Nr. 5 Ministerrat, Wien, 30. Juli 1914
RS.Reinschrift; P. Uebelhör; VS.Vorsitz Stürgkh; BdE.Bestätigung der Einsicht und anw.anwesend (Stürgkh 30. 7.), Georgi, Hochenburger, Heinold, Forster, Hussarek, Trnka, Schuster, Zenker, Engel, Morawski.
- I. Mitteilungen über die politische Lage.
- II. Aufbietung und Einberufung des Landsturmes.
- III. Erlassung der für den Kriegsfall mit Russland vorgesehenen Ausnahmsverfügungen.
Protokoll des zu Wien am 30. Juli 1914 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh.
I. Mitteilungen über die politische Lage
I. ℹ️ Der Ministerpräsident teilt mit, dass sich die russische Regierung offiziellen Nachrichten zufolge dazu entschlossen habe, ihr Interesse an der serbischen Angelegenheit durch Anordnung einer Mobilisierung an den österreichischen Grenzen darzutun. Hieraus habe sich für die Monarchie die Notwendigkeit ergeben, gleichfalls mit der Mobilisierung vorzugehen. Se. Majestät haben demgemäß die allgemeine Mobilisierung des Heeres, der Kriegsmarine und der beiden Landwehren Ah. anzuordnen geruht. Diese Maßnahme verfolge jedoch keinerlei aggressive Tendenz, sondern diene vorerst lediglich zum unerlässlichen Schutze der Monarchie.
Der Ministerrat nimmt diese Mitteilung zur Kenntnis1.
II. Aufbietung und Einberufung des Landsturmes
II. ℹ️ Im Anschlusse hieran bemerkt der Minister für Landesverteidigung, dass es zur klaglosen Durchführung der Ah. befohlenen allgemeinen Mobilisierung erforderlich sei, dass auch der Landsturm aufgeboten und die ausnahmsweise Verwendung dieses aufgebotenen Landsturmes außerhalb des gesamten Umfanges der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder angeordnet werde.
Die gesetzlichen Voraussetzungen hiefür seien im vorliegenden Falle ebenso gegeben wie für die teilweise Aufbietung des Landsturmes aus Anlass des Konfliktes mit Serbien. Er verweise diesbezüglich auf die Darlegungen des Ministerpräsidenten in der Sitzung des Ministerrates vom 23. Juli d. J.2 Der sprechende Minister habe sohin die Ah. Genehmigung erbeten, dass der Landsturm in den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, ausgenommen Tirol und Vorarlberg, aufgeboten und die ausnahmsweise Verwendung dieses aufgebotenen Landsturmes außerhalb des gesamten Umfanges der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder angeordnet werde. Er erbitte hiezu nachträglich die Zustimmung des Ministerrates. Bezüglich der Verwendung der Landesschützen und des Landsturmes von Tirol und Vorarlberg habe er aufgrund des Gesetzes vom 25. Mai 1913 betreffend das Institut der Landesverteidigung für die gefürstete Grafschaft Tirol und das Land Vorarlberg, § 7 beziehungsweise § 18, gleichzeitig einen au. Antrag unterbreitet3.
Der Ministerrat erteilt die erbetene Zustimmung4.
III. Erlassung der für den Kriegsfall mit Russland vorgesehenen Ausnahmsverfügungen
III. ℹ️ Der Minister des Innern führt aus, dass es im Zusammenhange mit der Ah. angeordneten allgemeinen Mobilisierung dringend geboten erscheine, gleichartige Ausnahmsverfügungen, wie sie unterm 25. Juli d. J. angesichts der kriegerischen Verwicklung mit Serbien erlassen worden sind, nunmehr auch für den Kriegsfall mit Russland kundzumachen. Die meisten der erwähnten bereits in Kraft stehenden Ausnahmsverfügungen finden ohnehin ohne Beschränkung auf ein bestimmtes Geltungsgebiet und ohne Rücksicht auf einen bestimmten feindlichen Staat Anwendung. Dies sei der Fall bezüglich der in den Reichsgesetzblättern Nr. 154–158, 162, 164–168 und 170–172 publizierten Verfügungen5. Neu zu erlassen wären somit aus Anlass des Kriegsfalles mit Russland nachstehende Ausnahmsverfügungen:
1. Kaiserliche Verordnung aufgrund des § 14 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung betreffend die Übertragung von Befugnissen der politischen Verwaltung an den Armeeoberkommandanten (Beilage 1 des Orientierungsbehelfes).
2. Kaiserliche Verordnung betreffend das Verbot der Veröffentlichung von Nachrichten über die bewaffnete Macht des Deutschen Reiches (Beilage 1o/II des Orientierungsbehelfes).
3. Verordnung des Gesamtministeriums aufgrund der Suspension staatsgrundgesetzlicher Bestimmungen betreffend beschränkende polizeiliche Anordnungen über das Passwesen (Beilage 1d des Orientierungsbehelfes).
4. Verordnung des Gesamtministeriums aufgrund der Suspension staatsgrundgesetzlicher Bestimmungen betreffend den Besitz von Waffen, Munitionsgegenständen und Sprengmitteln sowie den Verkehr mit denselben (Beilage 1g des Orientierungsbehelfes).
5. Verordnung des Gesamtministeriums aufgrund des § 1 des Gesetzes vom 23. Mai 1873, Nr. 120 RGBl., betreffend Einstellung der Wirksamkeit der Geschwornengerichte (Beilage 1i des Orientierungsbehelfes).
Hiebei erweisen sich jedoch gegenüber der seinerzeit Ah. genehmigten Fassung des Orientierungsbehelfes6 einige Modifikationen als wünschenswert, die im Wesentlichen darin bestehen, dass die ausdrückliche Erwähnung Russlands vor der Kriegserklärung in der kaiserlichen Verordnung über die Befugnisse des Armeeoberkommandanten vermieden wird, dass das Geltungsgebiet einiger Verordnungen im Sinne der Weglassung des dem Königreiche Italien benachbarten Küstenlandes geändert und das Waffenverbot in Galizien mit Rücksicht auf die dortigen Verhältnisse, die eine imperative Entwaffnung der Bevölkerung als bedenklich erscheinen lassen, in der seinerzeit Ah. genehmigten Form einer Ermächtigung an den Statthalter erlassen werden soll, den Besitz und das Tragen von Waffen – wo er es für geboten erachtet – zu verbieten. Der Minister des Innern bittet sohin, der Ministerrat möge die Zustimmung erteilen, die Erlassung der beiden kaiserlichen Verordnungen zu erwirken und die Erlassung der übrigen Ausnahmsverfügungen zur Ah. Kenntnis zu bringen.
Der Ministerrat erteilt die erbetene Zustimmung und zwar bezüglich der kaiserlichen Verordnung betreffend das Verbot der Veröffentlichung von Nachrichten über die bewaffnete Macht des Deutschen Reiches mit dem Vorbehalte, dass wegen des Zeitpunktes ihrer Verlautbarung vorher noch mit dem Minister des Äußern das Einvernehmen gepflogen werde7.
Wien, am 30. Juli 1914. Stürgkh.
Ah. E.Allerhöchste Entschließung Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen. Wien, am 1. Oktober 1914. Franz Joseph.