeitslosigkeit sehr stark zurück – durch den Boom der Kriegsproduktion einerseits und die permanenten Musterungen, welche die gesündesten und kräftigsten Männer zum Krieg einzogen, andererseits. Die Erleichterungen für begünstigte Bauten dienten jetzt mehr der Sicherstellung des Bedarfs an benötigten, jedoch immer knapper werdenden Materialien und Arbeitskräften für kriegswichtige Bauten, so bei der „Erweiterung der Betriebsanlage der Skodawerke-Aktiengesellschaft215, oder bei vielen Bauten einzelner Eisenbahneinrichtungen.

Neben der Förderung von Bauten stand auch die „Ausschließung säumiger Firmen von Heereslieferungen und sonstigen staatlichen Lieferungen“216 auf der Tagesordnung, die in eine Beratung zur Regelung der Militärlieferverträge überging217. Schließlich wurde auch die „Erwirkung einer kaiserlichen Verordnung, betreffend die Gebühren von den mit Behörden der bewaffneten Macht geschlossenen Lieferungs-, Bau- und sonstigen Werkverträgen“ besprochen218.

Der Aufmarsch würgte also den zivilen Eisenbahnverkehr und damit die Wirtschaft ab und zwang die Regierung zu ersten Schritten hin zu mehr Steuerung der Wirtschaft.

ℹ️Eingriffe in die Sozialgesetzgebung

Mit Kriegsbeginn wurden postwendend viele soziale Maßnahmen für Arbeiter, insbesondere Bergleute eingeschränkt, die seit den 1880er Jahren ausgebaut worden waren, so die Sonn- und Feiertagsruhe zuerst für Gewerbebetriebe219, dann ebenfalls für den Bergbau. Hier wurden auch Verlängerungen der Auszahlungsfristen von Löhnen verfügt220, weil dem Bergbau wegen der Mobilisierung „ein großer Teil des Beamten-, Aufseher- und Arbeiterpersonales entzogen“ sei. Daher „werde es nun nicht möglich sein, innerhalb der betreffenden Fristen immer eine vollständige Abrechnung vorzunehmen“. Nur „auf ersten Blick“ sei dies aber „eine Einschränkung der den Arbeitern gewährten sozialpolitischen Begünstigungen“, denn diese Maßnahmen lägen „in Wahrheit im höchsten Interesse der Arbeiterschaft selbst […], weil sie die Aufrechterhaltung des Betriebes und damit die Sicherung der Arbeitsgelegenheit bezwecke“, meinte Trnka221.

ℹ️Keiner rechtlichen Änderung bedurfte die Ausweitung der Arbeitszeit auf über elf Stunden pro Tag, die § 96a der Gewerbeordnung normiert hatte. Denn es war bereits in diesem Paragrafen die Verlängerung nach Zustimmung des Handelsministeriums bestimmt worden222. Die nun steigende Nachfrage nach solchen Überstunden wurde von den Behörden bewilligt. Genehmigten 1912 die Behörden 2,744.341 an Überstunden, stieg deren Zahl in den Kriegsjahren auf 4,220.091 (1914), 7,315.113 (1915) und 9,105.489 (1916); der Anteil an genehmigten Überstunden in der Metallverarbeitung und Maschinenindustrie stieg von 13,9 % im Jahr 1912 (380.217 Stunden) auf 37,5 % 1914 (1,583.463), 60,6 % 1915 (4,434.058) und 94,5 % 1916 (8,602.278)223.

ℹ️Eine weitere und besonders kostengünstige Möglichkeit, an mehr Arbeitskräfte zu gelangen, waren Kriegsgefangene. Ihre „Verwendung für öffentliche und private Arbeiten“ wurde Anfang 1915 beraten224. Dies war ein Verlangen der militärischen Führung, die Kriegsgefangene faktisch gratis arbeiten ließ225. Die Verwendung von Kriegsgefangenen wurde auch im gemeinsamen Ministerrat vom 18. Juni 1915 besprochen: Das ungarische Ackerbauministerium beklagte das Fehlen von über 42.000 versprochenen Arbeitskräften, weil die Militärkommanden sie nicht freigeben würden. Dies sei fatal, denn „die diesjährige Ernte sei nicht nur Sache Ungarns, sondern von der größten Wichtigkeit für die ganze Monarchie“. Ministerpräsident Tisza wies „darauf hin, dass in dieser Sache in Südungarn große Erbitterung herrsche. Er ersucht, energisch einzugreifen. Jeder Tag sei von Wichtigkeit.“226 Die eingeschränkte Verwendbarkeit von Kriegsgefangenen in dieser Zeit war jedoch zumindest teilweise auf unter den Kriegsgefangenen grassierende Krankheiten und mangelnde medizinische Versorgung zurückzuführen227.

Die rechtliche Stellung der Frauen im Arbeitsleben, die vielfach die eingezogenen Männer ersetzen mussten, war gar kein Thema im Ministerrat, obwohl es gesellschaftlich von großer Bedeutung war 228.

ℹ️Auch in die Sozialversicherungen griff der Staat ein. Die Vorstände von Krankenkassen, Bruderladen (für Bergarbeiter) und Instituten für Angestellte wurden ermächtigt, anstelle der Generalversammlungen „rechtsgültige Beschlüsse zu fassen, soweit eine besondere Vorsorge im Interesse der Mitglieder oder der Kasse (Bruderlade) dringlich erscheint“229. Hinter dieser „Vorsorge im Interesse der Mitglieder oder der Kasse“ verbarg sich das Problem, dass den Kassen „ein großer Teil der jüngeren und daher auf der Aktivseite der Kassen in Betracht kommenden Mitglieder“ durch Einberufungen entzogen worden seien und „die Einhebung der Beiträge von den bei den Kassen verbleibenden Mitgliedern vielfach erschwert“ sei. Den so entstehenden finanziellen Schwierigkeiten sollte durch Maßnahmen vorgebeugt werden, „welche es den Kassen ermöglichen, sich auf die gesetzlichen Minimalleistungen zu beschränken“. Weil nun dafür nach den gesetzlichen Bestimmungen ein Beschluss der Generalversammlungen notwendig war, die aber „im gegenwärtigen Zeitpunkte nicht gut einberufen werden können“, sollte dieses Recht auf den Vorstand der Institute übertragen werden230. Diese im Sozialbereich durch den Krieg verursachten Probleme wurden also nicht durch Zusatzleistungen des Staates abgefangen, sondern durch Kürzungen der Leistungen auf ein Minimum auf die Versicherten abgewälzt. Umgekehrt hatten Versicherungsunternehmungen „ihrer Leistungsfähigkeit angemessene Beträge zur Durchführung oder Förderung von Maßnahmen aufzuwenden, die geeignet sind, die durch den Krieg und dessen Folgeerscheinungen herbeigeführten besonderen Gefahren für die Gesundheit oder Erwerbsfähigkeit der Versicherten abzuwehren“, explizit genannt wurden „prophylaktische Impfungen“ und „Beteiligungen an Kälteschutzaktionen“231.

ℹ️So schnell manche dieser Maßnahmen auch erfolgten – so die Aufhebung der Sonn- und Feiertagsruhe in Gewerbebetrieben einen Tag nach der Kriegserklärung an Serbien –, keine dieser Maßnahmen erfolgte aufgrund von Vorüberlegungen für einen Kriegsfall. Immer ergab sich in der jeweiligen konkreten Situation „die Notwendigkeit im Wege der provisorischen Gesetzgebung“ vorzusorgen232.

Von nun an mussten der militärische Güterbedarf und eine – zumindest – Minimalversorgung der Zivilbevölkerung von immer weniger Menschen in immer längeren Wochenarbeitszeiten bewältigt werden233. Zudem wurde Jahr für Jahr die Versorgungslage immer schlechter234. Ab 1916 stieg auch die Unzufriedenheit, die ab 1917 ganz massiv zunehmenden Streikbewegungen deuteten sich bereits an235. Doch kamen soziale Themen bis zum Tod Franz Josephs – und damit bis zum Ende dieses Bandes – nicht mehr im Ministerrat zur Sprache, abgesehen von Themen zur Versorgungslage und den „unentbehrlichen Bedarfsartikeln“236. Lediglich „die Wahrung der Rechte der Bruderlademitglieder während ihrer militärischen Dienstleistung im gegenwärtigen Kriege“ wurde beschlossen237.

ℹ️Eingriffe in Unternehmen

Auch für Unternehmer erwiesen sich die allgemeinen Bestimmungen des Kriegsleistungsgesetzes238 zu Kriegsbeginn als ungenügend. So stand der Ministerrat Ende August 1914 vor der Frage, wie mit dem Besitz von Wirtschafts- und Finanzunternehmen feindlicher Ausländer umzugehen sei.

ℹ️An sich waren zwar keine Maßnahmen geplant gewesen, nachdem aber Großbritannien aus Cisleithanien stammende Kreditinstitute sequestriert habe und „überhaupt keine Zahlungen an Ausländer“ geleistet werden durften, ergab sich die Notwendigkeit, „im Wege der Retorsion entsprechende Verfügungen hinsichtlich der hierlands befindlichen privaten Guthaben und englischen Filialen zu treffen“239. Das prinzipielle Recht zu solchen Vergeltungsmaßnahmen beantragte und erhielt die Regierung Mitte Oktober 1914240. Es sollte dann noch eine weitere Woche dauern, bis die Regierung ein Zahlungsverbot gegen Großbritannien und Frankreich verhängte241. Ende November wurde ein solches Zahlungsverbot für Russland im Ministerrat besprochen und Mitte Dezember erlassen242.

ℹ️Welch große Scheu die cisleithanische Regierung vor Eingriffen in das Besitzrecht hatte, zeigt sich gerade in Bezug auf feindliche Ausländer. Man reagierte widerwillig und vor allem langsamer als die Kriegsgegner. Während Großbritannien bereits im August die Rechte gegenüber den Mittelmächten beschnitten hatte, dauerte es in Cisleithanien bis zur Sitzung am 5., 6. und 7. Oktober, dass eine entsprechende Verordnung entworfen wurde. Während aber bei anderen wichtigen Angelegenheiten oft die Entscheidung des Ministerrates, der au. Vortrag und die Ah. Entschließung an einem Tag geschahen, dauerte es bei diesen Vergeltungsmaßnahmen, also bei einer Reaktion auf eine Aktion des Auslandes, nun drei Tage bis zum Vortrag, weitere sechs Tage bis zur Zustimmung Franz Josephs und dann nochmals sieben Tage, bis die kaiserliche Verordnung im Reichsgesetzblatt publiziert und damit rechtswirksam wurde243. Ähnlich langsam verlief das Vorgehen gegen Russland, wo – ein au. Vortrag war nicht mehr notwendig – zwischen Ministerratsbeschluss (28. November) und Verordnung (14. Dezember) über zwei Wochen vergingen. Erst Ende 1916 wurde gegen Italien und auch gegen Portugal und Rumänien ein solches Zahlungsverbot beschlossen244.

ℹ️Dieser Widerwille, gegen ausländische Unternehmen einzuschreiten, zeigte sich auch daran, dass „Angehörige feindlicher Mächte, welche im Verwaltungsrate inländischer Aktiengesellschaften Stellungen innehaben, von diesen nicht enthoben worden waren“. Hier einigte sich der Ministerrat darauf, dass „Erhebungen gepflogen werden sollen, wie das feindliche Ausland selbst in dem betreffenden Belange vorgehe“245. Diese Uninformiertheit der Regierung grenzte geradezu an Desinteresse. Die Enthebung erfolgte erst am 4. Jänner 1915246. Gerade das Finanzministerium, das mit Engel von einem seiner früheren Spitzenbeamten geführt wurde, stand hier besonders auf der Bremse, verzögerte es doch Maßnahmen gegen Unternehmen aus feindlichen Ländern, die selbst keine Maßnahmen gegen Österreich-Ungarn ergriffen hatten, aber deren Aktienkapital aus Ländern stammte, die dies ihrerseits getan hatten. So forderte Eisenbahnminister Forster die Sequestrierung bei der Internationalen Schlafwagengesellschaft, „ein nominell belgisches Unternehmen, das aber im Wesentlichen von französischer Seite finanziert sei“247. Engel hingegen fragte, „ob eine Maßnahme gegen das Unternehmen im Rahmen der Retorsion möglich sei, da es doch wenigstens nominell als belgisch erscheine“. Setzte sich Forster in der Frage der Internationalen Schlafwagengesellschaft durch, verhinderte Engel jedoch ein ähnliches Vorgehen bei zwei weiteren – nicht namentlich genannten – Unternehmen248. Dieses sehr langsame und vorsichtige Vorgehen bei Eigentumsrechten gerade auch von Ausländern feindlicher Staaten stand in krassem Gegensatz zur schnellen und durchgreifenden Außerkraftsetzung sozialpolitischer Arbeiterrechte.

ℹ️Unternehmer hingegen wurden vom Kriegsleistungsgesetz von 1912249 in die Pflicht genommen: § 18 bestimmte, sie hätten auf Verlangen des Staates ihr Geschäft selbst weiterzuführen oder es anderen zu überlassen. En bloc mit vielen anderen für den Kriegsfall vorbereiteten Maßnahmen stimmte der Ministerrat am 23. Juli 1914 einer kaiserlichen Verordnung „über die Bestrafung der Störung des öffentlichen Dienstes oder eines öffentlichen Betriebes und der Verletzung einer Lieferpflicht“ zu, die am 25. Juli mit Ah. Entschließung angenommen wurde250. Dessen § 1 räumte dem Innenministerium das Recht ein, „Unternehmungen, die für die Zwecke des Staates oder das öffentliche Wohl besonders wichtig sind, für staatlich geschützte Unternehmungen“ zu erklären251.

ℹ️Allerdings ergaben sich bei der Aufrechterhaltung auch dieser geschützten und anderer durch den Staat in Anspruch genommenen Unternehmen Probleme, da Banken wegen des Moratoriums kaum Kredite vergeben konnten. Dies führte sowohl im Bankensektor als auch bei Wirtschaftsunternehmungen zu Refinanzierungsschwierigkeiten. Um Insolvenzen gerade auch von kriegswichtigen Unternehmen zu vermeiden, wurde am 17. September 1914 eine kaiserliche Verordnung über die Einführung einer Geschäftsaufsicht erlassen252. War ein Unternehmer bzw. Unternehmen durch den Krieg zahlungsunfähig geworden, konnte der Unternehmer oder einer seiner Gläubiger den Antrag auf eine gerichtlich bestimmte Geschäftsaufsicht stellen. Diese Geschäftsaufsicht hatte mit den Einnahmen des Unternehmens den Betrieb aufrechtzuerhalten, dem Schuldner und seiner Familie ein Einkommen „zur Bestreitung der Kosten einer bescheidenen Lebensführung“ zu geben und den Rest zur Befriedigung der Gläubiger zu verwenden.

ℹ️Zur Erstellung einer Jahresbilanz für das Jahr 1914, zu der Unternehmer verpflichtet waren, wurde zunächst die Frist bis 30. Juni 1915 erstreckt, Unternehmer aus Galizien, der Bukowina oder dem Gerichtssprengel Cattaro waren hingegen bis 30. Juni von der Erstellung einer Bilanz gänzlich befreit253. Diese Verordnung wurde dann um ein halbes Jahr verlängert, nur die Gebiete, die von der Bilanzerstellung gänzlich befreit waren, auf ganz Dalmatien, das Küstenland und die Kreissprengel Rovereto und Trient ausgedehnt254. In der zweiten Verlängerung Ende 1915 erhielt diese Verordnung eine neue Form255, die nun jedes halbe Jahr verlängert wurde256. Auch die Kriegsverluste von Unternehmen mussten steuerlich berücksichtigt werden257.

ℹ️Außenhandelspolitik

Mit dem Krieg brach der Außenhandel ein, einerseits durch den Abbruch der Handelsbeziehungen zu den feindlichen Staaten, dann durch eine Blockade, die den Handel der Monarchie zu überseeischen neutralen Staaten unterband, aber auch durch eigene gezielte politische Akte. So wurde am 25. Juli 1914 die Einfuhr von Waffen, Munition, Sprengstoffen und Brieftauben, die nicht „den Zwecken der heimischen Kriegsverwaltung“ dienten, ebenso verboten wie die Aus- und Durchfuhr von kriegswichtigen Artikeln – das Finanzministerium durfte im Einvernehmen mit dem Kriegsministerium Ausnahmen bewilligen258. Ein- und Ausfuhrverbote wurden während des Krieges noch viele erlassen, aber nicht alle kamen auf die Tagesordnung des Ministerrates. Neben einem durch den Krieg verursachten verfahrenstechnischen Problem bei den Zolltarifsätzen259 stand speziell der Import von Getreide im Fokus der cisleithanischen Überlegungen.

ℹ️Dass sich lokal „ein Mangel an Approvisionierungsmitteln fühlbar mache“, hielt Stürgkh bereits am 5. August 1914 fest, noch allerdings nicht generell, sondern neben dem besonders auf Verkehrsverbindungen angewiesenen Tirol nur in den Kriegsgebieten Galizien und Dalmatien, weil das Militär große Mengen für sich beanspruchte260. Bereits in der Folgesitzung forderte Schuster dann die Aufhebung des Getreidezolls, wie sie bei Bestellungen der Kriegsverwaltung bereits ausgesprochen worden war. Der Grund war aber nicht die Versorgung der Zivilbevölkerung, sondern die Tatsache, dass Bestellungen von militärischer Seite auf den Weltmeeren „unter allen Umständen als Kriegskonterbande betrachtet werden würden“. Daher solle ermöglicht werden, „auch anderen Faktoren als der Kriegsverwaltung die Möglichkeit zur zollfreien Einfuhr von Getreide zu geben, bzw. die zollfreie Einfuhr ganz allgemein zu gestatten“261. Der Vorstoß der generellen Aufhebung der Zollfreiheit zielte daher darauf ab, militärische Getreidebestellungen in neutralen überseeischen Ländern durch zivile Empfänger zu verschleiern.

ℹ️Da auch Ungarn einer solchen Änderung des Zolltarifes zustimmen musste, forderte Stürgkh die ungarische Seite zur Zustimmung auf, die diese aber kategorisch ablehnte262. Der Versuch Engels, den Zoll nicht nur auf Getreide, sondern auf alle Nahrungsmittel aufzuheben, den er unternahm, bevor er von der ungarischen Zurückweisung erfuhr263, war daher schon mit seinen Ausführungen im Ministerrat obsolet und wurde nicht weiterverfolgt. In intensiven Verhandlungen gelang es Cisleithanien Anfang Oktober 1914 dann doch, die Zustimmung der ungarischen Regierung für die „zeitweilige Außerkraftsetzung der Zölle für Getreide, Hülsenfrüchte, Mehl und Mahlprodukte“ zu erhalten264.

ℹ️Besonders die Einfuhr von Getreide aus Rumänien hätte echte Erleichterung versprochen. Dies wurde auch im Ministerrat besprochen265. Der Vorstoß dazu ließ sich aber zunächst wegen des ungarischen Widerstands, dann wegen der von Russland besetzten Eisenbahnverbindung über die Bukowina bzw. der durch Serbien bei Belgrad gesperrten Donau zunächst nicht realisieren. Erst die Eroberung Serbiens Ende 1915 machte den Weg des rumänischen Getreides nach Österreich-Ungarn frei266.

Die nach den am 25. Juli 1914 erlassenen Aus- und Durchfuhrbeschränkungen, die „im Einvernehmen mit der königlich ungarischen Regierung267 erlassen worden waren, gaben vielfältige Möglichkeiten für Ausnahmen, so gab es bei den in § 1 aufgezählten strikten Ausfuhrverboten für solche Möglichkeiten für das Finanzministerium „im Einvernehmen mit dem k. u. k. Kriegsministerium“. Bei der in § 2 reglementierten Ausfuhr „gegenüber jenen Staaten, nach welchen die Durchfuhr nicht verboten ist“, waren es nach § 3 „die Landeschefs im Einvernehmen mit den Militärterritorialkommandos“. Schließlich besagte § 5: „Die den Zwecken der heimischen Kriegsverwaltungen dienenden Transporte werden durch die Bestimmungen dieser Verordnungen nicht berührt.“ Dies legte die Kriegsverwaltung in der Weise aus, dass zwar die Zivilverwaltung bei Ausnahmen von Ausfuhrverboten das Einvernehmen mit dem Militär suchen musste, nicht aber umgekehrt die Kriegsverwaltung.

ℹ️So hatte das Kriegsüberwachungsamt zu Kriegsbeginn eigenmächtig die Ausfuhr einer größeren Anzahl von Mastochsen ins Deutsche Reich genehmigt, ohne das Ackerbauministerium zu konsultieren. Ackerbauminister Zenker berichtete über „zwei typische Fälle […], wo das Kriegsüberwachungsamt in die Kompetenz der Ressorts eingegriffen habe“, indem es die Ausfuhr verbotener Güter nach Deutschland gestattet hatte268. Stürgkh übernahm es, diese Kompetenzfrage mit dem Kriegsministerium zu klären. Kriegsminister Krobatin räumte zwar in diesen Fällen die prinzipielle Zuständigkeit des Finanzministeriums ein, wies aber auf die Abhängigkeit vom Deutschen Reich hin, womit er indirekt diese Ausfuhr als im Interesse der eigenen Kriegsverwaltung gelegen definierte, also die prinzipielle Zuständigkeit des Finanzministeriums in diesen konkreten Fällen faktisch wieder zurückzog269. Das Thema wurde nicht wieder aufgegriffen, bis dann im Juli 1917 die Macht des Kriegsüberwachungsamtes beschnitten werden sollte270.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass zwei Außenhandelsfragen den Ministerrat beschäftigten: einerseits die Ein- und Ausfuhr durch das Militär und andererseits die Getreideeinfuhr zur Versorgung der eigenen Bevölkerung, besonders aus dem benachbarten Rumänien. Dabei zeigten sich im ersten Fall Koordinationsprobleme mit der Militärverwaltung, im zweiten Fall hingegen mit Ungarn.

ℹ️Das kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz

Schwerfällig waren Entscheidungsprozesse in wirtschaftlichen Fragen bei den vielen nötigen Maßnahmen, die nicht im Voraus geplant worden waren271. Diese Langsamkeit war teils unterschiedlichen Positionen der cisleithanischen Minister geschuldet, wie in der Frage des Umgangs mit der belgischen Internationalen Schlafwagengesellschaft, teils lag es an den entgegengesetzten Standpunkten der cisleithanischen und der ungarischen Regierung wie in der Frage des Getreidezolls. Umso wichtiger war es, dass die Regierung im Notfall ihre Maßnahmen schnell umsetzen konnte.

Eine schnelle Umsetzung war zwar prinzipiell möglich, weil der Reichsrat nicht versammelt war und man jederzeit mittels kaiserlicher Verordnungen gesetzliche Regelungen treffen konnte. Doch scheint auch dieses Verfahren, das immer einen au. Vortrag an den Monarchen und seine Ah. Entschließung zur Voraussetzung hatte, als für den Ernstfall zu langwierig angesehen worden zu sein. Warum dieser Weg als zu unsicher angesehen wurde, ist unklar. Möglicherweise handelte es sich auch um eine Vorsorge, damit die Regierung in zentralen politischen Bereichen auch dann handlungsfähig bleiben würde, wenn der greise Monarch aus gesundheitlichen Gründen ausfallen würde.

Jedenfalls beantragte Heinold in der Sitzung vom 5., 6. und 7. Oktober 1914 die Zustimmung des Ministerrates zur Erwirkung einer kaiserlichen Verordnung, „mit welcher die Regierung ermächtigt wird, aus Anlass der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen“272, die nach der Ah. Entschließung des Monarchen vom 10. Oktober 1914 am 13. Oktober 1914 im CLIV. Stück (1914) des Reichsgesetzblattes erschien273. Sie wurde in der Folgezeit Rechtsgrundlage vieler ministerieller Verordnungen, die Gesetzesmaterien betrafen. Die erste betraf die Beschränkung der Kälberschlachtung274. Wie jede kaiserliche Verordnung musste sie dem Reichsrat bei nächster Gelegenheit vorgelegt werden, der sie verwerfen und damit rechtsunwirksam machen oder durch die Überführung in ein Gesetz annehmen konnte. Unter den 181 kaiserlichen Verordnungen, die am 30. Mai 1917 dem wieder einberufenen Abgeordnetenhaus vorgelegt werden sollten, befand sich daher auch diese kaiserliche Verordnung. Sie wurde am 14. Juli 1917 angenommen und nach der Sanktion durch Kaiser Karl zu einem Gesetz275, dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz. Es sollte, nachdem es von der österreichischen Ersten Republik übernommen worden war, ein unrühmliches Nachleben führen276. Das Gesetz wurde erst nach der Wiedereinführung des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 von der österreichischen Zweiten Republik 1946 außer Kraft gesetzt277.

Maßnahmen zur Versorgung der Bevölkerung

Das Nahrungsmittelproblem trat der Regierung in unterschiedlichem Gewand entgegen: anfangs als eine Frage des Preises, dann – bis 1916 – als Frage des Mangels und schließlich, in der zweiten Hälfte des Krieges ab Ende 1916, als Kampf des reguliert-legalen Handels mit dem illegalen Schleichhandel.

ℹ️Bereits mit den ersten Anzeichen des Krieges begannen die Preise anzuziehen278. Daher sah sich der Innenminister schon am 31. Juli 1914 veranlasst, „nach dem Muster des Gesetzes betreffend die Kriegsleistungen vom 26. Dezember 1912 […] auch die Approvisionierung der Zivilbevölkerung für die Dauer des Krieges zu sichern und der Gefahr einer übermäßigen Preissteigerung zu begegnen“279. Dieser Vortrag Heinolds zur Erlassung einer kaiserlichen Verordnung, „mit welcher für die Dauer der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse Bestimmungen über die Versorgung der Bevölkerung mit unentbehrlichen Bedarfsgegenständen getroffen werden“, wurde an einem Freitag erstattet und noch am Samstag von der eigentlich geschlossenen Kabinettskanzlei angenommen, am selben Tag von Franz Joseph resolviert und im Reichsgesetzblatt publiziert, um am Montag bereits Preissteigerungen zu verhindern280. Darin zeigt sich, als wie dringend die Angelegenheit eingeschätzt wurde. Dabei verfolgte die Verordnung „zunächst den Zweck, den beunruhigenden Gerüchten über Mangel an Lebensmitteln den Boden zu entziehen“, andererseits wurde mit ihr der rechtliche Boden geschaffen, „behördlich feststellen zu können, ob und in welcher Menge unentbehrliche Bedarfsgegenstände, die zur Befriedigung notwendiger Lebensbedürfnisse für Menschen und als Nahrungsmittel für Haustiere dienen, sowie Sachen, aus denen diese Bedarfsgegenstände erzeugt werden, im Inlande vorrätig sind“281. Es ging also um die Schaffung eines Überblicks, der als Planungsgrundlage dienen sollte.

ℹ️Aber dass es ernste Mängel aufgrund fehlender Quantitäten geben könne, daran glaubte die Regierung noch nicht. Ursache sei letztlich das „eigennützige Treiben“ der Verkäufer und die „Sistierung des Güterverkehres auf den Bahnen“ zugunsten des Militärs, die „eine bessere Verteilung des vorhandenen Quantums nicht recht gestatte“282. ℹ️Nur lokale Versorgungsprobleme könne es aus Sicht der Minister geben. Daher wurden nicht die Zentralstellen, sondern nur die politischen Landesbehörden ermächtigt, „Vorräte an unentbehrlichen Bedarfsgegenständen (§ 2, Absatz 1) von Erzeugern und Händlern zur Versorgung von Gemeinden anzufordern“283. Die Initiative zur Anforderung von Bedarfsgegenständen wurde daher in die Hände der Gemeinden gelegt, die einen entsprechenden Antrag bei den Landesbehörden einzubringen hatten. ℹ️Neben der Bestandsaufnahme der Bedarfsgegenstände und der Lieferpflicht war eine dritte zentrale Bestimmung das Verbot der Preistreiberei: das Fordern „offenbar übermäßiger Preise“, der Aufkauf oder die Einschränkung des Angebots, „um ihren [der Bedarfsgüter] Preis auf eine übermäßige Höhe zu treiben“ und die Verbreitung unwahrer Nachrichten „oder ein anderes Mittel der Irreführung“ zu demselben Zweck284. Weil sich jedoch die Bestimmungen vor den Ernten 1915 und 1916 jedes Mal als ungenügend herausstellten, musste diese Regelung der „Versorgung mit unentbehrlichen Bedarfsgegenständen“ zweimal novelliert werden und fand in der kaiserlichen Verordnung vom 24. März 1917 ihre im Weltkrieg letzte Fassung285. Wieder einmal versuchte man, die Preise zu beeinflussen, statt zu planen.

ℹ️Flankierend zum Verbot der Preistreiberei sollte eine Reform des Wuchergesetzes wirken. Am 9. Oktober 1879 hatten der deutschliberale Abgeordnete August Weeber und Genossen einen Gesetzentwurf „betreffend die Zinsen und Nebenleistungen bei Creditgeschäften“ in das Abgeordnetenhaus eingebracht286. Begründet wurde diese Initiative mit der Notwendigkeit der „Verbesserung der wirthschaftlichen Verhältnisse der Bevölkerung“, zu der „in erster Linie das Begehren nach solchen Reformen, welche die Creditverhältnisse der Landbevölkerung und des kleinen Gewerbsmannes zu fördern geeignet sind“, gehörte. Dieses Gesetz wurde nach langen Verhandlungen und größeren Änderungen, auch im Herrenhaus, schließlich 1881 angenommen und als „Gesetz betreffend Abhilfe wider unredliche Vorgänge bei Creditgeschäften“ sanktioniert287. Seine Bestimmungen, so führte Hochenburger Anfang Oktober 1914 aus, „seien schon immer unzureichend gewesen, hätten sich aber gerade gegenwärtig [seit Kriegsbeginn] als ganz ungenügend erwiesen“288. Zudem stellte Zenker fest, „dass die Getreidepreise eine sehr auffallende Steigerung erkennen lassen, die keineswegs durch die Beschränktheit des zur Verfügung stehenden Quantums allein zu erklären, sondern vielfach der ungesunden Spekulation auf diesem Gebiete zuzuschreiben sei“289. Um dieser Spekulation entgegenzutreten, stellte Hochenburger daher eine kaiserliche Verordnung zur Diskussion, welche die Bestimmungen vom Kredit- auch auf den Sachwucher ausdehnen, Wuchergeschäfte, die bisher Vergehen gewesen waren, nun teilweise als Verbrechen einstufen und die Strafen anheben sollte. Diese Verordnung wurde nach der kaiserlichen Sanktion erlassen290.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass bald nach Kriegsbeginn die Rechtsgrundlagen zur Zivilversorgung für die im Entstehen begriffene Kriegswirtschaft geschaffen wurden. Dazu gehörten Vorratserhebungen an „unentbehrlichen Bedarfsgegenständen“ im Privatbesitz, um zu erfahren, wie viele der zentralen Schlüsselgüter überhaupt vorhanden waren. Dies war schon aus dem Grund wichtig, dass sie im Notfall nach dem Bedarf verteilt werden konnten und dass dem Wucher mit den immer knapper werdenden Sachgütern entgegengetreten werden konnte. Doch erwiesen sich diese Maßnahmen permanent als ungenügend und mussten während des gesamten Krieges ständig ausgeweitet und verschärft werden, ohne dass es aber gelang, des Problems Herr zu werden.

ℹ️Letztlich machten die Regelung der Versorgung der Bevölkerung mit unentbehrlichen Versorgungsgütern und die Reform des Wuchergesetzes bald nach Kriegsbeginn deutlich, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Krieges auf die Zivilgesellschaft bei den kriegsvorbereitenden Maßnahmen nicht mitbedacht worden waren. Beim Schuldenmoratorium war den Verantwortlichen die Notwendigkeit solcher Regelungen zumindest bewusst, wenn diese Vorarbeiten auch ihr Ziel nicht erreichten. Beim Wuchergesetz von 1881 aber, dem Hochenburger ja attestierte, schon in Friedenszeiten unzureichend gewesen zu sein, machte man sich über Reformen im Kriegsfall im Vorfeld gar keine Gedanken. Ebenso fehlte jegliche Vorüberlegung einer Regelung zur Zivilversorgung „nach dem Muster des Gesetzes betreffend die Kriegsleistungen“ (also der Militärversorgung). Erst mit Kriegsbeginn verfiel die Regierung in hektischen Aktionismus. Das Resultat waren kaiserliche Verordnungen, die wie das Zivilversorgungsgesetz ständig novelliert werden mussten oder die Wucherverordnung, die von Anfang an wie das Vorläufergesetz „unzureichend“ war. Denn das, was sie in den Griff bekommen sollte – den Sachwucher und damit zusammenhängend den Schleichhandel – konnte sie nie fassen291.

Sicherung von Arbeitskräften für die Versorgung

ℹ️Auch durch Maßnahmen zur Vermehrung des Quantums an unentbehrlichen Versorgungsgütern, in erster Linie von Getreidenahrung, sollte die Zivilversorgung gesichert werden, nicht nur über die Preisregulierung. Dazu gehörte im ersten Kriegsmonat aber nur, für die Herstellung der notwendigsten Güter des Zivilbedarfs ausreichend Arbeitskräfte einsetzbar zu haben. Dem Arbeitskräftemangel, der durch die Mobilisierung 1914 und später die Rekrutierungen entstand, versuchte man im Bergbau und der gewerblichen Produktion durch die Aufhebung der Sonn- und Feiertagsruhe sowie den massiven Ausbau der Überstunden entgegenzuwirken, wie bereits weiter oben beschrieben.

ℹ️Es ergab sich aber noch ein weiteres Problem. Die Mobilisierung fand statt, bevor die Herbsternte eingefahren war. Diese war aber Grundlage der Lebensmittelversorgung des kommenden Jahres. ℹ️Daher waren „rasche Maßnahmen zur Unterstützung jener landwirtschaftlichen Betriebe, die infolge der Mobilisierung von Arbeitskräften entblößt“ worden waren, notwendig292. Um nun die Erntearbeiten sicherzustellen, war wichtig, „nicht lediglich auf die freiwillige Mitwirkung angewiesen zu sein, sondern auch einen angemessenen Zwang ausüben zu können“. Die kaiserliche Verordnung vom 5. August 1914 schuf die rechtliche Grundlage293, auf der dann in den landwirtschaftlichen Gemeinden Erntekommissionen gebildet wurden, die den Mangel an Arbeitskräften und die im Gemeindegebiet verfügbaren Arbeitskräfte festzustellen sowie deren Verteilung und „die Heranziehung auswärtiger [aus anderen Gemeindegebieten] Arbeitskräfte Vorsorge zu treffen“ hatten294.

ℹ️Zwar fiel das Ernteergebnis an Brotfrüchten (Weizen und Roggen) schlechter aus als die bereits unterdurchschnittliche Ernte 1913. Klammert man für Cisleithanien die vom Krieg betroffenen Gebiete Galizien und die Bukowina aus, sank das Ernteergebnis um etwa 10 % von 3,2 auf 2,9 Millionen Tonnen Brotgetreide. Im Vergleich zu Ungarn, wo sich die Brotfruchternte um über 25 % von 5,9 auf 4,3 Millionen Tonnen reduzierte, war der Einbruch 1914 jedoch relativ gering. Dennoch waren diese Ernteergebnisse Cisleithaniens besorgniserregend, denn Galizien und die Bukowina, mit einer Ernte von 1,1 Millionen Tonnen 1913, fielen nun faktisch komplett aus. Zudem sank die Getreide- und Mehleinfuhr aus Ungarn um 20 % (von 2,1 auf 1,7 Millionen Tonnen). Hatte Cisleithanien im Erntejahr 1913/14 (August bis Juli) ungefähr sechs Millionen Tonnen Brotgetreide zur Verfügung, waren es 1914/15 etwa 4,5 Millionen Tonnen, ein Rückgang um 25 %295. Somit stellte sich dem Ministerrat die Frage, wie darauf zu reagieren sei.

Streit um die Regulierung der Getreideversorgung

ℹ️Die Preise stiegen ungebremst weiter. Während das Kilogramm Weizenmehl erster Qualität in Wien im Juli 1914 noch 44 h gekostet hatte, kletterte der Preis bis Oktober auf 62 h (Graz 48 auf 64, Prag 48 auf 68 und Krakau 48 auf 68 h)296. Doch so eindeutig die Sachlage war, in der Analyse der Ursachen und der Maßnahmen zu seiner Behebung entstanden im Ministerrat zwei Lager, die in ihrer Klarheit in den glättenden Formulierungen der Protokollführer selten herausgelesen werden können. ℹ️Elf Tage nach der Erlassung der kaiserlichen Verordnung über den Wucher beriet der Ministerrat erneut über „Maßnahmen zur Regulierung der Preise auf dem Gebiete des Handels mit wichtigen Bedarfsartikeln“297. Schon die einleitenden Worte Heinolds können nicht anders denn als Bankrotterklärung des bisherigen Weges verstanden werden:

Diese Ermächtigung [nach § 4 der kaiserlichen Verordnung v. 1. August 1914, RGBl. Nr. 194/1914, Erzeuger zur Versorgung der Gemeinden zu verpflichten,] habe aber keine wesentliche praktische Bedeutung erlangt, weil die Gemeinden, deren Initiative bei der Inanspruchnahme von Bedarfsartikeln vorausgesetzt wurde, von dem ihnen eingeräumten Rechte, deren Requisition im Wege der Landesbehörden anzusprechen, keinen Gebrauch machten298. Zwischenzeitig habe sich nun insbesondere infolge des Bestrebens der Händler, Vorräte aufzukaufen und mit ihnen zur Erzielung hoher Preise zurückzuhalten, ein gewisser Mangel an einzelnen Bedarfsgegenständen, insbesondere an Brotfrucht, geltend gemacht, welcher Mangel in der Form eines raschen Emporschnellens der Preise unangenehm fühlbar werde.299

ℹ️Daher schlug der Minister des Innern vor, „dass die Requisition von Bedarfsartikeln bei den Landesbehörden nicht bloß von den Gemeinden, sondern auch von den Ländern, Bezirken oder staatlichen Behörden solle provoziert werden können und dass bei Ermittlung der für die requirierten Waren zu zahlenden Preise auf die Ansätze bei Kriegsleistungen Bedacht genommen werde“.

ℹ️Dieser Vorstoß Heinolds spaltete den Ministerrat. Von den sechs im Ministerratsprotokoll festgehaltenen Meinungen sprach sich neben dem Innenminister noch Ackerbauminister Zenker für diese Maßnahmen aus. Das Gegenlager führte Handelsminister Schuster an. Er wies auf die Abhängigkeit Cisleithaniens von Ungarn hin und führte aus, da die Ernte mittelmäßig ausgefallen und der Import zumindest stark beschränkt sei, werde man „bis zur nächsten Ernte das Auslangen nicht finden“. Da die Armeeversorgung nicht reduziert werden könne, „müsse eben die Bevölkerung zu Hause ihren Konsum während der Kriegszeit wesentlich einschränken“. Von diesen Prämissen ausgehend kam Schuster zu der für die österreichische Schule der Volkswirtschaft geradezu idealtypischen Schlussfolgerung:

Um dieses Ziel zu erreichen, gebe es aber kein anderes so zuverlässiges Mittel als die geradezu automatisch wirkende Steigerung der Preise. Diese letztere sei ein in der Natur der Sache selbst liegendes Korrektiv gegenüber dem Mangel an Vorräten.

ℹ️Dass dies von Produzenten und Spekulanten genutzt werden könne, sich über die eintretende Not zu bereichern, „sei zu bedauern, aber nicht zu umgehen“. Nahrungsmittel zu verbilligen würde jedoch nur ein „vorzeitiges Aufbrauchen der Inlandsvorräte“ zur Folge haben und die Monarchie daher militärisch schwächen. Darin wurde Schuster von Eisenbahnminister Forster unterstützt. Eine Regulierung der Preise sah Schuster nur in einer Cisleithanien und Ungarn umfassenden Organisation des Getreidehandels, „mit dessen Verwirklichung der sprechende Minister sich ernstlich beschäftige“.

ℹ️Eine Stellung zwischen beiden Lagern nahmen zwei Minister ein. Erstens der Leiter des Finanzministeriums Engel (er sollte nur wenige Tage später Finanzminister werden), der sagte, Heinold habe letztlich zwei Vorschläge gemacht: einerseits, neben den Gemeinden auch anderen Behörden das Initiativrecht zur Requirierung einzuräumen, und andererseits, bei Requirierungen auf die vom Militär gezahlten Preise zurückzugreifen. Nur das Letztere habe Schuster vehement abgelehnt. Zweitens nahm diese Position dann auch Stürgkh ein, allerdings mit dem klaren Hinweis, er „hätte es daher lebhaft begrüßt, wenn es möglich gewesen wäre, durch Verwirklichung des vom Minister des Innern befürworteten Projektes den berechtigten Wünschen der Öffentlichkeit Rechnung zu tragen“, denn „die Bevölkerung erwarte dringend eine Abhilfe“, wobei sie „den Erwägungen hinsichtlich der Notwendigkeit einer Beschränkung des Konsums […] begreiflicherweise nicht recht zugänglich“ sei. Das Ergebnis der Besprechung war, die Vorschläge Heinolds „vorläufig“ zurückzustellen und stattdessen Verhandlungen mit Ungarn über Höchstpreise von Nahrungsmitteln zu führen.

ℹ️Bereits in der nächsten Sitzung wies Stürgkh, nachdem die Tagesordnung eigentlich erschöpft war, auf die Dringlichkeit der Nahrungsmittelfrage hin. Ungarn, das bisher gebremst habe, fange an, „die Notwendigkeit der Einführung von Höchstpreisen anzuerkennen“300. Deshalb wäre es „äußerst misslich, wenn etwa in einem Zeitpunkte, wo Ungarn sich der bisher von österreichischer Seite propagierten Auffassung anschließen würde, die österreichische Regierung nicht in der Lage wäre, sofort mit konkreten Vorschlägen an Ungarn bzw. mit konkreten Maßnahmen ihrerseits hervorzutreten“301.

ℹ️Erst am 28. November gab Schuster seinen Widerstand in der Preisfrage auf, allerdings nicht ohne ein ideologisches Rückzugsgefecht. Höchstpreise seien nur unter bestimmten „Gesichtspunkten“ gerechtfertigt. Er wollte nicht von der Behauptung abrücken, dass „die Steigerung der Zerealienpreise während der Kriegszeiten eine Reflexerscheinung und ein notwendiges Korrelat der anderen Tatsache sei, dass in diesen Zeiten eben für den Konsum weniger Brotfrucht zur Verfügung stehe“. Er unterstrich seine Position, indem er sagte: „Wenn die Preise des Getreides steigen, werde die Bevölkerung zu einer gewissen Sparsamkeit im Konsum veranlasst. Die Preissteigerung […] zeige sich dann als ein nützlicher Faktor, der zur Sparsamkeit mahnt und automatisch für die zweckmäßige Verteilung der an sich kaum zulänglichen Vorräte […] wirkt.“ Deshalb dürfe der Staat „nicht ohne Weiters dem Drängen der Bevölkerung, die natürlich nur über die Not des Augenblicks hinwegkommen will, [nachgeben] und durch scharfe Maßnahmen die für die weitere gesunde Entwicklung geradezu unerlässliche Preissteigerung einfach […] unterbinden“302. Dass er vorher die Verordnung bekämpft habe und nun nachgebe, versuchte er mit der Behauptung zu kaschieren, er habe das so geplant, denn es gelte, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, und Höchstpreise (die er zuvor gänzlich ausgeschlossen hatte) nicht zu früh einzuführen, nämlich „nicht in einem Stadium, wo die Preise zwar absolut genommen vielleicht hoch, aber unter den besonderen Verhältnissen noch immer eigentlich zu niedrig sind, sondern erst dort, wo der einmal erreichte und nun festzulegende Preis bereits seine notwendige Funktion als Regulator des Konsums entfalten kann.“ Just jetzt sei dieser Zeitpunkt also gekommen. Außerdem sei ein Übereinkommen mit Ungarn erzielt worden und schließlich seien „die beteiligten Ressorts“ auch „darüber ins Reine gekommen“, neben den Höchstpreisvorschriften auch flankierende Maßnahmen zu beschließen, die verhindern sollten, dass die Deckelung der Nahrungsmittelpreise nur zu einem schnelleren Verbrauch der Quantitäten führe. So sollte künftig Brotmehl aus Weizen und/oder Roggen durch Beimischung von etwa 30 % Gersten-, Mais-, Kartoffelwalz- oder Reismehl gestreckt werden. Mit diesen Streckungsmaßnahmen wäre dann – so hoffte man – die von Schuster angeführte objektive Mehlknappheit beseitigt. Nach der Zustimmung des Ministerrates zu beiden Verordnungen wurden sie sofort erlassen303.

ℹ️Diese beiden Verordnungen wurden noch oft abgeändert, aber – zumindest soweit es sich aus den Tagesordnungen ergibt – bis Ende 1916 nicht mehr vom Ministerrat besprochen. Hingegen beschäftigte sich der Ministerrat mit Maßnahmen, wie die Menge des der menschlichen Versorgung dienenden Getreides vermehrt, zumindest aber eine Verminderung verhindert werden könne, durch Düngemittelverordnungen304, durch die Regelung der Veräußerung landwirtschaftlichen Besitzstandes, um „dem allgemeinen Interesse an der Erhaltung eines leistungsfähigen Bauernstandes“ zu entsprechen305, sowie durch die Einschränkungen der Erzeugung von Genussmitteln aus Lebensmitteln306.

ℹ️Durch die kaiserliche Verordnung zur Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit unentbehrlichen Versorgungsgütern, die Ausweitung des Wuchergesetzes auf Sachgegenstände, die Regelungen zur Sicherstellung der Erntearbeiten und die beiden Ministerialverordnungen zur Streckung von Mehl und zu den Höchstpreisen wurden zwar die privaten Handelsbeziehungen stärker reglementiert als in Friedenszeiten, aber die Versorgungssysteme der Zivilgesellschaft selbst, also – wirtschaftswissenschaftlich formuliert – der Markt, blieb auch nach Kriegsbeginn in privaten Händen. Anders sah es bei der Militärversorgung aus, deren Bedarf – bestimmt durch das Kriegsleistungsgesetz von 1912 – über Anforderungen und normierte Abnehmerpreise organisiert war. Zu solch einem Schritt hatte man sich in der Frage der Zivilversorgung bis Ende 1914 nicht durchringen können.

Von der Approvisionierungskommission zum Amt für Volksernährung

ℹ️Die gesetzten Maßnahmen halfen für die Zivilversorgung nicht viel. Die Nahrungssituation entspannte sich keineswegs. Am 30. Jänner 1915 mussten die Streckungen sogar noch ausgedehnt werden: Zur Broterzeugung durften nur mehr 50 % an Weizen und Roggen verwendet werden307, Ungarn reduzierte den Anteil am 30. März 1915 sogar auf 30 % und legte den Maisanteil mit mindestens 50 % fest308. So weit ging Cisleithanien legistisch nicht, schon allein, weil der Maisanbau in Cisleithanien gering war.

ℹ️Bedingt durch den besonders großen Ernteeinbruch um 25 % war die Versorgungslage in Ungarn bis etwa Mai 1915 dramatisch. Dies zeigte sich bereits darin, dass die Maßnahmen zur Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung früher als in Cisleithanien und ohne Koordination mit ihm ergriffen wurden309. Erst einen Monat nach Ungarn wurden auch in Cisleithanien Anfang 1915 weitere Schritte zur Verbesserung der Getreideversorgung gesetzt; sie wurden in der Folge allerdings konsequenter und schneller ausgebaut als in Ungarn. Dort verbesserte sich die Versorgungslage ab Mai 1915 übrigens deutlich und Ungarn hatte von nun an bis Kriegsende die beste Versorgung der Mittelmächte310.

ℹ️Bedeuteten die bisherigen Maßnahmen zwar Reglementierungen, jedoch noch keine Aufhebung des privat organisierten Getreidehandels, nahm nun der Staat die gesamte sogenannte Bewirtschaftung unter seine Kontrolle, also den gesamten Handel vom Ankauf der Ernte über die Zuteilung an Mühlen, Bäcker und andere weiterverarbeitende Betriebe bis hin zu den Kleinverschleißern, die ihre Produkte an die Konsumenten verkauften. Zu diesem Zweck wurde im Februar 1915 zunächst „der Verkehr mit Getreide und Mahlprodukten geregelt“311, d. h. der gesamte Privatbestand an Getreide und Mahlprodukten wurde zuerst gesperrt. Niemand durfte seinen Besitz verkaufen oder verbrauchen (§ 2) mit Ausnahme täglich festgelegter Rationen für Menschen und Tiere (§ 3). Diese Bestände waren danach behördlich zu erfassen, woraufhin „der Minister des Innern bestimmt, nach welchen Grundsätzen die verfügbaren Vorräte dem Verbrauche zuzuführen sind“ (§ 14)312.

ℹ️Aus diesem Grund wurde am 27. Februar 1915 die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt gegründet313, eine Privatgesellschaft, die im öffentlichen Auftrag tätig war und dem Ministerium des Innern unterstand. Sie hatte den Nahrungsbedarf, die Verteilung der Vorräte und die Preise zum Ankauf der Ernte (Übernahmspreis), die Entlohnung von Müllern und Bäckern und den An- und Verkaufspreis der Kleinverschleißer zu bestimmen. Sie bestellte private Händler, die für bestimmte Gebiete das ausschließliche Recht zum Ankauf des Getreides besaßen, für das sie den festgeschriebenen Preis zahlten. Außerdem war die Kriegs-Getreide-Verkehrsanstalt exklusiv zum Getreidehandel mit Ungarn, Bosnien-Herzegowina und dem Ausland berechtigt. Auf dem Beschlagnahmesystem des inländischen Getreides baute dann eine weitere Verordnung auf314, welche die tägliche Ration für sogenannte Selbstversorger – Landwirte und die von ihnen verpflegten Personen (300 g Getreide, in etwa 240 g Mehl) – und sogenannte Nichtselbstversorger – alle anderen (200 g Mehl) – bestimmte. Darauf folgte die Bestimmung, dass die künftige Ernte nicht verkauft werden dürfe315. Mitte Juni bereitete man sich auf die Herbsternte 1915 vor, indem sie „mit dem Zeitpunkt der Trennung vom Ackerboden zu Gunsten des Staates beschlagnahmt“ war316. Diese Bestimmung wurde auch auf Hülsenfrüchte ausgedehnt317. Derselbe Vorgang wiederholte sich im folgenden Jahr: die Ungültigkeitserklärung von Käufen der künftigen Ernte318, die Beschlagnahmung der Ernte an Getreide und Hülsenfrüchten319 sowie „die Festsetzung der Übernahmspreise für beschlagnahmte Getreide- und Hülsenfrüchte“320.

ℹ️Dieses System der staatlichen Bewirtschaftung des Zivilbedarfs mit seinen Beschlagnahmungen und Rationierungen wurde mit der Zeit auf immer mehr Nahrungsmittel ausgedehnt: Höchstpreise für Kartoffeln und – als nicht-Brotgetreide – Hafer321 wurden ebenso eingeführt wie die „Regelung des Absatzes von Kleie“322 und von Zucker323. Die Bestimmungen für Zucker wurden Anfang 1916 abgeändert324.

Hatte der Staat bis Ende 1914 nur regulierend in die Privatwirtschaft eingegriffen, das System der Privatwirtschaft aber nicht angegriffen, übernahm er also 1915 für Brotgetreide und Hülsenfrüchte den gesamten Handel, ab der sogenannten Trennung der Ernte vom Boden über die verschiedenen Verarbeitungsschritte bis zum Verkauf des Endprodukts an den Konsumenten.

ℹ️Doch auch diese tiefgreifenden Maßnahmen beruhigten die Ernährungssituation in der Folge keineswegs. Die durch die Staatsverwaltung aufgebrachte Herbsternte 1915 machte – obwohl nun auch Galizien und die Bukowina Ernteergebnisse auswiesen – nur drei Viertel der Ernte von 1914 aus (von 2,9 auf 2,2 Millionen Tonnen), die Einfuhren aus Ungarn sanken von 1,7 auf 0,8 Millionen Tonnen. Auch der Import Österreichs-Ungarns aus dem Ausland schrumpfte – er sollte erst 1916 wegen der Einfuhren aus Rumänien stark ansteigen325.

ℹ️Um mit diesen deutlich reduzierten Mengen dennoch auszukommen, musste die Ernährungsverwaltung verbessert werden. Bisher mussten Innen-, Finanz-, Justiz-, Handels- und Ackerbauministerium in der Organisation zusammenwirken, wobei jedes seinen eigenen Aufgabenbereich hatte, den es „im Einvernehmen“ mit den anderen wahrnahm. Dazu gab es zwar seit Kriegsbeginn eine im Kriegsministerium angesiedelte interministerielle Kommission zur wirtschaftlichen Mobilisierung, „welche sich jedoch den gesteigerten Anforderungen der Kriegszeit gegenüber nicht als ausreichend erwiesen habe“326. Zudem erstreckte sich die staatliche Bewirtschaftung auf immer mehr Nahrungsmittel oder Nahrungsmittelgüter, von denen jedes seine eigene Organisation hatte. Somit galt es, die von den unterschiedlichen Ministerien wahrgenommenen Aufgabenbereiche ebenso unter die lenkende Kontrolle einer Institution zu stellen wie die verschiedenen Versorgungsgüter.

ℹ️Im Mai 1916 erhielt Heinold die erbetene Zustimmung des Ministerrates zur Bildung einer „interministeriellen Kommission für die Approvisionierungsangelegenheiten“, kurz Approvisionierungskommission. Sie sollte aus Sektionschefs von sechs Ministerien unter der Leitung des Innenministeriums bestehen. Sie hatte selbst keine Entscheidungen zu treffen, diese waren weiterhin den zuständigen Ressorts vorbehalten. Die Aufgabe der Kommission bestand darin, „durch eine sorgfältige Evidenthaltung der einzelnen Fragen deren rascheste Bereinigung zu fördern“. Zudem war ihr ein Beirat anzugliedern, der „eine gewisse Auseinandersetzung zwischen den maßgebenden Regierungsstellen einerseits und den Vertretern der Produktion und Konsumtion andererseits“ herbeiführen sollte327. Den Vorschlag Forsters, der es begrüßt hätte, „wenn in der angedeuteten Richtung weiter gegangen und zur Schaffung einer eigenen Zentralstelle oder eines Ernährungsamtes geschritten würde“, lehnten Handelsminister Spitzmüller und Finanzminister Leth ab, weil „die Schaffung einer eigenen Zentralstelle wohl kaum zu einer Vereinfachung des Geschäftsganges führen, sondern die Gefahr einer Verwirrung im Behördenorganismus mit sich bringen würde“.

ℹ️Da sich aber auch diese Kommission nicht bewährte, tauchte das von Forster zur Diskussion gestellte Ernährungsamt schnell wieder auf der Tagesordnung auf328. Es wurde am 13. November 1916 als Amt für Volksernährung errichtet329. Seine Aufgaben: „Verwaltung aller mit der Volksernährung im Kriege unmittelbar oder mittelbar zusammenhängenden Angelegenheiten“330. Es unterstand nun dem Ministerratspräsidium. In Wirksamkeit trat das Amt für Volksernährung aber erst nach dem Tod Franz Josephs am 1. Dezember 1916331. Seit der Verschärfung der Ernährungslage im Mai 1916 war ein solches Amt (nach deutschem Vorbild) im ℹ️Zentralorgan der sozialdemokratischen Opposition gefordert worden332.

Getrieben durch die Probleme der Zivilversorgung, mit anderen Worten, den Hunger, entstand eine immer umfassender werdende Ernährungsverwaltung, ohne jedoch die Situation zu verbessern. Mit der Errichtung des Amtes für Volksernährung begann ein erneuter Versuch, der Situation Herr zu werden. Er wurde Anfang 1917 fortgesetzt, in seiner Folge entstanden neue Ämter wie die Preisprüfungsstellen oder die Ernährungsinspektoren.

ℹ️Auch wenn die Rolle Ungarns bei Versorgungsfragen durchaus zur Sprache kam – in der Frage der zollfreien Einfuhr von Getreide oder in der Begründung Schusters, dass bei Höchstpreisen sinnvoll nur gemeinsam mit Ungarn vorgegangen werden könne – so entspricht die Behandlung im Ministerrat keineswegs der Bedeutung Ungarns für die Lebensmittel-, besonders Getreide- und Mehlversorgung Cisleithaniens333. Dies Thema stand aber oft auf der Tagesordnung im gemeinsamen Ministerrat, auf den hier verwiesen wird334.

Versorgungsprobleme und daraus resultierender Hunger zwangen die Regierung zu zentraler Planung in Form einer zentralen Stelle, dem Amt für Volksernährung. Den Hungerwinter 1916/17 konnte aber auch dies nicht verhindern.

Sicherung von Kohle, Erdöl und Metallen

ℹ️Kohle war das zweite zentrale unentbehrliche Bedarfsgut. Allerdings hatte sie neben den Quantitäten für den Privatverbrauch, der sogenannten Hausbrandkohle, noch zwei weitere zentrale Funktionen zu erfüllen, die Vorrang hatten: An erster Stelle stand die Versorgung der Eisenbahnen, die alles in Bewegung hielten; an zweiter Stelle folgte die Versorgung der Rüstungs- und anderer zentraler Industrien. In einem ganz anderen Maß als bei der Nahrung war die Frage der Kohleproduktion mit der des Abtransports durch die Eisenbahnen verknüpft oder, wie es Trnka bereits im November 1914 formulierte: „Der springende Punkt in der Kohlenversorgung sei naturgemäß die Beistellung von Kohlenwaggons, da, wenn diese nicht im ausreichenden Maße erfolge, auch die Beschaffung der Kohle erfolglos wäre“335.

ℹ️Um optimal Kohle fördern zu können (eine ausreichende Wagenbeistellung vorausgesetzt), nahm der Ministerrat eine Verordnung an, die es dem Minister für öffentliche Arbeiten erlaubte, gefristete, also stillgelegte, Unternehmen wieder in Betrieb zu nehmen, Überschichten (faktisch Überstunden) und Sonntagsarbeit anzuordnen und den Bergbauen Betriebspläne vorzuschreiben. Ebenso konnte er „behufs einer im öffentlichen Interesse notwendigen Versorgung der Bevölkerung oder der Befriedigung eines dringenden öffentlichen Bedarfes die Besitzer von Kohlenbergbauen zur Lieferung von Kohle in bestimmten Mengen und Sorten aus ihren Betrieben verpflichten“. Diese Lieferpflicht traf auch auf Kohlehändler zu336.

ℹ️Wie bereits bei den Regelungen zu den Getreidepreisen, äußerte Schuster auch hier seine Bedenken337. Diese galten dabei nicht den Rechten des Ministers zur Erhöhung der Kohleproduktion, auch nicht dem Anforderungsrecht bei den Grubenbesitzern, denn diese hätten ein Interesse, „möglichst viel zu fördern und sie würden in der Betätigung dieses Interesses gewiss auch durch das Recht der Staatsverwaltung, die geförderte Kohle in Anspruch zu nehmen, nicht beirrt werden“. Er stieß sich vielmehr an dem Anforderungsrecht bei den Händlern, denn „für diese sei die Sicherstellung von Kohlenvorräten immerhin mit einem gewissen Risiko verbunden, welches in der Frage des Preises liege“. Dennoch wollte „er dem Zustandekommen der geplanten Verordnung nicht weiterhin entgegentreten“. Dass der Ministerrat nach dieser Wortmeldung Schusters ohne weitere Beratung „sohin“ die Zustimmung zur Verordnung Trnkas erteilte, zeigt, wie isoliert der Handelsminister bereits im November 1914 war338.

ℹ️Am 8. März 1915 wurde die „Regelung der Kohlepreise“ beraten339 und am 17. April 1915 die „Verhandlungen mit den Vertretern des Ostrau-Karwiner Steinkohlenreviers wegen der von ihnen beabsichtigten Preiserhöhung“340. Nach der Rückeroberung der galizischen Ölfelder 1915 kam auch die Beschlagnahme von Rohöl zur Sprache341. In der zweiten Kriegshälfte sollte sich die Kohleversorgung zu einem gravierenden Problem entwickeln, unter dem besonders die Eisenbahnen zu leiden hatten, über deren Ursachen in der wissenschaftlichen Diskussion bis heute kein Konsens herrscht342.

ℹ️Ein explizit militärisches Versorgungsthema bildete nur einmal in der Zeit bis einschließlich 1916 den Verhandlungsgegenstand des Ministerrates, am 29. Mai 1915 die „Bereitstellung bestimmter Metalle für die Kriegsverwaltung“343. Zwei Tage zuvor, am 27. Mai 1915, waren mehrere Verordnungen wegen Metallen zu Kriegszwecken erlassen worden, darunter die über „die Verwendung und die Ablieferung bestimmter Metalle und Legierungen“344.

ℹ️In Friedenszeiten hatten Militär- und Zivilverwaltung den kommenden Krieg mit exakten Zeitplänen der Mobilisierung und des Eisenbahnaufmarsches, mit den Beschaffungen für den Militärbedarf und mit den vielen im „Orientierungsbehelf über Ausnahmsverfügungen für den Kriegsfall, Dienstbuch J-25a“ vorbereiteten Verordnungen geplant, die bei Kriegsausbruch „auf ein kurzes Aviso hin in Kraft treten können“345. Dabei war das politische Moment in Form einer Reaktion der Zivilgesellschaft bedacht und ihm durch Verbote, Strafverschärfungen und Einschränkungen von Rechten vorgebeugt worden. Die wirtschaftliche Seite für die Zivilgesellschaft war aber weitgehend unberücksichtigt geblieben. Hier reagierte Cisleithanien nur auf äußere Einflüsse. Allen Maßnahmen war gemeinsam, dass sie stets auf eine schon vorhandene drückende Not reagierten, sie oberflächlich gerade weit genug gingen, um die offen zutage liegenden Probleme zu beheben, und daher stets der Entwicklung hinterherliefen. Eine Ursache der Langsamkeit war die Zögerlichkeit, mit der sich die Minister von der Idee verabschiedeten, dass der freie Markt alles besser regeln könne, wobei einige Minister dies früher taten (z. B. Heinold), andere aber nur unter dem Druck der Kabinettsmehrheit im November 1914 nachgaben (etwa Schuster).

ℹ️Erst Ende 1916 ging Cisleithanien daran, zumindest in der Ernährungsverwaltung ein Gesamtsystem zu etablieren. Es wurde nach dem Tod von Stürgkh und Franz Joseph umgesetzt, die Weichen waren jedoch noch zu deren Lebzeiten gestellt worden. Aber auch hier war der Schritt in diese Richtung erst gesetzt worden, nachdem das alte System, das ein Zusammenwirken verschiedenster Ministerien voraussetzte, definitiv gescheitert war. Die Zeche für das langsame Reagieren musste die Bevölkerung zahlen, durch ständig steigende Arbeitsleistungen pro Kopf, die zwar ihre Einkommen erhöhten, aber kaum mit den schnell steigenden Lebensmittelpreisen mithalten konnten346.

Allerdings reichten die Maßnahmen nicht aus, die Versorgungslage zu verbessern oder den Abwärtstrend auch nur zu stoppen; im besten Fall kann davon gesprochen werden, dass die Abwärtsentwicklung 1916 gebremst wurde.

Die Staatsfinanzen im Krieg

ℹ️Etwa 20 Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs war der polnische Industrielle und Autor Jan Bloch in seinem Werk Przyszła wojna (Der zukünftige Krieg) zu dem Fazit gekommen:

Da aber [trotz der hohen Kriegskosten pro Jahr] nach der Meinung militärischer Autoritäten der künftige Krieg sich nicht weniger als zwei Jahre lang hinziehen wird, so entsteht für uns die äusserst wichtige Frage: ist es möglich, die Mittel zur Kriegsführung anzuschaffen? Wir gelangen zu dem Schluss, dass die gegenwärtigen Umstände eines Krieges in Bezug auf die Anschaffung der Mittel viel weniger günstiger sind als in früherer Zeit. Es werden außerordentliche Schwierigkeiten sich ergeben, und diejenigen Regierungen, welche revolutionäre, nicht nur politische, sondern auch sozialistische Bewegungen zu befürchten haben, müssen diese letzteren notgedrungen in Rechnung ziehen. Die Furcht vor Hungersnot, Bankrott, Verarmung ergreift alle Schichten der Gesellschaft.347

ℹ️Das Werk erschien 1893–1898 und umfasste im polnischen Original sieben Bände. Schnell folgten Übersetzungen, 1898 ins Russische, in den zwei Folgejahren ins Französische, Englische und Deutsche. Dieses Werk wurde damit zur Initialzündung der Haager Friedenskonferenzen, die Zar Nikolaus II. im Jahr 1898 anstieß, und zu deren Organisatoren auch Bloch selbst gehörte348. Seine These, dass ein zukünftiger Krieg alle beteiligten Staaten finanziell ruinieren würde und daher schon alleine aus diesem Grund besser zu vermeiden sei, wurde zu einem Gemeinplatz.

ℹ️Vermutlich auf Bloch anspielend hielt der Leiter des cisleithanischen Finanzministeriums Engel am 3. August 1914 fest: „Die Finanzverwaltung sehe sich vor einem Problem, welches immer als fast unlösbar erachtet worden sei, sodass man gerade aus diesem Umstande die Hoffnung auf das Unterbleiben eines Weltkrieges genährt habe.“349 Allerdings machte Engel bereits durch die Formulierung „erachtet worden sei“ klar, dass diese Annahme nicht zutreffe: „Nun aber, unmittelbar vor dieses Problem gestellt, erachte der sprechende Minister es zwar für überaus schwer, aber doch nicht unlösbar“, und er fuhr fort, dass er „im Gegenteil […] hoffe, dass die Staatsfinanzen und die Volkswirtschaft in der Monarchie sich den großen Leistungen, welche die Zeit fordere, würde gewachsen zeigen“350. Einerseits blieb ihm wenig anderes übrig, da ja sein Ministerpräsident, ohne die Regierung einzubinden, den Krieg entfesseln geholfen hatte. Andererseits verbarg sich hinter dieser knappen Passage auch der große Umbruch, den die Finanzpolitik Österreich-Ungarns vollzog und der bereits vor dem Krieg in vollem Gang war.

ℹ️Mit Abkommen zwischen der cisleithanischen und ungarischen Finanzverwaltung sowie der Oesterreichisch-ungarischen Bank 1908 und 1912 war versucht worden, im Falle eines Krieges finanziell möglichst lange die Aufrechterhaltung normaler Zustände zu ermöglichen. Hier verpflichteten sich beide Teile der Monarchie, finanzielle Rücklagen zu bilden, mit denen die ersten Kriegsausgaben bestritten werden konnten351. Allerdings waren sie dazu nicht in der Lage gewesen – besonders auch durch die Mobilisierungsausgaben während der Balkankriege 1912/13 und wegen der starken Steigerung des Militärbudgets 1914 in deren Folge. Daher konnte die Monarchie ihre Kriegsausgaben von Anfang an nicht durch staatliche Rücklagen oder Einnahmen decken352.

ℹ️Der Weg in die Kriegsfinanzierung hatte für Cisleithanien sozusagen ein rechtliches Vorspiel. 1911 nutzte die Regierung Bienert die parlamentslose Zeit nach der Auflösung des Abgeordnetenhauses am 20. März 1911, um sechs wichtige gesetzliche Regelungen als kaiserliche (Not-) Verordnungen nach § 14 zu erlassen353, darunter eine kaiserliche Verordnung zur „Forterhebung der Steuern und Abgaben sowie die Bestreitung des Staatsaufwandes in der Zeit vom 1. April bis 31. Dezember 1911“354. Allein schon die Erlassung eines Budgetprovisoriums durch eine kaiserliche Verordnung musste als Verfassungsbruch angesehen werden, hieß es doch in § 14 eindeutig, dass mit dessen Hilfe „keine dauernde Belastung des Staatsschatzes“ erfolgen durfte. Hier war jedoch bereits mit dem Budgetprovisorium für das erste Halbjahr 1898 der Damm gebrochen worden355. Aber das Budgetprovisorium 1911 ging weit darüber hinaus, denn es enthielt in seinem § 4 die Ermächtigung für die Regierung, „nach Maßgabe des Bedarfs eine schwebende Schuld bis zur Höhe von 76 Millionen Kronen zu kontrasignieren“356. Nachdem sich der Finanzminister auf dieser Basis mit einem österreichischen Bankenkonsortium auf ein Anleihegeschäft geeinigt hatte, musste dieses Abkommen vor Abschluss auch durch die Staatsschulden-Kontrollkommission des Reichsrates gebilligt werden. Diese tagte ja auch in sitzungsfreien Zeiten. In ihrem Bericht an den Reichsrat hielt diese Kommission fest, dass „ein Kontokorrent-Vorschussgeschäft in der von der k. k. Regierung abgeschlossenen Form mit dem äußersten Rückzahlungstermin bis 31. Mai 1912 zweifellos keine dauernde Belastung des Staatsschatzes darstellt“357. Damit hatte sie das im § 14 ausgesprochene prinzipielle Verbot einer „dauernden Belastung“ in eine Frage der Interpretation des Begriffes „Dauer“ verwandelt. Dieser Beschluss der Staatsschulden-Kontrollkommission wurde dann für die ersten drei Kriegsanleihen (bis Ende 1915) Basis der cisleithanischen Kreditgeschäfte zur Kriegsfinanzierung, die ohne tagenden Reichsrat zustande kamen.

ℹ️Der Umbruch in der Finanzpolitik vollzog sich also nicht abrupt mit Ausbruch des Weltkrieges, sondern sukzessive. Die dualistische Struktur der Monarchie wirkte seit 1867 als Primat der Finanzen über die Militärausgaben, die mit den Worten des cisleithanischen Finanzministers Leon Ritter v. Biliński auf den Punkt gebracht werden kann, die er 1910 den Forderungen des Militärs entgegengehalten hatte: „Wenn die Finanzminister nicht können, höre sich das ‚muß‘ auf“358. Diese Einstellung änderten die Balkankriege grundlegend. Derselbe Biliński – jetzt gemeinsamer Finanzminister – erklärte 1913: „Wir müssen daher, bei der natürlichen Konfiguration der Monarchie, uns eben gegen drei Fronten schützen und die finanziellen Lasten tragen, au risque, ökonomisch ganz zusammenzubrechen.“359 Darin drückt sich nicht nur der Sinneswandel einer Person aus, dieser Wandel galt für die politischen Entscheidungsträger generell, wie die erhöhte Bereitschaft zur Verschuldung für Militärausgaben in den letzten beiden im Frieden geplanten Budgets zeigt360.

ℹ️Der Kampf um Notenbankkredite

Zunächst war aber der Weg nicht verlassen worden, die Ausgaben auf konventionellem Weg durch Steuereinnahmen und Staatsanleihen zu decken. Auch nach der Kriegserklärung an Serbien am 28. Juli 1914 wurde an einer solchen Finanzierung festgehalten, solange sich die Monarchie noch der Illusion eines lokalen Krieges mit Serbien hingeben konnte361. Die Kosten dieses in der Planung „Kriegsfall B“ (Balkan) genannten Szenarios wurden mit rund einer Milliarde Kronen veranschlagt362. Für die Teilmobilisierung gegen Serbien und Montenegro und die erste Kriegszeit plante Engel, als cisleithanischen Anteil der Kriegsausgaben, zunächst 500 Millionen Kronen in zu 5 % verzinslichen und in zweieinhalb Jahren, also Anfang 1917, rückzahlbaren Kassenscheinen hereinzubringen363, die auch auf internationalen Kapitalmärkten platziert werden sollten364.

Nur zwei Tage später allerdings warf die russische Generalmobilmachung diesen Plan über den Haufen. Nicht nur ließ die nun ausgelöste Generalmobilmachung Österreich-Ungarns am 31. Juli die Kosten in die Höhe schießen – statt eines lokalen Krieges mit veranschlagten Kosten von einer Milliarde Kronen stand nun der europäische Krieg vor der Tür, für den 2,7 Milliarden nur für die ersten drei Monate berechnet worden waren365. Zudem bedeutete die Ausweitung des Konfliktes zum Weltkrieg, dass Anleihen nicht mehr an wichtigen ausländischen Kapitalplätzen untergebracht werden konnten. Diese deutlich höheren Kriegsmittel mussten also im Wesentlichen im Inland beschafft werden. Das wurde jedoch als unmöglich angesehen. Hier mangele es an „disponiblem Geld“, daher könne man nun an „eine Geldbeschaffung durch Anlehen mit normalen Begebungsformen oder durch Erschließung neuer staatlicher Einnahmsquellen, wie Steuererhöhungen, Wehrbeiträge etc., nicht im Entferntesten denken“366. Mit anderen Worten, vom Weg, private Vermögen für die Kriegskosten heranzuziehen, sei es durch Steuererhöhungen, sei es durch Anleihen, musste man sich mit der Generalmobilmachung definitiv verabschieden. Dies bedeutete im Klartext: Österreich-Ungarn konnte den Krieg von Anfang an weder durch eigene staatliche liquide Mittel finanzieren, noch war das gesamte volkswirtschaftliche Vermögen dazu in der Lage.

Drei Arten der Finanzierung waren prinzipiell denkbar: 1) eigene Einnahmen (und Ersparnisse), 2) Darlehen und 3) Emittierung von Papiergeld367. Jedoch waren die ersten beiden Österreich-Ungarn verschlossen, also jene, die Engel als die „normalen“ bezeichnete. Nun musste die „nicht normale“ Finanzierung gewählt werden, mit anderen Worten: Es führte kein Weg an einer Finanzierung der Kriegsausgaben mit Hilfe der „Notenpresse“ vorbei.

Der einzig möglichen Finanzierungsart standen allerdings die Statuten der Notenbank entgegen. Zum einen war es der Bank untersagt, den beiden Finanzverwaltungen Darlehen oder Kredite zu gewähren368. Zum anderen mussten zwei Fünftel (also 40 %) der umlaufenden Banknoten durch Goldmünzen oder -barren gedeckt sein, wobei ausländische Golddevisen bis zum Betrag von 60 Millionen Kronen verwendet werden durften369. Am 31. Juli 1914 betrug die Metalldeckung der Banknoten etwas über 46 % (1,4 Milliarden Kronen Gold- und Silberreserve gegen 3,1 Milliarden Kronen in Banknoten)370. Nach den Statuten der Bank konnten die Banknoten daher nur um weniger als 500 Millionen Kronen vermehrt werden, ohne Gold durch den Staat teuer ankaufen zu müssen. Daran war natürlich nicht zu denken. Die Zweifünftel-Deckung war bereits am 7. August 1914 unterschritten worden371. Am 4. August ließ sich die cisleithanische Regierung von Franz Joseph die Ermächtigung geben, „außerordentliche Maßnahmen hinsichtlich der Geschäftsführung der Oesterreichisch-ungarischen Bank zu treffen und zu diesem Zwecke auch von den Bankstatuten abweichende Bestimmungen in Wirksamkeit zu setzen“372. Mit dieser Vollmacht ausgestattet, hob Engel gemeinsam mit seinem ungarischen Kollegen Teleszky am 14. August mehrere Bestimmungen der Bankstatuten auf, so das Verbot, dem Staat Kredite zu gewähren (Artikel 55 der Statuten) und die Pflicht der vierzigprozentigen Golddeckung (Artikel 84).

In diesem Zusammenhang ist auch die Suspendierung der Pflicht zu verstehen, Aktiva und Passiva der Bank wöchentlich in den Amtsblättern Cisleithaniens und Ungarns zu publizieren373. Zu Jahresende wurde auch die Veröffentlichung der Jahresbilanzen sistiert374. Die Geldvermehrung konnte unbemerkt vom Publikum durchgeführt werden. Die Öffentlichkeit erfuhr erst 1917 von diesen Änderungen der Statuten375. Dies geschah vermutlich im Zuge der Vorlage der kaiserlichen Verordnung zur Annahme durch den Reichsrat376.

Gleichzeitig mit der Erlaubnis, die Bankstatuten abändern zu können, erhielt die cisleithanische Regierung die Ermächtigung, die Geldmittel, „welche zur Bestreitung der Auslagen für außerordentliche militärische Vorkehrungen aus Anlaß der kriegerischen Verwicklungen erforderlich sind, ohne dauernde Belastung des Staatsschatzes […] durch Kreditoperationen zu beschaffen“377. Dabei wurden die Kreditoperationen bewusst „ziffernmäßig nicht beschränkt“ und sie waren nur „durch den militärischen Bedarf limitiert“378 – ebenso hatte auch diese kaiserliche Verordnung keine zeitliche Begrenzung. Von nun an musste die Regierung für die einzelnen Kreditoperationen bis zur Einberufung des Reichsrates 1917 keine Ah. Ermächtigung mehr einholen, sie war am 4. August pauschal erteilt worden. Diese beiden Verordnungen vom 4. August 1914379 stellten die Fundamente zur weiteren Kriegsfinanzierung dar.

An diesem Tag kam die erste Kreditaufnahme über 950 Millionen Kronen zustande, von denen Cisleithanien 600 Millionen Kronen bei einem österreichischen und Ungarn 350 Millionen bei einem ungarischen Bankenkonsortium aufnahm. Die Verzinsung wurde mit 5 % festgesetzt, mit einer Rückzahlung nach zweieinhalb Jahren (also Ende 1917). Der Ausgabekurs betrug 85, d. h. für 100 K Schuldtitel mussten die Banken tatsächlich nur 85 K zahlen. Somit erhielt Österreich 510 und Ungarn 297,5 Millionen Kronen ausbezahlt. So weit schien es noch eine normale Kreditoperation zu sein. Nun lombardierten (d. h. hinterlegten) die Geschäftsbanken ihre Schuldscheine bei der Oesterreichisch-ungarischen Bank und erhielten 85 % des Wertes der Verschuldungssumme in Banknoten. In Wirklichkeit war dies eine verschleierte Staatsfinanzierung durch Papiergeldvermehrung der Oesterreichisch-ungarischen Bank380. Bereits hier handelte es sich also nur pro forma um ein Darlehen von Geschäftsbanken. Die Verschleierung des Notenbankkredites wurde nur gewählt, weil beide Regierungen das Recht zur Suspendierung der Bankstatuten zwar besaßen, davon aber noch nicht Gebrauch gemacht hatten bzw. machen wollten.

Durch den 950-Millionenkredit konnten aber nur die ersten zwei Wochen des Krieges finanziert werden. Für die ersten drei Monate wurden wie erwähnt 2,7 Milliarden Kronen als notwendig angesehen. Daher kam es am 14. August, dem Tag der Suspendierung der Bankstatuten, zum ersten Kreditgeschäft direkt mit der Notenbank über zwei Milliarden Kronen, die mit 1 % verzinst und spätestens mit Ende 1917 rückzahlbar waren. Entsprechend dem Quotenschlüssel erhielt Cisleithanien von dem Kredit 63,6 % (1.272 Millionen) und Ungarn 36,4 % (728 Millionen)381. Für das Darlehen hatten die Staatsverwaltungen ein Pfand zu hinterlegen, dessen Wert „in einem Nominalbetrage, welcher unter Anwendung eines Belehnungstaux [Belehnungssatz] von 75 % vom Nennwert gerechnet, dem jeweils in Anspruch genommenen Darlehensbetrag entspricht“382, d. h. für diese zwei Milliarden Kronen neuen Papiergeldes mussten Cisleithanien und Ungarn Aktiva in Höhe von (aufgerundet) 2,7 Milliarden Kronen hinterlegen.

Dieses aufgenommene Geld, das bis Ende Oktober reichen sollte, war aber bereits früher aufgebraucht, denn zum einen waren die Anforderungen des Militärs größer als geplant, zum anderen wies auch in Cisleithanien „die innere Gebarung Mindereinnahmen und Mehrausgaben“ auf, sodass für Cisleithanien mit einem Defizit von über 300 Millionen zu rechnen war383. Daher wurde bei der Notenbank bereits am 7. Oktober ein neuer Zweimilliardenkredit mit einer Verzinsung von 1 % aufgenommen384. Die wesentliche Änderung gegenüber dem vorherigen Kreditvertrag waren die Kreditbedingungen. Statt der Hinterlegung eines Pfandes erhielt die Oesterreichisch-ungarische Bank von jeder der beiden Regierungen 20 Solawechsel (d. i. auf sich selbst ausgestellte Wechsel) in Höhe von jeweils einem Zwanzigstel der von ihrem Teil der Monarchie aufgenommenen Kreditsumme. Somit lauteten die cisleithanischen Wechsel auf 63,6 und die ungarischen auf 36,4 Millionen Kronen. Beginnend mit 1918 war jedes Jahr am 30. Juni und 31. Dezember ein Wechsel zu tilgen. Beglichen sein sollte die Schuld nach zehn Jahren mit Ende 1927385. Die Kreditbedingungen gegenüber der Bank hatten sich vom Lombardkredit im August zum Wechselkredit im Oktober für beide Staaten der Monarchie deutlich verbessert: Die Bank erhielt als Sicherheit nur den Nominalwert, der zudem nicht aus staatlichem Aktivbesitz, sondern eben aus Solawechseln bestand. Zudem waren die Rückzahlungsbedingungen moderater. Im Gegenzug sicherten beide Regierungen der Oesterreichisch-ungarischen Bank eine unveränderte Verlängerung des 1917 auslaufenden Privilegiums für weitere zehn Jahre zu. Nach den gleichen Bedingungen wurde am 12. April 1915 ein weiterer Wechselkredit bei der Oesterreichisch-ungarischen Bank über 800 Millionen Kronen aufgenommen386. Davon erhielt Cisleithanien 508,8 und Ungarn 291,2 Millionen Kronen387.

ℹ️Die italienische Kriegserklärung Mitte 1915 zerstörte endgültig die Illusion eines kurzen Krieges und damit die Hoffnung, die bisherigen Kreditvereinbarungen als aus der Not geborene außergewöhnliche Maßnahmen ansehen zu können. Nun musste für die Kriegsfinanzierung eine dauerhafte Lösung gefunden werden. ℹ️In der Sitzung des gemeinsamen Ministerrates am 18. Juni 1915388 trafen die entgegengesetzten Auffassungen der Bank und der Finanzverwaltungen beider Teile der Monarchie aufeinander. Während Bankgouverneur Sándor Popovics meinte, „dass die Bereitwilligkeit der Bankleitung, dem Staate weitere Vorschüsse zu erteilen, nicht eine bedingungslose sein könne“, erwiderte der ungarische Finanzminister: „Aus den bisherigen Erörterungen folge, dass man die Bank bei einer Kriegsdauer bis Februar bis zum Betrage von acht Milliarden heranziehen müsse. Wir müssen daher eine solche Abmachung mit der Bank treffen, dass wir über deren Notenpresse illimitiert verfügen können.“ Sollte die Bank dies ablehnen, so drohten beide Regierungen, würden sie Staatspapiergeld herausgeben. Um das zu verhindern, kam am 15. Juli 1915 ein Abkommen der Finanzverwaltungen mit der Notenbank zustande389, in dem ein Standardverfahren festgelegt wurde, mit dem jedes Mal 1,5 Milliarden Kronen aufgenommen werden konnten390. Der ursprünglich festgesetzte Zinssatz von 1 % wurde im Herbst 1915 für die neuen Anleihen391, 1917 dann auch für die früheren auf 0,5 % gesenkt392.

Dieser Kredit wurde bis Kriegsende 21-mal abgerufen. Durch die Notenbankkredite vermehrten sich die Banknoten beständig. Zirkulierten Ende 1913 an Banknoten 2.460,0 Millionen Kronen, waren es Ende 1914 schon 5.136,7, Ende 1915 gar 7.162,4 und Ende 1916 schließlich 10.888,6 Millionen393. Die Geldmenge hatte sich seit Kriegsbeginn vervierfacht.

ℹ️Der Kampf um die Kriegsanleihen

Weil diese Politik der Papiergeldvermehrung jedoch eine „Gefahr einer erheblichen Entwertung unserer Valuta in bedenklicher Weise“394 darstellte, trachteten die cisleithanische und die ungarische Regierung danach, das Geld, das sie durch Staatsaufträge in den Verkehr gepumpt hatten, wieder zu absorbieren, indem sie es in Form von Kriegsanleihen vom Markt holten. Ein wesentliches Motiv für die Kriegsanleihen war daher paradoxerweise, einer Inflation entgegenzuwirken und so stabilisierend auf die Währung zu wirken. War im August 1914 an „eine Geldbeschaffung durch Anlehen mit normalen Begebungsformen […] nicht im Entferntesten zu denken“ gewesen, weil dies „der augenblickliche Mangel an disponiblem Geld“ nicht zulasse395, so hatte sich dieser Zustand durch die Vermehrung der Banknoten schon im Laufe des Jahres 1914 deutlich geändert. Bereits in der Sitzung vom 5., 6. und 7. Oktober erwähnte Engel den Plan eines „Subskriptionsanlehens“, von dem er sich für Cisleithanien eine Milliarde Kronen versprach, zur Aktion bereit war er laut Czedik aber erst nach einer Intervention von Mitgliedern der Staatsschulden-Kontrollkommission am 14. Oktober 1914396. Einen Monat später trug Engel dann den Plan für die erste Kriegsanleihe im Ministerrat vor397. Da die Regierung am 4. August 1914 eine pauschale Ermächtigung für alle Finanzgeschäfte zur Finanzierung des Krieges erhalten hatte398, bedurfte es auch keiner weiteren Ah. Entschließung oder kaiserlichen Verordnung. Ihre ersten Anleihen legten Cisleithanien und Ungarn ab 16. November 1914 auf, gleichzeitig, aber getrennt voneinander und bei unterschiedlichen Kreditbedingungen. In Ungarn war es eine mit 6 % verzinste, nicht zurückzuzahlende Rentenschuld mit einem Ausgabekurs von 96,5; in Cisleithanien war es eine Subskriptionsanleihe in Form von Schatzscheinen, Verzinsung 5,5 %, Ausgabekurs 97,5, Rückzahlung nach fünfeinhalb Jahren am 1. April 1920. Grund für den niedrigeren Ausgabekurs und die höhere Verzinsung war die geringere Bonität Ungarns. Dass Cisleithanien hingegen eine Subskriptionsanleihe wählte, lag daran, dass diese Anleihe nicht ein Gesetz, sondern eine kaiserliche Verordnung zur Rechtsgrundlage hatte. Daher war die Staatsschulden-Kontrollkommission „jedem Versuche der Begebung von Rente entgegengetreten, weil die bisherige österreichische Rentenschuld als eine nicht rückzahlbare, als dauernde Schuld gegolten hat“399. Engel formulierte die Haltung der Staatsschulden-Kontrollkommission so: „Die Idee der amortisablen Rente hätte bei der Staatsschulden-Kontrollkommission, wenngleich diese das Projekt vom volkswirtschaftlichen Standpunkte keineswegs missbillige, in juristischer Hinsicht und zwar speziell mit Rücksicht auf den Wortlaut der geltenden gesetzlichen Bestimmungen über diese Kommission wesentlichen Anstoß erregt und auf diese Weise die Möglichkeit eines Konfliktes eröffnet.“400 Gegen eine Subskriptionsanleihe hatte die Kontrollkommission hingegen keine Einwände, „weil es sich dabei um ein Vorschussgeschäft längerer Dauer handelte“401, bei dem sie lediglich „die gehörige Vorschreibung und Evidenzhaltung der Vorschussgeschäfte und deren vertragsmäßige Abwicklung zu überwachen, dann die darüber ausgefertigten Urkunden zu contrasigniren“ hatte402.

ℹ️Die erste Kriegsanleihe war ein Erfolg. Der Erlös fiel bei den Anleihen beider Teile der Monarchie mehr als doppelt so hoch wie angenommen aus, über 2,2 Milliarden Kronen bei der cisleithanischen und 1,2 Milliarden bei der ungarischen Anleihe403. Von nun an folgte jedes halbe Jahr, immer im Frühjahr und Herbst, eine weitere Kriegsanleihe, wobei – mit Zustimmung der Staatsschulden-Kontrollkommission – die Rückzahlung bei der zweiten cisleithanischen Kriegsanleihe nach zehn (1925) und bei der dritten nach 15 Jahren (also 1930) erfolgen sollte404. ℹ️Der Erlös der zweiten Anleihe betrug in Cisleithanien 2,6 (in Ungarn 1,1) Milliarden Kronen, jener der ℹ️dritten 4,2 (2,2) Milliarden. Um möglichst große Summen zeichnen zu können, wurden auch die Regeln der „Verwendung von Teilen der Gebarungsüberschüsse der gemeinschaftlichen Waisenkassen“ dem Kriegsbedarf angepasst405.

ℹ️Mit der vierten Kriegsanleihe, die ab 17. April 1916 aufgelegt wurde, trat eine wichtige Neuerung ein. Die Anleihe bestand einerseits wie bisher aus der Ausgabe von Schatzscheinen, die nach sieben Jahren auszuzahlen waren, daneben jedoch auch aus einer armortisablen Staatsanleihe, deren Rückzahlung in Form einer Verlosung nach fünf Jahren beginnen und nach 40 Jahren abgeschlossen sein sollte. Hier gab die Staatsschulden-Kontrollkommission ebenfalls ihre Zustimmung, es war jedoch „nicht leicht gewesen“, sie „für einen neuen Standpunkt zu kapazitieren“406. In ihrem Bericht, den die Staatsschulden-Kontrollkommission im November 1917 dem Reichsrat vorlegen sollte, sieht man, dass die Argumente, mit denen sie ihre Zustimmung begründete, letztlich sehr fadenscheinig waren:

Wenn die Kontrollkommission dennoch [trotz der 40-jährigen Laufzeit eines Teils der Anleihe] die Kontrasignierung auch dieser [4. bis 6.] Anleihen vorgenommen hat, so ist das geschehen, weil die kurzfristige, neben der 40jährigen, Kapitalsanlage freigestellt blieb, weil sich ferner das Erfordernis nach tunlichster bleibender Veranlagung in sehr vernehmbarer Weise im Publikum geltend machte und der Staat trachten mußte, die fluktuierenden Geldmittel in den Kreis seiner Interessen zu ziehen; dann weil die im Wege der Verlosung nach zehn Jahren eintretende Rückzahlung407 doch nicht als dauernde Anleihe anzusehen ist, weiters weil der Reichsrat immerhin den so veranlagten und zur Zeit noch nicht zurückgezahlten Teil der Anleihe durch eine Konvertierung in eine dauernde Schuld umwandeln kann und daher die Frist von 40 Jahren keineswegs nach dem Sinne des Gesetzes als eine dauernde Belastung anzusehen ist.408

Durch diese Anleihe kamen 4,5 Milliarden Kronen herein, 2,4 durch die 40-jährige Staatsanleihe und 2,1 durch die Schatzscheine – die ungarische Anleihe brachte 1,9 Milliarden Kronen ein. Unter denselben Bedingungen wurde dann am 20. November 1916 die fünfte Kriegsanleihe aufgelegt409, die ebenso 4,5 Milliarden Kronen einbrachte, diesmal 2,0 Milliarden als 40-jährige Staatsanleihe und 2,5 als Schatzscheine. Gleichzeitig wurde es Besitzern von Schatzscheinen der ersten beiden Kriegsanleihen freigestellt, diese gegen 40-jährige Staatsschulden der fünften Kriegsanleihe einzutauschen. Davon wurde für 763 Millionen Kronen der ersten und für 1.066 Millionen Kronen der zweiten Kriegsanleihe Gebrauch gemacht, sodass unter entsprechender Reduktion der ersten beiden von der fünften Kriegsanleihe 6,3 Milliarden Kronen gezeichnet wurden. Ohne Umtausch brachte die fünfte Kriegsanleihe in Ungarn 2,4 Milliarden Kronen ein410. Um die Zeichnungsbereitschaft zu erhöhen, wurden rechtzeitig vor der fünften Kriegsanleihe „künstlerisch ausgestattete Dekrete“ eingeführt, die „als Anerkennung für hervorragende Verdienste im Interesse der Förderung des Erfolges der Kriegsanleihen verliehen“ werden konnten, „die für den Betreffenden gleichzeitig ein Andenken an die große Zeit des Weltkrieges bedeuten sollen“411.

Aus dem Zusammenspiel von Notenbankkrediten und Kriegsanleihen entstand eine „moderne Methode der Kriegsfinanzierung“412, um die Inflationsgefahr zu minimieren. Zuerst wurde das Geldvolumen durch die Notenbankkredite vermehrt. Dies schuf dann die Kapitalien, die mit den Kriegsanleihen abgeschöpft werden konnten. Damit wirkten die Kriegsanleihen letztlich aber nicht der Geldvermehrung entgegen. Denn die Anleihen dienten natürlich nicht der Abschöpfung – also Reduktion des Geldmengenvolumens –, sondern der Kriegsfinanzierung – die Anleiheerlöse flossen immer in die Volkswirtschaft zurück, weil der Staat dafür ja Rüstungsgüter kaufte. Die Geldmenge reduzierte sich daher nicht. Sie vermehrte sich nur langsamer. Einen weiteren Grund für die Gefahr einer Inflation sah man in der ständigen Reduktion des Goldschatzes der Oesterreichisch-ungarischen Bank. Betrug er am 23. Juli 1914 noch 1,6 Milliarden Kronen, war er bis Ende 1916 auf 350 Millionen gesunken413. Ursache der Reduktion war, dass wegen der „durch den Krieg bedingten Aufzehrung der eigenen Produkte die Ausfuhr außerordentlich zusammengeschrumpft sei, während eine gleiche Einschränkung hinsichtlich der Einfuhr nicht Platz greifen konnte“414. Daher musste Österreich-Ungarn Methoden finden, um seinen Goldschatz zu stärken, und dies waren im Ausland aufgenommene Devisenkredite415. Besonders wichtig war hier selbstverständlich das Deutsche Reich. Die Verhandlungen zeitigten 1916 „dank der entgegenkommenden und von wahrhaft bundesfreundlichem Geiste getragenen Haltung des Vertreters der deutschen Regierung ein sehr befriedigendes Resultat“416. Im Laufe des Krieges nahm Österreich-Ungarn 4,9 Milliarden Kronen vom Deutschen Reich auf, davon Cisleithanien 3,2 und Ungarn 1,7 Milliarden; von anderen Staaten waren es lediglich 170 Millionen (126 Cisleithanien, 43 Millionen Ungarn)417.

Mitte 1916 hatte Cisleithanien 18 Milliarden Kronen an Kriegsanleihen aufgenommen, die zu 5,5 % verzinst waren, und etwa 4,5 Milliarden an Notenbankkrediten erhalten, die Zinsen von 1 oder 0,5 % verursachten418. Der Preis, den Cisleithanien – ebenso wie die anderen kriegführenden Staaten – zahlte, um die gefürchtete Inflation zu minimieren, war daher ein Anstieg der Zinsleistungen um eine Milliarde Kronen, eine Verdreifachung seit 1913419. Es ist offensichtlich, dass diese Politik für einen Staatshaushalt mit etwas über drei Milliarden Einnahmen zu einem massiven Verschuldungsproblem führen musste.

ℹ️Der Weg zu höheren und neuen Steuern

Zu Kriegsbeginn war ja noch festgehalten worden, dass an „Erschließung neuer staatlicher Einnahmsquellen, wie Steuererhöhungen, Wehrbeiträge etc., nicht im Entferntesten“ zu denken sei420. Besonders eine Kriegssteuer hatte Engel abgelehnt, weil sie „ein überaus ungünstiges Präjudiz für den seinerzeitigen Erfolg des Subskriptionsanlehens bilden“ würde421. Außerdem musste Cisleithanien wegen des Krieges sogar auf Einnahmen verzichten: So war es zu Gebühren- und Steuererleichterungen „für Widmungen zu Kriegsvorsorgezwecken“ und „für die niederösterreichische Kriegskreditbank“ gekommen, ebenso wurde eine „zeitliche Befreiung einiger Gegenstände des Wiener Linienverzehrungssteuer-Tarifs von der Verzehrungssteuer“ mit einem erwarteten Steuerausfall von 530.000 K notwendig, außerdem „Nachlässe an der allgemeinen Erwerbssteuer aus Anlass der durch den Krieg eingetretenen Betriebsstörungen“422. Ebenso beschäftigte sich der Ministerrat mit der Frage, wie steuerrechtlich mit Kriegsverlusten umzugehen sei und – nach der Rückeroberung Galiziens – mit der „Hauszinssteuer im Gebiete der ehemaligen Stadt Podgórze“ sowie mit der Grundsteuer und der Hausklassensteuer „aus Anlass der Kriegsschäden in den vom Krieg betroffenen Gebieten“423.

Weitere Steuererhöhungen, mit denen sich Engel noch während seiner Amtszeit auseinandersetzen musste, wurden nicht umgesetzt424, mit Ausnahme von ℹ️Branntweinsteuerzuschlägen425 und einer ℹ️Tabakpreiserhöhung426. Da diesen Erhöhungen von Steuerzuschlägen aber Produktionseinschränkungen vorangegangen waren, ergaben sich daraus keine Steuermehreinnahmen427. Engel schaffte keine Abhilfe des Finanzproblems Cisleithaniens.

Große Pläne einer allumfassenden Steuerreform begannen erst unter Engels Nachfolger Leth. Schon kurz nach Übernahme des Finanzportefeuilles am 1. Dezember 1915 brachte Leth die ersten Steuerreformen auf die Tagesordnung des Ministerrates428. Das Jahr 1916 war dann durchzogen von einer Vielzahl an Maßnahmen. So wurden erneut die ℹ️Steuerzuschläge pro Liter Branntwein um 40 Heller auf nun 1,50 Kronen429 und die ℹ️Tabakverschleißpreise430 angehoben. Auch eine Anhebung der Telegrafentarife „im Verkehre mit Ungarn“ wurde beraten431. Dienten diese Erhöhungen eher dazu, die erheblicher werdenden Mindereinnahmen auszugleichen, sollte mit der sogenannten Kriegsgewinnsteuer eine zwar außerordentliche, aber durchaus ertragreiche neue Steuer eingeführt werden.

ℹ️ ℹ️Durch die Kriegsgewinnsteuer würde Cisleithanien „in die Reihen jener zahlreichen Staaten eintreten, die bereits eine außerordentliche Besteuerung der sogenannten Kriegsgewinne eingeführt haben oder, wie Deutschland, darangehen, eine solche Steuer einzuführen“ und wie Leth weiter ausführte: „In allen vom Kriege unmittelbar oder mittelbar betroffenen Staaten gehe die Anschauung dahin, dass zur Deckung der dem Staate durch den Krieg erwachsenen Ausgaben in erster Linie jene Personen herangezogen werden müssen, die während des Krieges und trotz des Krieges in der Lage waren, höhere Gewinne zu erzielen, als in der normalen Friedenszeit.“432 Mit dieser Steuer wurden Gesellschaften und Einzelpersonen belegt, deren Erträgnisse und Einnahmen seit Kriegsbeginn außerordentlich gestiegen waren. Dabei waren Gesellschaften mit Mehrerträgnissen bis 10.000 und Einzelpersonen mit Mehreinkommen bis 3.000 Kronen steuerfrei. Die Steuer stieg entsprechend der Höhe der zusätzlichen Gewinne progressiv an, bei inländischen Gesellschaften waren dies 10 bis 35 % (der Spitzensatz war bei Mehreinnahmen von 25 % des Aktienwertes der Gesellschaft erreicht); ausländische Gesellschaften zahlten 20 bis 40 % (Höchstsatz bei einem Mehrertrag von über einer Million Kronen); Einzelpersonen 5 bis 45 % (der höchste Satz bei Mehreinkommen von über einer halben Million Kronen)433.

Die Einführung dieser Steuer bildete aber nur den Auftakt zu einem großen Reformprogramm, das der Finanzminister am 17. August 1916 präsentierte434. In seiner Darlegung der Notwendigkeit dieser Steuererhöhungen machte Leth klar, dass die Steuern einerseits für einen geordneten Schuldendienst dringend notwendig waren, andererseits die sozial unruhig werdende Situation mitzudenken sei: „Das Steuerprogramm, das ich mir vorzutragen erlaubt habe und das wir im Interesse der Aufrechthaltung einer geordneten Staatswirtschaft verwirklichen müssen, legt der Bevölkerung große Opfer auf. Recht und Billigkeit verlangen es, dass diese Opfer auch tatsächlich von denen getragen werden, die sie nach der Absicht des Gesetzes tragen sollen. Eine Überwälzung der neuen Steuern auf die wirtschaftlich Schwachen muss nach Kräften vermieden werden. […] Schließlich sei es mir gestattet, darauf hinzuweisen, dass die Deckung der Zinsen für die Kriegsanleihen das wirksamste Mittel sein wird, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Bonität der vier österreichischen Kriegsanleihen zu erhalten.“435

ℹ️Die einzelnen Teile dieses Finanzprogramms stellte Leth dann in den nächsten Sitzungen vor. Zusammen sollten die Staatseinnahmen um 750 Millionen Kronen436 oder um 25 % der bisherigen Einnahmen von drei Milliarden in die Höhe steigen. ℹ️Von der Erhöhung der Postgebühren versprach sich Leth 100 Millionen Kronen437, von der ℹ️Erhöhung der Biersteuer (von 34 Heller438 auf 1,10 Kronen439 bei gleichzeitiger Auflassung der Landeszuschläge) netto acht Millionen. ℹ️80 Millionen sollte die Anhebung der Lizenzgebühr für die Tabakeinfuhr440 gemeinsam mit einer dritten ℹ️Preiserhöhung für Tabakwaren einbringen, was aber erst 1917 zur Beratung kam441. ℹ️Mit 72 Millionen Kronen wurden die Erhöhung der Stempel- und der sogenannten unmittelbaren Gebühren (entgeltliche und unentgeltliche Besitzübertragungen) berechnet442. Kleinere Einnahmen versprachen die Reform der „Totalisateur- und der Buchmacherwettgebühren“ (drei Millionen) und die Tantiemenabgabe443. ℹ️Schließlich stand mit der Zündmittelsteuer eine neue Steuer auf der Liste, mit der Zündhölzer und andere Zündmittel belegt wurden444 und die zwölf Millionen Kronen bringen sollte.

ℹ️Doch der größte Brocken sollte durch Kriegszuschläge zu den direkten Steuern hereingebracht werden: 250 Millionen Kronen 445. Leth führte im Ministerrat aus, dass er mit dieser Steuervorlage nicht früher hervorgetreten sei, weil ihm „Kriegslage und Stimmung der Bevölkerung für einen so entscheidenden Eingriff in das Wirtschaftsleben nicht günstig erschienen“. Auch wenn eine „Wendung zum Besseren noch nicht eingetreten“ sei, könne man doch nicht länger zuwarten, denn es sei jetzt „eine Klärung in der Steuerfrage unerlässlich“ und müsse „möglichst rasch erfolgen […] sobald es die erwähnten Umstände irgendwie zulassen, nicht nur um einem Anwachsen des Defizites entgegenzuwirken, sondern auch damit die Bevölkerung weiß, mit welchen Lasten sie zu rechnen hat“. Dass man wie bisher „nicht weiterwirtschaften“ könne, und steuerliche Maßnahmen nötig seien, begründete Leth mit drastischen Worten:

Auf diese Weise wird auch der in gewissen Kreisen herrschende unglaubliche Luxus zurückgedrängt und dafür gesorgt werden, dass in diesen Kreisen des Publikums eine Ernüchterung eintrete. Ein kleiner Teil der Bevölkerung schwelgt heute und die anderen hungern. Ein Warnungssignal soll für alle jene gegeben werden, denen das Elend der Massen zur Quelle großer Reichtümer geworden ist446.

ℹ️Bei der Grundsteuer wurde pauschal ein Zuschlag von 80 % der Grundgebühr erhoben, bei der ℹ️allgemeinen Erwerbsteuer ein Zuschlag für eine niedrigere Steuerschuldigkeit von 60 %, für eine höhere Schuldigkeit von 100 %, bei Einkommen aus Unternehmen (Aktien) betrug der Zuschlag 20 % plus je nach Rentabilität 30 bis 80 %. ℹ️Die Rentensteuer erhielt einen Zuschlag von 100 %. Ein Zuschlag für die Einkommenssteuer wurde ab Einkommen über 3.000 Kronen eingehoben, gestaffelt von 15 % bis 120 % (bei Einkommen ab 200.000 Kronen); der Zuschlag zur Tantiemenabgabe betrug 100 %447.

ℹ️Die Eisenbahnsteuer, mit 200 Millionen Kronen veranschlagt, brachte erst Leths Nachfolger Karl Marek (Leiter des Finanzministeriums) zur Besprechung im Ministerrat ein448. Das Ziel Leths ging prinzipiell auf, die Einnahmen, die im Verwaltungsjahr 1915/16 noch 3,4 Milliarden Kronen ausgemacht hatten, stiegen auf 4,1 Milliarden Kronen449 – ein Plus von etwas über 700 Millionen, das vornehmlich von den besserverdienenden Schichten geholt wurde.

ℹ️Neben der Erhöhung der Einnahmen versuchte Leth, die finanziellen Mittel auch durch Einsparungen in der Zivilverwaltung, wo immer es ging, möglichst groß zu halten, auch wenn diese Möglichkeiten begrenzt, um nicht zu sagen bedeutungslos, waren. „Zur Anbahnung der Verbilligung und Vereinfachung der Staatsverwaltung ist die Aufhebung kleiner Ämter, deren Geschäfte mit gleichem Erfolge von einem verwandten größeren Amte besorgt werden können, eines der geeignetsten Mittel“ begründete Leth die Auflassung der Klagenfurter Finanzprokuratur450. Ebenfalls aufgelöst wurde die Staatsschuldenkassa, deren Aufgaben die Staatszentralkassa übernahm, ebenso die Bezirksfinanzdirektionen Korneuburg und Stein an der Donau451. Weitere Auflösungen gelangten aber nicht vor den Ministerrat.

All diese Maßnahmen, Steuererhöhungen und Ausgabenreduktionen dienten letztlich der Sicherung der Zinszahlungen und der vorgeschriebenen Schuldabtragung, kurz, des Schuldendienstes452. Diese Mehreinnahmen bauten also den finanziellen Handlungsspielraum des Staates nicht aus, sondern sollten nur verhindern, dass er zu stark eingeschränkt würde.

Landesfinanzen, Münzgeld, Börse, Kriegsdarlehenskasse

ℹ️Neben den Staats- standen gelegentlich auch die Landesfinanzen auf der Tagesordnung des Ministerrates. Mit der Anhebung der Sätze der Biersteuer wurden gleichzeitig die Landesaufschläge gestrichen, sodass den Ländern nun Teile der Biersteuereinnahmen selbst zu überweisen waren453.

ℹ️Viermal beriet der Ministerrat über die Genehmigung der Pupillarfähigkeit von Landesanleihen, also der staatlichen Garantie, dass die Anleihe mündelsicher sei. So konnte treuhändisch verwaltetes Vermögen zur Zeichnung dieser Anleihe verwendet werden. Einmal handelte es sich um ein Anlehen der Stadt Wien454, einmal um eines für die Bukowina455 und zweimal stand Triest auf der Tagesordnung456. Im Falle der Bukowina und bei der zweiten Beratung zu Triest – die erste ist nicht erhalten – handelte es sich um zumindest kriegsnahes Gebiet; in beiden Fällen war nicht die tatsächliche Sicherheit der Anleihen für die Zuerkennung der Pupillarfähigkeit ausschlaggebend, sondern der Geldbedarf der beiden Gebiete: „Die eheste Zuerkennung der Pupillaranlagenqualifikation für diese Teilschuldverschreibungen ist aus wirtschaftlichen Rücksichten für die Stadtgemeinde Triest deshalb dringend notwendig, weil sie durch die Lombardierung dieser Obligationen die Geldmittel für die Deckung des Abganges in der ordentlichen und außerordentlichen Gebarung des Jahres 1916 und zur Zurückzahlung fälliger schwebender Schulden zu beschaffen genötigt ist.“457 Und ebenfalls in beiden Fällen wurde als Rechtfertigung für diese Zuerkennung angeführt, dass es sich nicht um eine tatsächliche Ausschreibung einer Anleihe handelte, sondern um Lombardkredite bei Banken, für die diese Zuerkennung ein Qualitätskriterium der Kreditsicherheit war. Daher habe „die Zuerkennung vorläufig nur eine formelle Bedeutung“458. Im Falle Wiens, das noch während des ersten Kriegsmonats zur Sprache kam, gab es gegen die Zuerkennung der Pupillarsicherheit „sachlich keinerlei Bedenken“459. Allerdings brachte Engel diese Motivierung zur Zeichnung einer Gemeindeanleihe zu einem Zeitpunkt zur Sprache, als für die Kriegsfinanzierung an „eine Geldbeschaffung durch Anlehen mit normalen Begebungsformen […] nicht im Entferntesten [zu] denken“ war460. Der Grund für die Dringlichkeit lag daran, dass „die Gemeinde [Wien] eine Aktion wegen Vornahme größerer Investitionen behufs Beschäftigung Arbeitsloser plane, wozu sie größerer Mittel bedürfe“461.

ℹ️„Zur Abwendung von Nachteilen, die der öffentlichen Wohlfahrt im Königreiche Böhmen drohen“ wurde schließlich Ende 1915 im Ministerrat auch ein Ah. Patent beraten und dann erlassen, mit dem „in Angelegenheiten des Landeshaushaltes sowie des Haushaltes der Bezirke und Gemeinden“ Zuschläge und Abgaben für Böhmen erhöht wurden462.

ℹ️Zu Kriegsbeginn begannen die Menschen wegen „einer vollkommen unrichtigen Einschätzung des effektiven Wertes der Scheidemünze“463 Hartgeld zu horten, das damit zunehmend aus dem Umlauf verschwand. So gaben im August 1914 erste Gemeinden Notgeld aus464. Am 8. August 1914 schlug Engel vor, des Problems auf drei Arten Herr zu werden, indem 1.) das Horten von Münzen schlicht verboten, 2.) Zwei- und Ein-Kronenscheine durch die Oesterreichisch-ungarische Bank ausgegeben werden sollten; weil entsprechende Druckplatten aber erst hergestellt werden mussten und das System zudem ineffektiv war465 schließlich 3.) dadurch, beschränkt Postwertzeichen als Zahlungsmittel zuzulassen466. Diese letzte Idee wurde wegen der Einwände des Handelsministers Schuster fallengelassen. Hingegen begann die Notenbank am 21. August mit der Ausgabe von Zwei-Kronen-Scheinen (aber erst ab 21. Dezember 1916 wurden auch ℹ️Ein-Kronen-Scheine hergestellt)467. Ende August 1914 kam es dann zum Beschluss des Ministerrates, Münzen mit Werten unter einer Krone zu vermehren. Es sollte aber auch hier länger dauern. Erst März 1915 stellten Engel und Teleszky bei Franz Joseph die entsprechenden Anträge in parallelen Vorträgen und erst im Mai erließ Engel die Verordnung468.

ℹ️Die Wiener Börse war wegen befürchteter Kursstürze am 27. Juli 1914 geschlossen worden469. Am 6. März 1916 beschäftigte sich der Ministerrat mit dem Wunsch des Präsidiums der Börsekammer, den Effektenverkehr wieder zuzulassen, der dann am 14. März mit Beschränkungen aufgenommen wurde470.

ℹ️Da der Krieg mit der Umstellung der Industrie von einer Friedens- auf die Kriegswirtschaft einerseits erhöhte Kreditbedürfnisse erzeugte, andererseits gerade wegen des Krieges aber die Bereitschaft zur Kreditvergabe sank, wurde im September 1914 eine Kriegsdarlehenskasse für kriegswichtige Kredite an Privatunternehmen unter der Verwaltung der Oesterreichisch-ungarischen Bank gegründet471. Kurze Zeit später entstand die niederösterreichische Kriegskreditbank mit ähnlichen Aufgaben. Ihr wurden Gebühren- und Steuererleichterungen gewährt472. Diese Erleichterungen wurden im Februar 1915 auch auf andere „Kriegskreditbanken und andere aus Anlass des Kriegszustandes errichtete, öffentlichen Interessen dienenden Unternehmungen und Anstalten“ erweitert473 und der Kreis der berechtigten Unternehmungen im Oktober 1915 ausgedehnt474.

ℹ️Letztlich standen alle das Finanzministerium betreffenden Themen, die im Ministerrat bis Ende 1916 besprochen wurden, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Krieg. Österreich-Ungarn hatte schon ab den Balkankriegen 1912/13 die Dominanz der Finanzen gegenüber dem Militär aufgegeben – nun wurde die Rolle der Finanzverwaltungen mit Kriegsbeginn darauf reduziert, die Mittel für das Militär aufzutreiben. Betrugen die Militärausgaben 1911 noch 674 Millionen Kronen475, hatten sie sich 1915/16 auf 15 Milliarden gesteigert. Hinzu kamen noch die indirekten Kriegsausgaben, Zahlungen an die Familien von Einberufenen, die Kosten für Kriegsflüchtlinge, Teuerungszulagen an Staatsangestellte und Ähnliches. Vergleichbare Ausgaben gab es in Friedenszeiten schlicht nicht. 1915/16 betrugen sie 1,7 Milliarden Kronen; alleine sie entsprachen daher rund der Hälfte der Staatseinnahmen. Kaum ins Gewicht fielen die 1916 mit 50 Millionen budgetierten Ausgaben zum Wiederaufbau der Kriegsgebiete, besonders Galiziens476.

ℹ️Die Zeit bis zum Kriegseintritt Italiens im Mai 1915 war von der Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende geprägt gewesen. Entsprechend wurde die Finanzpolitik darauf ausgerichtet, substanziell möglichst wenig zu ändern und die horrend steigenden Ausgaben nur durch außerordentliche Einnahmen zu decken, sprich durch Kredite. Dabei entstand ein Zusammenspiel zwischen Notenbankkrediten und Kriegsanleihen: Erstere vermehrten das Geldvolumen und forcierten so die Inflation und letztere schöpften dieses Geld wieder ab, damit die Inflationsgefahr begrenzt würde. Da das so hereingebrachte Geld aber nicht vom Markt genommen, sondern erneut zum Kauf von Kriegsgütern ausgegeben wurde, reduzierte sich das Geldvolumen nie.

ℹ️Zudem bewirkte diese Kreditfinanzierung, dass neben den direkten und indirekten Kriegsausgaben auch der Zinsendienst permanent zunahm, allein bis Mitte 1916 um eine Milliarde. Diese Ausgaben waren – wenn sie auch gegenüber den Kriegskosten vergleichsweise bescheiden waren – insofern besonders heikel, weil sie neben den Verwaltungsausgaben aus den laufenden Einnahmen beglichen werden mussten und nicht selbst über Kredite gedeckt werden konnten, um keinen Staatsbankrott auszulösen. Als daher mit der italienischen Kriegserklärung die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges aufgegeben werden musste, mussten auch die Steuereinnahmen entsprechend dem gestiegenen Zinsendienst neu strukturiert werden.

ℹ️Dazu war Finanzminister Engel aber anscheinend nur in beschränktem Maß bereit oder in der Lage. Bei der dritten Kriegsanleihe gelang es ihm nicht, den Widerstand der Staatsschulden-Kontrollkommission gegen längerfristige Schuldtitel zu brechen. Auch seine Steuerreformen hatten nur einen bescheidenen Umfang und umfassten fast nur Konsumabgaben. Die Einnahmen stiegen von 1914/15 bis 1915/16 nur um weniger als 200 Millionen Kronen – und hier besonders bei Staatsbetrieben: Staatseisenbahnen und Eisenwerke477, deren Hauptkunde die Militärverwaltung war.

ℹ️Engels Nachfolger Leth zeigte sich weitaus energischer. So trotzte er bei der nächsten, der vierten Kriegsanleihe der Staatsschulden-Kontrollkommission die Möglichkeit einer amortisierbaren 40-jährigen Anleihe ab. Zudem ging er schnell und vehement das Thema von Steuererhöhungen an und begann diese ab Mitte August 1916 umzusetzen. Das Programm führte dann Marek als Leiter des Finanzministeriums weiter fort, nachdem Leth nach der Ermordung Stürgkhs entlassen worden war. Einerseits wurden die noch nicht umgesetzten Teile der Steuerreform weiter betrieben, andererseits aber der Weg 40-jähriger Kriegskredite weiter ausgebaut, indem die ersten beiden Kriegsanleihen gegen solche der fünften eingetauscht werden konnten. Es ist allerdings nur allzu offensichtlich, dass diese Mehreinnahmen, so beachtlich sie auch gewesen sein mochten, nicht einmal ausreichten, die Zunahmen des Schuldendienstes bis Mitte 1916 zu decken, ganz zu schweigen von den Mehrkosten durch die kommenden Kredite, die unvermeidlich waren. Ziel der cisleithanischen Finanzpolitik konnte daher ab 1916 nicht sein, die Finanzen an sich zu stabilisieren, sie konnte nur versuchen, deren Kollaps hinauszuzögern.

Menschliche Kriegsfolgen

Für den Krieg brauchte der Staat mehr menschliche Ressourcen als sonst. Die cisleithanische Regierung war dafür zuständig, das Militär, die Produktion, das Transportwesen und die Verwaltung mit ausreichend personellen Ressourcen auszustatten. Dabei war zuerst der militärische Bedarf zu befriedigen, nur der übrigbleibende Rest stand für die drei Zivilbereiche Produktion, Transport und Verwaltung zur Verfügung. Der Krieg forderte die Körper der Menschen und wirkte auf ihr Lebensumfeld ein. Mit den Aus- und Nachwirkungen musste sich die Regierung vermehrt befassen. Viele dieser Themen kamen gar nicht oder nur sehr selten vor den Ministerrat; in der Regel wurden sie alleine von den zuständigen Ressortministerien erledigt, wie beispielsweise die Musterungen, für die das Innenministerium mit dem Landesverteidigungsministerium zuständig war. Einige dieser Themen wurden aber doch auch im Ministerrat besprochen, wenn es auch, wie das folgende, auf den ersten Blick nach einem ganz anderen Themenbereich aussieht.

ℹ️Der Rotkreuz-Orden als sanitäre Kriegsvorbereitung

In die Frühphase des Krieges fiel die Stiftung eines neuen, wichtigen Ordens. Es war das Ehrenzeichen für Verdienste um das Rote Kreuz, besprochen am 8. August 1914, acht Tage nach der Generalmobilmachung478. Bisher waren Verdienste um das Rote Kreuz durch staatliche Auszeichnungen geehrt worden479. Das Protektorat der Österreichischen Gesellschaft vom Roten Kreuz und des Vereins vom Roten Kreuz der Länder der heiligen ungarischen Krone übten Franz Joseph und seine jüngste Tochter Erzherzogin Marie Valerie aus; Stellvertreter war deren Gatte Erzherzog Franz Salvator, ein Neffe dritten Grades von Kaiser Franz Joseph aus der Linie Habsburg-Lothringen-Toskana480.

ℹ️Dass die Stiftung des Ordens in das Jahr 1914 fiel, war kein Zufall, jährte sich doch die Unterzeichnung der Genfer Konvention zum 50. Mal. Die Initiative zu dieser Stiftung begann bereits 1913, hatte aber letztlich eine ganz andere Ursache als das Jubiläum, nämlich ein Ereignis in diesem Jahr: Die Balkankriege hatten die Bedeutung des Roten Kreuzes für die Kriegsführung deutlich gemacht. Die Rot-Kreuz-Organisationen Österreich-Ungarns aber hatten eine relativ geringe Mitgliederzahl und daher auch entsprechend niedrige Einnahmen. Franz Salvator führte 1913 in seinem au. Vortrag aus, die „Masse der Bevölkerung [sei sich] des Zweckes und der Ziele dieser edelsten, von reiner Nächstenliebe getragenen Institution nicht [bewusst und sei] in einem Zustande der Teilnahmslosigkeit versunken […], aus dem sie nicht einmal die jüngsten sorgenvollen Ereignisse [die Balkankriege] aufzurütteln vermochten“. ℹ️Er fuhr fort: „Mit aufrichtiger Freude und Genugtuung begrüßt jeder Weiterdenkende die Maßnahmen der Kriegsverwaltung und der Regierungen zum intensiven Ausbau der Wehrmacht, doch treten dadurch naturgemäß auch bedeutend größere Anforderungen an das Rote Kreuz heran, denen es – wenn man die jetzigen Verhältnisse zur Basis nimmt – leider nicht entsprechen kann. So beträgt der Kriegsfonds der Österreichischen Gesellschaft 10, jener des Ungarischen Vereines nicht einmal 4 Millionen Kronen, aus welchen Ziffern zur Genüge erhellt, daß die finanziellen Kriegsvorsorgen auch nicht einmal annähernd jene Höhe erreicht haben, die bei Ausbruch eines Krieges zur klaglosen Durchführung der großen Aufgaben erforderlich sind. […] Insbesondere verweise ich auf Japan481 mit seinem aufstrebenden, allem Fortschritte zugänglichen Inselvolke, das sich, ohne die Segnungen der Institution vor dem Kriege 1904/5 zu kennen, in der kurzen Spanne Zeit seither mit 2 Millionen Mitgliedern an die Spitze gestellt hat. Im Gegensatze damit, sehen wir an den Beispielen der jüngsten Kriege am Balkan die traurigsten Folgen mit all dem unbeschreiblichen Jammer daraus resultieren, wenn die sanitären Vorsorgen und besonders das Gebiet des freiwilligen Hilfsdienstes mit der Armeeorganisation nicht in Einklang gebracht werden konnten“482.

Das Rote Kreuz war also keineswegs eine aus „reiner Nächstenliebe getragene Institution“, es diente vielmehr zur Auslagerung von militärischen Kosten für den Sanitätsdienst auf die freiwillige Spendentätigkeit der Zivilgesellschaft. Diese Spendentätigkeit galt es nun durch die Stiftung eines Rot-Kreuz-Ordens zu fördern. Daher war der 50. Jahrestag der Genfer Konvention letztlich nicht die Ursache dieser Stiftung, sondern diente nur der „Vermarktung“.

ℹ️Gestiftet wurde dieses Ehrenzeichen am 17. August 1914483. Um seinem Zweck der Finanzierung des Roten Kreuzes gerecht zu werden, war für die Verleihung der Auszeichnung abhängig vom Auszeichnungsgrad eine Taxe zu entrichten: Stern 1.500 K, Kreuz I. Klasse 500 K, Kreuz II. Klasse 100 K, silberne Medaille 20 K, bronzene Medaille 10 K. Als sogenanntes Offizierskreuz bekam die Auszeichnung eine Kriegsdekoration (Schwert und Eichenlaub). Letztere konnte als einzige nicht gekauft werden484. Die Verleihungen des Rot-Kreuz-Ordens nahmen in der ℹ️Wiener Zeitung viel Platz ein485.

ℹ️Abgesehen von einer erst später kreierten vierten Ordensstufe, dem Offizierskreuz, wurden nur die oberen beiden Grade (Verdienststern und Ehrenzeichen I. Klasse) von Franz Joseph, die unteren (Ehrenzeichen II. Klasse, silberne und bronzene Ehrenmedaille) hingegen vom Protektorstellvertreter verliehen. Nur in wenigen fraglichen Fällen kam eine solche Verleihung vor den Ministerrat, es handelte sich immer um die Verleihung der höchsten Klasse, des Sternes486. Obwohl der Ministerrat seine Verleihung beschließen konnte, handelte es sich aber nicht um eine staatliche Auszeichnung, sondern eine der Institution des Roten Kreuzes. Er wurde daher im Hof- und Staatshandbuch auch nicht als Orden geführt487.

Einen kleinen Skandal verursachte der damals 25 Jahre junge Ludwig Wittgenstein. Er hatte die mit Abstand höchste Summe für das Österreichische Rote Kreuz gespendet, 150.000 K, mehr als andere Industrielle und Bankiers beigetragen hatten. Mit 100.000 K folgte Louis Rothschild, der reichste Österreicher. Obwohl man meinen sollte, dass diese großzügige Spende auf sofortige Gegenliebe stoßen musste, gab es hierzu einen längeren behördlichen Briefwechsel und Erkundigungen bei der Polizei über Wittgenstein. Er erhielt dann zwar mit dem Verdienststern die höchste Auszeichnung dieses Ordens488, in der Liste der Begnadeten stand er jedoch an letzter Stelle. Warum dies der Fall war, ist unklar, besonders angesichts der Tatsache, dass sich Wittgenstein am 7. August 1914 freiwillig zum Militärdienst gemeldet hatte489. Möglicherweise bereitete die Tatsache Probleme, dass Wittgenstein zu diesem Zeitpunkt ein einfacher Kanonier war, den nun die höchste Rot-Kreuz-Auszeichnung vor allen seinen Kameraden und Vorgesetzen hervorhob. Auch dass ein so junger Mann die Älteren beim Spenden übertrumpft hatte, dürfte irritiert haben490.

ℹ️Generell fanden 1915, vermutlich aufgrund der vielen Anträge, in der Verwaltung der Ordenskanzleien große Änderungen statt: 1915 wurden die Kanzleien des Leopold-, Eisernen Kronen- und Franz-Joseph-Ordens in dem neu gegründeten Departement für Ordensangelegenheiten (Ordenskanzlei) beim Obersthofmeisteramt zusammengeführt. Die bisherigen Registraturen der Orden, die aus mehreren konsekutiven Listen in Jahresbänden für jeden Orden bestanden hatten, wurden nun auf eine gemeinsame Zettelkartei für alle Orden umgestellt. 1915 war also für die Ordensverwaltung ein Übergangsjahr. Möglicherweise aus diesem Grund fehlen Belege zu mehreren im Ministerrat besprochenen Ordensverleihungen aus dieser Zeit491.

ℹ️Mobilisierung, Rekrutierungen und militärische Jugendausbildung

Der Verwendung des Landsturmes492 der gegen Serbien mobilisierten Truppen außerhalb der Grenzen Cisleithaniens, die Landesverteidigungsminister Georgi bereits am 21. Juli 1914 bei Franz Joseph beantragt hatte, erteilte der Ministerrat am 23. Juli „nachträglich“ seine Zustimmung493. Ebenfalls „nachträglich“ stimmte der Ministerrat am 30. Juli dem – vermutlich zuvor mündlich gestellten – Antrag Georgis zur Verwendung des gesamten Landsturmes bei der Generalmobilmachung zu, diesmal auch für die Tiroler und vorarlbergischen Landwehrtruppen (Landesschützen und Landsturm), die ansonsten nicht außerhalb dieser beiden Kronländer hätten eingesetzt werden dürfen494.

ℹ️Die Zuführung von jüngeren und älteren Männern zum Militär sollte im Frühjahr 1915 neu geregelt werden. In Abänderung des Wehrgesetzes wurde das Dienstalter von 21 auf 18 Jahre gesenkt495 und in Abänderung des Landsturmgesetzes496 wurde die Landsturmpflicht um acht Jahre bis zum 50. Lebensjahr verlängert und der Landsturm in zwei sogenannte Aufgebote unterteilt (über und unter 43 Jahre alt), wovon das jüngere Aufgebot bei Bedarf zur Ergänzung der Armee herangezogen werden konnte. Ab Jänner 1916 konnten auch Männer zwischen 50 und 55 zu Kriegsleistungen verpflichtet werden497. Die Lehrzeit von Lehrlingen, die bei den Landsturmmusterungen rekrutierte wurden, wurde als beendet erklärt, wenn sie schon mehr als zwei Jahre absolviert hatten498.

ℹ️Um das Rekrutenreservoir zu vergrößern, wurde seit August 1914 auf Anregung des Kriegsministeriums auch Personen der Eintritt in die Armee gestattet, die zu einer Haftstrafe unter sechs Monaten verurteilt worden waren. Diese Strafe wurde aufgeschoben oder unterbrochen. Eine Amnestie jedoch wurde im Ministerrat verworfen, um nicht auch politische Häftlinge, die man ja für unzuverlässig hielt, zu begünstigen oder anderweitig die Gesellschaft zu gefährden499. Die Möglichkeit eines Strafaufschubs war schon in § 401b Strafprozessordnung vorgesehen gewesen, nicht aber die Unterbrechung500. Um die Motivation zum Militärdienst zu erhöhen, wurde mit Ah. Handschreiben vom 7. August 1914 „den einrückenden Verurteilten die Aussicht eröffnet, dass sie sich einer Begnadigung würdig erweisen können“, was bedeutete, „den Verurteilten ihre Strafe oder den Rest der Strafe nachzusehen, wenn sie ihre Dienstpflicht treu erfüllt haben werden“501. Ab 1916 wurde diese Möglichkeit auch jenen zugestanden, die zu über sechs bis 24 Monaten verurteilt worden waren502, und es wurde eine „Einschränkung der Enthebungen vom aktiven Militärdienste“ verfügt503.

ℹ️Bei Beamten war der Ministerrat zurückhaltender und ließ sie etwa nicht einfach freiwillig in die Armee, speziell die polnische Legion, eintreten, sondern nur „mit Rücksicht auf ihre dienstlichen Verpflichtungen“504.

ℹ️Noch bevor die Militärleitung im Sommer 1915 begann, beim Kultusministerium eine Schulreform einzumahnen, die letztlich nicht umgesetzt wurde505, war Ende Mai im Ministerrat die „militärische Vorbereitung der Jugend“ besprochen worden506. Das Thema wurde auch in der Presse behandelt. Neben dem Vorbild Preußens, „wo zufolge eines gemeinsamen Erlasses der drei Ministerien des Krieges, des Innern und des Kultus bereits im August 1914 die Jugend der Altersstufen vom 16. Lebensjahre bis zum Eintritt der Heerespflicht erfolgreich militärisch vorgebildet und in besonderen ‚Jugendkompagnien‘ zusammengefasst wurde“ war es „die Not des gegenwärtigen Krieges, die auch uns zwang, die Bereitstellung unserer Jugend für den Krieg ernstlich ins Auge zu fassen“507. Im Juni gab es zu diesem Thema in der Wiener Urania einen Lichtbildvortrag508. Eine gesetzliche Regelung dazu erfolgte jedoch nicht509.

Regelung von Versorgungsansprüchen infolge Militärdienstleitung

ℹ️Die bestehenden Gesetze waren für die Dimensionen, die der Erste Weltkrieg hatte, keineswegs ausreichend. Im Jahr 1912 war es zu einer grundlegenden Novellierung der bisherigen Bestimmungen über das Militär gekommen: mit dem neuen Wehrgesetz510, dem Gesetz zum Stellen von Pferden und Fuhrwerken511 und dem Kriegsleistungsgesetz512. Außerdem wurde auch der „Unterhaltsbeitrag für Angehörige von Mobilisierten“513 neu geregelt. Jedoch bestimmte etwa § 6 des Unterhaltsgesetzes, dass Hinterbliebenen vom Todestag des Soldaten oder dem Tag seiner „Vermissung“ nur über sechs Monate der Unterhaltsbeitrag zustehe. Auch bei den Invaliden, die bisher in Invalidenhäusern des Militärs unterkamen, für die – entsprechend ihrer Fähigkeiten – bestimmte staatliche Posten (Türsteher etc.) reserviert waren oder die von privaten Stiftungen zu ihrer Unterhaltung profitieren konnten, versagte das alte Versorgungssystem. Es gab schlicht zu viele Hinterbliebene und Invalide.

ℹ️Ein Kriegsende war nicht in Sicht, als mit Jänner 1915 die halbjährige Unterhaltsfrist für Hinterbliebene der im August Gefallenen auslief. Dennoch kam diese Angelegenheit erst am 6. März 1915 im Ministerrat zur Sprache514, und es sollte bis Juni dauern, dass die alten Bestimmungen novelliert wurden515, mit denen Hinterbliebene, Invalide und deren Angehörige „bei nachgewiesener Bedürftigkeit“ weiter Unterhaltsbeiträge erhalten sollten, die in der Verordnung des Ministeriums für Landesverteidigung festgelegt wurden (§ 2) und für einen Invaliden bei völliger Arbeitsunfähigkeit 180 K im Jahr ausmachten (Zahlungen an Angehörige – Ehegattin, Kinder, Eltern und Großeltern – kamen hinzu). Eine im März 1914 angeregte Reform der Gesetze zur Versorgung von Militärpersonen (RGBl. Nr. 158/1875) und von deren Witwen und Waisen (RGBl. Nr. 41/1887) kam nicht zustande und wurde erst nach dem Krieg aufgegriffen516.

ℹ️Doch auch zur rechtlichen Besserstellung von bis dato Benachteiligten sah sich die Regierung durch das Fehlen von Gatten und Vätern aufgrund der „kriegerischen Ereignisse“ veranlasst. So kam es bereits Ende 1914 zur Vorziehung einer Reihe von Novellen des ABGB, insbesondere betreffend die „Gleichstellung der Frauen hinsichtlich der Verwendung als Zeugen bei Rechtsgeschäften“, die Ausübung der Vormundschaft durch Mütter nach der Scheidung und die Besserstellung der unehelichen Kinder517.

ℹ️Ein weiteres Thema war „die ärztliche Nachbehandlung und praktische Schulung der kranken und verwundeten Militärpersonen“518. Um Invalide dem Arbeitsleben wieder zuführen zu können, sollten diejenigen von ihnen, „die durch eine entsprechende Heilbehandlung oder Schulung die bürgerliche Erwerbsfähigkeit ganz oder zum Teile wieder erlangen können“, entsprechende Hilfen erhalten. Diese Hilfe war aber verpflichtend. Wollte jemand sich „dieser Schulung nicht unterziehen, deren Erfolg vorsätzlich verzögern oder vereiteln“, wurde ihm mit dem Entzug der Invalidenpension oder dem Verlust des Versorgungsstandes in einem Invalidenhaus gedroht519.

ℹ️Familien eingezogener Soldaten wollten weiterhin in ihren Mietwohnungen leben. Der Sold des Mannes reichte dazu aber schwerlich. Zwar erhielten Ehefrauen und deren Kinder staatliche Unterhaltsbeiträge. Für ihre Unterkunft bestand die Vergütung bei Kindern ab dem Alter von acht Jahren „in einem der Hälfte der Unterhaltsgebühr gleichkommenden Mietzinsbeitrag“, Angehörige unter acht Jahren bekamen die Hälfte davon520. Nachdem aber die Miete altersunabhängig war und sich der Krieg immer mehr in die Länge zog, kam im April 1915 die „Reform der Bestimmungen über den Mietzinsbeitrag der Mobilisierten“ auf die Tagesordnung des Ministerrates und wurde vermutlich ein Jahr später unter dem Titel „Unterhalt von Mobilisierten“ erneut beraten521: Der Unterhaltsanspruch wurde im Mai 1916 dahingehend angepasst, dass unter Achtjährige nun Anspruch auf 75 % des Anteils der ab Achtjährigen hatten, statt wie bisher der Hälfte, wenn im Haushalt nicht mehr als drei Personen den vollen Beitrag erhielten522. Der Anspruch wurde gemessen an dem Beitrag eines Erwachsenen von 25 % (50 % von 50%) auf 37,5 % (75% von 50%) erhöht.

ℹ️Nach dem Militärdienst musste laut § 10 des Militärversorgungsgesetzes523 die Dienstleistung in einem Feldzug auf die Pension angerechnet werden. Anfang Mai 1915 wurde im Ministerrat die „Erwirkung einer kaiserlichen Verordnung über die Zurechnung von Kriegsjahren bei Bemessung der Pension für den jetzigen Krieg“ besprochen, Ende des Jahres erlaubte eine Verordnungen Abweichungen von § 10, was in der Verordnung des Landesverteidigungsministers vom 10. Dezember 1915 dahingehend präzisiert wurde, dass man als Voraussetzung mindestens drei Monate aktiv gedient oder an Kämpfen teilgenommen haben, vor dem Feind verletzt oder durch Kriegsstrapazen (ausdrücklich epidemische Krankheiten inkludierend) dienstuntauglich geworden sein musste524.

ℹ️Sondermaßnahmen gegen galizische Anwälte in Wien

Wegen des Krieges waren aus Galizien auch Anwälte geflohen, die sich dann vor allem in Wien niederlassen wollten. Ende Jänner 1915 beriet der Ministerrat eine Quote für die Ansiedlung von Rechtsanwälten im Oberlandesgerichtssprengel Wien525. Hochenburger erklärte: „Dies wäre gerade jetzt besonders bedenklich gewesen, weil der Krieg auch die Erwerbsmöglichkeit der Anwaltschaft unter das gewöhnliche Maß herabgedrückt hat. Die übersiedelnden Advokaten hätten den ortsansässigen den schon beschränkten Erwerb noch mehr beengt“526. Mit kaiserlicher Verordnung vom 11. Februar 1915 wurde der Justizminister ermächtigt, die Übersiedlung von Anwälten für unzulässig zu erklären, was Hochenburger am selben Tag für den Oberlandesgerichtssprengel Wien umsetzte527. Die Vorgeschichte: Als klar wurde, dass der Krieg länger dauern würde, hatten in Wien befindliche aus Galizien geflohene Advokaten um die Eintragung in die Wiener Advokatenliste angesucht. Entgegen der Darstellung Hochenburgers und der einschlägigen Presse handelte es sich jedoch nicht um einen Ansturm. Von den 1.200 Anwälten aus Galizien hatten nur 36 darum angesucht, 34 weitere aus der Bukowina528. In der Folge hatte die Generalversammlung der niederösterreichischen Advokatenkammer „mit großer Mehrheit“ beschlossen, es sei „von der Initiative zur Erwirkung besonderer gesetzlicher Ausnahmsbestimmungen abzusehen“529. Gegen diesen Antrag trat aber der Vizepräsident der Advokatenkammer Max Freiherr v. Mayr auf, der die Initiative des Justizministeriums unterstützte. Beides ereignete sich im unmittelbaren Vorfeld des Ministerrates vom 30. Jänner 1915.

Es stellt sich also die Frage, warum das Justizministerium bzw. Hochenburger in einer Frage aktiv wurde, die von der großen Mehrheit der Advokatenkammer nicht mitgetragen wurde und die – zumindest bis Anfang Februar 1915 – einen nur sehr geringen Teil der nach Wien geflohenen Advokaten betraf, die aus Galizien und der Bukowina gekommen waren. ℹ️ ℹ️Nachdem viele der galizischen Anwälte jüdischer Herkunft waren, kann ein antisemitischer Hintergrund dieser Maßnahme nicht ausgeschlossen werden. Dass sowohl Hochenburger als auch ihm dazu gratulierende Zeitungen Sachargumente vorbrachten, kann diesen Verdacht nicht zerstreuen (das ℹ️Neue Wiener Tagblatt sprach von „Massenzuzug“, das ℹ️Deutsche Volksblatt von „Invasion“)530, im Gegenteil, eine antisemitische Karikatur dazu im ℹ️Kikeriki ℹ️spricht eine deutliche Bildsprache531. Wie die Denkschrift der Regierung erwähnte, war der Zuzug schon vor dem Krieg „Gegenstand ernster Erörterungen innerhalb des Standes“. Ähnliches war in Zeitungen auch über tschechische Anwälte und slowenische bzw. andere „fremdsprachige“ Anwälte behauptet worden532, die „auch manche Teile der wirtschaftlichen Macht an sich zu reißen verstehen“533.

Die Staatsbediensteten im Krieg

ℹ️Im Ministerrat vom 27. Juli 1914 teilte Stürgkh seinen Kollegen mit, er habe an die Statthalter „vertrauliche Schreiben gerichtet, deren Tenor auf den Gedanken hinauslaufe, dass in der gegenwärtigen Situation alle anderen vom Standpunkte der Verwaltung wahrzunehmenden Bedürfnisse hinter jenen Zwecken, zu deren Erreichung die Armee aufgeboten sei, und damit auch hinter den Bedürfnissen der Wehrmacht selbst zurückzutreten haben“534. In dem Schreiben hieß es weiter:

Die kriegerischen Ereignisse, die uns bevorstehen, lassen es als völlig unabweislich erscheinen, daß alle Organe der Staatsverwaltung mit vollster Hingebung und gesammelter Kraft zu dem einen Ziele sich vereinigen, die Bereitstellung und Verwendung der Wehrmacht im Dienste des Vaterlandes mit äußerster Aufbietung ihres stets bewährten Pflichteifers und ihrer gewohnten Aufopferung im Allerhöchsten Dienste zu unterstützen.535

Dieses Schreiben machte in vielen blumigen Worten Andeutungen, ohne konkret zu benennen, was damit gemeint war. Den Adressaten waren die darin enthaltenen Codes aber durchaus verständlich.

Urlaube, Beförderungen und Auszeichnungen

ℹ️Zu Beginn des Krieges wurden die Staatsbeamten aus ihrem Urlaub geholt und für sie generell eine Urlaubssperre verhängt, da der Arbeitsaufwand wegen des Krieges stark zunehmen musste; gleichzeitig wurden Beförderungen eingestellt, um den Staatsschatz zu entlasten; ℹ️schließlich wurde Vorgesetzten auch das Stellen von Auszeichnungsanträgen für ihre Untergebenen untersagt, da angesichts des Krieges für militärische Leistungen ohnehin eine Flut an Anerkennungen zu erwarten stand536. Diese Ordensinflation musste daher so gering wie möglich gehalten werden. Stürgkh nannte es „Rücksichten finanzieller Natur“ und „de[n] Gedanke[n] der Unterordnung der übrigen im Staate zu verfolgenden Zwecke unter die eigentlichen Kriegszwecke und des Zurücktretens an sich berechtigter Interessen gegenüber den Erfordernissen der Wehrkraft“. Diese Vorgehensweise hielt sich nicht lange. Die Urlaubssperre fiel 1915. Urlaube wurden im halben Anspruch gewährt. 1916 durfte Urlaub dann bis zu einem Monat bewilligt werden537.

ℹ️Auch der vollkommene Beförderungsstopp ließ sich nach fünf Monaten Krieg nicht mehr durchhalten, schon alleine, weil „die Beamtenschaft, die ja zum Teil während des Krieges besonders stark in Anspruch genommen sei, und die durchwegs den an sie gestellten Anforderungen mit der größten Opferwilligkeit nachkomme, in der konsequenten Vorenthaltung eines sonst üblichen Avancements eine unverdiente Zurücksetzung erblicken könnte“538. Auf Wunsch Engels sollten aber nur freie systemisierte Stellen besetzt werden, wenn jedoch keine Notwendigkeit vorliege, sei „auch von den verfügbaren Stellen nicht unbedingt Gebrauch zu machen“. Nach einem Jahr Krieg war aber auch dieses reduzierte System nicht mehr aufrechtzuerhalten. Denn der Krieg hatte neue und verantwortungsvolle Aufgaben mit sich gebracht, ohne dass die verfügbaren Stellen dem angepasst worden waren. Daher sei „die Beförderung eines bestimmten Beamten zur Vermeidung einer empfindlichen Unbilligkeit notwendig […], ohne dass eine entsprechende Stelle frei ist“539. Ohne Neusystemisierung wurde es daher nun möglich, Beamte „extra statum“ und „ad personam“ zu befördern. Folgerichtig tauchten solche Anträge nun wieder in den Tagesordnungen des Ministerrates auf540.

ℹ️Das Kriegskreuz für Zivilverdienste

ℹ️Auch der Auszeichnungsstopp machte sich Anfang 1915 negativ bemerkbar. Der Sektionschef im Außenministerium János Graf Forgách v. Ghymes und Gács begann, nach Lösungen für den Auszeichnungsstopp zu suchen. Denn die Anerkennung entsprach, je länger der Krieg dauerte, immer weniger der im Steigen begriffenen Leistung. Forgách argumentierte, dass es wegen der oben beschrieben Umstände eine Lücke im Ordenssystem besonders nach dem Krieg geben werde und empfahl eine „Schonung des Ordensschatzes der bestehenden Orden“541. Er schlug vor, statt erst nach dem Krieg, schon jetzt Zivilstaatsbedienstete auszuzeichnen, und zwar mit einem neuen Orden. Der neue Verdienstorden sollte „wesentlich billiger (in der III. Klasse aus Bronze!) hergestellt“542 und „nur für ganz ausserordentliche, im Zusammenhange mit dem Kriege stehende Dienstleistungen“ verliehen werden, und zwar mit einer einmaligen Dekoration, unter dem Namen „Kriegskreuz für Zivilstaatsbedienstete“, das mit der Devise „Pro Merito Civili 1914–15“ beschriftet werden sollte, in drei Klassen (abgestuft nach den Rangsklassen der Beamten) unterteilt. Mit dem Memorandum Forgáchs vom 22. Februar erklärte sich der Kaiser am 2. März 1915 „im Prinzip einverstanden“543. Am 5. März schickte Stürgkh seinem Freund Innenminister Heinold die Forgách’schen Ausführungen und merkte an, dass man damit auch Privatpersonen auszeichnen können sollte544. Die Erkenntnis, dass der Krieg länger dauern würde, hatte also auch die Schaffung eines neuen Ordens für Zivilisten im Krieg ins Rollen gebracht.

ℹ️Gleichzeitig mit dieser Initiative Forgáchʼ entstand eine weitere symbolpolitische Baustelle, um die sich der Ministerrat kümmern musste, und die sich eng mit der Frage des Kriegskreuzes verweben sollte. Ende Februar 1915 hatte das Armeeoberkommando Eisenbahnminister Forster eröffnet, dass es dazu übergangen war, Zivilstaatsbedienstete für ihre Verdienste um die Militärverwaltung auszuzeichnen. Zwar war dem Militär für den Krieg eingeräumt worden, Auszeichnungen, die „den Charakter einer rein militärischen Auszeichnung haben“545, zu beantragen, lediglich das Einvernehmen mit dem zuständigen Minister suchend. Allerdings sei der Ministerrat „jedenfalls von der stillschweigenden Voraussetzung ausgegangen, dass es sich hiebei nur um Zivilpersonen handeln könne, welche sich in dienstlicher Eigenschaft im Bereiche der Armee im Felde befinden, nicht aber um Personen im Hinterlande“546. Genau dies aber plante nun das Armeeoberkommando für Funktionäre der Eisenbahnverwaltung.

ℹ️Dies stellte die Minister nun vor ein Dilemma. Während sie die Leistungen der ihnen unterstehenden Beamten nicht belohnen konnten, tat dies das Militär sehr wohl. Nicht die Leistung an sich wurde zum entscheidenden Auszeichnungskriterium, sondern Leistung für das Militär. Dies wollten Forster und die anderen Minister „im Interesse der Wahrung von Autorität und Disziplin absolut nicht zulassen“547.

ℹ️Nachdem es Stürgkh übernommen hatte, diese Angelegenheit zu klären, musste er also ein weiteres Mal (wie schon in der Krise der Eisenbahnwaggons im August 1914) ein vom Ministerrat abgesegnetes konfrontatives Schreiben an das Armeeoberkommando senden, an niemand Geringeren als den Armeeoberkommandierenden Erzherzog Friedrich, Cousin dritten Grades des Kaisers. Wie im Ministerrat besprochen, verbat sich Stürgkh jede Auszeichnung an Zivilbeamte, die nicht in der Verwaltung im Bereich der Armee im Feld tätig waren, ohne die Ministerien zu konsultieren548. Der Konflikt war vorprogrammiert.

Inzwischen kam die Initiative des Kriegskreuzes für Zivilverdienste ins Rollen. Innenminister Heinold schlug am 23. April 1915 in einem Schreiben an Stürgkh vor, den Orden weder auf Staatsbedienstete noch auf Privatpersonen zu beschränken. Damit es kein reines „Erinnerungszeichen nach Art der Jubiläumserinnerungsmedaillen oder der Jubiläumskreuze“ werde, und damit die Träger anderer Orden die III. Klasse des Kriegskreuzes als ihrer Stellung angemessen ansähen, war er gegen Ausfertigung dieser „Ritter“-Klasse aus Bronze und schlug ein noch nicht verwendetes Metall (Aluminium) vor, sowie eine weitere Differenzierung dieser Klasse mit und ohne Krone. Außerdem sollte wie beim deutschen Eisernen Kreuz statt der Rangsklassen und sozialen Stellung der Beamten der Grad des Verdienstes im Zusammenhang mit dem Krieg ausschlaggebend sein549. Am 27. April leitete Stürgkh diese Argumentation fast wortgleich an Forgách weiter.

ℹ️Im Mai eskalierte dann der Konflikt zwischen Ministerrat und Armeeoberkommando. Nach eineinhalbmonatigem Schweigen lehnte Erzherzog Friedrich am 17. Mai 1915 eine Änderung seiner neunmonatigen Praxis mit der Begründung ab, diese Auszeichnungen könnten nur vom Militär beurteilt werden550. Der Ministerrat beriet darüber am 20. Mai551. Daraufhin sprach Stürgkh in seinem Schreiben vom 29. Mai mit Kopie an Tisza, der das Anliegen schriftlich unterstützte, dem Armeeoberkommando explizit die Kompetenz der Ordensverleihung an Zivilbeamte ab. Ein zuvor noch ausgesprochenes Angebot, dass die Verleihung rein militärischer Auszeichnungen dem Militär vorbehalten sein könnte, zog Stürgkh wieder zurück. Friedrich aber sandte eine erneute Ablehnung, jedoch ohne neue Argumente. Als Stürgkhs nächstes Schreiben vom 27. Juni gar nicht beantwortet wurde, auch nicht nachdem er es persönlich im Hauptquartier in Teschen angesprochen hatte, schaltete Stürgkh auf die „Ah. Eskalationsstufe“, indem er dem Kaiser am 14. August einen Vortrag erstattete und den gesamten Vorgang berichtete552. Es sollte bis zum 22. August dauern, bis dieser Vortrag zur Kenntnis genommen wurde. Der Ministerrat behandelte das Thema am 24. August 1915553.

ℹ️Das steigende Arbeitspensum der (noch) nicht zum Militärdienst eingezogenen Beamten ließ auch den Auszeichnungsstopp Mitte 1915 kaum noch zu. Am 5. Juli teilte Stürgkh seinen Ministerkollegen den Entschluss Franz Josephs mit, die Minister könnten „in Ansehung abgeschlossener besonders bedeutsamer Verwaltungsakte besondere Verdienste von staatlichen Funktionären oder Privatpersonen“ Auszeichnungsanträge stellen. Auf Antrag Trnkas beschloss der Ministerrat „die Verleihung des ‚Titels und Charakters‘ der nächsthöheren Rangsklasse […] auch schon während der Kriegsdauer“ au. zu beantragen554.

Am 10. August tagte der Ministerrat erneut zum Thema der „Ag. Stiftung eines Kriegskreuzes für Zivilverdienste“555. Am 11. August erlangte Stürgkh die prinzipielle Ermächtigung für die Ordensstiftung, Tisza erhielt sie etwas früher556 und versicherte seinen österreichischen Kollegen am 14. August der Unterstützung durch die ungarische Regierung557. Am selben Tag erbat Außenminister István Freiherr Burián von Rajecz mit seinem Vortrag die Stiftung des Kriegskreuzes für Zivilverdienste, was der Kaiser mit Ah. Entschließung vom 16. August 1915 annahm. Auf Vorschlag Buriáns wurde der Geburtstag Franz Josephs, der 18. August, zum Stiftungstag. Stürgkh hatte noch angemerkt, dass es „Zivilverdienste“ im Plural heißen sollte, was dann auch geschah558. Tisza verzichtete sogar, wohl wegen der Eile, darauf, dass die Anmerkungen seiner Regierung in den Vortrag aufgenommen werden, „falls die anderen kompetenten Faktoren die Auffassung der ungarischen Regierung nicht teilen würden“559. Die Entscheidung über die konkrete Ausgestaltung des Abzeichens wurde jedoch noch aufgeschoben560. Nun, sechs Tage nachdem durch die Stiftung des Kriegskreuzes eine Lösung des Konfliktes zwischen Armeeoberkommando und Ministerrat möglich geworden war, nahm der Kaiser von der ihm durch Stürgkh mitgeteilten eskalierten Situation zwischen Regierung und Armeeoberkommando Kenntnis561. Am 16. Oktober tagte der Ministerrat wieder zum Thema „Erwirkung von Ah. Auszeichnungen für Zivilpersonen durch das Armee-Oberkommando“562.

Was das Aussehen des Ordens anbetraf, hatte sich Trnka wegen der Frage, ob die geplante Inschrift dem Anspruch, klassisches Latein zu sein, Genüge tun würde, bei „mit dem klassischen Latein vertrauten Persönlichkeiten“ erkundigt, die die Frage verneint hatten. „Dem Vernehmen nach soll der Sektionschef im Ministerium für Kultus und Unterricht Geheimer Rat Dr. Ćwikliński schon vor geraumer Zeit bezügliche Vorschläge erstattet haben […]. Der genannte Herr Sektionschef hat mich übrigens wissen lassen, daß er selbstverständlich mit Vergnügen seinen Rat zur Verfügung stellen würde.“563 Das wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen, denn Stürgkh war selbst leidenschaftlicher Lateiner564. So ging es womöglich auf den Ministerpräsidenten zurück, dass die Vorschläge Ćwiklińskis nicht umgesetzt wurden und es bei dem vorgeschlagenen Spruch blieb.

Als der Orden kreiert worden war, erarbeiteten die Ministerien Listen der von ihnen beantragten Verleihungen. Diese Listen waren Mitte Jänner 1916 fertig und waren wegen der langen Zeit ohne Auszeichnungsanträge viel zu lang. Am 14. Jänner 1916 beschloss der Ministerrat, sie zu reduzieren565. Nachdem am 8. Februar 1916 der Kaiser die entsprechend den Vorbehalten des Ministerrates geänderten Statuten genehmigt hatte und diese am 29. März publiziert worden waren566, konnte der Ministerrat am 1. April 1916 erneut über das „Vorgehen bei Erstattung au. Anträge auf Verleihung des Kriegskreuzes für Zivilverdienste“ beraten567.

Am 28. April 1916 schlug Stürgkh anlässlich einer Anfrage des Kriegsministers vor, alle Beschränkungen von Auszeichnungen fallenzulassen, „jedoch anfangs in möglichst zurückhaltender Weise“ nur besondere kriegsbedingte Verdienste zu belohnen. Dabei sei auch auf das Kriegskreuz für Zivilverdienste als einer „gleichwertigen Dekoration“ Bedacht zu nehmen568. Das neu geschaffene Ehrenzeichen sollte also beide Probleme lindern: den Auszeichnungsstau und den Kompetenzstreit mit dem Armeeoberkommando.

Die ersten Kriegskreuze, die der Ministerrat beschloss, gingen am 14. August 1916 an „mehrere, dem Ministerium für Landesverteidigung angehörige bzw. dort in aushilfsweiser Verwendung stehende Beamte“569. Doch musste Anfang Oktober festgestellt werden, dass, während das „Ministerium des Äußern bereits au. Anträge wegen Erwirkung des Kriegskreuzes für Zivilverdienste in ziemlich weitem Umfange der Ah. Genehmigung zugeführt“ habe, die k. k. Verwaltung hier zurückgeblieben war. Und tatsächlich hatten 409 Beamte des Außenministeriums den Orden erhalten570. Deshalb beschloss der Ministerrat, eine breite Aktion einzuleiten und diese „auch auf die unteren Instanzen auszudehnen“, allerdings unter Vermeidung von „doppelte[r] Begnadung identischer Verdienste“571. 1917 war es dann so weit, en gros bekamen Angehörige des Arbeits-, Eisenbahn-, Handels-, Innen- und Justizministeriums ihre Kriegskreuze572. Im März dieses Jahres mussten dann noch Vorgehensweisen bei Erwirkung von Kriegskreuzen geklärt werden573.

ℹ️Dass die Auseinandersetzung um die Ordensverleihung einer der wenigen Momente war, wo sich im Ministerratsprotokoll eine offene Stellungnahme bis zum letzten Augenblick gegen das Militär bemerkbar machte, mag den Eindruck erwecken, die Regierung habe dem Treiben überall zugesehen außer dort, wo es um ihren eigenen Machtbereich ging, dies aber nur in einem eher symbolischen Bereich.

ℹ️Dies würde erstens bedeuten, die Macht dieser Symbolik zu verkennen. Zweitens aber trat man den Begehrlichkeiten des Militärs auch in realen Angelegenheiten entgegen, auch wenn man sich tatsächlich im Großen und Ganzen dem Staat im Staat beugte. So hatte Stürgkh etwa bei der Inhaftierung ohne Beweis, teils mehr als seine Minister, versucht, die Rechtsordnung gegen die Ansprüche der Armee zu verteidigen, meist ohne (Feldverfahren), manchmal aber sogar mit Erfolg (Enteignung und Ausbürgerung).

ℹ️In diesem Lichte besehen, gewinnt die von den Ministern so detailverliebt eingeforderte Ordensinschrift eine überraschend andere Bedeutung als nur „dem zivilen Verdienste zur Zeit des Krieges“: nämlich auch, dass man die Kompetenzen der zivilen Regierung gegenüber dem Militär aufrecht erhalten wollte, ein Konflikt, in dem man dauernd zu scheitern drohte, und der nur auf diesem Nebenschauplatz auf höchster Ebene ausgefochten und in den Ministerratsprotokollen dokumentiert wurde.

ℹ️Der Orden hatte noch eine Besonderheit, die sich als zukunftsweisend herausstellen sollte. Er wurde an Männer und Frauen verliehen. Es gab zwar Orden, die an Frauen vergeben wurden, diese waren aber sehr exklusiv auf den Hochadel bzw. den Hofstaat beschränkt, und waren reine Damenorden, nämlich der Sternkreuzorden und der Elisabeth-Orden574. Andererseits waren die Tapferkeitsmedaille und das Zivil-Verdienstkreuz, die gelegentlich an Frauen verliehen wurden, keine Orden. Dieser Missstand war schon bei früherer Gelegenheit bemerkt worden575. Mit dem Kriegskreuz für Zivilverdienste wurde auch dem entgegengewirkt576. Die Ordenspraxis passte sich an die geänderte gesellschaftliche Realität des Krieges an, dass deutlich mehr Frauen im Staatsdienst tätig waren.

ℹ️Unterstützungen für Beamte

Ein besonderes Augenmerk legte der Ministerrat auf die Frage von Unterstützungen für Beamte. Dieses Thema ist zudem für die Jahre 1915 und 1916 durch Abschriften und erhaltene Vorträge des Finanzministers im Ministerrat gut dokumentiert. Von sechs Sitzungen sind fünf erhalten, wobei sich ein Ministerratsvortrag nicht zuordnen lässt, weil an dem auf dem Vortrag vermerkten Datum diese Angelegenheit nicht – am Tagesordnungspunkttitel erkennbar – zur Sprache kam.

Österreich trat in den Krieg mit der Erwartung ein, dass die Preisverhältnisse so weit konstant bleiben würden, dass die Lohn- und Besoldungsverhältnisse nicht geändert werden müssten – und darin war die Regierung letztlich mit allen gesellschaftlichen Gruppen einschließlich der Gewerkschaften einer Meinung577. Daher wurden trotz der Teuerungen die Beamtengehälter 1914 und 1915 nicht angehoben, weil, wie Stürgkh ausführte, „dies doch schon aus finanziellen Gründen gar nicht in Erwägung gezogen werden“ könne. Übliche Aushilfen könnten aber „etwas reichlicher gewährt werden“. Auch Aktionen zur leichteren Versorgung wären denkbar578. Für diese Maßnahmen wäre jedoch „ein Bekanntwerden der prinzipiellen Geneigtheit der Regierung in der Öffentlichkeit zu vermeiden, um nicht auf diese Weise einschlägige Ansuchen geradezu zu provozieren“.

Die Preissteigerungen erwiesen sich aber im Jahr 1915 als so stark, dass auf diesem Weg, nämlich übliche Unterstützungen „etwas reichlicher“ zu gewähren, das Auslangen nicht mehr gefunden werden konnte. Finanzminister Leth führte am 24. Jänner 1916 aus, dass „die Lage der Staatsangestellten dringend eines helfenden Eingreifens des Staates bedürfe“. Zwar wurden die Gehälter weiterhin nicht angehoben, aber Staatsdienern für das Jahr 1916 eine Teuerungszulage gewährt, wobei die Zulagen nach drei Klassen gestaffelt waren:

1. Klasse: ledige oder verwitwete Bedienstete ohne Unterhaltspflicht für Kinder,

2. Klasse: verheiratete Bedienstete ohne Kinder oder verwitwete mit Unterhaltspflicht für bis zu zwei Kinder, schließlich

3. Klasse: alle anderen579.

Die aus Anlass des Krieges gewährten Zulagen genossen zudem die Exekutionsfreiheit580, wobei präzisiert werden musste, dass damit auch die Teuerungszulagen gemeint seien581. Außerordentliche Zuschüsse wurden auch für Reisezulagen (Diäten und Zehrgelder) gewährt582. Analog zu den aktiven Staatsbediensteten wurde im August 1916 auch jenen im Ruhestand sowie Witwen und Waisen von Staatsangestellten eine einmalige Aushilfe bewilligt583.

Sonstiges

ℹ️1907 war ein neues Gehaltsschema für Beamte erlassen worden584, wobei pro Rangsklasse neue Gehaltsstufen geschaffen wurden. Es war allerdings untersagt worden, dass Beamte, die das 60. Lebensjahr oder das 35. Dienstjahr zurückgelegt hatten, in diese neu geschaffenen Stufen vorrückten. Allerdings war die Regierung ermächtigt worden, im ersten Jahr des Gesetzes „in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ Ausnahmen zuzulassen, „zum Zweck ihrer [der Beamten] Erhaltung im aktiven Dienst“. Diese Ermächtigung, die danach immer verlängert worden war, wurde auch 1916 um drei weitere Jahre, bis Ende März 1919, prolongiert585. ℹ️Keine Einigung konnte der Ministerrat 1916 in der „Frage der Anrechnung von Kriegsjahren für die Staatsbediensteten“ finden586. Die Angelegenheit kam erst 1918 wieder im Ministerrat zur Sprache587.

ℹ️Im April 1916 wurde dann das Zeitvorrückungsschema von in Staatsbetrieben angestellten Beamten dem der Verwaltungsbeamten angepasst588. ℹ️Ebenfalls zur Sprache kam die Lehrerdienstpragmatik, die nach langwierigen Verhandlungen 1917 erlassen werden konnte589. ℹ️Neu eingeführt wurden bei der Eisenbahn die Titel eines „Inspektionsrates“ und „Oberinspektionsrat“590.

Der Dualismus im Krieg

Das Wort Symbolpolitik wird meist verwendet, um eine Politik als substanzlos zu kritisieren. Dabei sind Symbole sehr mächtige Erscheinungen, ganz besonders in der Politik, natürlich immer in Bezug auf eine ganz bestimmte Substanz. Dies ist in den Ministerratsprotokollen der Kriegsjahre in einem Fall ganz besonders augenfällig: bei der Regelung der Wappenfrage mit Ungarn und – damit zusammenhängend – bei der Umbenennung Cisleithaniens in Österreich 1915.

ℹ️„Cisleithanien“ wird Österreich

Das Jahr 1915 stellte einen Wendepunkt für die Symbolik der Doppelmonarchie dar. Seit Beginn des Dualismus mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 gab es zwischen beiden Teilen der Monarchie eine permanente Auseinandersetzung um das Wesen der Monarchie, die aus cisleithanischer Sicht ein Staat mit zwei Teilen war, aus ungarischer Sicht jedoch zwei Staaten in besonders enger Beziehung. Diese Auseinandersetzung bezog sich zwangsläufig auch auf die zentralen staatlichen Symbole, den gemeinsamen Staatnamen und das gemeinsame Wappen.

In der Frage, was das Wesen Österreich-Ungarns gewesen sei, die bis in die neuere Geschichtsschreibung von der Literatur oft und ausgiebig diskutiert worden ist, wurden bisher die Protokolle des cisleithanischen Ministerrates nicht berücksichtigt, vermutlich weil sie zu den Brandakten des Justizpalastbrandes gehörten. Verborgen geblieben ist das bisher insbesondere deshalb, weil auch das Archiv des Ministerratspräsidiums den Flammen des Justizpalastbrandes zum Opfer gefallen ist.

Zwei Schlüsseldokumente dazu sind jedoch in Abschrift komplett erhalten geblieben, eines von 1868, eines von 1915. Das Protokoll des Ministerrates I vom 14. Juli 1868/I behandelt die „Frage über die Ah. Titel Sr. Majestät und die zu gebrauchende territoriale Bezeichnung insbesondere bei Staatsverträgen“591 und der im vorliegenden Band edierte Ministerrat vom 10. September 1915 die „Regelung der Wappenfrage“.

ℹ️1868 war das „und“ zwischen die monarchischen Attribute „kaiserlich“ und „königlich“ getreten und der Name der Monarchie änderte sich von „Kaisertum Österreich“ in „österreichisch-ungarische Monarchie“592, 1915 wurde die seit Beginn strittige Frage des gemeinsamen und damit auch des cisleithanischen Wappens geklärt.593 Interessant sind diese Ausführungen aber auch und besonders, weil sie über den offiziellen Namen Cisleithaniens Aufschluss geben, der „niemals durch einen Staatsakt festgestellt, sondern nur inzidenter in die Gesetzgebung eingeführt worden“ war594.

ℹ️Bisher verborgen geblieben war die Motivation, 1867 für den Partnerteil Ungarns, sich „die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“ zu nennen, ebenso wie 1915 seine Umbenennung in Österreich. Gerade das Protokoll vom 10. September 1915/I enthält wichtige Aussagen nicht zuletzt Stürgkhs über die Entwicklung und Lösung des Wappenproblems. Und sie enthält die Begründung, weshalb aus „Cisleithanien“ nun „Österreich“ wurde.

Vor 1915 waren alle Lösungsversuche gescheitert. Die letzten beiden Kommissionen zur Wappenfrage verliefen ergebnislos, jene von 1905 war Ungarn zur Beilegung der Probleme mit der gemeinsamen Armee zugesagt worden und jene von 1912/13 fand anlässlich der Diskussionen nach den Balkankriegen um die Steigerung des Heeresbudgets statt595. Cisleithanien und Ungarn hatten sich also fast 50 Jahre nicht auf einen Kompromiss einigen können.

ℹ️Das Problem war, dass Cisleithanien faktisch kein eigenes Wappen hatte, da es sich selbst ja nicht als eigenen Staat, sondern nur als einen Teil der gemeinsamen Monarchie „Österreich“ ansah, die 1868 ihren Namen lediglich in Österreich-Ungarn änderte. Das Wappen mit dem Doppelkopfadler war aus cisleithanischer Sicht daher Symbol der gemeinsamen Monarchie, nicht eines Teiles. Dort, wo dieser Doppelkopfadler in Cisleithanien verwendet wurde, geschah dies, weil es eben Teil der gemeinsamen Monarchie war. In amtlichen österreichischen bzw. cisleithanischen Publikationen war die Verwendung des kleinen Wappens auf der Titelseite sehr unterschiedlich. Zierte der Doppelkopfadler das Reichsgesetzblatt von 1849 bis 1869, entfiel er ab 1870 ersatzlos; die stenografischen Protokolle sowohl des Abgeordnetenhauses wie des Herrenhauses des Reichrates führten ihn seit ihrem Bestehen 1861 bis 1918 nie; auf den Verordnungsblättern des Finanzministeriums wurde er hingegen auch nach 1867 geführt. Beim Hof- und Staatshandbuch, das letztlich eine gemeinsame Publikation war, wurde er bis zur Ausgabe von 1868 geführt. Nach einer Unterbrechung im Erscheinen entfiel der Doppelkopfadler dann in der folgenden Ausgabe von 1874. Schließlich wurde er ab 1881 wieder abgebildet. Inwieweit hinter der Verwendung des Doppelkopfadlers auf amtlichen Publikationen ein System stand, lässt sich kaum ergründen.

In Ungarn stieß die Verwendung des Doppelkopfadlers als gemeinsames Wappen hingegen auf vehemente Ablehnung, da man sich eben nicht als Teil einer gemeinsamen Monarchie Österreich sah, sondern als eigenständiger Staat, der daher auch sein eigenes Wappen führte. Das sollte auch im gemeinsamen Wappen zum Ausdruck kommen. Das ungarische Wappen sollte daher nicht dem Doppelkopfadler untergeordnet sein596, sondern gleichberechtigt neben ihm stehen – wie immer das aussehen sollte.

Dem Ausland gegenüber wurde das Führen des Doppelkopfadlers als gemeinsames Wappen zunehmend vermieden597. Hingegen blieb der Adler Symbol des gemeinsamen Militärs, auch in Ungarn.

Im Herbst 1915 nun, nach einem knappen Jahr Krieg und nach einigen wichtigen militärischen Erfolgen, vor allem dem ℹ️Durchbruch bei Tarnów-Gorlice, ℹ️beschlossen beide Regierungen, „angesichts der großen Erfolge, welche die Monarchie und speziell der Gemeinsamkeitsgedanke auf militärischem Gebiete errungen hätte“, die Wappenfrage endlich zu lösen und „die Verhandlungen zu einem positiven Ergebnisse zu führen“598. Das Ergebnis waren dann das am 11. Oktober 1915 von Franz Joseph erlassene cisleithanische und das gemeinsame Wappen. In Folge wurde auch das persönliche Wappen des Monarchen geändert599. Eine Änderung erfuhren auch das ungarische600 und das kroatisch-slawonische Wappen601.

Der Doppelkopfadler wurde nun von einem Symbol der Gesamtmonarchie zum rein cisleithanischen Wappen und heraldisch konsequent in einen Wappenschild eingeschlossen, statt wie bisher Träger des Schildes zu sein602. Stattdessen wurden der cisleithanische Wappenschild (mit der österreichischen Kaiserkrone) und der ungarische (mit der ungarischen Königskrone) gleichberechtigt nebeneinandergesetzt, mit konfliktneutralen Schildhaltern (Greifen für Österreich und Engel für Ungarn). Das verbindende Element war nun das Wappen der Herrscherdynastie, das kleiner zwischen die beiden Staatswappen gesetzt wurde und vom österreichischen Erzherzogshut gekrönt war, unterstützt durch die vier wichtigsten Orden der Monarchie603, deren Bänder beide Schilde verbanden, sowie die Devise aus der pragmatischen Sanktion: „indivisibiliter ac inseparabiliter“. Das Problem des gemeinsam verwalteten Bosnien-Herzegowina wurde symbolisch gelöst, indem dessen Wappen in jedem der Staatsschilde auftauchte. Die Geschichte des Wappens und die Heraldik wurden in diesem erhaltenen Ministerrat detailliert besprochen und es kam zu gleichzeitigen Vorträgen beider Ministerpräsidenten604. Diese Einigung war im Grunde eine Anerkennung des ungarischen Standpunktes zweier eigenständiger Staaten, die nur durch die Dynastie vereint waren.

Der Namenskonflikt war ähnlich gelagert wie jener bezüglich des Wappens. Der Name „Österreich“, den man ab 1868 lediglich in „Österreich-Ungarn“ umgeändert hatte605, bezeichnete bis zu diesem Zeitpunkt vom Standpunkt Cisleithaniens immer die Gesamtmonarchie einschließlich Ungarns.

Aber auch die Änderung des Namens 1915 von den „im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern“ in „Österreich“ wurde nicht konsequent umgesetzt. Das „Statistische Handbuch der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ hieß ab seinem Band 33 (1916 erschienen, das Jahr 1914 behandelnd) „Österreichisches Statistisches Handbuch“. Hingegen behielt das Reichsgesetzblatt seinen seit 1870 – mit dem Verschwinden des Doppelkopfadlers vom Titelblatt – angenommenen Titel „der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ bis 1918 bei.

Mit dem Nachgeben gegenüber Ungarn entfiel aber auch jedes staatsrechtliche Hindernis, den eigenen Teil der Monarchie Österreich zu nennen. „In parenthesi“ stellte Stürgkh im Ministerrat fest, dass es nun gelte, „den bisher für das diesseitige Staatsgebiet regelmäßig gebrauchten, den Charakter eines dürftigen Auskunftsmittels tragenden, in der Öffentlichkeit vielfach kritisierten und angefochtenen Ausdruck ‚im Reichsrate vertretene Königreiche und Länder‘ zu vermeiden und die Bezeichnung ‚österreichische Länder‘ abwechselnd mit ‚Österreich‘ zur Anwendung zu bringen“. Da nun „der erstbezeichnete Ausdruck niemals durch einen Staatsakt festgestellt, sondern nur inzidenter in die Gesetzgebung eingeführt worden sei, so könne er ebenso inzidenter außer Gebrauch gesetzt werden“606. So nahm Cisleithanien 1915 den Namen Österreich an und beendete damit einen seit 1867 schwelenden Konflikt mit Ungarn.

Wappen und Staatsname waren ein bedeutendes symbolpolitisches Faustpfand gewesen. Die Frage, was den Ministerrat bewogen haben könnte, es nach so langen Jahren aus der Hand zu geben, ist nicht leicht zu beantworten. Stürgkh hatte im Ministerrat darauf hingewiesen, dass die patriotische Stimmung nach den militärischen Erfolgen es leichter mache, sich über den Widerstand der Vertreter des Gesamtstaatsgedankens hinwegzusetzen, oder wie Stürgkh es formulierte, den „Standpunkt der starren Negation gegenüber den im Dualismus grundsätzlich fundierten Forderungen der ungarischen Seite“. Er führte weiter aus, dass die „extremen Standpunkte“, die es auf beiden Seiten gebe, „gerade unter den gegenwärtigen Verhältnissen weder besonders dazu gestimmt, noch auch in der Lage sein werden, eine sehr laute Kritik zu entfalten“607. Man wollte die gesamtstaatspatriotische Stimmung, die man ausmachte, ausnutzen.

ℹ️Doch weshalb wollte er das Faustpfand überhaupt einlösen und wofür? Die Antwort dürfte im ökonomischen Bereich liegen. Cisleithanien, nunmehr Österreich, war abhängig von ungarischem Getreide. Die Einigung in der Wappenfrage erfolgte just zu einem Zeitpunkt, als einerseits Verhandlungen über das rumänische Getreide im Gange waren und Cisleithanien nur im Einvernehmen mit Ungarn vorgehen konnte und als andererseits Verhandlungen über den Ausgleich 1917 begannen, bei denen Tisza sich kooperativ zeigte608.

In der ℹ️Presse wurde das neue Wappen weniger interessiert aufgenommen als die Rückkehr des Staatsnamens, dies allerdings durchaus mit gemischten Gefühlen. Kaum ein Kommentator konnte die Tatsache verkennen, dass Ungarn sich durchgesetzt hatte und das 1804 gegründete Kaisertum Österreich nun endgültig begraben worden war.

ℹ️Verhandlungen zum Wirtschaftsausgleich 1917

Mit Ende 1917 lief der Wirtschaftsausgleich mit Ungarn aus, der seit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 alle zehn Jahre erneuert werden musste. Er umfasste drei wesentliche Themenkomplexe, ein Zoll- und Handelsbündnis, eine Regelung des Beitragsverhältnisses zu den gemeinsamen Ausgaben (die Quote) und die Verlängerung des Privilegiums der Oesterreichisch-ungarischen Bank. Der letzte Ausgleich war 1907 geschlossen worden609 und war seit 1. Jänner 1908 in Kraft. Aufgrund der Währungsumstellung von Gulden österreichischer Währung zur Krone erfolgte die Privilegierung der Notenbank nicht 1907, sondern erst 1911610, lief aber gemeinsam mit dem Gesetz zum gemeinsamen Zollgebiet und der Quotenregelung Ende 1917 aus. Im hier behandelten Zeitraum stand der Wirtschaftsausgleich sechs Mal auf der Tagesordnung, keines der Protokolle ist erhalten611. Die Verhandlungen, die vermutlich mit einer Vorbesprechung der cisleithanischen Minister am 2. Jänner 1915 sehr früh begannen, wurden jedoch schnell unterbrochen, war das Thema des Ministerrates am 16. Jänner doch „Aufschub der Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn“, sodass erst ab dem 10. August 1915 der Ministerrat in die Ausgleichsverhandlungen mit eingebunden war612.

Weitere Themen des Ministerrates

Die Tätigkeit des Ministerrates drehte sich seit seiner ersten Sitzung nach der Sommerpause 1914 fast ausschließlich um den Krieg und dessen Auswirkungen auf Cisleithanien und seine Einwohner. Dies betraf selbstverständlich neben den großen bereits angesprochenen Themenkomplexen auch andere Bereiche des politischen Lebens.

Themen mit Kriegsbezug

Nach militärischen Themen im operativen Sinn wird man im vorliegenden Editionsband vergebens suchen, für die wirtschaftliche, soziale und auch politische Seite des Krieges ist er jedoch eine Fundgrube, wie die vorhergenden Kapitel zeigen. Wenn sich operative Kriegsereignisse auf die Ministerratsprotokolle durchschlugen, dann eher indirekt. Dies war etwa der Fall, als Verlegungen von Institutionen auf Grund von bedrohlichen Kriegsereignissen erwähnt werden, wie die Übersiedlung der galizischen Finanzlandesdirektion von Lemberg nach Biaƚa613 oder die Verlegung des Kreisgerichtes Rovigno nach Pola im Juni 1916614 oder umgekehrt das Kriegsglück, das Österreich-Ungarn Mitte 1915 hold war, was wenig später als Anlass für die Regelung des gemeinsamen Wappens genannt wurde615.

ℹ️In einigen Sitzungen wurde die Rechtsgleichstellung deutscher Staatsbürger mit jenen Österreich-Ungarns behandelt. Vom Deutschen Reich ging die Initiative aus, den Soldaten Österreich-Ungarns im Wirkungskreis deutscher Behörden für den „Schutz der infolge des Krieges an Wahrnehmung ihrer Rechte behinderten Personen“ Rechtsgleichstellung zu den eigenen Einwohnern zu gewähren, wenn das umgekehrt für deutsche Staatsbürger in Österreich-Ungarn auch gelten würde616. Ein paralleles Gesetz „über den Einfluss der kriegerischen Ereignisse auf Fristen, Termine und das Verfahren“ war in Cisleithanien am 29. August 1914 erlassen worden617. Darin war aber die Rechtsgleichstellung der in Österreich-Ungarn befindlichen deutschen Soldaten nicht ausdrücklich ausgesprochen worden. Dies musste Cisleithanien nun nachholen. Am 27. November 1914 wurde bestimmt, dass unter Militärpersonen in den eigenen Gesetzen und Verordnungen „unter der Voraussetzung der Gleichseitigkeit die bei der Wehrmacht eines verbündeten kriegführenden Staates in wesentlich gleicher Stellung befindlichen Personen gleichzuhalten“ seien618. Nachdem auch der ungarische Ministerrat am 1. Dezember 1914 einen entsprechenden Beschluss gefasst hatte619, wurde schließlich am 4. Februar 1915 auch im deutschen Reichsgesetzblatt die Reziprozität bestätigt620. Das Recht von zum Militärdienst einberufenen Bergleuten (Bruderlademitgliedern) bei ihrer Rückkehr zum Bergbau die alten Kassenrechte zu behalten, wurde 1915 auf Soldaten des Deutschen Reiches ausgedehnt621.

ℹ️Der Krieg verhinderte auch gesetzlich vorgeschriebene Routinen. So wurden alle drei Jahre die Hälfte der Mitglieder aller Handels- und Gewerbekammern neugewählt622. Ende 1914 hätten wieder Wahlen stattfinden sollen. Weil wegen des Krieges „jedoch eine ordnungsmäßige Durchführung der Wahlen zu dem gesetzlich statuierten Termine unmöglich“ war, wurde „die Funktionsdauer der am 31. Dezember 1914 ausscheidenden wirklichen Mitglieder der Handels- und Gewerbekammern bis 31. Dezember 1915, somit auf ein Jahr, verlängert“623. Da der Krieg nicht enden wollte, wurden Ende 1915, 1916 und 1917 erneut einjährige Verlängerungen notwendig, wobei 1917 die Verlängerung für alle Mitglieder ausgesprochen wurde, da Ende 1917 auch das reguläre Mandat der anderen Hälfte der Mitglieder endete624. Ein weiteres Thema war die „Auflösung der Handels- und Gewerbekammern in Triest, Görz, Rovigno und Rovereto“625.

Fortsetzung von Themen aus der Zeit vor dem Krieg

ℹ️Als der Reichsrat im März 1914 vertagt worden war, gab es viele Gesetzentwürfe in verschiedenen Stadien der Verhandlung. Mit dem Kriegsbeginn und der Entscheidung, den Reichsrat aufzulösen, war klar, dass diese Entwürfe in absehbarer Zeit nicht Gesetz werden konnten. Dennoch wollte die Regierung in einigen Fällen nicht so lange warten, besonders wenn die Verhandlungen bereits weit gediehen waren und die Realisierung sinnvoll erschien. Dies traf besonders auf die Novelle des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches zu, die noch in parlamentarischer Verhandlung stand. Unter den veränderten Gesetzesteilen befanden sich auch die „Bestimmungen aus dem Gebiete des Personen-, Familien- und des gesetzlichen Erbrechtes, die infolge des Krieges besondere Bedeutung erlangen und dringlich wurden“626. So wurden „die Fristen für die Todeserklärungen insbesondere bei Verschollenheit zur See oder im Kriege“ neu geregelt. In drei Teilnovellen wurden dann diese Bestimmungen 1914, 1915 und 1916 publiziert627.

ℹ️1907 stand die „Einbringung eines Gesetzentwurfes betreffend die strafrechtliche Behandlung und den strafrechtlichen Schutz Jugendlicher“ auf der Tagesordnung628. Auch dieses Gesetz war 1914 noch nicht vom Reichsrat verabschiedet worden. Am 1. April 1916 wurde ein „Bericht des Justizministers über den Stand der Vorarbeiten zur Einführung der Fürsorgeerziehung und zur Erlassung besonderer Bestimmungen über die strafrechtliche Behandlung Jugendlicher“ im Ministerrat behandelt629.

ℹ️Am 25. Juni 1914 war mit einer kaiserlichen Verordnung das Gesetz der Pensionsversicherung von Angestellten novelliert worden, das am 1. Oktober 1914 in Kraft treten sollte630. Wegen des Kriegsbeginns „erscheine nun sehr wünschenswert, eine Rückwirkung für die Zeit vom 1. August an eintreten zu lassen“, was auch geschah631.

ℹ️Ebenfalls auf der Tagesordnung standen die Erwirkung von Sanktionen von Landesgesetzen, die die Landtage noch vor ihrer Schließung 1914 verabschiedet hatten632. Diese Gesetze behandelten Gemeindeaufschläge, Gemeindeteilungen, Schulgesetze sowie den Ertrag von und die Kosten für die Infrastruktur.

Tabelle Nr. 2: Tagesordnungspunkte zu Landesgesetzen 1914–1918, gegliedert nach Kronländern

Kronland 1914 1915 1916 1917 1918 Gesamt
Niederösterreich 5 4 2 2 13
Oberösterreich 4 6 4 14
Salzburg 1 1
Steiermark 2 1 3
Kärnten 1 1
Krain 1 2 1 4
Küstenland
Tirol 7 9 1 17
Vorarlberg 1 2 3
Böhmen*
Mähren 9 14 3 1 27
Schlesien 1 3 1 5
Galizien 4 3 1 1 9
Bukowina
Dalmatien
mehrere Kronländer 1 1
Insgesamt 34 45 12 6 1 98

* Für Böhmen war seit 1913 anstelle des Landtags und des Landesausschusses eine Landesverwaltungskommission eingesetzt worden633; somit gab es für dieses Kronland keine vom Landtag beschlossenen Gesetzentwürfe, die sanktioniert werden konnten.

Sonstiges

ℹ️Anfang August 1914 brachte Hussarek das Thema der „Einrichtung von rechts- und staatswissenschaftlichen Universitätskursen für die an österreichischen Universitäten studierenden Rechtshörer italienischer Nationalität“ in den Ministerrat ein634. Im November 1904 hatten in Innsbruck anti-italienische Krawalle zur Schließung der gerade erst eingeführten außerhalb der Universität angesiedelten Provisorischen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät mit italienischer Vortragssprache635 geführt. Der Unterrichtsminister führte aus, „da einerseits die Errichtung der Rechtsfakultät mit italienischer Vortragssprache auf gesetzlichem Wege infolge der sich entgegenstellenden Schwierigkeiten parlamentarischer Natur für die nächste Zeit nicht durchführbar erscheine, es anderseits jedoch geboten sei, den Rechtshörern italienischer Nationalität Gelegenheit zu geben, die Gegenstände ihres Studiums in ihrer Muttersprache zu hören, sollen mit Beginn des Studienjahres 1914/15 bis zur Errichtung der genannten Fakultät ‚rechts- und staatswissenschaftliche Universitätskurse in italienischer Sprache‘ in Wien eingerichtet werden“. Diese sollten gratis sein und offen für ordentlich Inskribierte jeder „juridischen Fakultät einer österreichischen Universität […] italienischer Nationalität“, wofür Hussarek auch die Ah. Genehmigung erhielt636.

ℹ️1915 wurde das Kinderspital in Wien Glanzing unter dem Namen Reichsanstalt für Mutter- und Säuglingsfürsorge in Betrieb genommen (1914 war das Gebäude kurzzeitig als Kriegsspital benützt worden). Um die Kinder- und Mutterfürsorge sowie die Kinderheilkunde zu fördern, war sieben Jahre zuvor eine großangelegte Initiative gestartet worden. Die Statuten des dafür gegründeten Kaiser Jubiläums-Fonds für Kinderschutz und Jugendfürsorge, der 1908 durch Spenden anlässlich des sechzigsten Thronjubiläums entstanden war, waren 1909 bewilligt worden637. Im Oktober 1915 wurden die Statuten nun abgeändert638. Das mit dem 1908 gesammelten Geld errichtete Spital verzeichnete 1915/16 hundert Aufnahmen, 1918/19 waren es bereits 405. Die Mortalität der Säuglinge nahm erst Anfang der 20er Jahre ab639. Das Kinderspital und die aus der Initiative hervorgegangenen Errungenschaften sind Meilensteine der Pädiatrie640. In den Kriegsjahren spielte die vom Spitalsleiter Leopold Moll eingeführte sogenannte Kriegspatenschaft eine wichtige Rolle für die Unterstützung von Müttern und ihren Kleinkindern, deren Männer bzw. Väter im Krieg waren. Sie nahm in den Kriegsjahren ab 1915 zehn- bis zwölftausend Säuglinge in Fürsorge auf641.

ℹ️Tätigkeit des Ministerrates mit erweitertem Wirkungskreis

Mit Ah. Entschließung vom 27. Mai 1896 genehmigte Franz Joseph „bis auf weiteres die Übertragung der endgiltigen Entscheidung der in der Beilage I taxativ vorgezeichneten Angelegenheiten administrativer Natur642 an Meinen Ministerrath“643. Damit hatte der Monarch einen Teil seiner monarchischen Entscheidungsgewalt an das Gremium des cisleithanischen Ministerrates in einem begrenzten Bereich abgetreten, „behufs Erzielung einer Beschleunigung“ in der Entscheidung der dort aufgezählten Angelegenheiten, oder, anders formuliert, um den Monarchen zu entlasten. In diesen Angelegenheiten war es dann nicht mehr notwendig, über einen au. Vortrag die Ah. Entschließung einzuholen, denn mit der neuen Regelung wurde das Recht der Erteilung einer Ah. Entschließung auf den einzelnen Minister bzw. den Ministerrat delegiert. Der zuständige Minister alleine, oder der Ministerrat, wenn es eine Angelegenheit war, die von diesem Gremium abgesegnet werden musste, entschieden in diesen Angelegenheiten definitiv. Hier hatte der Ministerrat also insofern einen erweiterten Wirkungskreis, als ihm hier letztlich monarchische Rechte übertragen worden waren. Um die definitiven Entscheidungen des Ministerrates nicht mit seinen bisherigen Beschlüssen im beschränkten Kompetenzrahmen in einer Sitzung zu vermischen, wurden die Themen mit besonderem Wirkungskreis in eigens dafür vorgesehenen Sitzungen beraten, die den Titel „Ministerrat mit erweitertem Wirkungskreis“ trugen644. Sie fanden meist an Tagen mit regulären Ministerratssitzungen statt.

Der Ministerrat mit erweitertem Wirkungskreis beschäftigte sich mit Ernennungen, öffentlichen Bauprojekten, dem An- und Verkauf vom Liegenschaften und Verpachtungen von Grundstücken oder Linienverzehrungssteuern, wenn sie unter einer bestimmten Grenze lagen, also wenn sie geringere Bedeutung hatten. Im Juli 1914 änderte sich dabei im Prinzip wenig gegenüber der Friedenszeit. Dennoch trat in zwei Punkten mit dem Krieg ein Wandel ein: Einerseits nahm mit Beginn des Krieges die Anzahl derartiger Sitzungen deutlich ab. Trat der Ministerrat mit erweitertem Wirkungskreis zwischen 1910 und 1913 insgesamt 85-mal zusammen, im Durchschnitt also etwa 21-mal pro Jahr, waren es 1914 zwar 24 Sitzungen, davon neun nach Kriegsbeginn, doch 1915 fanden nur mehr 15 Sitzungen statt, 1916 dann sechs, in den letzten beiden Kriegsjahren zusammen lediglich fünf. Andererseits spiegelten die Tagesordnungspunkte die kriegswirtschaftliche Situation wider. So wurde bis zur Sitzung am 4. Jänner 1915 bei fünf Bauvorhaben angesprochen, dass damit auch der „herrschenden Arbeitslosigkeit abzuhelfen“ sei645 und einmal ein Bauvorhaben von Engel abgelehnt, weil „von einer Arbeitslosigkeit dermalen nicht gesprochen werden kann“ 646. Soweit der Zustand der Protokolle eine derartige Aussage zulässt, tauchte dieses Argument später nicht mehr auf.

ℹ️Manche Bauvorhaben wurden tatsächlich begonnen, wie das Postamt in Budweis, über ihre Fertigstellung konnten aber keine Belege im Arbeitsministerium gefunden werden647. Archivalische Unterlagen bei anderen Bauprojekten legen nahe, dass die Gebäude den Nachfolgestaaten übergeben wurden, wie beim Staatsgymnasium in Reichenberg in Böhmen648, ähnlich wie im Falle eines nicht im Ministerrat besprochenen Projekts, dem Staatsgymnasium in Ragusa649. Manche der neuen Bauten wurden gleich als Flüchtlingsunterkünfte oder Spitäler umgewidmet, wie das Gymnasium in der Resselgasse in Prag650.

Insgesamt sticht eine gewisse Konzentration der Bauprojekte auf Böhmen ins Auge. Von den 21 im Ministerrat besprochenen Bauvorhaben lagen zwölf in diesem Kronland, davon alle der vier Bauprojekte für höhere Schulen, die Schulen paritätisch etwa die Hälfte mit deutscher und mit tschechischer Unterrichtssprache. Viele Minister hatten ja einen Böhmenbezug.

ℹ️Auch die Frequenz der Besprechung von Kleinbahnen und Straßenbahnen änderte sich im Laufe des Krieges. Wurden 1914 in den fünf Kriegsmonaten vier Konzessionen bewilligt, stand dieses Thema im ganzen Jahr 1915 nur acht Mal auf der Tagesordnung, sieben dieser beantragten Konzessionen wurden im Reichsgesetzblatt veröffentlicht, nur nicht jene zu „mehrere[n] mit elektrischer Kraft zu betreibende[n] normalspurige[n] Kleinbahnlinien im Gebiete der kgl. Hauptstadt [Prag] und der angrenzenden Gemeinden“651. Dass Konzessionen 1916 dann nur mehr dreimal angesprochen wurden, kann aufgrund der insgesamt wenigen Sitzungen mit erweitertem Wirkungskreis nicht verwundern, hier wurde aber nur einmal eine Konzession beantragt652, die beiden anderen Sitzungen653 behandelten Fristerstreckungen zweier Kleinbahnen in Karlsbad, weil „die Wiederaufnahme der infolge des Kriegsausbruches eingestellten Bauarbeiten für die Dauer des Krieges nicht möglich sein wird“654.

ℹ️Der Krieg mit seinem Hunger nach Metall wird auch in diesen Protokollen sichtbar. So wurden Anstrengungen unternommen, Anteile an einem Bergwerk (eine sogenannte Kuxe) in Böhmen anzukaufen, weil dort das für die Herstellung von Legierungen wichtige Metall Antimon gefördert wurde, denn „infolge des durch im Krieg gesteigerte Munitionsnutzung hervorgerufenen Bedarfs an Antimon sei es notwendig, die Förderung dieses Metalls nach Möglichkeit zu forcieren“655. Das Projekt wurde jedoch nach intensiven Nachforschungen eingestellt, weil das Bergwerk die gestellten Qualitätsanforderungen nicht erfüllen konnte.

ℹ️Einige außergewöhnliche Themen gab es auch. Eines war die Pachtung der Meierhöfe von Zwirschen, Hostau und Taschlowitz-Hassatitz in Böhmen zur Unterbringung eines Depots für Militärpferde, um die Pferde aus dem Staatsgestüt Radautz in der Bukowina – das kriegsbedingt evakuiert werden musste – zu übernehmen656. Die gewählten Meiereien gehörten zur Trautmannsdorff’schen Herrschaft. Dies waren dieselben Stallungen, in denen dann während des Zweiten Weltkrieges ein Teil des Lipizzanergestüts untergebracht war, das auf spektakuläre Weise von einem US-Kavallerieregiment gerettet und 1963 Stoff für einen Hollywood-Film werden sollte657.

ℹ️Am 12. September 1916, in einer kurzen Pause zwischen der ℹ️sechsten und siebten Isonzoschlacht und der ℹ️zweiten und dritten Brussilov-Offensive, ℹ️einer Zeit, in der die Getreideration für Selbstversorger auf 8 kg im Monat reduziert werden musste658, widmete sich der Ministerrat mit erweitertem Wirkungskreis einer Angelegenheit in luftiger Höhe. Es ging um die „Verpachtung eines Stückes Ärarialgrundes auf der Rax an den Österreichischen Touristen-Klub für die Dauer von 30 Jahren zum Zwecke der Versorgung des Karl-Ludwig-Schutzhauses mit Wasser“. Das Karl-Ludwig-Haus war 1876 vom Österreichischen Touristen-Klub auf eine Anregung von Erzherzog Carl Ludwig hin errichtet worden, dem zweitjüngeren Bruder von Kaiser Franz Joseph. Das Schutzhaus genoss damals auch die finanzielle Förderung des Erzherzogs und sein Protektorat, weshalb es bis heute seinen Namen trägt659. Carl Ludwig war außerdem Protektor des Österreichischen Touristen-Klubs, zu dessen Ehrenmitgliedern auch zahlreiche Hochadelige zählten660. Auf Antrag von Ackerbauminister Zenker sollte zum Zweck der Wasserversorgung des so erlauchten Schutzhauses aus einer „ärarischen Weideparzelle ein ca. zwei Hektar großer Teil, enthaltend zwei tiefe, auch den Sommer über mit Schnee gefüllte Erdlöcher, auf die Dauer von 30 Jahren zur Verpachtung gelangen. Als Jahrespachtzins wurde der Betrag von 20 K bedungen, welcher“, wie Zenker feststellte „für dieses sonst ertragslose Terrain angemessen erscheint“661.

ℹ️Zu den § 14-Verordnungen

Im vorliegenden Band beruhen alle gesetzlichen Regelungen – mit Ausnahme einiger Landesgesetze – auf kaiserlichen Verordnungen auf der Grundlage des § 14 des Gesetzes vom 21. Dezember 1867662. Daher wird seine Erwähnung in den Protokollen nicht eigens kommentiert, um den permanenten Verweis auf immer dieselbe Gesetzesgrundlage zu vermeiden.

Ab dem Jahr 1897 hatte die Minorität des Abgeordnetenhauses des Reichsrates, in Reaktion auf die Badeniʼschen Sprachenverordnungen, durch die Anwendung der sogenannten Obstruktionspolitik die parlamentarische Tätigkeit immer wieder vollkommen lahmgelegt, um eigene politische Ziele zu erzwingen. Somit war es der Regierung nicht möglich, Gesetze durch den Reichsrat zu bringen, auch und gerade sogenannte Staatsnotwendigkeiten wie das Budget oder die für das Funktionieren des Dualismus wichtigen Gesetze zu den paktierten Angelegenheiten (Zoll- und Handelsbündnis, Quotenabkommen, Notenbankprivilegierung und Wehrgesetz). Die Folge war, dass die Regierung sich gezwungen sah, Gesetze als sogenannte Notverordnungen zu erlassen, teilweise über Jahre hinweg. Die letzte große Notverordnungsphase lag zwischen der Vertagung des Reichsrates am 16. März 1914 und seiner Wiedereinberufung am 30. Mai 1917, als der Reichsrat zu seiner letzten, der XXII. Session zusammentrat.

Rechtlich beruhte die Notverordnung auf § 14 des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, wodurch das Grundgesetz über die Reichsvertretung abgeändert wurde, RGBl. Nr. 141/1867. Daher hießen sie auch §-14-Verordnungen, ihre rechtlich korrekte Bezeichnung war „kaiserliche Verordnung“, eine Begrifflichkeit, die auch in dieser Edition verwendet wird. Eine solche Verordnung kann daher von der behandelten Materie her nicht als Verordnung, sondern als Pendant zu einem Gesetz verstanden werden, nur nicht aufbauend auf der Zustimmung des Reichsrates. Dieser § 14 bestimmte:

Wenn sich die dringende Nothwendigkeit solcher Anordnungen, zu welchen verfassungsmäßig die Zustimmung des Reichsrathes erforderlich ist, zu einer Zeit herausstellt, wo dieser nicht versammelt ist, so können dieselben unter Verantwortung des Gesammtministeriums durch kaiserliche Verordnung erlassen werden, in soferne solche keine Abänderung des Staatsgrundgesetzes bezwecken, keine dauernde Belastung des Staatsschatzes und keine Veräußerung von Staatsgut betreffen. Solche Verordnungen haben provisorische Gesetzeskraft, wenn sie von sämmtlichen Ministern unterzeichnet sind und mit ausdrücklicher Beziehung auf diese Bestimmung des Staatsgrundgesetzes kundgemacht werden. Die Gesetzeskraft dieser Verordnungen erlischt, wenn die Regierung unterlassen hat, dieselben dem nächsten nach deren Kundmachung zusammentretenden Reichsrathe, und zwar zuvörderst dem Hause der Abgeordneten binnen vier Wochen nach diesem Zusammentritte zur Genehmigung vorzulegen, oder wenn dieselben die Genehmigung eines der beiden Häuser des Reichsrathes nicht erhalten. Das Gesammtministerium ist dafür verantwortlich, daß solche Verordnungen, sobald sie ihre provisorische Gesetzeskraft verloren haben, sofort außer Wirksamkeit gesetzt werden.663

Dieser Paragraf war aus dem Grundgesetz über die Reichsvertretung664 übernommen worden (§ 13), nur enthielt dieser keinerlei einschränkende Klauseln:

Wenn zu einer Zeit, als der Reichsrath nicht versammelt ist, in einem Gegenstande seines Wirkungskreises dringende Maßregeln getroffen werden müssen, ist das Ministerium verpflichtet, dem nächsten Reichsrathe die Gründe und Erfolge der Verfügung darzulegen.

Als der Reichsrat 1867 nach zweijähriger Sistierung wieder einberufen wurde, um das Ausgleichsgesetz mit Ungarn sowie Änderungen am Februarpatent und dessen Ausbau zu einer vollwertigen Verfassung zu beschließen, waren im Gesetzentwurf der Regierung Friedrich Ferdinand Freiherrn v. Beusts die Bestimmung des Februarpatents unverändert aufgenommen worden. Gerade diese Bestimmung stieß aber auf breite Ablehnung im Verfassungsausschuss des Abgeordnetenhauses, wobei auch die ersatzlose Streichung dieses Paragrafen gefordert wurde665. Letztlich bestand der Kompromiss in der Einfügung von Einschränkungen (keine Änderung der Staatsgrundgesetze, keine dauernde Belastung des Staatsschatzes und keine Veräußerung von Staatsbesitz) und der Verpflichtung, die kaiserlichen Verordnungen dem Reichsrat bei nächster Gelegenheit vorzulegen, der diese Bestimmungen dann annehmen oder verwerfen konnte; verabsäumte die Regierung dies, so trat die kaiserliche Verordnung automatisch außer Wirksamkeit. Damit sollte verhindert werden, dass auf Dauer ohne Parlament regiert werden könne.

Diese Einschränkungen enthielten jedoch einige Schwachstellen. Zunächst die, dass gerade die Bestimmung, eine kaiserliche Verordnung dürfe „keine dauernde Belastung des Staatsschatzes“ beinhalten, Interpretationsspielraum offenließ, was konkret unter „dauernder Belastung“ zu verstehen sei, der mit der Zeit immer weiter ausgebaut wurde. Über die korrekte Einhaltung hatte die aus dem Reichsrat gewählte Staatsschulden-Kontrollkommission zu wachen666. War sie ursprünglich als generelles Verbot der Staatfinanzierung über eine kaiserliche Verordnung gedacht667, wurde bei der Zustimmung der Staatsschulden-Kontrollkommission zur vierten Kriegsanleihe im Frühjahr 1916 eine „Frist von 40 Jahren keineswegs nach dem Sinne des Gesetzes als eine dauernde Belastung“ angesehen668.

Eine weitere Schwachstelle war, dass eine Übertretung der einschränkenden Bestimmungen des § 14 bei der Erlassung einer kaiserlichen Verordnung letztlich keinerlei Konsequenzen hatte. Es gab zwar die Möglichkeit beider Häuser des Reichsrates, die Regierung anzuklagen669, doch waren die Konsequenzen einer Verurteilung vollkommen ungeregelt, denn die Ernennung und Entlassung der Regierung stand ausschließlich dem Monarchen zu670.

Schließlich konnten diese Beschränkungen vom Parlament nur dann effektiv überwacht werden, wenn es arbeitsfähig war, was aber auf die Zeit ab 1897 bestenfalls nur phasenweise und auch das nur eingeschränkt zutraf. Insofern hatte die Regierung mit dem Zusammenbruch des parlamentarischen Lebens leichtes Spiel, umfassend und lange mittels kaiserlicher Verordnungen zu regieren.

ℹ️Zur Überlieferung der Protokolle

Das erste Ministerratsprotokoll dieses Bandes (23. Juli 1914) behandelte in seinem ersten Tagesordnungspunkt („Mitteilungen über die politische Lage“) die gerade erfolgte Überreichung des Ultimatums an Serbien, der letzte Ministerrat (Ministerrat I vom 22. November 1916) in seinem einzigen Tagesordnungspunkt die „Trauerkundgebung des Ministerrates anlässlich des Hinscheidens Seiner Majestät Kaiser Franz Joseph I.“ In diesem Zeitraum traf sich der Ministerrat zu 120 normalen Sitzungen mit insgesamt 796 Tagesordnungspunkten. Von diesen sind 31 Protokolle mit 163 Tagesordnungspunkten des Jahres 1914 vollständig und nahezu ohne Brandschäden erhalten, während 89 Protokolle mit 633 Tagesordnungspunkten der Jahre 1915 und 1916 ebenso vollständig dem Justizpalastbrand 1927 zum Opfer fielen. Allerdings sind Abschriften von elf Tagesordnungspunkten für das Jahr 1915 und 17 für das Jahr 1916 (bis 22. November) erhalten. Von diesen Abschriften stammen aus 1915 alle und aus 1916 zehn aus dem Nachlass des Sektionschefs im Ministerium des Innern, Ludwig v. Alexy. Sie werden im Österreichischen Staatsarchiv bei den Ministerratsprotokollen aufbewahrt. Sieben Abschriften für 1916 stammen aus der Sammlung der Vorträge des Finanzministers im Ministerrat, wo sie auch aufbewahrt werden.

Des Weiteren sind 22 Vorträge des Finanzministers im Ministerrat erhalten. Von diesen konnten zwei keinem Tagesordnungspunkt direkt zugeordnet werden. Einer nicht, weil er „im Ministerrate vom 19., 23. und 24. August 1916“ vorgetragen wurde und sich damit auf drei unterschiedliche Sitzungen bezog671. Zudem gibt es für zwei der angesprochenen Tagesordnungspunkte parallel zu dem Vortrag auch Abschriften. Bei einem Vortrag, der „im Ministerrat vom 14. Juli 1916“ zu dem Thema „Gewährung von außerordentlichen Zuschüssen zu den Diäten und Zehrgeldern“ vorgetragen worden sein soll, fehlt in dieser oder einer anderen Sitzung ein entsprechender Tagesordnungspunkt. Es gibt jedoch eine entsprechende kaiserliche Verordnung. Ungeklärt muss daher bleiben, ob dieser Vortrag zwar vorbereitet, aber dann doch nicht gehalten wurde, oder ob er gemeinsam mit einem anderen Thema behandelt wurde. Diese beiden Vorträge wurden als „Dokumente anderer Provenienz“ mit aufgenommen.

Somit liegen neben dem vollständig erhaltenen Jahr 1914 von den verbrannten Protokollen die Inhalte von elf Tagesordnungspunkten für 1915 (3,3 % aller Tagesordnungspunkte) vor, für 1916 sind es 37 Tagesordnungspunkte oder 9,7 % – plus zwei zusätzliche Ministerratsvorträge. Ohne diese beiden sind somit insgesamt die Inhalte von 211 der 796 Tagesordnungspunkte, d. i. 26,5 %, vorhanden. Da sich die Abschriften Alexy – abgesehen von der Regelung der Wappenfrage – hauptsächlich auf Belange der Beamten bezogen und die vom Finanzminister vorgetragenen Themen eben mit Finanzangelegenheiten, sind diese Bereiche für die Zeit 1915/16 verhältnismäßig gut dokumentiert, die anderen hingegen gar nicht.

In dieser Periode traf sich der Ministerrat dreißigmal mit erweitertem Wirkungskreis, wobei 49 Tagesordnungspunkte abgehandelt wurden. Von diesen sind sechs Originalprotokolle mit acht Tagesordnungspunkten sehr gut erhalten, 16 Originalprotokolle mit 30 Tagesordnungspunkten (von denen einer allerdings vollständig verbrannt ist) sehr stark beschädigt. Die restlichen neun Protokolle (elf Tagesordnungspunkte) sind verbrannt; dies bedeutet, insgesamt liegen 37 der 49 Tagesordnungspunkte (75,5 %) vor.