MRP-2-0-07-0-19140707-P-0001.xml

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Gemeinsamer Ministerrat, 7. 7. 1914

II. Die diplomatische Aktion gegen Serbien

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_VII/pdf/oe_hu_mrp_VII_z1.pdf.

PROTOKOLLE
<pb/><pb/>                                                                                                      1

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         Der Ministerrat, der formell zusammengetreten ist, um Maßnahmen zu beraten, wie
         die durch das Sarajevoer Attentat offenbar gewordenen inneren Schwierigkeiten in
         Bosnien und der Herzegowina gelöst werden könnten, erwägt die Eventualitäten des
         diplomatischen und militärischen Auftretens gegen Serbien. Die Sondermeinung
         Tiszas in der Frage des Krieges.

            Nach dem Sarajevoer Attentat vom 28. Juni ist der gemeinsame Ministerrat zum
         erstenmal an diesem Tage zusammengetreten. Es war offenbar kein Zufall, daß die
         Besprechung von Berchtold auf den 7. Juli einberufen worden war, als bereits die
         ersten Meldungen über die Mission des Legationsrates Hoyos in Berlin Vorlagen
         (Hoyos sollte die Stellungnahme der Reichsregierung zum Attentat von Sarajevo
        erkunden). Es waren dies die Berichte des Berliner Gesandten Szögyeny, die am 5.
        und 6. Juli in Wien einliefen (Österreich-Ungarns Außenpolitik Nr. 10058 und 10076).
        Das Verhandlungsmaterial (die inneren Sicherheitsverhältnisse in Bosnien, Frage des
        Auftretens gegen Serbien) kam in dieser Form im gemeinsamen Ministerrat hier zum
        erstenmal zur Sprache.

            Auf der nächsten Konferenz am 19. Juli berief sich Istvän Tisza nachdrücklich
        darauf, daß er als verantwortlicher Leiter der ungarischen Politik bereits auf dieser
        Konferenz (7. Juli) verlangt hatte, der gemeinsame Ministerrat sollte einstimmig erklä¬
        ren, die Monarchie hege Serbien gegenüber keine Eroberungspläne.

Protokoll des zu Wien am 7. Juli 1914 abgehaltenen Ministerrates für gemeinsame
Angelegenheiten, unter dem Vorsitze des Ministers des k.u.k. Hauses und des
Äußern Grafen Berchtold.

   K.Z. 58. - G.M.K.P.Z. 512.

   Gegenwärtige: der k.k. Ministerpräsident Graf S t ü r g k h, der kgl. ung.
Ministerpräsident Graf Tisza, der k.u.k. gemeinsame Finanzminister Dr.
Ritter von B i 1 i n s k i, der k.u.k. Kriegsminister FZM. Ritter von K r o b a-
t i n, der k.u.k. Chef des Generalstabs G.d.I. Freiherr von Conrad, der
Vertreter des k.u.k. Marinekommandanten Konteradmiral von K a i 1 e r.

   Protokollführer: Legationsrat Graf Hoyos.

   Gegenstand: Bosnische Angelegenheiten. Die diplomatische Aktion gegen
Serbien.

                                                                                                                             I4i
<pb/>  Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung indem er bemerkt, der Ministerrat
sei einberufen worden, um über die Massnahmen zu beraten, welche zur Sanierung
der anlässlich der Katastrophe in Sarajevo zutage getretenen innerpolitischen
Übelstände in Bosnien und der Herzegowina angewendet werden sollten. Es gäbe
seiner Ansicht nach verschiedene interne Massnahmen in Bosnien selbst, deren
Anwendung ihm gegenüber den krisenhaften Zuständen geboten erscheine;
vorerst sollte man sich aber klar werden, ob der Moment nicht gekommen sei,
um Serbien durch eine Kraftäusserung für immer unschädlich zu machen. Ein
solcher entscheidender Schlag könne nicht ohne diplomatische Vorbereitungen
geführt werden, daher habe er mit der deutschen Regierung Fühlung genommen.
Die Besprechungen in Berlin hätten zu einem sehr befriedigenden Resultate
geführt, indem sowohl Kaiser Wilhelm als Herr von Bethmann-Hollweg uns
für den Fall einer kriegerischen Komplikation mit Serbien die unbedingte Unter¬
stützung Deutschlands mit allem Nachdrucke zugesichert hätten. Nun müssten
wir noch mit Italien und Rumänien rechnen und, da sei er in Übereinstimmung mit
dem Berliner Kabinet der Ansicht, dass es besser wäre zu handeln und etwaige
Kompensationsansprüche abzuwarten.

   Er sei sich klar darüber, dass ein Waffengang mit Serbien den Krieg mit Russland
zur Folge haben könnte. Russland treibe aber gegenwärtig eine Politik, die, auf
lange Sicht berechnet, den Zusammenschluss der Balkanstaaten, inbegriffen
Rumänien, zum Zwecke hat, um dieselben sodann im geeignet scheinenden Mo¬
mente gegen die Monarchie ausspielen zu können. Er sei der Ansicht, dass wir uns
darüber Rechenschaft geben müssen, dass unsere Situation sich einer solchen
Politik gegenüber immer mehr verschlechtern müsse, umsomehr, als ein untätiges
Gewährenlassen bei unseren Südslaven und Rumänen als Zeichen der Schwäche
ausgelegt werden müsste und der werbenden Kraft der beiden angrenzenden
Staatswesen Vorschub leisten würde.

   Die logische Folge, die sich aus dem Gesagten ergebe, wäre, unseren Gegnern
zuvorzukommen und durch eine rechtzeitige Abrechnung mit Serbien den bereits
in vollem Gange befindlichen Entwicklungsprozess aufzuhalten, was später zu
tun nicht mehr möglich sein würde.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident stimmt damit überein, dass die
Lage sich in den letzten Tagen durch die in der Untersuchung fesgestellten Tat¬
sachen und durch die Haltung der serbischen Presse verändert habe und betont,
dass auch er die Möglichkeit einer kriegerischen Aktion gegen Serbien für näher
gerückt halte. Er würde aber einem überraschenden Angriff auf Serbien ohne
vorhergehende diplomatische Aktion, wie dies beabsichtigt zu sein scheine und
bedauerlicherweise auch in Berlin durch den Grafen Hoyos besprochen wurde,
niemals zustimmen, weil wir in diesem Falle, seiner Ansicht nach, in den Augen
Europas einen sehr schlechten Stand hätten und auch mit grosser Wahrschein¬
lichkeit mit der Feindschaft des ganzen Balkans -- ausser Bulgariens -- rechnen
müssten, ohne dass Bulgarien, welches gegenwärtig sehr geschwächt sei, uns
entsprechend unterstützen würde.

   Wir müssten unbedingt Forderungen gegen Serbien formulieren und erst
ein Ultimatum stellen, wenn Serbien sie nicht erfülle. Diese Forderungen

 142
<pb/>müssten zwar harte, aber nicht unerfüllbare sein. Wenn Serbien sie annehme,
würden wir einen eklatanten diplomatischen Erfolg aufzuweisen haben und unser
Prestige würde am Balkan steigen. Nehme man unsere Forderungen aber nicht
an, so würde auch er für eine kriegerische Aktion sein, müsse aber schon jetzt
betonen, dass wir mit einer solchen zwar die Verkleinerung, nicht aber die voll¬
ständige Vernichtung Serbiens bezwecken dürften, weil einerseits diese von Russ¬
land ohne einen Kampf auf Leben und Tod niemals zugegeben werden könnte und
weil auch er als ungarischer Ministerpräsident es niemals zugeben könnte, dass
die Monarchie einen Teil von Serbien annektiere.

   Es sei nicht Sache Deutschlands zu beurteilen, ob wir jetzt gegen Serbien los¬
schlagen sollten oder nicht. Er persönlich sei der Ansicht, dass ein Krieg im jetzi¬
gen Augenblicke nicht unbedingt geführt werden müsse. Gegenwärtig müsse
man damit rechnen, dass die Agitation gegen uns in Rumänien eine sehr starke
sei, dass wir, angesichts der aufgeregten öffentlichen Meinung, mit einem rumäni¬
schen Angriffe würden rechnen müssen und auf jeden Fall eine beträchtliche
Macht in Siebenbürgen würden halten müssen, um die Rumänen einzuschüchtern.

   Jetzt, wo Deutschland erfreulicherweise die Bahn zum Anschluss Bulgariens an
den Dreibund freigegeben habe, eröffne sich uns ein vielversprechendes Gebiet
zu einer erfolgreichen diplomatischen Aktion am Balkan, indem wir durch den
Zusammenschluss Bulgariens und der Türkei und deren Anschluss an den Drei¬
bund, ein Gegengewicht gegen Rumänien und Serbien schaffen und dadurch
Rumänien zur Wiederkehr zum Dreibunde zwingen&quot; könnten. Auf europäischem
Gebiete müsse man auch berücksichtigen, dass das Rraftverhältnis Frankreichs zu
Deutschland sich wegen der niedrigeren Geburtszahlen immer verschlechtern
werde und dass Deutschland daher in der Zukunft immer mehr Truppen ge¬
gen Russland6 disponibel haben würde.

   Dies seien alles Momente, die bei einer so verantwortungsvollen Entschliessung,
wie sie heute gefasst werden solle, bedacht werden müssten und daher müsse er
wieder darauf zurückkommen, dass er sich trotz der Krise in Bosnien, die übrigens
auch durch eine energische Verwaltungsreform im Inneren saniert werden könnte,
nicht unbedingt für den Krieg entschhessen wolle, sondern auch einen entspre¬
chenden diplomatischen Erfolg, der eine starke Demütigung Serbiens mit sich
brächte, für geeignet halte, unsere Stellung zu verbessern und uns eine erspriess-
liche Balkanpolitik zu ermöglichen.

   Der Vorsitzende bemerkt hiezu, die Geschichte der letzten Jahre hätte
gezeigt, dass diplomatische Erfolge gegen Serbien zwar das Ansehen der Monarchie
zeitweilig gehoben, aber die tatsächlich bestehende Spannung in unseren Bezie¬
hungen zu Serbien sich nur noch verstärkt hätte. Weder unser Erfolg in der
Annexionskrise noch jener bei Schaffung Albaniens, noch das spätere Nachgeben
Serbiens infolge unseres Ultimatums im Herbste vorigen Jahres, hätte an den
tatsächlichen Verhältnissen etwas geändert. Eine radikale Lösung der durch die

   a) Der Teil von »und dadurch« bis »zwingen« wurde von Tisza nachträglich in die Rein¬
schrift eingefügt.

   b) Korrektur Tiszas in der Reinschrift, wo ursprünglich »Frankreich« stand.

                                                                                                   143
<pb/>systematisch von Belgrad aus betriebene grossserbische Propaganda aufgeworfenen
Frage, deren zersetzende Wirkung bei uns bis nach Agram und Zara gespürt werde,
sei wohl nur durch ein energisches Eingreifen möglich.

   Bezüglich der vom königl. Ungar. Ministerpräsidenten erwähnten Gefahr einer
feindseligen Haltung Rumäniens bemerkt der Vorsitzende, dass derzeit eine solche
weniger zu befürchten sei als für die Zukunft, wo sich die rumänisch--serbische
Interessengemeinschaft immer mehr herausbilden werde. König Carol habe
allerdings gelegentlich Zweifel in der Richtung ausgesprochen, gegebenenfalls
seiner Bundespflicht gegenüber der Monarchie durch aktive Hilfeleistung nach-
kommen zu können. Dagegen sei es kaum anzunehmen, dass er sich zu einer
kriegerischen Operation gegen die Monarchie hinreissen lassen, beziehungsweise
einer darauf hinausgehenden Stimmung der öffentlichen Meinung nicht Wider¬
stand leisten könnte. Übrigens komme auch die Furcht Rumäniens vor Bulgarien
in Betracht, welche ersteres in seiner Bewegungsfreiheit selbst unter den heutigen
Verhältnissen einigermassen behindern müsste.

   Was die Bemerkung des ungar. Ministerpräsidenten bezüglich des Kräftever¬
hältnisses zwischen Frankreich und Deutschland anbelange, so glaube er darauf
hinweisen zu sollen, dass der verminderten Bevölkerungszunahme Frankreichs, die
in ungleich höherem Verhältnisse gesteigerte Bevölkerungszunahme Russlands
gegenüberstehe, so dass die Behauptung, dass Deutschland in der Zukunft immer
mehr disponible Truppen gegen Frankreich^ haben werde, wohl nicht stichhältig
erscheine.

   Der k.k. Ministerpräsident bemerkt, der heutige Ministerrat sei
eigentlich zu dem Zwecke einberufen worden, um über die in Bosnien und der
Herzegowina zu ergreifenden inneren Massregeln zu beraten, die geeignet wären,
einerseits die jetzige Untersuchung wegen des Attentates erfolgreich zu gestalten
und anderseits der grosserbischen Bewegung in Bosnien entgegenzuwirken. Nun
müssten diese Fragen neben der Hauptfrage zurücktreten, ob wir die innere Krise
in Bosnien durch eine Kraftäusserung gegen Serbien lösen sollen.

   Diese Hauptfrage sei durch zwei Momente gerade jetzt aktuell geworden:
erstens, weil der Landeschef für Bosnien und Herzegowina auf Grund seiner
Kenntnis der bosnischen Verhältnisse von der Voraussetzung ausgehe, dass kei¬
ne Massregeln im Inneren einen Erfolg haben könnten, wenn wir uns nicht ent-
schliessen, nach aussen einen kräftigen Schlag gegen Serbien zu führen. Auf Grund
dieser Wahrnehmungen des Generals Potiorek müsse man sich die Frage stellen, ob
die von Serbien ausgehende schismatische Tätigkeit aufgehalten werden könnte
und ob wir die beiden Provinzen überhaupt halten könnten, wenn wir nicht gegen
das Königreich Vorgehen.

   In den letzten Tagen habe die ganze Situation ein anderes Gesicht bekommen
und sei jetzt eine psychologische Situation geschaffen, die seiner Ansicht nach
unbedingt zu einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Serbien hindränge. Er
stimme mit dem königl. ungar. Ministerpräsidenten zwar darin überein, dass wir
und nicht die deutsche Regierung beurteilen müssten, ob ein Krieg notwendig sei

     c) Sic! Richtig: Rußland.

 144
<pb/>oder nicht: er müsse aber doch bemerken, dass es auf unsere Entschliessung einen
sehr grossen Einfluss ausüben sollte, wenn an der Stelle, welche wir als treueste
Stütze unserer Politik im Dreibunde ansehen müssten, uns, wie wir gehört, rück¬
haltlose Bündnistreue zugesagt und überdies nahegelegt werde, sofort zu handeln,
nachdem man sich dort angefragt habe, Graf Tisza sollte diesem Umstande doch
Bedeutung beimessen und in Erwägung ziehen, dass wir durch eine Pohtik des
Zauderns und der Schwäche Gefahr laufen, dieser rückhaltlosen Unterstützung
des deutschen Reiches zu einem späteren Zeitpunkte nicht mehr so sicher zu sein.
Es sei dies das zweite Moment, welches bei dem zu fassenden Beschlüssen neben
dem Interesse an der Herstellung geordneter Verhältnisse in Bosnien berücksich¬
tigt werden sollte.

   Wie der Konflikt begonnen werden solle, sei eine Detailfrage und wenn die unga¬
rische Regierung der Ansicht sei, dass ein überraschender Angriff, sans crier gare,
wie Graf Tisza sich ausgedrückt hätte, nicht gangbar sei, so müsse man eben einen
anderen Weg finden: doch würde er dringendst wünschen, dass, was immer geschehe,
rasch gehandelt werde, unsere Volkswirtschaft vor einer längeren Periode der Beun¬
ruhigung bewahrt bleibe. Alles dies seien Details neben der prinzipiellen Frage, ob
es unbedingt zu einer kriegerischen Aktion kommen solle oder nicht und da sei vor
allem das Interesse und das Ansehen und der Bestand der Monarchie massgebend,
deren südslavische Provinzen er für verloren halten würde, wenn nichts geschehe.

   Daher sollte man heute prinzipiell beschliessen, dass es zum Handeln kommen
wird und soll. Auch er teile die Meinung des Vorsitzenden, dass die Situation
durch einen diplomatischen Erfolg in keiner Weise gebessert werden könnte. Wenn
daher der Weg einer vorhergehenden diplomatischen Aktion gegen Serbien aus
internationalen Gründen betreten werde, so müsste dies mit der festen Absicht
geschehen, dass diese Aktion nur mit einem Kriege enden dürfe.

   Der gemeinsame Finanzminister bemerkt, Graf Stürgkh habe
sich darauf berufen, dass der Landeschef den Krieg wünsche. General Potiorek
stehe seit zwei Jahren auf dem Standpunkte, dass wir eine Kraftprobe mit Serbien
bestehen müssten, um Bosnien und die Herzegowina behalten zu können. Man
dürfe nicht vergessen, dass der Landesschef, der an Ort und Stelle sei, die Sachen
besser beurteilen könne. Auch Herr von Bilinski hegt die Überzeugung, dass der
Entscheidungskampf früher oder später unvermeidlich sei. Er habe nie daran
gezweifelt, dass Deutschland im Ernstfälle bei uns stehe und habe schon im
November 1912 diesbezüglich von Herrn von Tschirschky die bündigsten Zusi¬
cherungen erhalten. Die jüngsten Ereignisse in Bosnien hätten bei der serbischen
Bevölkerung eine sehr gefährliche Stimmung erzeugt, insbesondere das Serben¬
pogrom in Sarajevo habe dazu geführt, dass alle Serben sehr erregt und erbittert
seien und dass man daher auch nicht mehr entscheiden könne, wer unter den
Serben noch loyal und wer Grosserbe sei. Im Lande selbst werde man diese Situa¬
tion nie sanieren können, das einzige Mittel hiezu sei eine endgültige Entschei¬
dung darüber, ob die grosserbische Idee eine Zukunft habe oder nicht.

   Wenn auch der kgl. ung. Ministerpräsident sich jetzt mit einem diplomatischen
Erfolge zufrieden geben würde, so könne er dies vom Standpunkte der bosnischen
Interessen nicht tun. Das Ultimatum, welches wir im vorigen Herbste an Serbien

10 Komjäthy; Protokolle  145
<pb/>richteten, habe die Stimmung in Bosnien verschlechtert und den Hass gegen uns
nur gesteigert. Dort erzählt man sich allgemein im Volke, dass König Peter
kommen und das Land befreien werde. Der Serbe ist nur der Gewalt zugänglich,
ein diplomatischer Erfolg würde in Bosnien gar keinen Eindruck machen und wäre
eher schädüch als etwas anderes.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident bemerkt, er habe zwar die höchste
Meinung von dem derzeitigen Landeschef als Militär: was die Zivilverwaltung
anbelange, so könne man aber nicht leugnen, dass sie vollständig versagt habe und
dass da eine Reform unbedingt durchgeführt werden müsste. Er wolle jetzt hier¬
auf nicht näher eingehen, zumal es auch nicht der Moment sei um grosse Verän¬
derungen vorzunehmen, er müsse nur feststellen, dass bei der Polizei die unbe¬
schreiblichsten Zustände herrschen müssen, um es möglich zu machen, dass 6 oder
7 der Polizei bekannte Gestalten sich am Tage des Attentates auf der Route des
ermordeten Thronfolgers mit Bomben und Revolvern bewaffnet aufstellen könn¬
ten, ohne dass die Polizei einen einzigen beobachtete oder fortschafifte. Er sehe
nicht ein, warum die Verhältnisse in Bosnien nicht durch eine gründliche Reform
der Verwaltung wesentlich gebessert werden könnten.

   Der k.u.k. Kriegsminister ist der Ansicht dass ein diplomatischer
Erfolg keinen Wert habe. Ein solcher Erfolg werde nur als Schwäche ausgelegt.
Vom militärischen Standpunkte müsse er betonen, dass es günstiger wäre den
Krieg sogleich, als zu einem späteren Zeitpunkte zu führen; da sich das Kräfte¬
verhältnis in der Zukunft unverhältnismässig zu unseren Ungunsten verschieben
werde. Was die Modalitäten des Kriegsbeginnes betreffe, so müsse er hervorhe¬
ben, dass die beiden grossen Kriege der letzten Jahre, sowohl der russisch-japani¬
sche Krieg als auch der Balkankrieg, ohne vorherige Kriegserklärung begonnen
worden seien. Er sei der Ansicht dass man vorerst nur die gegen Serbien vor¬
gesehene Mobilisierung durchführen und mit der allgemeinen Mobilisierung
zuwarten sollte, bis erkennbar sei, ob Russland sich rühre oder nicht.

   Wir hätten schon zwei Gelegenheiten versäumt, um die serbische Frage
zu lösen und jedesmal die Entscheidung hinausgeschoben. Wenn wir es jetzt
wieder täten und auf diese neuerliche Provokation gar nicht reagierten,
so würde dies in allen südslavischen Provinzen als Zeichen der Schwäche
aufgefasst werden und wir würden eine Stärkung d r)gegen uns gerichteten
Agitation herbeiführen.

   In militärischer Hinsicht wäre es wünschenswert, wenn die Mobilisierung sofort
und möglichst heimlich durchgeführt würde und eine Sommation an Serbien erst
nach vollendeter Mobilisierung gerichtet werden könnte. Dies wäre auch wegen
der russischen Streitkräfte günstig, da die russischen Grenzkorps wegen der Ernte¬
urlaube gerade jetzt nicht die vollen Stände haben.

   Es entspinnt sich hierauf eine Diskussion über die Ziele einer kriegerischen
Aktion gegen Serbien, wobei der Standpunkt des kgl. ungar. Ministerpräsidenten,
dass Serbien zwar verkleinert, mit Rücksicht auf Russland aber nicht ganz ver¬
nichtet werden dürfe, angenommen wird. Der k.k. Ministerpräsident
betont, dass es sich auch empfehlen dürfte, die Dynastie Karageorgevich zu ent¬
fernen und einem europäischen Fürsten die Krone zu geben sowie ein gewisses

146
<pb/>Abhängigkeitsverhältnis des verkleinerten Königreiches zur Monarchie in mili¬
tärischer Hinsicht herbeizuführen.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident ist noch immer der Ansicht, dass
eine erfolgreiche Balkanpolitik für die Monarchie durch den Anschluss Bulgariens
an den Dreibund möglich wäre und verweist auf die furchtbare Kalamität eines
europäischen Krieges unter den derzeitigen Verhältnissen. Es möge nicht übersehen
werden, dass allerhand Zukunftseventualitäten denkbar seien -- wie Ablenkung
Russlands durch asiatische Komplikationen, Revanchekrieg des wiedererstarkten
Bulgariens gegen Serbien u.s.w. --, welche unsere Stellung gegenüber dem grosser¬
bischen Probleme wesentlich günstiger gestalten könnten, als dies heute der Fall ist.

   Der Vorsitzende bemerkt hiezu, dass man allerdings verschiedene
Zukunftsmöglichkeiten ausdenken könne, die eine uns günstige Situation ergeben
würden. Er befürchte aber, dass für eine solche Entwicklung keine Zeit vorhanden
sei. Man müsse mit der Tatsache rechnen, dass von feindlicher Seite ein Entschei¬
dungskampf gegen die Monarchie vorbereitet werde und dass Rumänien der
russischen und französischen Diplomatie Helfersdienste leiste. Man dürfte nicht
annehmen, dass die Politik mit Bulgarien uns einen vollen Ersatz für den Verlust
Rumäniens bieten könne. Rumänien sei aber seiner Ansicht nach nicht wieder¬
zugewinnen, solange die grosserbische Agitation existiere, da diese auch die
grossrumänische Agitation zur Folge habe und Rumänien ihr erst dann entgegen¬
treten könnte, wenn es sich durch die Vernichtung Serbiens am Balkan isoliert
fühlen und einsehen würde, dass es nur am Dreibunde eine Stütze finden könne.
Auch dürfe man nicht übersehen, dass bezüglich des Anschlusses Bulgariens an den
Dreibund noch nicht der erste Schritt geschehen ist. Wir wissen nur, dass die
jetzige bulgarische Regierung vor Monaten diesen Wunsch ausgesprochen habe
und damals auch im Begriffe stand, eine Allianz mit der Türkei einzugehen.
Letzteres sei bisher nicht erfolgt, die Türkei vielmehr seither mehr unter russichen
und französischen Einfluss geraten. Die Haltung des Ministeriums Radoslawoff
gebe allerdings keinen Grund, daran zu zweifeln, dass dasselbe auch heute noch
entschlossen sei, positiven Vorschlägen, die von uns in der angedeuteten Richtung
in Sofia gemacht werden könnten, ein williges Ohr zu leihen. Als sicheren Baustein
in unserer Balkanpolitik könne man diese Orientierung aber derzeit noch nicht
einschätzen; dies umsoweniger, als die gegenwärtige bulgarische Regierung doch
auf sehr schwacher Grundlage stehe, der Anschluss an den Dreibund von der stets
bis zu einem gewissen Grade unter russischem Einfluss stehenden öffentlichen Mein¬
ung desavouiert und das Ministerium Radoslawoff über den Haufen geworfen
werden könnte. Auch sei zu bedenken, dass Deutschland die bulgarische Aktion
vorderhand nur unter der Bedingung angenommen habe, dass die Abmachungen
mit Bulgarien keine Spitze gegen Rumänien haben dürften. Es werde nicht leicht
sein diese Bedingung ganz zu erfüllen und könnten daraus für die Zukunft unklare
Situationen sich ergeben.

   Es wird hierauf in längerer Debatte die Kriegsfrage weiters eingehend diskutiert.
Am Schlüsse dieser Erörterungen kann konstatiert werden:

   1. Dass alle Versammelten eine tunlichst rasche Entscheidung des Streitfalles
mit Serbien im kriegerischen oder friedlichen Sinne wünschen;

I 10*  147
<pb/>   2. dass der Ministerrat bereit wäre, sich der Ansicht des königl. Ungar. Mini¬
sterpräsidenten anzuschliessen, wonach erst mobilisiert werden solle, nachdem
konkrete Forderungen an Serbien gerichtet und dieselben zurückgewiesen, sowie
ein Ultimatum gestellt worden ist.

   Dagegen sind alle Anwesenden mit Ausnahme des königl. Ungar. Ministerprä¬
sidenten der Ansicht, dass ein rein diplomatischer Erfolg, wenn er auch mit einer
eklatanten Demütigung Serbiens enden würde, wertlos wäre und dass daher
solche weitgehende Forderungen an Serbien gestellt werden müssten, die eine
Ablehnung voraussehen Hessen, damit eine radikale Lösung im Wege miUtärischen
Eingreifens angebahnt würde.

   Graf T i s z a bemerkt, dass er bestrebt sei, dem Standpunkte aller anderen
Anwesenden entgegenzukommen und daher auch insoferne eine Konzession machen
würde, als er zugeben wolle, dass die an Serbien zu richtenden Forderungen sehr
harte sein sollten, jedoch nicht solcher Art, dass man unsere Absicht, unannehm¬
bare Forderungen zu stellen, klar erkennen könne. Sonst hätten wir eine unmög¬
liche rechtliche Grundlage für eine Kriegserklärung. Der Text der Note müsse sehr
genau studiert werden und er würde jedenfalls Wert darauf legen, die Note zur
Einsicht zu erhalten, bevor sie abgesendet werde. Auch müsse er betonen, dass er
für seine Person genötigt wäre, die Konsequenzen daraus zu ziehen, wenn sein
Standpunkt nicht berücksichtigt werde.

   Hierauf wird die Sitzung bis zum Nachmittag unterbrochen.
   Beim Wiederzusammentritte des Ministerrates ist auch der Chef des General¬
stabes und der Stellvertreter des Marinekommandanten anwesend.
   Der Kriegsminister ergreift auf Wunsch des Vorsitzenden das Wort, um
an den Chef des Generalstabes nachstehende drei Fragen zu richten:
   1. Ob es mögHch wäre nur gegen Serbien zu mobiüsieren und erst nachträgüch,
wenn sich die Notwendigkeit dazu ergibt, auch gegen Russland,
   2. ob man zur Einschüchterung Rumäniens grössere Truppenmengen in Sie¬
benbürgen zurückhalten könnte und
   3. wo man den Kampf gegen Russland aufnehmen würde. Der Chef des Ge¬
neralstabes gibt auf diese Anfragen geheime Aufklärungen und ersucht darum,
dass dieselben nicht in das ProtokoU aufgenommen werden mögen.
   Es entspinnt sich auf Grund dieser Aufklärungen eine längere Debatte über die
Kräfteverhältnisse und den wahrscheinlichen Verlauf eines europäischen Krieges,
die sich wegen ihres geheimen Charakters nicht zur Aufnahme in das
Protokoll eignet.
  Am Schlüsse dieser Debatte wiederholt der kgl. ung. Ministerpräsi¬
dent seinen früheren Standpunkt hinsichtlich der Kriegsfrage und richtet einen
neuerlichen Appell an die Anwesenden, sie möchten ihre Entscheidung sorgfältig
prüfen.
   Es werden hierauf die Punkte besprochen welche als Forderungen an Serbien in
der Note aufgenommen werden könnten.
   Es wurde bezügUch dieser Punkte im Ministerrate kein definitiver Beschluss
gefasst, sie würden nur aufgestellt, um ein Bild darüber zu erlangen, welche For¬
derungen gestellt werden könnten.

148
<pb/>  Hierauf verlässt der Chef des Generalstabes und der Vertreter des Marine-
kommandanten den Ministerrat, der sich mit der inneren Situation in Bosnien und
den daselbst zu ergreifenden Massnahmen befasst. Hiezu ergreift der gemein¬
same Finanzminister das Wort und erklärt, er habe aus Konferenzen,
die er in den letzten Tagen mit Parteiführern gepflogen, die Überzeugung gewon¬
nen, dass eine Auflösung des Landtages nicht ratsam wäre, weil sie mit pohtischen
Verlusten verbunden wäre. Jetzt könne man wegen der allgemeinen Erregung der
Gemüter keine Sitzungen abhalten und er wolle daher den Landtag schliessen und
erst im September für eine kurze Session einberufen. Er hoffe, dass es dann mög¬
lich sein werde, das Budget und die Kmetenvorlage votieren zu lassen; dies hänge
in erster Linie davon ab, dass Dimovich -- wie er hoffe -- die Parteileitung der
regierungsfreundlichen Serben nicht aus der Hand gebe und so den Bestand der
gegenwärtigen Regierungsmajorität ermögliche. Mit der Schliessung des Landta¬
ges hörten die Diäten und auch die Immunität der Abgeordneten auf, so dass der
diesbezügliche Wunsch des Landeschefs und auch des Kriegsministers erfüllt
werde, auch wenn er den Landtag nicht auflöse. Herr von Bilihski bespricht so¬
dann eine Reihe anderer Massregeln, welche er für zweckmässig hält, darunter
die Auflösung des grossen serbischen Vereines Posveta.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident will jetzt keine grösseren Verände¬
rungen vorschlagen. Er verweist neuerlich auf die Zustände in der Polizei von
Sarajevo und erklärt, der Niedergang des administrativen Apparates in Bosnien
sei die direkte Folge der seit einigen Jahren bestehenden präponderierenden
Stellung des Landeschefs, der als Militär unmöglich jene Erfahrung in admi¬
nistrativer Hinsicht besitzen könnte, die für eine gute Verwaltung notwen¬
dig sei.

   Der gemeinsame Finanzminister verteidigt den Landeschef
auch als Administrator, gibt aber zu, dass es wünschenswert wäre, wenn die Zivil¬
verwaltung von der Militärverwaltung ganz getrennt und ein Statthalter wie in
Dalmatien neben den Armeeinspektor eingesetzt würde.

   Es werden sodann an der Hand eines Vorschlages des k.u.k. Kriegsministers
spezielle Massnahmen besprochen, welche in Bosnien verfügt werden sollen.

   Hiebei tritt die übereinstimmende Ansicht aller Anwesenden zutage, dass einige
Vorschläge General Krobatins anzunehmen wären, andere aber zu weit gehen, dass
es aber im allgemeinen nicht möglich sei, über interne Verwaltungsmassregeln
Definitives festzustellen, bevor über die Hauptfrage, ob der Krieg gegen Serbien
geführt werden soll, eine Entscheidung gefallen sei.

   Der Vorsitzende konstatiert, dass wenn auch noch immer eine Diver¬
genz zwischen den Ansichten aller Teilnehmer und jener des Grafen Tisza bestehe,
man sich nähergekommen sei, nachdem auch die Vorschläge des königl. Ungar.
Ministerpräsidenten aller Wahrscheinlichkeit nach zu der von ihm und den übrigen
Mitgliedern der Konferenz für notwendig gehaltenen kriegerischen Auseinander¬
setzung mit Serbien führen werden.

   Graf Berchtold teilt dem Ministerrate mit, dass er die Absicht habe, am 8. d. M.
nach Ischl zu reisen und Seiner k. und k. Apostolischen Majestät Vortrag zu erstat¬
ten. Der kgl. ung. Ministerpräsident bittet den Vorsitzenden, Seiner

                                                                                                               149
<pb/> Majestät auch eine von ihm zu verfassenden allerunterthänigsten Vortrag*&#39; über
seine Auffassung der Lage zu unterbreiten.

    Nachdem ein Communique für die Presse aufgesetzt worden ist, hebt der Vor¬
sitzende die Sitzung auf.

             Original-Reinschrift. -- Der Mantelbogen (»zur Einsicht«) wurde von sämtlichen
         Teilnehmern des Ministerrats unterschrieben. In der rechten oberen Ecke mit Bleistift
         blaß geschrieben: »f(ertig)«. -- Auf dem letzten Blatt die Kenntnisnahme durch den
         Herrscher: »Wien, am 16. August 1914.« Am unteren Rand des Blattes rechts die
         Unterschrift Berchtolds, links die von Hoyos. -- Ebd. das handschriftliche Konzept
         mit unzähligen, hauptsächlich aus der Feder Berchtolds stammenden Korrekturen,
         oft ganz beträchtlichen Einschaltungen. Der Minister des Äußern hat im Konzept
         den Teil gestrichen, der die einzelnen Punkte der Forderungen der Monarchie an
         Serbien enthielt. In der Reinschrift verblieb lediglich, daß diese Punkte besprochen
         wurden.

                                                                                     2.

                                                                                       Wien, 19. Juli 1914

         Fragen im Zusammenhang mit dem Ultimatum an Serbien und mit der Mobilmachung.
         Stellungnahme Tiszas gegen eine Annexion serbischer Gebiete.

            Der Ministerrat behandelte vor der Tagesordnung das an Serbien zu richtende
         Ultimatum. Der Text des Ultimatums wurde weder ins Konzept noch in die endgül¬
         tige Fassung des Protokolls aufgenommen. In dieser Sitzung wurde im wesentlichen
         die Debatte vom 7. Juli fortgesetzt. Der ungarische Ministerpräsident berief sich bei
        Darlegung seines annexionsfeindlichen Standpunktes auf seine Ausführungen zu
         dieser Frage in der Beratung vom 7. Juli. Seine, die Annexion Serbiens ablehnende
         Meinung hat er jedoch nur im allgemeinen, mit innerpolitischen Gesichtspunk¬
        ten motiviert. Darüber, daß er im Falle einer Einverleibung größerer slawischer
         Massen in das Gebiet Österreich-Ungarns um den Dualismus und innerhalb dessen
        um die Hegemonie des Ungarntums besorgt war, sprach er nicht. Diesen Standpunkt,
        der die Politik der ungarischen Regierung grundlegend bestimmte und der bis in die
        letzten Tage der Monarchie eines der größten Hindernisse selbst für eine nur ober¬
        flächliche Änderung der Struktur der Monarchie war, hat er im gemeinsamen Mini¬
         sterrat vom 6. Oktober 1915 detailliert dargelegt.

Protokoll des zu Wien am 19. Juli 1914 abgehaltenen Ministerrates für gemeinsame
Angelegenheiten, unter dem Vorsitze des Ministers des k.u.k. Hauses und des
Äußern Grafen Berchtold.

   K.Z. 50.-G.M.K.P.Z. 513.
   Gegenwärtige: der k.k. Ministerpräsident Graf S t ü r g k h, der kgl. ung.
Ministerpräsident Graf T i s z a, der k.u.k. gemeinsame Finanzminister Dr. Ritter

   d) Korrektur Tiszas, in der Reinschrift stand ursprünglich »von ihm verfaßte Aufzeich¬
nung«.

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                                                                                                                                      *
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