Ministerrat und Ministerratsprotokolle1848–1867 - Retrodigitalisat (PDF)

Von Helmut Rumpler

1. Das methodische Problem - Retrodigitalisat (PDF)

Untrennbar von der Frage nach dem neuen Tatsachenmaterial, das aus den Protokollen des österreichischen Ministerrates geschöpft werden kann, stellt sich jene nach der Form, in der diese Protokolle überliefert sind. Die Deutung dieser Form als Veranschaulichung und Erläuterung eines Macht- und Rechtsverhältnisses1 ist das wirksamste Mittel, den Sachinhalt der Protokolle richtig zu bewerten. Die politische Bedeutung, die dem österreichischen Ministerrat als einem Regierungs- bzw. Beratungsorgan in der Epoche von 1848 bis 1867 jeweils zukam, spiegelt sich nämlich nicht nur in dem Inhalt der Entscheidungen, die von diesem Gremium gefällt wurden, sondern auch in der Form, in der diese Entscheidungen zustandekamen. Diese Form, sofern sie in der Gestaltung der Protokolle einen Niederschlag gefunden hat, ist als Ausdruck der jeweiligen Machtstellung des Ministerrates zu begreifen. Chronologisch ist die Bedeutungsgeschichte weiter zu führen als bis zu jenem Zeitpunkt, in dem die Entwicklung dieser Form im großen und ganzen abgeschlossen schien.

Bis etwa in die Hälfte des Jahres 1848 wurden die Protokolle des Ministerrates, was ihre formale Struktur betrifft, fast in derselben Weise gestaltet wie diejenigen des vormärzlichen Staatsrates. Den neuen staatsrechtlichen Verhältnissen entsprechend, setzte aber noch 1848 ein Wandel ein, der 1850 zum Abschluß gelangte. || S. 12 PDF || Im Verlauf dieses Wandlungsprozesses wurde endgültig und im Detail die bis 1918 gültige Protokollform festgelegt. Die formalen Elemente blieben von diesem Zeitpunkt an unverändert. Ihre Bedeutung änderte sich aber in derselben Weise, wie sich die Stellung des Ministerrates änderte. Der Vorsitzende des Ministerrates unterzeichnete beispielsweise die Protokolle seit Ende des Jahres 1848 in fast der gleichen Form. Und doch ist dieser Signatur verschiedenes Gewicht beizumessen, je nachdem, ob sie von den Ministerpräsidenten Schwarzenberg und Rechberg oder von den Vorsitzenden der Ministerkonferenz bzw. des Ministerrates Buol-Schauenstein, Erzherzog Rainer oder Belcredi stammt. Nicht der Wandel der Form, sondern der Wandel der Bedeutung der gleichbleibenden Form als Abbild einer Verschiebung der Machtverhältnisse ist demnach für die Zeit von 1850 bis 1867 Gegenstand der Interpretation.

Was im folgenden als Form der Protokolle verstanden wird, resultiert aus zwei Elementen: den Normen der Verhandlungsführung im Ministerrat und den Regeln, nach welchen die Beratungen schriftlich fixiert wurden. Für die kritische Beurteilung der Protokolltexte ist die Analyse dementsprechend nach zwei Richtungen hin anzulegen. Einerseits ist zu fragen: Was konnten und durften die Minister oder der Vorsitzende des Ministerrates auf Grund der ihnen zukommenden rechtlichen Stellung aussprechen, welcher Grad der freien Meinungsäußerung darf vorausgesetzt werden, wieweit sind die Protokolle als Zeugnisse einer echten Diskussion oder nur einer offiziellen Sprachregelung zu werten? Andererseits: Welcher Art waren die formalen Bedingungen der Protokollierung, in welchem Ausmaß wurde das Wort der Minister bewußt oder unbewußt durch das Medium der schriftlichen Fixierung modifiziert? Zwei Entwicklungslinien sind zu verfolgen: eine rechtlich-politische, d. h. verfassungs- und behördengeschichtliche, und eine kanzleigeschichtliche. Von diesen beiden Blickpunkten her wird zu bestimmen sein, was als bedeutsam für die interpretative Auswertung der Protokolle einführend generell darzulegen und im einzelnen bei der editorischen Gestaltung zu verarbeiten ist.

Ein Ministerratsprotokoll bedarf in demselben Maße der formalen Kritik wie etwa ein diplomatischer Bericht. Dieser ist erst dann in seinem Wert zu bestimmen, wenn die sachlichen und personellen Voraussetzungen seiner Entstehung bekannt sind. Er ist bestenfalls eine Primärquelle für den Informationsgrad und die politischen Ziele des Berichterstatters, wobei meist noch die dem Adressaten gegenüber verfolgte Tendenz eine schwer zu eliminierende Fehlerquelle bleibt. Bei einem Ministerratsprotokoll liegen die Verhältnisse noch um einen Grad komplizierter. Die Zahl der Akteure vervielfältigt das Problem der Quellenkritik. Ein Protokoll enthält im wesentlichen Aussagen über zwei verschiedene Ereigniskategorien: mittelbar über die Verhandlungsgegenstände, die von den Ministern vor den Ministerrat gebracht wurden, unmittelbar über die Verhandlungen der Minister selbst. Die Verhandlungen der Minister im Ministerrat bilden aber gleichsam nur die Schauseite des Kampfes verschiedener Interessen. Vom Kampf selbst und damit vom Kern der Ereignisse wird in den Ministerratsprotokollen nur wenig sichtbar, es muß eigentlich erst durch die Kritik sichtbar gemacht werden. Diese wird zunächst eine Sachkritik sein, die die Positionen der Minister || S. 13 PDF || im Ministerrat auf ihre Absicht und Glaubwürdigkeit hin zu klären versucht. Sie wird darüber hinaus aber auch jene „Brechungen“ der Ereignisse zu bestimmen suchen, die aus den Bedingungen der Verhandlungen und vor allem der Protokollierung resultieren. Nur auf diese Weise sind kritisch gesicherte Ergebnisse in schwierigeren Interpretationsfragen aus den Ministerratsprotokollen zu schöpfen. Auf den ersten Blick scheint ein Urteil, wie es jüngst Fr. Prinz in Zusammenhang mit den Protokollen des Jahres 1848 gefällt hat, plausibel: „Die Ministerratsprotokolle sind ja für die in ihnen widergespiegelten Vorgänge insofern von ganz besonderer Bedeutung, als sie nicht nur die jeweiligen Ereignisse gleichsam in statu nascendi erfassen, sondern diese Quelle ist ja ein schriftlicher Niederschlag aus dem Nervenzentrum der Ereignisse selbst, sie ist ein Brennpunkt des Geschehens, das sich buchstäblich selbst zu Protokoll gibt und damit auch schon interpretierta .“ Dieses Urteil bedarf aber doch einiger Einschränkungen. Es verleitet, sofern man es verallgemeinert, zu einer Fehleinschätzung des Quellenwertes der Ministerratsprotokolle. Der Status nascendi, dessen Zeuge wir in den Ministerratsprotokollen werden, unterliegt den Regeln einer oft sehr raffinierten Verhandlungsregie; der Ministerrat ist für bestimmte Fragen zweifellos ein Nervenzentrum, aber eines von unerhört komplizierter Struktur; vor allem aber gibt sich das Geschehen nicht selbst zu Protokoll — es wird eben von den Ministern dargestellt und von den Protokollführern unter Einflußnahme verschiedener Instanzen protokolliert. Diese Protokollierung ist, wie von dem genannten Autor richtig bemerkt wird, bereits Interpretation. Nicht nur die allgemeinen Probleme schriftlicher Fixierung, sondern die besonderen Bedingungen einer Ministerverhandlung sind hier zu beachten. Und sofern sich in diesen Ministerverhandlungen etwas „spontan ereignete“, hat es sich nicht in der ursprünglichen Spontaneität „selbst“ protokolliert. Schon die Aussagen der Minister, aber erst recht die Protokolle mußten derart beschaffen sein, daß sie dem Kaiser zur Sanktion vorgelegt werden konnten. Und wenn überhaupt, dann gilt das vorerwähnte Urteil nur für die Protokolle einiger Monate des Jahres 1848. Es gilt nur noch bedingt für die Protokolle der Regierung Schwarzenberg, auf keinen Fall aber für die Protokolle der Ministerkonferenz nach 1852. Viele Jahre hindurch ist der Ministerrat nicht Nervenzentrum der Ereignisse gewesen, auch wenn der Anschein aufrechterhalten wurde, als wäre der Ministerrat der Zentralpunkt der Regierung. Vor allem aber durchlief die Selbstprotokollierung der Ereignisse viele Stufen der „Läuterung“, seit der Kaiser dem Ministerrat beiwohnte und der Ministerrat selbst sich in eine liberalisierende und konservative Fraktion spaltete. Und als die Diskussion der Minister in der Ministerkonferenz weitestgehend irrelevant geworden war, weil dem Ministerium das Recht fehlte, Beschlüsse zu fassen, da wurden Protokolle angefertigt, die nur noch einen farblosen Extrakt der Ministerverhandlungen darstellen.

Das Bild, das „auf Grund der Akten“ von der politischen Bedeutung des Ministerrates und vom Quellenwert der Protokolle gezeichnet werden kann, ist unvollständig. || S. 14 PDF || Einige der Komponenten, in deren Wirkungszentrum der Ministerrat stand, sind nicht aktenkundig geworden.

Die Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung bei der Stellungnahme im Ministerrat einerseits und bei der protokollarischen Festlegung dieser Stellungnahme andererseits ist kaum faßbar. Daß zumindest für 1848 mit einer solchen Rücksichtnahme zu rechnen ist, legt der Beschluß des Ministerrates vom 14. April 1848 nahe, wonach das Publikum über die Tätigkeit des Ministeriums auf Grund der Ministerratsprotokolle informiert werden sollte2. Aber auch in der längeren Periode vom November 1848 bis in das Jahr 1867, als der Ministerrat unter Ausschluß der Öffentlichkeit beriet, war die Haltung der Minister im Ministerrat nicht unabhängig von der öffentlichen Meinung3. Noch mehr Rücksichtnahme wurde dem Monarchen gegenüber beobachtet. Die kuriale Devotion oder auch nur der schuldige Respekt vor dem Kaiser sind deutlich erkennbar, das Ausmaß der damit verbundenen sachlichen Entstellung aber schwer zu bestimmen. Die Beschlüsse und die sogenannten Diskussionen im Ministerrat sind außerdem durchwegs Endpunkte komplizierter Entscheidungs­ketten. Eine im engeren Sinne „aktenmäßige“ Interpretation der Protokolle vermag insbesondere dem biographischen Aspekt im Bereich der Vorentscheidungen nicht gerecht zu werden. Dieser biographische Hintergrund, das weite Spektrum persönlicher Motive, resultierend aus der gesellschaftlichen und politisch-weltanschaulichen Gebundenheit der Minister, ist vorauszusetzen für die Beurteilung des Endresultates, das vom Ministerratsprotokoll bezeugt wird.

Einige für die Quellenkritik nicht unwesentliche Details sind offenbar seitens der Zeitgenossen als der Überlieferung unwert empfunden worden und daher nur vermutungsweise rekonstruierbar. Über die Atmosphäre, in der die Beratungen stattfanden, soweit sie durch äußere Formen bedingt war, finden sich in den Akten sowie in den einschlägigen erzählenden Quellen nur spärliche Angaben. Die Tageszeit, zu der der Ministerrat routinemäßig zusammentrat, ist z. B. nur in Ausnahmefällen angegeben4. Es ist unbekannt, in welcher Weise Einladungb, Tagesordnung, Anwesenheitsnachweis, Vorsitz, Wechselrede und Abstimmung gehandhabt wurden. Es wäre vor allem wesentlich, ein Erstkonzept zu kennen, zu wissen, ob es in Schlagworten oder in zusammenhängender Rede verfaßt war. Überliefert sind nämlich nur Reinschriften und Kopien. Es gibt daher keinen Maßstab für die Beantwortung der Frage, ob die Protokolle als echte Mitschriften oder als Erinnerungsprotokolle einzustufen sind. Welche Schwierigkeiten sich der Klärung solcher Teilprobleme entgegenstellen, zeigt exemplarisch die Frage: Wo haben die Routinesitzungen des Ministerrates stattgefunden? Daß sich || S. 15 PDF || der Ministerrat im Falle des kaiserlichen Vorsitzes in der Hofburg versammelte, ist nur selten ausdrücklich vermerkt, wohl aber stets anzunehmen. Wo aber befand sich das „gewöhnliche Lokal5“? Selbst wenn es mit dem als Tagungsort ebenfalls bezeugten „Büro des Ministerpräsidenten6“ identisch war, ist für eine genaue Lokalisierung noch nichts gewonnen. Ob sich dieses Büro in der Hofburg Nr. 1 befand, wo nach einer Angabe aus dem Jahr 1856 die Ministerkonferenzkanzlei untergebracht war7, oder am Ballhausplatz, dem Sitz des Außenministeriums, ist begründet nicht zu entscheiden. Rückschlüsse aus der Zeit von 1858 bis 1861 und nach 1867, als die Präsidialabteilung des Ministeriums des Äußern die Geschäfte des Ministerrates besorgte, sind schon deshalb unzulässig, weil die Personalunion Vorsitzender des Ministerrates–Minister des Äußern vor 1867 nicht die Regel war. Das Zeugnis, daß unter Schwarzenberg der Ministerrat „in der Staatskanzlei“ tagte8, kann auch nur als Indiz gewertet werden, daß die Sitzungen zumindest während seiner Amtszeit regelmäßig dort stattgefunden haben.

Über diese Unvollständigkeiten hinaus müssen bei der Bewertung der Formelemente der Ministerratsprotokolle Fehlerquellen kalkuliert werden, die auch durch eine allseitige Ergänzung der Quellengrundlage nicht auszuschalten wären. Zufall und Nachlässigkeit haben bei der Abfassung der Protokolle wahrscheinlich eine größere Rolle gespielt, als man anzunehmen geneigt ist. Die Ursache für die Nichtbeachtung einer bei der Protokollierung im allgemeinen streng beachteten Regel kann so verschiedener Art gewesen sein, daß Rückschlüsse aus der bloßen Existenz solcher Unregelmäßigkeiten immer unsicher bleiben müssen. Ob z. B. die Unterschrift Belcredis unter dem Ministerratsprotokoll vom 17. September 1867 über die Sistierung der Verfassung nur infolge eines bürokratischen Versehens fehlt oder absichtlich nicht gesetzt wurde, ist schwer zu entscheiden — die Tatsache als solche ist aber nicht zu übersehen9.

Dem Vergleich mit der Entwicklung in den anderen europäischen Staaten sind enge Grenzen gesetzt. Im Rahmen der vergleichenden Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte wird der spezifischen Rechtsstellung des Gesamtministeriums in der Epoche der europäischen Reaktion nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Dies mit der unausgesprochenen, oberflächlichen Begründung, daß dem Staatsrat in seinen verschiedenen Varianten für diesen Zeitraum politisch größere Bedeutung zukam als dem Ministerrat. Ebenso schwierig ist es, eine Verbindung zur verfassungspolitischen Situation in Österreich vor 1848 herzustellen. Die Staatsratsprotokolle bilden zwar das unmittelbare Vorbild für die Ministerratsprotokolle, aber die Rechtsstellung des Staatsrates schließt einen Vergleich mit dem Ministerrat aus. Die Staatskonferenz käme bedingt für einen || S. 16 PDF || solchen Vergleich in Frage; ihre Geschichte ist aber nahezu unerforscht, vor allem, weil die Quellen für ihre Tätigkeit nur bruchstückhaft erhalten sind.

Besser faßbar ist die Kontinuität über das Jahr 1867 hinaus. Der gemeinsame Ministerrat der Ausgleichsperiode ist verfassungsrechtlich und formal, d. h. was die Form seiner Verhandlungsführung anlangt, fast ein vollkommenes Ebenbild des Ministerrates der Periode von 1848 bis 1867. Der Ausgleich bildete in seinen Auswirkungen auf die Funktionsweise der obersten Regierungsinstanzen und das Zustandekommen der Regierungsentscheidungen kaum eine echte Zäsur.

Weder alle Ereignisse noch alle Quellen sind im Detail für die vorliegende Untersuchung berücksichtigt — dafür kann auf die Werke von Redlich, Friedjung und Walter verwiesen werden, die sich eine weitestgehend lückenlose Sachdarstellung zum Ziele gesetzt haben10. Vieles aus dem Bereich der allgemeinpolitischen Entwicklung wurde vernachlässigt zugunsten einer bewußten Akzentsetzung unter dem leitenden Aspekt: Welche Auffassung hatte der Ministerrat von seiner eigenen Stellung, und mit welchen Institutionen hatte er sich bei der Behauptung seiner Rechte, wie er sie gesehen hat, auseinanderzusetzen?

2. Der Ministerrat als konstitutionelles Gegengewicht gegen die Krone 1848—1852 - Retrodigitalisat (PDF)

Staatskonferenz und Ministerrat — Ministerrat und Nebenregierung 1848 — Stellung des Ministerpräsidenten — Teilnahme der Minister an der Regierung — Sanktion der Beschlüsse des Ministerrates durch den Monarchen — Das Problem der Ministerverantwortlichkeit — Schwarzenberg und der Ministerrat — Ministerrat und Reichsrat — Der Kaiser übernimmt den Vorsitz im Ministerrat — Stellung des Ministerrates nach dem Ah. Handschreiben vom 20. August 1851 — Revision der Reichsverfassung — Vortrag Schwarzenbergs über den Wirkungskreis des Gesamtministeriums vom 9. Jänner 1852.

Form und Gehalt der Ministerratsprotokolle wurden in erster Linie durch die politisch-rechtliche Stellung des Ministerrates bestimmt. Die angestrebte politische Deutung der Aktenform der Ministerratsprotokolle ist nur in Zusammenhang mit dieser politisch-rechtlichen Stellung des Ministerrates zu erreichen.

In der „Konferenz“, der Metternich seit dem Tode des Grafen Karl Zichy 1826 präsidierte, hatte der österreichische Kaiserstaat schon vor 1848 dem Namen nach eine „oberste ostensible Behörde“. Der Staatsrat war demgegenüber ein bloßes Beratungsorgan, das Kabinett zum Expedit des Monarchen herabgesunken. Praktisch waren aber Verwaltung und Regierung ohne Leitung. Persönliche Macht — die Metternichs in der Außen- und die Kolowrats in der Innenpolitik — war das einzige Ordnungsprinzip, das dem Chaos Schranken setzte. Die mangelhafte Organisation „im Zentrum“ war eine der Ursachen für den innenpolitischen Bankrott des Metternichschen Systems. Das war Metternich selbst wohl bewußt. Die strikte Trennung der administrativen Sphäre von jener der Regierung kennzeichnete nach dem Urteil des Staatskanzlers die Struktur jener obersten Staatsleitung, die er selbst als unzureichend empfand und zu deren Reform er insbesondere nach dem Thronwechsel von 1835 in zunehmendem Maße drängte. Die reformierte Staatskonferenz, wie sie Metternich in seiner Denkschrift vom 30. September 1836 vorschlug, sollte diese beiden Sphären vereinigen. In der Konsequenz der Reformpläne hätte es vor allem gelegen, der „Verwaltung“ in Gestalt der Staatskonferenz eine den Monarchen unterstützende „Regierung“ überzuordnen. Metternich, besonders aber sein nächster Verbündeter im innenpolitischen Kampf, Carl Graf Clam-Martinic, strebten die Neuordnung in diesem Sinn an. Des Staatskanzlers ideologische Befangenheit, die Unfähigkeit, die Schranken seines „Systems“ selbst zu durchbrechen, hinderten ihn aber, für die Staatskonferenz einen Anteil an der Regierung zu verlangen. So blieb die Staatskonferenz, wie der Staatsrat, auf die Funktion der Beratung des Herrschers beschränkt, obwohl ihre Anfänge auf Intentionen zurückgingen, dem Herrscher ein „Ministerium“ im Sinne eines ausführenden Organs zu verschaffen. In der am 5. Dezember 1836 verwirklichten Form war sie ein Gremium, das raten durfte, wenn es vom Monarchen um Rat gefragt wurde. Im Bereich der obersten Staatsbehörden gab es also auch nach der Reform nur die Funktionen des „Administrierens“ (Hofstellen, Staats- und Konferenzminister) und des „Kontrollierens“ (Staatsrat und Staatskonferenz).

|| S. 18 PDF || Mehr als in verfassungsrechtlicher waren in organisatorischer Hinsicht mit der Staatskonferenz Elemente eines Regierungssystems vorgebildet, das erst nach 1848 Verwirklichung gefunden hat. Die Staatskonferenz in ihrer ursprünglich geplanten Form sollte eine Versammlung der im aktiven Dienst stehenden Staatsund Konferenzminister werden; fallweise sollten ihr Staatsräte und die Präsidenten der Hofstellen beigezogen werden. Es war beabsichtigt, ein Zentrum zu schaffen, in dem die Geschäftskreise der verschiedenen Ressorts eine Verbindung finden konnten. Denn der Staatsrat, dem diese Koordinierungsfunktion ursprünglich zugedacht war, hatte gerade in dieser Hinsicht versagt. Im Staatsrat liefen zwar alle Fäden der Regierung zusammen, sie blieben aber unverbunden. Die Staatsräte waren in ihren einzelnen Sektionen isoliert voneinander und von den Behörden, über deren Anträge sie entschieden; sie erstellten ihre Gutachten ohne Kenntnis und Berücksichtigung der Interessen anderer Ressorts. Es fehlte jene Behörde, die diese divergierenden Aktivitäten unter dem leitenden Gesichtspunkt der Staatspolitik zusammenfaßte. Diese Behörde sollte mit der reformierten Staatskonferenz ins Leben treten, das Prinzip der Kollegialität an der Spitze der Staatsverwaltung verwirklicht werden. Die Idee einer Gesamtregierung, die ihre Entscheidungen im Wege der Übereinkunft fällte, war damit vorbereitet. Die beiden im Vormärz üblichen Wege der Geschäftsstücke zum Monarchen waren der staatsrätliche Weg und der Kabinetts- oder Präsidialweg, je nachdem, ob die Entscheidung des Herrschers über den Staatsrat und mit dessen Gutachten oder von den Präsidenten der Hofstellen bzw. den Ministern direkt erbeten wurde. Diesen beiden Wegen sollte durch die Staatskonferenz ein dritter hinzugefügt werden. Dem Monarchen sollte, wenn auch nur in beratender Funktion, ein Gesamtwille gegenübergestellt werden. Die Staatskonferenz war dazu bestimmt, die bloß verwaltende Kabinettsregierung, für die Erzherzog Ludwig und Kolowrat eintraten, zu überwinden. Die Staatskonferenz konnte schließlich aus verschiedenen Ursachen dieser Bestimmung nicht gerecht werden: Ihre Einheitlichkeit, wie sie durch gemeinsame Beratungen garantiert werden sollte, wurde durch die schriftliche statt, wie vorgesehen war, mündliche Geschäftsführung zerstört; dadurch konnten manche Gegenstände den anderen Mitgliedern der Staatskonferenz vorenthalten werden. Vor allem aber war es Kolowrat mit Unterstützung Erzherzog Ludwigs gelungen, sich zumindest für den Bereich der Finanzpolitik unter Umgehung der Staatskonferenz den direkten Zugang zum Monarchen zu wahren, d. h. seine eigene absolute Entscheidungsgewalt ohne Rücksicht auf andere Ressorts zu wahren. Damit war jener Übelstand wiederhergestellt, der durch die Staatskonferenz hätte behoben werden sollen: Metternich und Kolowrat, der eine in der Außen-, der andere in der Innenpolitik, entschieden weiterhin unabhängig voneinander.

Die Idee einer Gesamtregierung konnte, obwohl verfassungsrechtlich keine Bedenken dagegen bestanden, nicht verwirklicht werden. Das blieb dem Jahr 1848 mit der Schaffung des Ministerrates vorbehalten. Obwohl dieser Ministerrat verfassungsrechtlich einen Neuansatz darstellte, wurden mit ihm organisatorische Ideen verwirklicht, die in Ansätzen schon im Rahmen der Reformbestrebungen des Vormärz, insbesondere bei Metternich, vorgebildet waren. Die politische || S. 19 PDF || Revolution, aus der der Ministerrat hervorgegangen ist, wurde durch diese Kontinuität relativiert. Diese behördengeschichtliche Kontinuität bietet u. a. eine der Erklärungen dafür, warum der Ministerrat im Zeitalter des Neoabsolutismus unter Beibehaltung seiner äußeren Organisationsform in seiner Geltung praktisch auf die Funktion der Staatskonferenz oder des Staatsrates beschränkt werden konnte. Mit der Einrichtung des Ministerrates als einer Gesamtregierung wurde nur eine der Säulen des vormärzlichen Absolutismus, nämlich die direkte Unterstellung aller Verwaltungszweige unter den Monarchen, abgebaut. Zwischen dem Herrscher und dem einzelnen Minister stand nun der Ministerrat. Dem monarchischen Absolutismus war auf diese Weise eine Schranke gesetzt. Eine zweite Säule aber blieb auch nach 1848 stehen: das Ministerium in seiner Gesamtheit wie in seinen einzelnen Mitgliedern blieb auch weiterhin ausschließlich dem Herrscher „verantwortlich“, der im Sinne des Art. 57 der Wiener Schlußakte, worin das Prinzip der Gewaltenteilung für die Staaten des Deutschen Bundes für bundesrechtswidrig erklärt war, die gesamte Staatsgewalt ungeteilt in sich vereinigte. Da aber vom Gesichtspunkt der Verfassungstheorie direkte Unterstellung der Minister unter den Monarchen und Alleinverantwortlichkeit diesem gegenüber in einem Komplementärverhältnis zueinander stehen, folgte wohl konsequent aus der Beibehaltung des Prinzips der Verantwortlichkeit der Minister nur dem Monarchen gegenüber die Untergrabung der Idee eines Gesamtministeriums bis zu dem Versuch hin, den Ministerrat als Organ dieses Gesamtministeriums überhaupt aufzulösen. Schon bei der Gründung des Ministerrates war also der Keim zu seiner Niederlage gegenüber den Ansprüchen des mit der Revolution zum Abwehrkampf herausgeforderten Absolutismus gelegt.

Am 1. April 1848, um 12 Uhr, traten die am 18. und 20. März ernannten Minister zu ihrer ersten „Besprechung“ zusammen, der die Qualifikation „Ministerrat“ zukommt11. Welche Bedeutung war dieser Versammlung zugedacht, welche maß sie sich selbst bei?

Zwei volle Wochen hatte der Hof gezögert, einen in der Staatskonferenz vom 17. März gefaßten Beschluß12 in die Tat umzusetzen. Und als dies geschah, war die Hofpartei entschlossen, das Mitte März gemachte Zugeständnis wieder zurückzunehmen. Denn nicht in Erfüllung der Konstitutionszusage vom 15. März — so hatte die Staatskonferenz vom 17. März ihren Beschluß motiviert — wurde der Ministerrat am 31. März konstituiert13, aber auch nicht zum Zwecke der „Vollziehung und Durchführung des Patents vom 15. März“, wie am 18. März in der „Wiener Zeitung“ angekündigt worden war. Im Handschreiben vom 31. März figuriert „die dermalige Lage der Monarchie“ als Motiv, und als Aufgabe war dem Ministerrat die Beratung der „Maßregeln, welche der höchst gefährdete Zustand der Monarchie in militärischer, finanzieller und administrativer Beziehung fordert“, gestellt.

Gegen diesen neuen Kurs setzte sich der Ministerrat mehr oder weniger offen zur Wehr. Die Bedeutung dieses Protestes darf, trotz der Vorsicht, mit der er || S. 20 PDF || formuliert wurde, umso höher angeschlagen werden, als zu dem Zeitpunkt, da er geltend gemacht wurde, die Stoßkraft der Revolution gebrochen, eine Rückkehr zum vormärzlichen Absolutismus möglich schien. Unter Berücksichtigung aller Begleiterscheinungen dürfen jene Bestimmungen des vom Ministerrat vorgelegten sogenannten „Statuts“ vom 1. April 1848, die den Anteil des Ministerrates an der Regierung berühren, als erstes Zeugnis eines solchen Protestes gedeutet werden14. Vollends offenbar wird diese Protesthaltung an einigen Konsequenzen dieser „Grundlinien“, „nach welchen der Ministerrat von nun an verfahren zu sollen“ meinte15. Vor allem wehrte sich das Ministerium energisch gegen die Konkurrenz außerministerieller Instanzen. Und dies eben schon unter dem für vormärzliche Verhältnisse liberalen, aber als Ministerpräsident dem Hof doch sehr ergebenen Kolowrat. Der Passus des „Statuts“, in dem die „Hofstellen“ erwähnt sind, ist nicht nur ein Beweis für deren Existenz16, sondern vielmehr ein Beleg dafür, daß der Ministerrat nicht bereit war, sich mit dem Bestehen dieser Hofstellen abzufinden; sie sollten dem Ministerium ehestens untergeordnet werden.

Solchen Machtanwandlungen setzte der Hof, insbesondere im Falle des Staatsrates, einen Widerstand entgegen, den der Ministerrat nur formal zu überwinden vermochte. Die Absicht der Hofpartei, nicht einen Ministerrat im konstitutionellen Sinn, sondern nur einen um Minister erweiterten Staatsrat einzurichten, war von vornherein klar17: „Minister und Männer Meines Vertrauens“ im Ministerrat zu versammeln war Kolowrat am 31. März aufgetragen worden. Dieser Befehl blieb aber unbeachtet. Ja nicht einmal neben sich wollte der Ministerrat den weiter amtierenden Staatsrat dulden. Mit einer deutlich vom übrigen Protokolltext abgehobenen Schärfe erklärte der Ministerrat am 1. April als Antwort auf den kaiserlichen Befehl: „Zwischen Ew. Majestät und dem Ministerrat befindet sich kein Organ, dessen Einfluß selbständig oder maßgebend wirkt, und namentlich ist diesfalls durch Tatsachen eine Aufklärung des Publikums wünschenswert, daß nicht ein Staatsrat oder eine Konferenz die Beschlüsse des Ministerrates einer nochmaligen Prüfung oder Erwägung unterziehe, indem jedes solche Verfahren ein störendes 18 und unverantwortliches Organ voraussetzt und die Unverantwortlichkeit und Unverletzbarkeit nur mit Ew. Majestät geheiligter Person verknüpft ist19.“ Der Staatsrat wurde daraufhin zwar am 4. April aufgelöst, er setzte aber seine „Amtstätigkeit“ fort. Justizminister Ludwig Graf Taaffe scheute sich nicht, von der „Unzukömmlichkeit“ zu sprechen, „daß neben der Regierung der verantwortlichen Minister Sr. Majestät noch eine Regierung nach || S. 21 PDF || dem früheren System tätig bleibt20“. Nun mußte — denn der Ministerrat bediente sich bei seiner Forderung immer geschickt des Appells an die öffentliche Meinung— der „aufgelöste“ Staatsrat auch seine „Tätigkeit“ einstellen. Doch blieb die Bestimmung in Geltung, „daß einzelne Individuen desselben dem Ministerrat pro informatione beigezogen werden sollten21“. Daß Kolowrat diese „Ermächtigung“ keineswegs als praktische Hilfe, sondern als unbefugte Einmischung verstand, illustriert der Umstand, daß der Ministerrat die „wünschenswerte Beihilfe22“ nie in Anspruch genommen hat23. Geschickt hat Kolowrat, indem er einerseits dem kaiserlichen Wunsch nachkam, andererseits die Entscheidung über die Inanspruchnahme der „Beihilfe“ dem Ministerpräsidenten sicherte, den Staatsrat via facti ausgeschaltet24.

Nicht als ein störendes, sondern offenbar als notwendiges Zwischenorgan anerkannte der Ministerrat den Thronfolger Erzherzog Franz Karl: „In der Stellung Sr. kaiserlichen Hoheit werde durch den Ministerrat nichts geändert“, erklärten Pillersdorf und Ficquelmont in der Sitzung vom 4. April 1848 25. Daß der Erzherzog ein Exponent des liberalen Flügels der Hofpartei war, mag die Anerkennung erleichtert haben. Mit der Hilfsbedürftigkeit Kaiser Ferdinands allein wäre sie ungenügend motiviert. Jedes Protokoll seit dem 1. April 1848 und jeder Vortrag des Ministerrates wurden vom Ministerpräsidenten Sr. kaiserlichen Hoheit zugesendet. Diese versah sie mit einem „vidi“ oder „gesehen und vollkommen einverstanden“. Erst dann gelangten sie im Wege des dazu berufenen Konferenzialbüros in das Kabinett und zum Vortrag beim Kaiser.

Es ist von Interesse, in diesem Zusammenhang an einen Vorschlag Kübecks zur Aktivierung der Staatskonferenz aus dem Jahre 1840 zu erinnern, der seinerzeit von Metternich nicht verwirklicht worden istc . Franz Karl sollte an die Spitze des Staatsrates und der Staatskonferenz in der Art gestellt werden, daß alle Geschäfte sich in ihm konzentrierten und erst durch ihn an den Herrscher — das war in der damaligen Situation stellvertretend Erzherzog Ludwig — gelangten. Möglicherweise stand dieser Gedanke mit Pate, als nun die Ministerratsprotokolle dem Thronfolger vor der kaiserlichen Sanktion zur Einsicht vorgelegt wurden. Franz Karl hatte wahrscheinlich zwei Funktionen zu erfüllen: Er sollte in der Nachfolge Erzherzog Ludwigs den Kaiser vertreten. In dieser Funktion schützte er || S. 22 PDF || u. a. den Kaiser vor Überraschungsangriffen des Ministerrates, indem er die Protokolle und die darin enthaltenen Anträge vor der kaiserlichen Sanktion prüfte. Außerdem sollte er aber wohl neben dem Kaiser ein Gegengewicht gegen den Ministerrat sein, den Anteil der monarchischen Gewalt an der Regierung gegen das ministerielle Vortragsrecht verstärkend. Franz Karl war daher auch ein suspensives Veto zugebilligt.

Dies war „die Übung“, und dabei konnte es nach Ansicht der Ministerrates sein Bewenden haben — „Se. kaiserliche Hoheit scheinen auch nichts anderes zu beabsichtigen26“. Schon zwei Tage später, am 6. April, beabsichtigten kaiserliche Hoheit aber anderes. Sie wünschten, „daß eine Verfügung getroffen werde und zur Öffentlichkeit gelange, wodurch sie als eine Person hingestellt werde, die auf die Staatsgeschäfte einen leitenden und Se. Majestät unterstützenden Einfluß nimmt27“. Der Ministerrat respektierte vorerst diesen Wunsch. Aber unter Mitwirkung des Ministerrates wurde im Juni 1848 der ganz konstitutionell gesinnte Erzherzog Johann zur Führung der Regierungsgeschäfte von Innsbruck nach Wien gesandt, womit Franz Karls Zensorentätigkeit unterbrochen wurde. Denn während der kurzen Regentschaft Erzherzog Johanns unterzeichnete nur dieser die Protokolle, ohne daß sie vorher Franz Karl und nachher dem Kaiser vorgelegt worden wären28. Gerade der Umstand, daß auf Initiative des Ministerrates hinsichtlich der Zurückstellung Franz Karls die Worte „um Meinen geliebten Bruder [Franz Karl] in Meiner jetzigen Lage an Meiner Seite zu behalten“, in die Proklamation vom 16. Juni eingeschoben wurden29, legt den Verdacht nahe, daß damit andere Motive verhüllt werden sollten. Die Wahl Johanns zum deutschen Reichsverweser beendete dieses Zwischenspiel. Nach der Rückkehr des Hofes nach Wien am 12. August rückte Franz Karl wieder in seine alte Stellung ein30. Täglich von 12 bis 13 Uhr kam er von Schönbrunn nach Wien, um die Minister zu empfangen31.

Neben diesen aus dem Vormärz fortbestehenden institutionellen Faktoren regierte auch eine Kamarilla. Nur in seltenen Fällen läßt sich der Umfang dieses privaten, außerhalb jeder Verantwortung stehenden Einflusses näher bestimmen. Am besten gelingt dies am Beispiel Baron Kübecks. Er hatte seine Berufung als Finanzminister ins Kabinett Kolowrat aus Gesundheitsgründen abgelehnt32. In seinem Schreiben an den bei der Besetzung der Ministerien federführenden ehemaligen Staats- und Konferenzminister Graf Hartig steht jedoch der interessante Satz: „Der zweifelhafte Zustand, in welchen der Finanzdienst durch meine || S. 23 PDF || Zwitterstellung gerät, kann für die Regierung sehr gefährlich werden.“ Was Kübeck als Zwitterstellung verstand, verdeutlicht sein Wunsch, statt seiner einen „verantwortlichen Nachfolger“ zu bestellen33. Dafür hat er auch Vorschläge unterbreitet, woraus wiederum verständlich wird, warum der Ministerrat vom 1. April 1848 so entschieden betont wissen wollte, daß „der Ministerrat auf die Allergnädigste Ernennung der ihn ergänzenden Mitglieder den wesentlichen Einfluß genommen habe34“. Vielleicht ist hier auch die Erklärung zu suchen, warum der Ministerrat keinen der drei von Kübeck und Hartig vorgeschlagenen Kandidaten, sondern Baron Philipp Krauß an Kübecks Stelle berief. Die Bedeutung dieses Gegenzuges wird erst klar, wenn man die Haltung Krauß’ während der Oktoberunruhen und seine noch näher darzustellende Position im Ministerium Schwarzenberg als Gegner des ständigen Reichsrates gebührend berücksichtigt. Nicht das „schwere Nervenfieber“ war die Ursache von Kübecks Abstinenz. Er wünschte sich vom konstitutionellen Ministerium zu distanzieren, wie auch sein Einfluß von diesem zurückgewiesen wurde. Das änderte sich mit der neuen politischen und personellen Konstellation ab Ende November 1848. Die Nachprüfung etwa des Hinweises Friedjungs, daß Kübeck 1848/49 „den Ministerberatungen über die Verfassung zugezogen“ wurde35, ergibt, daß sich der kranke Mann in einem Ausmaß wieder in die Staatsgeschäfte einschaltete, die mit seinem Wunsch vom März, definitiv oder zeitweilig von seiner Tätigkeit enthoben zu werden, in keinem rechten Einklang steht36.

Aber auch unter den geänderten Verhältnissen nach dem Regierungsantritt Franz Josephs war der Ministerrat bestrebt, selbst zu bestimmen, wem außerhalb seines Bereiches er Einfluß zubilligte. Die Bemerkungen des Fürsten Windischgrätz zum Verfassungsentwurf wies der Ministerrat z. B. zurück — ein „eigener Beamter des Ministeriums des Äußern“ wurde mit diesem Bescheid an den Fürsten gesandt37. Vorgreifend darf festgehalten werden, daß sich der Ministerrat unter Schwarzenberg ebenso gegen den Einfluß außerministerieller Instanzen wehrte, wie das unter den Ministerien Kolowrat bis Wessenberg der Fall gewesen war. Die Konkurrenz wurde nur nicht so offen ausgetragen und war durch vordringlichere Tagesprobleme überlagert. Mehr als zwei Jahre hindurch blieb der Kampf zwischen dem Ministerrat und dem privaten Beraterkreis des Kaisers — es wäre nicht übertrieben, von einer Nebenregierung zu sprechen — vertagt. An diesem Punkt setzte || S. 24 PDF || im Februar 1851 die Entwicklung wieder ein. Von da an sollte das Problem einer Regierungsinstanz zwischen Krone und Ministerrat die Geschichte des Ministerrates bis 1867 beherrschen.

Um die im Vergleich zu 1848 in dieser Frage zunächst erstaunlich passive Haltung des Ministerrates unter Schwarzenberg richtig zu beurteilen, muß untersucht werden, wie die Regierungsgewalt zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Kollegium der Ressortminister einerseits, dem Ministerrat und dem Herrscher andererseits verteilt war.

Es ist auffällig, daß die einschlägige Literatur bei der Untersuchung dieses Problems die Zeit von 1848 bis 1851 fast völlig ausklammert38. In dieser Periode des „Konstitutionalismus auf Widerruf“ war man nämlich einer juristischen Abgrenzung der Machtbefugnisse der obersten Regierungsorgane geflissentlich aus dem Weg gegangen. Der Hof war nicht gewillt und das Ministerium war zu schwach, politische Kompetenzen bindend festzulegen. Eine Auseinandersetzung darüber verbot sich, solange das Gespenst der demokratischen Revolution Ministerium und Thron gleichermaßen bedrohte. Aus dieser Situation erklärt sich der Umstand, daß es zwar Aktenstücke über die Organisierung der einzelnen Ministerien gibt, keines aber, das sich mit den Befugnissen des Ministerpräsidenten eigens befaßt39. Ähnlich ungeklärt blieb letztlich bis zum 9. Jänner 1852 die Rechtsstellung des Ministerrates selbst. Denn die Bestimmungen des nachträglich als „Statut“ bezeichneten Dokumentes vom 1. April 1848 waren vom Ministerrat selbst als bloße „Grundlinien“ ausdrücklich mit dem Charakter der Vorläufigkeit versehen worden, welche Vorläufigkeit, wohl gegen den Willen des Ministerrates, dann bis 1852 bestehenblieb.

Das Handschreiben vom 17. März 1848 bezeichnete als Kompetenz des Ministerpräsidenten den „Vorsitz“ im Ministerrat. Nach der Definition Fr. Tezners wäre damit nur eine koordinierend-organisatorische Aufgabe verbunden gewesen: „In dieser Kompetenz ist inbegriffen: Festsetzung der Gegenstände der Beratung, mögen sich dieselben aus der Initiative des Monarchen, aus der eigenen Initiative oder der Initiative der übrigen Minister ergeben, Leitung der Beratung, Verkündung des Stimmverhältnisses, Mitteilung des Ergebnisses der Beratung an den Monarchen und Einholung seiner Beschlüsse über den beratenen Gegenstand40.“ Aus der Praxis des Jahres 1848 lassen sich hinsichtlich der Stellung des Ministerpräsidenten einige dieses Urteil erweiternde Rückschlüsse ziehen.

Die Personalunion zwischen Ministerpräsident und Minister des Hauses und des Äußern war im Handschreiben vom 17. März 1848 nicht vorgesehen. Die ersten diesbezüglichen Kombinationen unter Ficquelmont und Wessenberg waren Zufalls- oder Verlegenheitslösungen. Schwarzenberg gab auf Grund seiner Persönlichkeit der Verbindung beider Ämter jene Bedeutung, die besonders || S. 25 PDF || seit 1867 dem Vorsitzenden des Ministerrates eine überlegene politische Stellung sicherte. Ein Gegenstück zu der berühmten preußischen Kabinettsorder vom 8. September 1852, die die politische Koordinierungskompetenz des preußischen Ministerpräsidenten sicherte, gab es in Österreich nicht41.

Immerhin wuchsen dem österreichischen Ministerpräsidenten aus der Geschäftspraxis einige Vorteile zu, die seinen Einfluß zunächst über den der Ministerkollegen erhoben. Ihm allein wurden die Ministerratsprotokolle vom Kanzleidirektor zunächst vorgelegt, und er hatte als einziger der Minister die Möglichkeit, auf die Formulierungen, die in den ersten Monaten ausschließlich das Werk der Protokollführer und des Kanzleidirektors waren, Einfluß zu nehmen. Wenn es zutrifft, daß die Protokolle — wie angenommen werden darf — nicht nur im Konzept, sondern auch in der Reinschrift dem Ministerpräsidenten vorgelegt worden sind42, hat nur Pillersdorf von dieser Möglichkeit nennenswerten Gebrauch gemacht, und zwar nur, soweit es sich um seine Ausführungen handelte43.

Ferner stand dem Präsidenten das Recht zu, die Protokolle zu signieren. Er handelte dabei zwar nicht kraft eines Amtes mit eigenem Rechtsbereich, gleichsam über den Ministern stehend, sondern im Namen des Ministerrates, „gemäß den gefaßten Beschlüssen des Ministerrates44“. Die anfangs mit der Signatur verbundene Formel lautete: „Diese Beschlüsse unterzieht der Ministerrat mit nachfolgendem der Ah. Genehmigung45.“ Doch konnte nur der Ministerpräsident, nicht ein anderer Ressortminister, dem Monarchen gegenüber im Namen der Gesamtregierung sprechen. Wenn daher ein anderer Minister in Stellvertretung für den Ministerpräsidenten unterzeichnete, mag nicht ohne Absicht die Formel „Für die Richtigkeit“ gewählt worden sein46. Wo ein Ministerpräsident, wie Wessenberg vom 10. August bis 15. September 1848, auf dieses Recht, die Gesamtregierung in seiner Person dem Kaiser gegenüber zu repräsentieren, verzichtete47, tangierte das wohl in keiner Weise die Funktion des Ministerpräsidenten, sondern hatte rein persönliche Motive. Verantwortung trug der Ministerpräsident für das Gesamtministerium und dessen Beschlüsse nicht. Nach dem Rücktritt eines Ministerpräsidenten wurde daher nie seine Unterschrift für jene Protokolle nachgeholt, die noch unter seiner Amtszeit und persönlichen Leitung abgehalten worden waren. Fast regelmäßig bei einem Regierungswechsel signierte der neue Präsident Protokolle von Sitzungen, die noch unter der Leitung, aber eben nicht unter der Verantwortung seines Vorgängers stattgefunden haben48. || S. 26 PDF || Die Signatur des Ministerpräsidenten ist demnach Ausdruck des Rechtes der kollektiven Gegenzeichnung und der Mittlerrolle zwischen der Regierung und dem Monarchen. Diesen Rechten entsprach nicht die Pflicht einer pauschalen Verantwortung. Diese trug der Ministerrat in seiner Gesamtheit49.

Das Prinzip der kollektiven Verantwortung aller Mitglieder des Ministerrates fand auch sehr bald seinen formalen Ausdruck, und zwar sehr augenfällig in der Einführung des „Zirkulandums“.

Dieses hatte formal in der Kanzleipraxis des Vormärz ein Vorbild, nämlich den „Abstimmungsbogen“. Mit ihm wurde zu bestimmten Vorträgen die Zustimmung verschiedener Ressorts eingeholt. Der Rechtsqualität nach unterschied sich aber das „Zirkulandum“ von diesem „Abstimmungsbogen“. Unter Doblhoffs stellvertretender Leitung wurde am 23. Juli 1848 zum erstenmal das Protokoll der Sitzung dieses Tages mit der Weisung „circulandum bei den Herren Ministern“ in Rundlauf gesetzt50. Ist dieser Schritt nur aus der besonderen Lage zu erklären, in der Doblhoff die Verantwortung auf alle Teilnehmer legen wollte — weder Wessenberg noch Erzherzog Johann konnten das Protokoll unterzeichnen —, oder sollte damit das allen Ministern zustehende Recht der Teilnahme an der Regierung zum Ausdruck gebracht werden51? Nur noch das folgende Protokoll vom 25. Juli 1848 entbehrte der Bestätigung aller Minister. Vom 10. August 1848 an blieb die Bestätigung der Minister ein fester Bestandteil der Protokolle. Auch wenn für diese Bestätigung nur die Formeln „zur hohen Einsicht52“ oder „zur hohen Revision53“ gebraucht wurden, so handelte es sich dabei doch um einen staatsrechtlichen Akt, um den aktenmäßigen Ausdruck der „Teilnahme an den Anträgen und Beschlüssen54“, welche der Ah. Sanktion unterzogen wurden.

Aus der Möglichkeit, ins Protokoll Einsicht zu nehmen, verbunden mit der Pflicht, für die darin festgelegten Beschlüsse zu haften, folgte für die Minister die Notwendigkeit zu kontrollieren, ob das Protokoll ihre Stellungnahme auch richtig wiedergibt, und, wo dies nicht der Fall ist, zu korrigieren55. 1848 prüften die Minister nicht nur die protokollarische Formulierung ihrer eigenen Aussagen, sondern auch die ihrer Kollegen. Die Korrekturen sind daher gelegentlich Fortsetzungen der Debatte im Ministerrat56. Die in ihrem Umfang stark schwankenden Ministerkorrekturen bilden bis 1867 || S. 27 PDF || ein wichtiges Indiz einerseits für den Grad der verantwortlichen Anteilnahme, den die Minister an der Regierung nahmen, andererseits für die Präzision der protokollarischen Wiedergabe der Verhandlungen.

Der Mantelbogen, auf dem die Minister ihre Einsicht bestätigten, hatte den Charakter eines Dokumentes: er wurde mit ganz wenigen Ausnahmen nur den Ministern zugesendet, d. h. nicht allen auf einer gesonderten Liste verzeichneten Anwesenden. Vor der Einführung des Zirkulandums erfüllte die Liste der gegenwärtigen und abwesenden Minister die Funktion, die an den Beschlüssen Mitverantwortlichen zu bezeichnen. Daraus erklärt sich der Unterschied zwischen den Anwesenheitslisten vor und nach dem Protokoll vom 23. Juli 1848. Wenn vor diesem Zeitpunkt die Hofräte Klezansky57 oder Komers58 dem Ministerrat beigezogen wurden, erschien ihr Name nicht in der Anwesenheitsliste. Gerade die Ausnahmen von dieser Regel — etwa Freiherr v. Lebzeltern als provisorischer Leiter des Ministeriums des Äußern59 und FML. Freiherr v. Welden60 — zeigen, daß die Anwesenheitsliste vor dem 23. Juli 1848 alle verantwortlichen Teilnehmer am Ministerrat bezeichnete. Nach dem 23. Juli erfaßte die „Liste der Gegenwärtigen“ alle tatsächlich Anwesenden, das Verzeichnis des Mantelbogens („Zur Einsicht“) nur die stimmführenden Teilnehmer. Minister bestätigten auch dann in wichtigen Fragen ihre Einsicht, d. h. ihre Teilnahme an den Beschlüssen, wenn sie nicht an der Sitzung teilgenommen hatten. Die Kanzlei des Ministerrates vermerkte die Kenntnisnahme des Ministers auch dann mit „vidit“ oder „Se. Exzellenz haben von diesem Protokoll Einsicht genommen“, wenn der Minister selbst diese nicht bestätigte. Das ist unter anderem ein Zeugnis dafür, wie ernst der Ministerrat des Jahres 1848 seine konstitutionellen Rechte nahm, an der Regierung als gleich wesentlich neben dem Monarchen mitzuwirken.

Zu den Bemühungen, dieses Mitwirkungsrecht zu wahren, gehören der Kampf um die Formel „nach Anhörung und über Antrag der Minister61“ sowie das Verlangen, daß Ah. Kabinettsschreiben „vor der Ah. Unterschrift von dem betroffenen Minister zu kontrasignieren“ wären62.

Da sich der Ministerrat 1848 nicht als eine Versammlung von Ressortministern, sondern als einheitliches Organ betrachtete, war das Problem der Abstimmung zunächst überhaupt nicht gestellt. Einstimmigkeit im Ministerrat, d. h. allgemeine Übereinstimmung nach erfolgter Beratung, war, bevor unter Schwarzenberg das Prinzip der Mehrstimmigkeit praktiziert wurde63, || S. 28 PDF || selbstverständliche Voraussetzung dieser Einheit — das Statut vom 1. April 1848 spricht von „gemeinschaftlichen Anträgen oder Beschlüssen“ des Ministerrates64. Über die Rangordnung der Minister untereinander gibt die Liste des Mantelbogens Aufschluß. Sie reihte die Minister zunächst nach der Bedeutung ihrer Portefeuilles. Sehr bald setzte sich aber gegen diesen Grundsatz die Anciennität als Kriterium für die Bestimmung des Ranges, der einem Minister zustand, durch.

Was der Ministerrat als der eine Teil der konstitutionellen Regierungsgewalt beschlossen hatte, wurde zur Erlangung der Rechtsgültigkeit vom Präsidenten dem Monarchen zur Sanktion unterbreitet. Nicht die Ministerratsprotokolle selbst, sondern nur die in ihnen beantragten Beschlüsse waren vorerst Gegenstand der kaiserlichen Sanktion. Die Protokolle als solche waren ein rechtlich unverbindlicher Teil des Geschäftsverkehrs zwischen der Regierung und dem Monarchen. Sogar in der sprachlichen Formulierung tragen sie mit dem Gebrauch der direkten Anrede an den Herrscher den Stempel der bloßen Mitteilung. Sie sind im Stil eines Vortrages an „Ew. Majestät“ verfaßt65. Ausgesprochener Zweck der Protokolle war es, den Kaiser „vom Gang der Regierungsgeschäfte in Kenntnis zu erhalten66“, was bezeugtermaßen täglich der Fall gewesen ist oder zumindest sein sollte67. Nur was infolge der Ministerratsbeschlüsse einer Ah. Entschließung bedurfte, faßte der Protokollführer oder der Kanzleidirektor in „Erledigungs-“ oder „Resolutionsentwürfe“, die der Ministerpräsident als Teile des Protokolls dem Kaiser als Empfehlung unterbreitete: „Für den Fall Ew. Majestät die in dem vorstehenden Ministerratsprotokoll au. Anträge zu 6, 7 und 9 der Ah. Genehmigung zu würdigen geruhen, erlaube ich mir, die entsprechenden Erlässe auf der Nebenspalte der Ah. Sanktion zu unterziehen68“; oder: „Der obenerwähnten Erklärung dürfte der nachstehende Erledigungsentwurf entsprechen69.“ Von allem Anfang an war es notwendig, einzelne dringende Entscheidungen vom Kaiser gesondert einzuholen. Schon am 19. April 1848 wurden alle Resolutionsentwürfe gesondert vom Protokoll behandelt70. Dieses Protokoll blieb ohne kaiserliche Unterschrift, weil sie dort gegenstandslos gewesen wäre.

Die Protokolle vom 22. und 23. April 1848 tragen zum erstenmal den Vermerk: „Dient zur Kenntnis. Ferdinand71.“ Mit der zunehmenden Zahl von Protokollen, die keine Ah. Entschließung ausdrücklich beantragten, entwickelte sich die stereotype Formel: || S. 29 PDF || „Ich nehme den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis.“ Sie bleibt bis 1918 mit der im neuen Zusammenhang eigentlich sinnlosen Rubrikbezeichnung A[llerhöchste]. E[ntschließung]. verbunden. Obwohl diese Form der Signatur des Herrschers nicht mehr die Genehmigung der Beschlüsse, sondern nur noch die Kenntnisnahme der Protokolle ausdrückt, ist auch ihr eine politisch-rechtliche Bedeutung beizumessen. Sie ist der zweite Teil der im konstitutionellen Sinne rechtsgültigen Regierungshandlung, durch sie wird das Sitzungsprotokoll zum Regierungsdokument, wie ein Gesetzentwurf durch die Sanktion zum Gesetz wird. Die Frage, in welchem Ausmaß der Kaiser auch Ministerratsprotokolle nicht zur Kenntnis genommen hat, kann nicht beantwortet werden, weil solche Protokolle wahrscheinlich nicht mehr in das Ministerratsbüro zurückgelangten72.

Wohl im Anschluß an vormärzliche Kanzleitraditionen, aber doch als Ausdruck und in Anwendung eines neuen Verfassungsprinzips hatte sich im Jahre 1848 ein Regierungsstil herausgebildet, der auch in seinen äußeren Formen den Willen des Ministeriums dokumentierte, verantwortlich mitzuregieren. Die Rechtslage, wie sie sich dem neuen Herrscher und dem neuen Ministerium im November 1848 präsentierte, war ein Kompromiß zwischen Absolutismus und Konstitutionalismus. Gefördert durch die Revolution, teilweise sogar mit ihr im Bündnis, hatten die Minister selbst den Ministerrat als ein Organ geschaffen, das einen Teil der Regierungsgewalt für sich in Anspruch nahm. Und dieser Anspruch mußte gegen die ursprünglichen Absichten des Hofes durchgesetzt werden. Das Urteil, daß der Hof irgendwann während der Revolution „sehr entschieden auf die konstitutionelle Linie einschwenkte73“, trifft doch nur die Taktik, nicht das Wesen der Politik des Hofes, nur deren offizielle Seite, nicht die Absicht, die dahinter stand. Da sich diese Absicht nicht wesentlich änderte, waren die konstitutionellen Rechte, die sich der Ministerrat errungen hatte, nur vorläufige Zugeständnisse.

Das Symbol dieser Vorläufigkeit blieb die bis August 1851 ungeklärte Frage der Ministerverantwortlichkeit. Nicht einmal für die Theorie, geschweige denn für die Praxis gilt, daß mit dem Ministerialsystem auch das Prinzip der Verantwortlichkeit in Österreich zur Geltung gekommen ist74. Keine der für die Beurteilung dieser Frage in Betracht zu ziehenden Bestimmungen gibt nämlich der grundsätzlich anerkannten Ministerverantwortlichkeit eine inhaltliche Abgrenzung. So blieb das Entscheidende, nämlich die politische Tragweite des Zugeständnisses, Undefiniert. Sowohl die April- wie die Märzverfassung behalten die nähere Bestimmung der Verantwortlichkeit einem späteren Gesetz vor75. Im Handschreiben vom 17. März 1848 ist der Terminus nicht im Sinne konstitutioneller Verantwortlichkeit gebraucht — die Zusage der Staatskonferenz, einen verantwortlichen Ministerrat zu bilden, war damit ausdrücklich zurückgenommen, oder besser gesagt, || S. 30 PDF || sie entlarvte sich als Scheinkonzession76. Die spärlichen Hinweise auf das Selbstverständnis der Minister liegen auf der Linie des zwar politisch bedeutsamen, rechtlich aber unverbindlichen Kremsierer Verfassungsentwurfes. Dieser betrachtet Minister und Monarch gleichermaßen als der Verfassung verantwortlich77. Verantwortlichkeit gegenüber einer Volksvertretung lag wohl als Forderung der konstitutionellen Bewegung zugrunde, eine klare Feststellung des Verhältnisses zwischen Ministerrat und Reichsvertretung unterblieb aber.

Im ganzen gesehen, war hier offensichtlich die Lösung einer zentralen Frage vertagt. An diesen wundesten Punkt des konstitutionellen Zwischenspiels konnte Kaiser Franz Joseph 1851 anknüpfen und erklären: „Lieber Fürst Schwarzenberg. Da die dermalen ausgesprochene Verantwortlichkeit des Ministeriums einer gesetzlichen Deutlichkeit und jeder genauen Beziehung ermangelt, so fühle ich Mich durch Meine Regentenpflicht bestimmt, das Ministerium aus seinen zweifelhaften politischen Beziehungen in die ihm als Meinem Rate und obersten Vollziehungsorgan zustehende gehörige Stellung zu bringen, dasselbe als allein und ausschließlich gegenüber dem Monarchen und dem Throne verantwortlich zu erklären und es der Verantwortlichkeit gegenüber jeder anderen politischen Autorität zu entheben78.“ Entspringt dieses in der Präambel zu dem Handschreiben vom 20. August 1851 ausgesprochene Motiv über die Notwendigkeit einer Definition der Ministerverantwortlichkeit der einseitigen Auffassung Franz Josephs von der vorherigen Stellung des Ministeriums oder teilte die Regierung Schwarzenberg ebenfalls diesen Standpunkt? Wenn ja, dann ist die Frage zu stellen: Wann hatte es sich zu dieser Absage an die von den Ministerien des Jahres 1848 doch mehr oder weniger verteidigten konstitutionellen Prinzipien entschlossen, schon im Herbst 1848 oder erst im Sommer 1851, und unter welchen näheren Umständen hat der Ministerrat den Schritt von 1851 zum Absolutismus mitgemacht? Diese Detailfrage rührt an einen zentralen Punkt der österreichischen Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts schlechthin. Weder in der Revolution noch in der Ära des politischen Liberalismus, sondern 1851, im damaligen Kampf des Ministeriums mit der Krone, fiel die Entscheidung, ob Österreich ein moderner Staat zu werden imstande war. Die moderne Alternative war dabei nicht, wie es den meisten Zeitgenossen und den liberalen Historikern vom Schlage Redlichs, Friedjungs, Charmatz’ und Schlitters schien, identisch mit dem Achtundvierziger-Liberalismus. Auch der Konservativismus, wie ihn das || S. 31 PDF || Ministerium Schwarzenberg verkörperte, bot sich als Alternative zum monarchischen Absolutismus an. Allerdings ist es nicht leicht, die politische Position des Schwarzenbergschen Konservativismus näher zu bestimmen. In teilweisem Widerspruch zu der gängigen Beurteilung der Regierung Schwarzenberg läßt sich die These vertreten, daß das Ministerium sogar über die Wende von 1851 hinaus durchaus als Erbe und nicht als Überwinder der Politik des Ministerrates von 1848 anzusprechen ist. Der latente Gegensatz zwischen Ministerrat und Monarch blieb bestehen. Er wurde nur nicht in spektakulären Formen ausgetragen und hat nur in Spuren, allerdings in sehr deutlichen, im Bereich aktenmäßiger Überlieferung einen Niederschlag gefunden. Dafür ist vornehmlich der Umstand maßgeblich gewesen, daß die politische Lage nach der Revolution Ministerrat und Thron zu einem Zusammenwirken zwang. Gegenüber dem nach außen hin augenfälligen gemeinsamen Kampf gegen die Revolution darf aber die parallellaufende Spannung zwischen dem Ministerium und dem Monarchen nicht übersehen werden — nicht mehr und nicht weniger dürfte dem aus Furcht und Haß genährten Urteil Kübecks an Wahrheitsgehalt zuzumessen sein, das dieser 1852 über das Ministerium Schwarzenberg fällte: „Die Regierungsmänner, welche aus dem Jahre 1848 hervorgegangen sind und den verjüngten Thron umgeben, haben den niederen Geist in die Regierung gebracht, der überall und in allen Dingen neue Gestaltungen hervorrief79.“ Dabei ist selbstverständlich zwischen der Politik des Ministeriums in seiner Gesamtheit und der des Ministerpräsidenten zu unterscheiden. Immerhin aber hat Schwarzenberg an seinem „Koalitionsministerium“, das Hübner so perhorreszierte und dem Fürsten widerraten hatte, bis zuletzt festgehalten. Zur „liberalen“ Mehrheit des konservativen Ministeriums Schwarzenberg gehörten neben Stadion und Bach auch Thun und die Brüder Krauß, der Justizminister Karl sowie Philipp, der „liebenswürdige, fromme und unerschrockene Finanzminister80“. Jeder in einem anderen persönlichen Stil, waren sie im Grunde doch politisch ebenso „charakterlos“, wie man es Bach nachzusagen pflegt —, sie schwankten zwischen einer fortschrittlichen und einer reaktionären Politik. Sie waren z. B. einerseits entschlossen, den nach der Volkssouveränität greifenden Reichstag zu liquidieren, wollten aber andererseits wie ihr Kritiker Hübner dann sofort mit dem „Aufbau freiheitlicher Institutionen81“ beginnen. Diese ihre unentschlossene Haltung genügt aber doch, diese Art von Konservativismus von der anderen, die dem Neoabsolutismus als Ideologie zugrunde lag und u. a. durch Kübeck verkörpert wurde, als liberal abzugrenzen.

Und das alles dürfte, obwohl direkte Aussagen dazu schwer beizubringen sind, auch für Schwarzenberg persönlich gelten. Die These H. Schlitters82, daß die Aufhebung der Verfassung ein persönliches oder zumindest persönlich gutgeheißenes || S. 32 PDF || Werk Schwarzenbergs gewesen sei, ist problematisch. Ein Teil der von Schlitter vorgebrachten Argumente ist quellenkritisch unhaltbar83. Der Ultraliberalen Redlich und Charmatz kritisches Urteil84 ist durch die vorsichtig abwägende Untersuchung Walters dahingehend modifiziert worden, daß Schwarzenberg zu Beginn seiner Regierung im Einklang mit seinen liberal-konstitutionellen Ministerkollegen Philipp v. Krauß, Bruck, Bach und Stadion einer Konstitutionalisierung Österreichs durchaus nicht abgeneigt gewesen zu sein scheint85. Dabei ist vielleicht die Klage Hübners, daß Schwarzenberg in entscheidenden politischen Fragen der Meinung des liberalen Flügels seines Koalitionskabinetts beipflichtete86, noch zuwenig berücksichtigt. Vor allem bedarf die These Walters von der „Bekehrung“ Schwarzenbergs vom Konstitutionalismus der Ergänzung, daß der allein unwandelbare Grundsatz Schwarzenbergs war, daß Politik die Kunst des Möglichen ist. Bei der Beurteilung der Politik Schwarzenbergs in der Verfassungsfrage wird vielfach der fundamentale Umstand übersehen, daß das Werk des Fürsten unvollendet geblieben ist. Aus dem Ergebnis seiner Regierung kann daher nicht auf die Ziele des Ministerpräsidenten und seines Ministeriums geschlossen werden, noch dazu, da dieses Ergebnis ausschließlich durch eine kaiserliche Entscheidung präjudiziert worden war. Nur von Kaiser Franz Joseph dürfte sich mit einiger Sicherheit sagen lassen, daß er schon 1848 entschlossen war, zum Absolutismus zurückzukehren87. Es war für den Ministerrat aber kaum möglich, dem ersten Schritt des Kaisers in diese Richtung sofort und entschieden Widerstand entgegenzusetzen. Aber in der Anwendung der diffizileren Mittel der Opposition, der Verzögerung und bedingten Annahme, war man wenig zurückhaltend, insbesondere bei der Beratung über das Reichsratsstatut.

Seit dem 16. Dezember 1850 tagte die „Kommission zur Konstituierung des Reichsrates“. Versuche des Ministerrates, auf die Verhandlungen dieser Kommission einen Einfluß zu erlangen, blieben erfolglos. Der Finanzminister Philipp v. Krauß hatte im Ministerrat vom 2. Dezember 1850 vergeblich vorgeschlagen, daß „das Ministerium selbst sich zuerst über die Grundsätze vereinige, nach welchen die Zusammensetzung des Reichsrates und der Wirkungskreis desselben eingerichtet werden sollte88“. Ohne Mitsprache des Ministerrates war dann das Statut für den Reichsrat ausgearbeitet worden. Es lag dem Ministerrat am 1. Februar 1851 zur Stellungnahme vor89. Bach, der noch im Ministerrat vom 2. Dezember 1850 für die „sorgfältige Begrenzung“ der Wirksamkeit des Reichsrates eingetreten || S. 33 PDF || war, hatte sich mittlerweile Kübeck angeschlossen — nur unter dieser einschränkenden Voraussetzung ist sein Plädoyer im Ministerrat vom 1. Februar für das Reichsratsstatut zu werten90. Die damit einsetzende Diskussion konzentrierte sich auf die „prinzipielle Frage“, ob der Reichsrat auch direkt vom Kaiser oder nur über Vermittlung des Ministerrates zu der ihm zugedachten begutachtenden Tätigkeit aufgefordert werden könnte91. Bach vertrat den Standpunkt, daß es dem Kaiser freistehen müsse, den Reichsrat unmittelbar oder durch den Ministerrat zur Tätigkeit aufzufordern. Ohne seine Stellungnahme näher zu präzisieren, einigte sich der Ministerrat „in diesem Sinne“. Aber bereits über die nächste „prinzipielle Frage“ — sie berührte nicht mehr die Souveränität des Monarchen — gingen die Meinungen entschieden auseinander: „mußte“ der Reichsrat über „alle“ Gesetze und Verfügungen gehört werden, damit sie gesetzliche Geltung erlangten? Obwohl der Kommissionsentwurf das Problem in dieser Schärfe nicht formuliert hatte92, erkannte der Ministerrat, was beabsichtigt war. Die wechselnde Parteinahme der Minister für und wider den einschlägigen § 7 zeigt, daß sie in ihrer Mehrzahl im Ministerrat nicht ihre Meinung unverhohlen aussprachen, sondern ihre Segel nach dem Winde richteten, der vom Kaiser her wehte. Schwarzenberg war bereit — so bezeugt das Protokoll vom 1. Februar 1851 —, eine neue Fassung der §§ 7 und 8 in Antrag zu bringen, eben auf Grund der von den Ministern vorgebrachten Einwände. Trotzdem lautete der § 7 der daraufhin „zwischen den Präsidenten des Ministerrates und des Reichsrates getroffenen Vereinbarung93“ (unter Mißachtung des Entwurfs des Ministerkomitees vom 10./11. Februar): „Der Reichsrat wird in allen Fragen der Gesetzgebung gehört und die Anhörung desselben in der Kundmachung der Gesetze erwähnt.“ Schwarzenberg hatte sich gegen Kübeck im Grunde nicht durchsetzen können. Oder wollte er das gar nicht? Die Frage muß vorläufig offenbleiben.

Bei der Diskussion des sogenannten Schwarzenberg-Kübeckschen Entwurfes sprachen sich nur die Minister Kulmer und Schwarzenberg für die proponierte Textierung aus. Die übrigen Stimmen94 kamen jedoch im Grundsatz darin überein, „daß eine unbedingte Nötigung zur Anhörung des Reichsrates in allen Gesetzesfragen ohne Ausnahme weder den Ah. Absichten Sr. Majestät noch den Bedürfnissen des Ah. Dienstes entsprechen dürfte95“. Die Mehrheit entschied || S. 34 PDF || sich für eine Rückkehr zum Grundsatz des § 96 der Märzverfassung96. Der Reichsrat sollte nur dann und darin gehört werden, wo er um sein Gutachten „angegangen“ würde, „ein Ausspruch, der es der vollziehenden Gewalt frei läßt, zu bestimmen, über welche Gegenstände sie den Reichsrat vernehmen wolle97“. Doch unterschieden die Minister offenbar zwischen ihrer kundgegebenen Meinung und ihrer Entscheidung. Bei der Abstimmung erhielt keiner der Vorschläge eine Majorität. „Wegen vorgerückter Stunde“ mußte die Beratung unterbrochen werden. Am folgenden Tag kam dann eine Einigung zustande: „Der Hauptberuf des Reichsrates besteht in der Begutachtung der Gesetzesentwürfe, und es wird der Anhörung desselben in der Kundmachung der von ihm begutachteten Gesetze Erwähnung geschehen98.“ Darüber hinaus sprach sich Schwarzenberg nun wieder für eine „Beschränkung“ der Konsultationspflicht im Falle dringlicher Fälle aus.

Am 3. März 1851 warf der Kaiser seine Willensentscheidung in die Waagschale zugunsten des Reichsrates: „Se. Majestät geruhten sich für die unveränderte Beibehaltung des § 2 auszusprechen99.“ Erstaunlicherweise erhob sich erst nach und trotz der kaiserlichen Entscheidung die Opposition im Ministerrat zu unerwarteter Schärfe. Das Protokoll vom 5. März 1851 legt davon Zeugnis ab100: „Der Finanzminister, welcher aus schuldigem Gehorsam gegen die kaiserlichen Befehle Sr. Majestät das Patent über das Reichsratsstatut unterfertigt hat, glaubte nichtsdestoweniger das Bedenken erheben zu müssen, ob dasselbe, nachdem es nach der Redaktion des Ministerpräsidenten und des Reichsratspräsidenten in einigen wesentlichen Punkten gegen die Anträge des Ministerrates abgefaßt ist, auch von sämtlichen Ministern zu unterfertigen sei.“ Der Justizminister v. Krauß bemerkte, daß das Statut, „die Stellung des Ministerrates und des Reichsrates verwechselnd, nach Anhörung des ersteren über Antrag des Präsidenten des letzteren“ erlassen worden sei101. Der Handelsminister Bruck schlug vor, „unter diesen Umständen“ das Patent bloß vom Ministerpräsidenten kontrasignieren zu lassen. Der Ministerpräsident behielt sich hierüber die weitere Äußerung vor. Stellt man die Entschärfung der Debatte durch das Protokoll in Rechnung, kann man mit einiger Berechtigung von einer Revolution im Ministerrat sprechen.

Den Ministerrat ganz beiseite zu schieben, wagte Franz Joseph aber denn doch nicht. Formal hat sich der Kaiser auch weiterhin an das bestehende Recht gehalten. Er hat das Statut am 10. März 1851 noch einmal zur Entscheidung vorgelegt, von der allerdings ganz offenkundig ist, daß sie mehr oder weniger erzwungen || S. 35 PDF || war102. Selbst Schwarzenberg, der bis dahin nach außen den Vermittler gespielt hatte, fand es an der Zeit, zu erklären, wo die Verantwortung für die Entscheidung gelegen hatte. Er eröffnete dem Ministerrat „den unabänderlichen Beschluß Sr. Majestät“, den Reichsrat nach dem zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Präsidenten des Reichsrates vereinbarten Entwurf in Ausführung bringen zu lassen. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf diesen „Umstand“ empfahl Schwarzenberg das Statut zur Annahme. Schwarzenberg hoffte, dafür vom Kaiser einhandeln zu können, das Patent nicht, wie beabsichtigt, mit der Formel „nach Anhörung Unseres Ministerrates“, sondern, wie bis dahin üblich, „über Antrag Unseres Ministerrates“ zu verkünden. Dann gab Schwarzenberg zu verstehen, daß er nicht viel von diesen theoretischen Bestimmungen halte, sondern mehr auf die tatsächliche Macht vertraue: „Sollte der Reichsrat seine Stellung und Aufgabe verkennen“, würde er, der Ministerpräsident, die entsprechenden Änderungen beantragen. Den Vorteil der Macht aber glaubte Schwarzenberg noch sicher auf seiner Seite zu haben. Trotz dieser Versicherungen des Ministerpräsidenten und trotz der kaiserlichen Vorentscheidung war in dieser achten und letzten, erst über das Statut entscheidenden Ministerratssitzung vom 10. März keine Mehrheit für den Antrag zu gewinnen. Nur die Minister Thinnfeld, Kulmer und Csorich schlossen sich Schwarzenberg an. Der Justizminister Karl Ritter v. Krauß erklärte, dem Entwurf nicht beistimmen zu können, weil er besorgte, „daß dadurch die verantwortlichen Minister in die Stellung von Präsidenten der ehemaligen Hofstellen zurückversetzt, über sich den Reichsrat die Wirksamkeit des einstigen Staatsrates einnehmend, und sich dadurch außer Stande sehen würden, Sr. Majestät und dem Vaterlande nützlich zu sein“. Daß aus diesem Votum das Wort „Vaterland“ von unbekannter Hand aus dem Protokoll getilgt wurde, ist ein vielsagendes Detail. Auch Thun, Bruck und der Finanzminister Freiherr Philipp v. Krauß entschieden sich gegen den Entwurf. Sie erklärten sich aber bereit, „wenn die Majorität des Ministerrates sich für das Statut erklären sollte, dem Ah. Ausspruche des Monarchen und der Mehrheit sich zu fügen103“. So kam bei der Abstimmung alles auf die Haltung Bachs an — der war aber „inzwischen zu Sr. Majestät berufen worden“. Am folgenden Tag gab Bach seine Stimme für das Statut ab104. Ab nun wirkte „gleichberechtigt“ neben dem Ministerrat der Reichsrat. § 3 von dessen Statuts besagte: „Seine [des Reichsrates] Stellung zu unserem Ministerium ist jene der Nebenordnung105.“

Auf dieser Basis war an eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Ministerrat und Reichsrat nicht zu denken. Nur zweimal, am 11. und am 12. Mai 1851, wurde der Versuch unternommen, einen Ministerrat „unter dem Vorsitz des Ministerpräsidenten“ und „unter Beisein des Reichsratspräsidenten“ abzuhalten106. Das || S. 36 PDF || entsprach nicht ganz den Intentionen Kübecks. Er hatte nicht die Absicht, im Ministerrat mitzubestimmen, er gestand zu, daß seine Meinung „keine zählende Stimmberechtigung einschließt107“. Nicht eine Beeinflussung oder gar Auflösung des Ministerrates war Kübecks Ziel. Aber entscheidend für die Beschlüsse des Kaisers sollte der Reichsrat werden. Schon am 13. Mai mußte der Kaiser selbst die Leitung im Ministerrat übernehmen108. Sowohl Schwarzenberg wie Kübeck blieben der Sitzung fern, was sicher kein Zufall war. Zum erstenmal wurde ein vom Ministerrat vorgeschlagenes und vom Reichsrat begutachtetes Gesetz beraten. Dem Gegenstande völlig unangemessen — es handelte sich um ein Patent über die Beschränkung der Papiergeldemission —, hatte sich sofort eine Debatte über die prinzipielle Frage der Gewaltenteilung zwischen Ministerrat und Reichsrat entsponnen. Kübeck sprach von den „beiden obersten Regierungsorganen109“. Freiherr v. Krauß war von seinem Antrag, der die Mehrheit im Ministerrat erhalten hatte, zurückgetreten, „um nicht schon bei diesem Anlaß mit dem erst unlängst ins Leben gerufenen Reichsrat in Konflikt zu geraten110“. Thun verwahrte sich entschieden gegen die von Kübeck vertretenen Ansichten über die Stellung der beiden Regierungsorgane zueinander: „Bei den am 11. und 12. 1. M. stattgehabten Beratungen des Ministerrates hat sich deutlich herausgestellt, daß die Regierung Sr. Majestät in eine ihre freie Entschließung beengende Zwangslage geraten war.“ Er protestierte gegen „Umstände, welche dem Ministerrat nur die Wahl ließen, dem Antrag des Reichsrates sogleich und auch der Form nach unbedingt beizutreten ... Diese Zwangslage des Ministerrates, deren Wirkung sich selbst auf die Ah. Entschließung Sr. Majestät erstreckt, geht meines Erachtens aus dem Umstande hervor, daß der Vorgang des Reichsrates in dieser Angelegenheit den Bestimmungen des Statuts nicht ganz entsprochen hat. Nach § 9 und § 10 des Statuts ist es die Aufgabe des Reichsrates, über die an ihn geleiteten ausgearbeiteten Entwürfe des Ministeriums sein Gutachten abzugeben, wobei ihm allerdings freisteht, seine Ansicht auch in die Form von Anträgen zu kleiden; er hat allerdings keinerlei Initiative in der Vorlegung von Gesetzes- oder Verordnungsvorschlägen111“.

Nach diesem mißglückten Versuch einer direkten Zusammenarbeit im Rahmen des Ministerrates reduzierten sich die Geschäftsbeziehungen zwischen Ministerrat und Reichsrat auf den Austausch von Schriftstücken. Dem Reichsratspräsidenten wurden einschlägige Teile der Ministerratsprotokolle in Abschrift von der Ministerratskanzlei zugestellt112. Umgekehrt teilte der Ministerpräsident die „Noten“ des Reichsratspräsidenten mit den Vorschlägen des Reichsrates im Ministerrat mit. Der Ministerrat stimmte zu bzw. änderte diese Vorschläge, um || S. 37 PDF || „hiernach Sr. Majestät die au. Vorträge zu erstatten113“. Bei dieser Prozedur mußte Kübeck gewahr werden, daß der Ministerpräsident sehr wohl auf die Vorrangstellung des Ministerrates bedacht war. Schwarzenberg hatte nur erlaubt, daß die Ministerratsprotokolle dem Reichsratspräsidenten inoffiziell, auf kurzem Wege, zugestellt wurden. Kübeck genügte es aber nicht, daß die Protokolle „durch die Gefälligkeit“ Schwarzenbergs an den Reichsrat gelangten. Er verlangte, gestützt auf die §§ 7 und 11 des Reichsratsstatuts vom 13. April 1851, die Übersendung „im ämtlichen Wege114“. Dagegen erhielt der Direktor der Ministerratskanzlei, Ransonnet, die Weisung, „daß die Abschriften der Ministerratsprotokolle über reichsrätliche Gutachten erst dann an den Reichsratspräsidenten zu leiten seien, wenn der diesbezügliche au. Antrag des Ministerrates durch eine Ah. Entschließung erledigt ist115“. Ungeachtet des tatsächlichen Einflusses, den der Reichsrat und besonders Kübeck persönlich auf den Monarchen gewannen, hatte sich der Ministerrat wenigstens im Bereich der regulären Regierungstätigkeit das letzte Wort, d. h. die letzte Entscheidung gesichert.

Als bleibendes Ergebnis der Rivalität zwischen Ministerrat und Reichsrat ist ein entscheidender Wandel im Verhandlungsstil des Ministerrates festzustellen. Die Mittlerrolle, die dem Kaiser zwischen den beiden miteinander rivalisierenden Institutionen zugefallen war, weiters die Machteinbuße, die der Ministerrat erlitten hatte, zeitigten praktische Folgen. Franz Joseph übernahm höchstpersönlich den Vorsitz im Ministerrat. Aus den näheren Umständen, aus denen sich die Notwendigkeit und die Möglichkeit dieser Neuerung ergaben, beantwortet sich von selbst die Frage, ob es sich dabei um eine Aufwertung des Ministerrates oder um ein Einschreiten gegen dessen Unbotmäßigkeit handelte.

In den Wirren des Jahres 1848 berieten die Minister mit dem Kaiser bzw. dessen Stellvertreter in der Regel außerhalb des Ministerrates116. Franz Joseph hat seit Beginn seiner Regierung Ministerratssitzungen beigewohnt117. Für die Dauer der Anwesenheit des Kaisers in Olmütz wurde auf Vorschlag des Ministerpräsidenten ein Tag festgelegt, an dem die „in Anwesenheit Sr. Majestät zu haltenden Sitzungen“ stattfinden sollten118. Das war aber eine rein verwaltungstechnische Vorkehrung: die „der Ah. Resolution bedürfenden, im Ministerrat vorkommenden Vorträge mit den Resolutionsentwürfen“ sollten dabei der kaiserlichen Schlußfassung unterbreitet werden. Dieser Plan fand aber keine konsequente Verwirklichung. Der Kaiser nahm nur gelegentlich an Sitzungen teil, || S. 38 PDF || meist nur während der Beratung einiger Tagesordnungspunkte. Zweck dieser Teilnahme war, „sich über die Motive und die Tragweite einzelner Anträge Aufklärung erstatten zu lassen119“; oder „Se. Majestät wünschten die Gründe näher erwogen zu sehen120“, die einem Antrag zugrunde lagen. Mit der Teilnahme am Ministerrat verband sich nie vor 1851 die Tendenz der direkten Einflußnahme, auch dann nicht, wenn sich der Kaiser an der Diskussion beteiligte. In genauer Entsprechung dazu verzeichnen die Titel der Protokolle in der Regel die „Ah. Anwesenheit“ oder das „Beisein Sr. Majestät“.

Der erste Ministerrat, der formal und tatsächlich „Unter dem Vorsitz Sr. Majestät des Kaisers“ verhandelte, fand am 10. Juni 1851 statt — zum erstenmal deckten sich hier Wort und Sache121. Der Kaiser leitet nun an Stelle des Präsidenten Beratungen, läßt Berichte vorlesen, die Minister in seinem Auftrage sprechen u. a. m. Er hört nicht mehr auf den Ministerrat, er macht selbst Vorschläge, erteilt im Ministerrat Weisungen. Es war daher kein Zufall, daß der Terminus „Unter dem Vorsitz Sr. Majestät des Kaisers“ durch eine zunächst vielleicht nur als rein technisch gedachte Neuerung in die Protokolle Eingang gefunden hat. Am 21. März 1851, eben waren die Kämpfe um den Reichsrat zu Ende gegangen, wurde zum erstenmal ein Formular benützt mit dem Vordruck „Unter dem Vorsitz122“. Handschriftlich wurde jeweils ergänzt: „des Ministerpräsidenten“ oder „Ah. Sr. Majestät des Kaisers123“. Da aber zur gleichen Zeit der Entschluß fiel, Ministerratssitzungen unter Ah. Vorsitz zur ständigen Einrichtung zu machen, lohnte es sich, auch eigene Vordrucke: „Protokoll des Ministerrates unter Ah. Vorsitz Sr. Majestät des Kaisers“ herzustellen. Das erste davon kam eben in dem erwähnten Ministerrat vom 10. Juni 1851 zur Anwendung.

So war die Entscheidung über die Entmachtung des Ministerrates eigentlich schon gefallen, bevor noch dem Ministerrat am 17. August 1851 die „Maßregeln zur angemessenen Stellung der Minister gegenüber dem Monarchen und dem Reichsrat“ vorgelegt wurden124. Es wäre daher unrichtig, diese Maßnahme als Folge der zutage getretenen Konflikte zwischen Reichsrat und Ministerrat zu deuten. Der Kaiser selbst eröffnete die Versammlung und trug die „Maßregel“ vor, „welche Allerhöchstdieselben für geeignet und dringend nötig erkennen, um bei der von allen Einsichtsvollen und Gutgesinnten anerkannten Unanwendbarkeit des sogenannten englisch-französischen konstitutionellen Prinzips auf den österreichischen Kaiserstaat ... die dem Zweck der Einheit der Monarchie und den wahren Bedürfnissen ihrer Völker angemessenen Reformen vorzubereiten“. Schwarzenbergs Distanziertheit von der Teilnahme an diesen Beschlüssen ist wieder klar im Protokoll festgehalten: „Der Ministerpräsident trug ein auf Ah. Befehl verfaßtes Promemoria“ vor. Ob es sich dabei um „eine der ihm von Kübeck unterbreiteten Denkschriften“ handelte125, ist nicht nachzuweisen, auf jeden Fall aber war das Promemoria || S. 39 PDF || das Ergebnis der Vorberatungen vom 16. und 17. August, bei denen der Kaiser und Kübeck, nicht Schwarzenberg und Bach den Ausschlag gegeben haben. Die Berufung Franz Josephs auf „das Unbestimmte und Haltlose in den gegenwärtigen Begriffen von der Verantwortlichkeit der Minister“ als Motiv für die Neuordnung ging an der Tatsache vorbei, daß eine nähere Bestimmung bis dahin gerade durch den Hof verhindert worden war. Das wesentliche Ziel der Neuerung war es, die Widerspenstigkeit des Ministeriums Schwarzenberg an seiner Wurzel zu treffen: denn trotz der sogenannten Unbestimmtheit der Verantwortlichkeit war der Verdacht teilweise berechtigt, daß sich die Minister „außer dem Staatsoberhaupte noch einer anderen Autorität“ verantwortlich fühlten126. Für das Ministerium Schwarzenberg war diese „Autorität“ zwar sicher nicht die in Österreich damals ja gar nicht bestehende Institution einer Volksvertretung, wohl aber die über dem Monarchen und der Regierung stehende Verfassung. Demgegenüber sollten die Minister „bloß dem Kaiser verantwortlich“ sein. Ihre Gegenzeichnung, bisher Ausdruck ihrer Mitverantwortung, ohne die der Kaiser nichts entscheiden konnte, hatte „sich bloß auf die Kundmachung der Gesetze zu beschränken“ und bestand „in der Fertigung des Ministerpräsidenten, des Ministers des betreffenden Departements und des Kanzleidirektors“; sie hatte „bloß die Bestätigung zum Zwecke, daß alle Förmlichkeiten vollzogen worden sind“. Gesetze wurden nicht mehr „auf Antrag“, sondern nur noch „nach Vernehmen“ des Ministerrates verkündet127. Die kaiserlichen Handschreiben vom 20. August 1851 verkündeten die Grundsätze dieses neuen Systems128.

Der Entmachtung des Ministerrates entsprach keine Aufwertung des Reichsrates zum ersten Regierungsorgan. Der Reichsrat als „alleiniger Ratgeber des Kaisers“ wurde nicht zum Staatsrat. Die diesbezügliche Kontroverse zwischen Fr. Reinöhl und K. Kazbunda129 ist unbedenklich zugunsten der Argumentation Kazbundas zu entscheiden, der die Ansicht vertritt, daß der Reichsrat nicht als Staatsrat eingerichtet wurde. Denn theoretisch bestand die Möglichkeit für den Ministerrat, im Wege über den Kaiser ein Gutachten des Reichsrates einzuholen, nur stand die Entscheidung über diese Möglichkeit jetzt ausschließlich beim Monarchen. Das heißt, der Ministerrat konnte weiter in der bisherigen Form an der Regierung mitwirken, aber nicht auf Grund eines Rechtes, sondern der kaiserlichen Gnade. Der Sinn der Maßregel, zwischen den Monarchen und den Ministerrat eine Gewalt ohne „angewiesenen Beruf“ einzuschalten, ohne Verantwortlichkeit, mit dem Recht versehen, in alles einzugreifen, nichts aber verantwortlich zu leiten, war nicht, diese Instanz an die Stelle des bisherigen Ministerrates zu setzen. Der Reichsrat sollte die Plenipotenz des Kaisers sichern helfen, seine Aufgabe war lediglich, die Macht des Ministerrates zu neutralisieren, diesen zu einer Einrichtung zu degradieren, die der Monarch nicht nur jederzeit beseitigen, || S. 40 PDF || sondern auch während ihres Bestandes wirksam umgehen konnte130. Der Ministerrat blieb letztlich „Sr. Majestät oberster Rat und oberstes Vollziehungsorgan“, doch „regierte“ er nicht mehr wie bisher mit dem Kaiser. Wenn der Ministerrat auch in der gleichen Form weiter „beriet“, „beschloß“ und „abstimmte“, so fehlte dieser Tätigkeit nach dem kaiserlichen Handschreiben vom 20. August 1851 jede Verbindlichkeit. Der äußerlich gleichbleibenden Form entsprach ein anderer Rechtsinhalt.

In Beurteilung der verfassungsrechtlichen Lage seit dem 20. August 1851 hat Bach festgestellt: „Die Ah. Handschreiben vom 20. v. M. haben den Bestand der Verfassungsurkunde vom 4. März 1849 in Frage gestellt und dadurch virtuell deren Suspension verfügt; deren wirkliche Aufhebung ist aber formell noch nicht ausgesprochen. Dieselbe besteht daher rechtlich und tatsächlich noch in Kraft und ist als Gesetz bis zu ihrer formellen Aufhebung zu achten“; und was den Ministerrat speziell in diesem Zusammenhang betrifft: „Die neuen Bestimmungen über den Ministerrat und den Reichsrat sind bereits von Sr. Majestät erflossen; es haben daher die bezüglichen Anordnungen der Verfassungsurkunde lediglich zu entfallen131.“

Angesichts dieser vollendeten Tatsache wäre das Problem der Stellung des Ministerrates im Rahmen der Verhandlungen über die Verfassungsrevision überhaupt nicht mehr zu berühren gewesen. Umso mehr Beachtung verdient der Umstand, daß die Minister, und zwar in seltener Geschlossenheit, ihr Problem wieder zur Sprache brachten, obwohl darüber bereits das letzte Wort gesprochen war. Noch ehe mit dem Silvesterpatent die Rückkehr zum Absolutismus vollendet war, ging vom Ministerrat der erste Versuch aus, die Neuordnung zu revidieren. Als am 17. Dezember 1851 dem Ministerrat das Elaborat der am 4. Oktober 1851 vom Kaiser eingesetzten Kommission zur Revision der Verfassung132 vorgelegt wurde, gab gleich die einleitende Definition der staatsrechtlichen Einheit Anlaß zu Bemerkungen, deren Bedeutung erst im Laufe der folgenden Beratungen klarer zutage trat133. Thun wies darauf hin, „daß es nötig sei, hierbei vorzüglich der Einheit und Ungeteiltheit des Ministeriums zu erwähnen“. Gegen wen sich dieser Anspruch richtete, wurde schon in der nächsten Sitzung klarer ausgesprochen: „Die in dem vorgelegten Referat angeführte Beschränkung der staatsrechtlichen Einheit auf die zwei Hauptmerkmale, die dynastischen Rechte des Souveräns und des Ah. Kaiserhauses, dann die politische Untrennbarkeit || S. 41 PDF || der einzelnen Länder des Reiches, welche den Gesamtstaat bilden, also bloß die Personal- und Territorialhoheit, wurden nicht hinreichend und erschöpfend erkannt.“ Und Thun, die Brüder Krauß und Bach haben Entwürfe vorgelegt, deren Tendenz im wesentlichen dahin gerichtet war, „daß auch die Einheit und Gleichheit in der Gesetzgebung, die Einheit der Administration und der exekutiven Gewalt in der Definition vertreten, d. i. darin aufgenommen werden134“. Auf dieser Grundlage brachte Bach am 20. Dezember 1851 die seinem „System“ zugrunde gelegte Definition der Staatseinheit zur Annahme im Ministerrat: „Man glaubt, die Einheitsmerkmale des Reiches in folgenden Hauptmerkmalen zusammenzufassen: in dem dynastischen Recht des Souveräns und des erlauchten Kaiserhauses, in der politischen Untrennbarkeit der einzelnen Länder des Reiches, welche den Gesamtstaat bilden, in der Einheit der Gesetzgebung, des Rechtes und der Verwaltungsgrundsätze, in der Einheit der vollziehenden Gewalt und der Staatsfinanzen; endlich in der Einheit und Ungeteiltheit der Zentralbehörden, namentlich des Ministeriums in seiner Gesamtheit als in den einzelnen Geschäftsdepartements, des Reichsrates, des obersten Gerichtshofes und der obersten Rechnungsbehörden135.“ Die eigentlichen Initiatoren dieser Definition waren Thun und die Brüder Krauß, dieselben, die als einzige den Mut gehabt hatten, offen Bedenken gegen das Handschreiben vom 20. August 1851 vorzubringen. Und auch Bach war ja nicht aus freien Stücken dem Handschreiben beigetreten. Nicht als Stütze der monarchischen Gewalt haben die Minister den Zentralismus des Bachschen Systems kreiert, sondern weil sie Dynastie und Staatsrecht als ungenügende Garanten der Einheit zu erkennen glaubten. Dem Ministerium sollte die gleiche einigende Funktion zuerkannt sein wie dem Monarchen. Das war ein Protest gegen den monarchischen Absolutismus und gegen die hinsichtlich der Stellung des Ministeriums vom Kaiser bereits verkündeten Beschlüsse.

Die Antwort auf diesen Protest blieb Franz Joseph denn auch nicht lange schuldig. Bevor der Ministerrat noch mit seiner Diskussion zu Ende gekommen war136, also jede weitere Stellungnahme abschneidend, wurden Schwarzenberg die Entwürfe zum Silvesterpatent übergeben. Mit der Vorlage im Ministerrat am 26. Dezember 1851 hatte der Ministerpräsident auch die kaiserliche Absicht mitzuteilen, „diesen wichtigen Gegenstand in einer morgen unter Ah. Vorsitz stattfindenden Sitzung beraten zu lassen137“. Noch wurde der Bitte des Ministerrates um Aufschub entsprochen — die Minister motivierten ihre Bitte mit dem Umstand, daß „der Ministerrat mit der Beratschlagung über das Elaborat ... bisher noch nicht zu Ende gekommen ist“. Aber nicht um die begonnene Beratung zu Ende zu führen, sondern um die neu vorgelegten „Grundzüge für die dringendsten und wichtigsten Organisationsgegenstände nach Aufhebung der Reichsverfassung“ in aller Eile durchzubesprechen, durfte der Ministerrat noch einmal, am 27. Dezember, zusammentreten138. Am 29. Dezember erschien der Kaiser im Ministerrat, || S. 42 PDF || um den Schlußpunkt der Entwicklung zu setzen, gegen den „von keiner Seite mehr eine Erinnerung vorgebracht wurde139“. Das war aber kein Ministerrat mehr im bis dahin üblichen Sinne, sowie auch die Reihe der Ministerratsprotokolle mit dem Silvesterpatent abgeschlossen wird. Nicht von ungefähr trägt das Protokoll vom 29. Dezember 1851, der Entwicklung um einige Monate vorausgreifend140, den Titel „Protokoll der am 29. Dezember zu Wien abgehaltenen Konferenz “.

Noch um einen Grad harthöriger als in der Frage der Verfassungsrevision zeigte sich der Ministerrat bei der Feststellung des „Wirkungskreises des Gesamtministeriums“. Den Auftrag zu dieser Selbstverdammung erhielt der Ministerrat durch kaiserliches Handschreiben vom 27. August 1851 141. Der neue Begriff „Gesamtministerium“ wurde offenbar gewählt, um auszudrücken, daß wohl die Regierung als fiktive Größe weiterbestehen könne, nicht aber der Ministerrat als konkretes und funktionsfähiges Organ dieser Einheit. Darüber ließ der Kaiser die Minister nicht im Zweifel. Am 28. August erklärte er ihnen unzweideutig, daß es keinen Ministerrat mehr zu geben hätte, sondern nur Ministerratssitzungen, und daß dieser Unterschied wohl zu beachten sei: „In der Form der von den Ministern auszufertigenden Beschlüsse muß beobachtet werden, daß dieselben immer nur im Namen des betreffenden Ministers oder infolge Ah. Entschließung, nicht mehr aber, wie es früher geschah, als Ministerratsbeschluß ausgefertigt werden, weil wohl der einzelne Minister, nicht aber der Ministerrat als vollziehenden Organ besteht142.“ Baron Krauß scheute sich nicht, dagegen zu protestieren, und es ist wohl seinem Protest erst vom Protokollführer der Stempel der Hilflosigkeit aufgedrückt worden: „Der Finanzminister rechtfertigte den diesfalls bisher beachteten Vorgang bei wichtigen, zweifelhaften und einer verschiedenen Auffassung unterliegenden Angelegenheiten mit den besonderen Verhältnissen des Jahres 1848. Nachdem jedoch diese nicht mehr bestehen, und Se. Majestät den Ah. Willen ausdrücklich dahin zu erklären geruhten, daß keine Erlässe mehr vom Ministerrat als solchem hinausgegeben werden, so werden die Minister sich dieser Ah. Weisung gemäß benehmen143.“ In der Form als Beruhigung für die Minister, im Wesen als Bekräftigung des Entschlusses, den Ministerrat abzuschaffen, erklärte Franz Joseph, „hiemit keineswegs eine Einstellung der Ministerratssitzungen zu beabsichtigen“, er halte „dieselben vielmehr zur Erhaltung der Einheit in den Verwaltungsmaximen für sehr ersprießlich144“. Schwarzenberg — und dies ist nicht belanglos — war bei dieser Sitzung nicht anwesend.

Nur zögernd kam der Ministerrat dem kaiserlichen Auftrag nach. Vor allem erfüllte er ihn nicht in dem Sinn, in dem er am 27. August 1851 gegeben worden war. Die Bearbeitung des „Allgemeinen Wirkungskreises der Ministerien“ und || S. 43 PDF || des Wirkungskreises der einzelnen Ministerien wurde einer unter Leitung des Kanzleidirektors Ransonnet stehenden Kommission übertragen145. Dagegen hat sich der Ministerrat die Feststellung des „Wirkungskreises des Gesamtministeriums“ selbst vorbehalten, ist also als alleinverantwortlicher Autor dieses Schriftstückes zu betrachten. Bei den ersten Besprechungen der „Grundsätze“ für die Feststellung des Wirkungskreises des Gesamtministeriums beharrten die Minister auf dem Recht des Ministerrates, Beschlüsse auszufertigen, „obwohl Se. Majestät dies abgestellt wissen wolle146“. Nur schleppend gediehen die Arbeiten der Kommission unter Leitung Ransonnets, weil die Minister keine Eile zeigten, ihre Vorschläge einzusenden. Nach einem Zwischenbericht im Ministerrat vom 29. Oktober 1851 147 konnte Ransonnet erst am 10. Dezember — eine kaiserliche Ermahnung hatte die Minister mittlerweile aufgefordert, „ohne Verzug“ ihre Anträge zu erstatten148 — dem Ministerrat melden, „daß die mit den Vorarbeiten zu den Entwürfen der ministeriellen Wirkungskreise unter seiner Leitung zusammengesetzte Kommission ihre Aufgabe gelöst zu haben glaube149“.

So konnte Schwarzenberg erst am 9. Jänner 1852 dem Kaiser die Entwürfe über den „Wirkungskreis des Gesamtministeriums“, den „Allgemeinen Wirkungskreis der Ministerien“ und die „Besonderen Wirkungskreise der Ministerien“ unterbreiten150. Schwarzenberg hat versucht, sich ganz den kaiserlichen Wünschen anzuschließen, und sein Einbegleitungsvorschlag besteht denn nur aus einer Zusammenstellung der einschlägigen kaiserlichen Aussprüche seit dem 28. August 1851. Nur in einem Punkt hat er eine Eigeninitiative entwickelt. Als die vom Kaiser gewünschte Kontrollinstanz für den Ministerrat schlug er den Ministerpräsidenten vor, dem aber mit dieser Verpflichtung auch das Recht zuerkannt werden sollte, Beschlüsse des Ministerrates zu sistieren. Diese Aufwertung der Stellung des Ministerpräsidenten widersprach zwar formal nicht den kaiserlichen Bestimmungen, sie hatte aber die absolute Loyalität des Ministerpräsidenten dem Kaiser gegenüber zur Voraussetzung. Einem in seiner Position gefestigten Ministerpräsidenten wäre es möglich geworden, den Kaiser bei „Erstattung der Anzeige und Einholung der Ah. Schlußfassung“ über eine Sistierungsmaßnahme vor unliebsame Alternativen zu stellen, nämlich entweder den Ministerpräsidenten zu desavouieren oder sich dessen Entscheidung zu unterwerfen. Nicht um den Sitzungsprotokollen des Ministerrates eine neue Bestimmung zu geben, sondern um den Kaiser zu beruhigen, glaubte Schwarzenberg weiters darauf hinweisen zu sollen, daß die sicherste Garantie für die Einhaltung des Wirkungskreises „in der Führung der genauen Sitzungsprotokolle“ liege, „wenn dieselben, wie es bisher geschah, || S. 44 PDF || der Ah. Einsicht unterzogen werden dürfen“. Auch hinter diesem Vorschlag ist aber vornehmlich die Absicht zu sehen, die Ah. Kenntnisnahme als Anerkennung der Ratsfunktion des Ministerrates zu retten. Praktisch hatte das aber zur Folge, daß sich die Minister wie die Protokollführer bei der Wahl ihrer Worte nach dieser neuen Bestimmung der Protokolle richteten — solange sich der Ministerrat dem Kaiser gegenüber in der politisch schwächeren Position befand. Schwarzenberg hatte es offenbar darauf abgesehen, die Form, in der sich seit 1848 die Regierungsmächtigkeit des Ministerrates manifestiert hatte, in der Hoffnung zu retten, in ihr wenigstens die organisatorische Vorbedingung für die Rückgewinnung der verlorenen Macht zu erhalten. Dieses Urteil erfährt eine Bekräftigung durch die scharfe Reaktion Franz Josephs auf die doch so willfährig erscheinenden Vorschläge Schwarzenbergs. Der Kaiser mochte wohl gespürt haben, daß ihm Schwarzenberg nur gehorchte, mit ihm im grundsätzlichen aber nicht übereinstimmte. Die Marginalien, mit denen Franz Joseph den von Schwarzenberg eingereichten „Entwurf des Bereiches der Wirksamkeit des Gesamtministeriums“ versehen hat151, gipfeln in der kritischen Frage: „ist der Ministerrat eine entscheidende Behörde?“ Auch die Antwort hielt Franz Joseph fest: „Beschwerden und Eingaben an das Gesamtministerium können nicht angenommen werden, da es keine Behörde ist. Solche Sachen sind von den Parteien an den Kaiser zu richten.“

Eine abschließende Klärung haben diese Differenzen nicht mehr gefunden. Am 12. April 1852 hat der Kaiser mit einer von ihm selbst entworfenen Ah. Entschließung die Wirkungskreise bewilligt, ohne darauf zu bestehen, daß seine Marginalien in einer Neuredaktion berücksichtigt würden152. Das Problem hatte offenbar an Dringlichkeit in dieser Hinsicht verloren. Die Wirkungskreise erlangten, ohne allerdings je publiziert worden zu sein153, praktisch Geltung, aber das Problem „Gesamtministerium“ wurde auf eine andere Weise gelöst. Mit Buol-Schauenstein als neuem Leiter des Ministeriums waren offenbar andere Loyalitätsverhältnisse gegeben, die es zu ermöglichen schienen, statutenmäßig mehr Rechte zu belassen, als tatsächlich nach den neuen Regierungsgrundsätzen geduldet werden sollten.

3. Ministerkonferenz und Ministerrat als Ausführungsorgane des monarchischen Willens 1852—1867 - Retrodigitalisat (PDF)

Umwandlung des Ministerrates in die Ministerkonferenz nach dem Tod Schwarzenbergs — Buol-Schauenstein „Vorsitzender“ der Ministerkonferenz — Geschäftsordnung für die Ministerkonferenz vom 28. Mai 1852 — Die „Konferenz“ unter Buol-Schauenstein — Bedeutung des Reichsrates unter Buol-Schauenstein — Aufwertung des Ministerrates unter Rechberg — Staatsminister und Ministerpräsident — Erzherzog Rainer Vorsitzender des Ministerrates — Staatsrat und Ministerrat — Administrative und politische Auflösungserscheinungen im Ministerrat nach 1861 — Der Ministerrat und die Forderung nach einem Ministerverantwortlichkeitsgesetz im verstärkten Reichsrat — Vertrauenskrise Ministerrat-Kaiser Franz Joseph — Die „engere Konferenz“ — Bedeutung der „Instruktion für das Gesamtministerium“ vom 6. August 1865

Wenn auch noch kein offener Konflikt, ein tiefgreifender Gegensatz zwischen Franz Joseph und Schwarzenberg in der Frage der Machtbefugnisse des Ministerrates hat unbestritten bestanden. Daß Schwarzenberg bei der Entmachtung des Ministerrates nicht auf seiten des Kaisers gestanden ist, ist exakt schwer zu beweisen, aber doch in hohem Grade als wahrscheinlich zu erkennen. Darf als Symbol der Solidarität Schwarzenbergs mit dem oppositionellen Ministerrat gelten, daß Schwarzenberg faktisch während einer Ministerratssitzung gestorben ist? Das Protokoll vom 5. April 1852 vermerkt an einer Stelle: „Hier verließ der Ministerpräsident Schwarzenberg den Ministerrat“; und am Schluß: „Bei § 63 wurde die Beratung abgebrochen, nachdem die Meldung von dem dem Ministerpräsidenten zugestoßenen Schlaganfalle und von dessen bald darauf erfolgtem Ableben gekommen war154.“

Mit aller gebotenen Vorsicht darf in diesem Zusammenhang die Frage formuliert werden, ob Felix Schwarzenberg für sich und für die Intentionen des Kaisers nicht zur rechten Stunde gestorben ist. Die Grenze, bis zu der Schwarzenberg nachzugeben sich bereit fand, war wohl schon erreicht. Zur Erklärung seiner Nachgiebigkeit darf nicht außer acht gelassen werden, daß er auch Minister des kaiserlichen Hauses war und ihm als solchem die Verpflichtung oblag, „die Rechte des Kaiserhauses und der Ah. Familie zu wahren und zu vertreten155“. Daß der Kaiser nur so lange an Schwarzenberg festzuhalten gewillt war, als sich dieser seinen und Kübecks Plänen fügte, ist evident. Die von Friedjung überlieferte Äußerung des Kaisers: „Er verdanke dem Fürsten Schwarzenberg viel, aber wenn dieser nicht auf solche Entwürfe eingehe, so werde er sich von ihm trennen müssen156“, darf als völlig glaubhaft angesehen werden. Die Worte Franz Josephs: „Es ist nicht leicht, einen größeren und schwerer zu ersetzenden || S. 46 PDF || Verlust zu denken157“, wären vielleicht besser nur als Zeugnis persönlicher Wertschätzung, nicht als Beleg für eine Übereinstimmung in den politischen Anschauungen zu werten, wie denn das bekannte Bild „Franz Joseph kniet am Sterbebett seines ersten Ministerpräsidenten“ absolut in den Bereich politischer Propaganda zu verweisen ist. Franz Joseph hat in seinem als Quelle höher zu bewertenden Nachruf in der Ministerkonferenz vom 14. April 1852 korrekt die Grenze jener Wertschätzung, die er für Schwarzenberg empfand, festgestellt, als er der Prinzipien gedachte, „welche der verewigte Ministerpräsident den Ah. Absichten gemäß befolgt hatte“; und weiters: „Der Fürst habe auf großartige Weise den Willen und die Befehle Sr. Majestät durchgeführt, um das angestrebte Ziel zu erreichen, welches — sowie die Hauptgrundsätze der inneren Organisation — in den Ah. Erlässen vom 20. August und 31. Dezember 1851 bezeichnet worden ist158.“

In der Entschließung vom 12. April 1852, mit der die Wirkungskreise der Ministerien genehmigt wurden159, kam in der Behandlung einer Nebenfrage sehr deutlich der emotionelle Hintergrund der kaiserlichen Abneigung gegen den Ministerrat zum Ausdruck: „Endlich ist in den Ministerkonferenzen ungesäumt die Frage zu begutachten, welche Bezeichnungen an den Platz jener Benennungen von Beamtenstellen zu setzen wären, welche seit dem Jahre 1848 eingeführt wurden und zum Teil nicht mehr im Einklang mit ihren jetzigen Wirkungskreisen, zum Teil Denkmale der damaligen Zeit sind.“ Es läßt sich nicht verifizieren, ob sich dieser Sturm gegen die namentlichen Denkmale des Jahres 1848 auch gegen die Bezeichnung „Minister“ richtete. Grundsätzlich war auch dieser Terminus in Frage gestellt, wenn auch nur „Ministerrat“ und „Ministerpräsident“ diesem „Denkmalsturm“ zum Opfer fielen.

Unter den Beilagen zum Vortrag Schwarzenbergs vom 9. Jänner 1852 befindet sich auch ein Stück „Bestimmungen über die Ministerkonferenzen160“. Die etwas mysteriöse Entstehungsgeschichte dieses Dokuments sagt mehr über dessen Bedeutung aus als der Inhalt selbst. Die Bezeichnung des Ministerrates als „Ministerkonferenz“ sowie der Umstand, daß es den Schwarzenbergschen Vorschlag über den Wirkungskreis des Gesamtministeriums nicht ergänzt, sondern ersetzt, zeigen, daß es sich dabei um ein dem Aktenkomplex des Schwarzenbergschen Vortrages interpoliertes Dokument handelt. Den Beweis dafür liefert ein „Verzeichnis der Beilagen“ zum Vortrag Schwarzenbergs, das die „Bestimmungen über die Ministerkonferenzen“ nicht enthält. Die Empfangsbestätigung des Kanzleidirektors Ransonnet vom 12. April 1852 untermauert die Vermutung, daß das Aktenstück erst mit der Ah. Entschließung und als Teil derselben mit dem Vortrag Schwarzenbergs in die Kanzlei des Ministerrates zurückgelangte. Es war die Antwort auf Schwarzenbergs Anspruch, daß der Ministerrat eine Behörde sei. Mit der Wahl des neuen Namens war das Problem des Behördencharakters auf indirektem Weg aus der Welt geschafft. Dem neuen Diskussionsforum || S. 47 PDF || — um nichts anderes handelte es sich mehr — konnten nun auch Rechte zugestanden werden, die dem Ministerrat als einem schon durch seinen Namen und seine Geschichte mit dem Anspruch auf Mitherrschaft behafteten Gremium nie konzediert worden wären.

In innerem Zusammenhang damit stehend fiel die Entscheidung gegen den „Ministerpräsidenten“. Wichtiger als die Tatsache, daß Franz Joseph sich zu diesem Schritt erst am 10./11. April 1852 entschlossen hat, scheint jene zu sein, daß sich die Maßnahme durchaus in die seit August 1851 verfolgte Linie einordnet. Der Zusammenhang mit der Abschaffung des Ministerrates als Behörde schließt die Deutung aus, daß es sich dabei um eine Entscheidung als Folge einer personalpolitischen Verlegenheit gehandelt habe161. Und wenn Franz Joseph ernstlich das Amt hätte erhalten wollen und nicht nur Bach gegen Kübeck ausgespielt hat, warum hat er später Buol-Schauenstein zurechtgewiesen, als dieser sich des Titels bediente162? In der kargen Amtssprache zweier Ernennungsschreiben spiegeln sich diese Probleme höchster Staatspolitik: am 9. April 1851 erging ein Schreiben an Bach, der schon am 5. April zum interimistischen Leiter des Ministeriums des Äußern und des Hauses bestellt worden war: „Nachdem es dem Ewigen gefallen hat, Meinen Ministerpräsidenten Schwarzenberg in ein besseres Leben abzuberufen, finde Ich Ihnen als dem Ältesten im Amte die Präsidialleitung der Ministerberatungen bis auf weiteres zu übertragen163.“ Vorsichtshalber sollte diese Ernennung nicht publiziert werden164. Am 11. April erreichte dann den aus London herbeigerufenen Buol-Schauenstein seine Bestimmung: „Infolge des bedauerlichen Hinscheidens des Fürsten Schwarzenberg finde Ich Sie zu Meinem Minister der Auswärtigen Angelegenheiten und des kaiserlichen Hauses zu ernennen, wobei ich Ihnen zugleich den Vorsitz in der Ministerkonferenz übertrage165.“ Das für die „Wiener Zeitung“ bestimmte Kommuniqué verschwieg die Ernennung zum Vorsitzenden der Ministerkonferenz, so wie auch Bach nur von seiner Funktion als Minister des Äußern und des Hauses enthoben wurde, dabei aber der ihm übertragenen „Präsidialleitung“ in der Ministerkonferenz keine Erwähnung getan wurde166.

Buol hat die beabsichtigte Bedeutungslosigkeit der ihm zugekommenen Stellung und die feinen Unterschiede in der Terminologie nicht sofort erfaßt. Für seine Angelobung unterbreitete er dem Kaiser „die mit Ah. Entschließung vom 9. Oktober 1851 vorgeschriebene Eidesformel für den Ministerpräsidenten und || S. 48 PDF || die Minister167“. Im Hinblick auf spätere ähnliche Eskapaden Buols darf man darin wohl eine unerlaubte Andeutung des ausdrücklich zum „Vorsitzenden der Ministerkonferenz“ Ernannten sehen. Selbst wenn er die seine Sprachregelung rechtfertigenden „Bestimmungen über die Ministerkonferenz“ vom 12. April am 13. April schon so genau studiert haben sollte, dann hat er mit der Wahl des Ausdrucks doch eine unmißverständliche Option für den „ Ministerpräsidenten “ vollzogen. Allerdings hatte er am 12. April die Anordnung erhalten, daß in Hinkunft die Ministerialgegenzeichnung der Gesetze und dergleichen nunmehr mit der Modifikation zu erfolgen hätte, daß diese Erlässe vom „Präsidenten der Ministerkonferenzen“ und von dem Kanzleidirektor, allerdings „ohne die besondere Hinzufügung der ämtlichen Stellung und Benennung gegenzuzeichnen sind168“. Das hätte ihm aber die Bedeutung der Amtsbezeichnung erst recht vor Augen stellen müssen. Der Kaiser gab Buol aber gleich zu verstehen, welches seine amtliche Stellung war. Statt der eingereichten Eidesformel erhielt Buol eine für ihn neu formulierte zurück mit dem Passus: „Da Se. Majestät Ihnen auch den Vorsitz in der Ministerkonferenz Ag. zu übertragen geruhten, so werden Sie schwören, in den Funktionen dieses Amtes sowie bei der Leitung der Ihnen anvertrauten Verwaltungszweige die bestehenden oder nachfolgenden Instruktionen, Gesetze und kaiserlichen Anordnungen auf das genaueste zu beobachten, für die Beachtung und Vollziehung der kaiserlichen Beschlüsse und Befehle durch die Ihnen untergeordneten Organe zu sorgen und das Dienstgeheimnis zu wahren169.“ Strenggenommen bestand ohnehin ein Unterschied zwischen „Präsident der Ministerkonferenz“ und „Ministerpräsident“. Vermutlich hätte sich Franz Joseph mit dem Verzicht auf die Bezeichnung „Ministerpräsident“ begnügt. Die Haltung Buols bewog ihn aber wohl, noch einen Schritt weiter zu gehen. Auch die neutrale Benennung „Präsident“ wurde Buol verwehrt — offenbar, weil sich damit ein Anspruch verband, der geeignet war, die verfassungsmäßige Neuordnung zu relativieren.

Unter diesen Auspizien versammelte der Kaiser am 14. April 1852 die Minister des Ministeriums Buol zu ihrer ersten Sitzung und hielt seine programmatische Rede über die dem Ministerium zugedachten Aufgaben, wie am 29. Dezember 1851 „unter Vorsitz des Kaisers und unter Beisein des Reichsratspräsidenten“, und wie damals trug auch dieses Protokoll den Titel „Protokoll der Konferenz unter dem Ah. Vorsitz Sr. Majestät des Kaisers170“. Die Bezeichnung „Ministerkonferenz“ wurde mit diesem Datum obligat. Auf allen Vordrucken aus der früheren Zeit wurde „R“ in „C“ korrigiert und „Rat“ durch „Konferenz“ ersetzt, bis auch die Vordrucke das offizielle „Ministerkonferenz“ aufwiesen. Es dauerte einige Zeit, bis sich die Protokollführer den neuen Sprachgebrauch angeeignet hatten. Aber wo sie fehlten, verbesserte sie der Kanzleidirektor gewissenhaftest.

Da nun der Ministerrat als Behörde aufgelöst, die Ministerkonferenz nur noch eine unverbindliche Versammlung von Ministern war und bestenfalls die Modalitäten || S. 49 PDF || der Befehlsausführung zu koordinieren hatte, konnte sie vom Monarchen auch nicht mehr als Trägerin einer Stimme „vernommen“ werden. Dieser Verantwortung als Ratgeberin entzog sich die Ministerkonferenz aus eigener Initiative und erbat sich eine Weisung, was an die Stelle der bisher gebrauchten Formel „nach Vernehmung Meines Ministerrates und nach Anhörung Meines Reichsrates“ zu setzen wäre171. Dazu entschied der Kaiser: „Ist in Hinkunft an Stelle der bisher angewandten Ausdrücke die Formel: nach Vernehmung Meiner Minister und nach Anhörung Meines Reichsrates zu verwenden172“.

Den Endpunkt unter diese Entwicklung setzte die „Geschäftsordnung der Ministerkonferenzen“, die Buol am 4. Mai 1852 einreichte. Sie erhielt am 28. Mai ihre Genehmigung173. Die Geschäftsordnung hielt sich streng an die „Bestimmungen über die Ministerkonferenzen“ vom 12. April 1852, die teilweise sogar wörtlich in die „Geschäftsordnung“ eingebaut wurden (§§ 1, 9, 13, 14). Die einzige Änderung von Belang, die von den Ministern an dem von Ransonnet ausgearbeiteten Entwurf gewünscht wurde, entsprang der Sorge vor persönlicher Verantwortung: Der Entwurf sah vor, daß die Protokolle „die über jeden Punkt der Beratung gefaßten Beschlüsse mit den wesentlichsten Motiven und auch die von den Beschlüssen der Mehrheit abweichenden Meinungen mit den dafür geltenden Gründen enthalten“. Da kein Minister mehr die Absicht hatte, seine vom Ah. Willen differierende Meinung festgelegt zu sehen, hielt es die Versammlung für ausreichend, wenn die Protokolle „die Ergebnisse der Beratung mit Angabe der einzelnen Anträge und ihrer Begründung enthielten174“.

Als Ergänzung der rechtlichen Degradierung des Ministerrates zu einem Verwaltungszentrum wurden dem Ministerium einerseits Aufgaben entzogen, andererseits wurde die Ministerkonferenz um Funktionäre erweitert, denen von vornherein Titel und Stelle eines Ministers nicht zustanden. Nicht ein „Polizeiministerium“, sondern eine „Oberste Polizeibehörde“ wurde daher am 11. April 1852 eingerichtet175. Und am 10. Februar 1853 wurde der Generaladjutant GM. Josef Freiherr v. Bamberg mit der „Leitung der Militäradministration“ betraut176. Weder Freiherr v. Kempen, der Leiter der Obersten Polizeibehörde, noch Bamberg waren aber zunächst Mitglieder der Ministerkonferenz, sondern ihr nur fallweise beigezogen177. Ihre Abwesenheit wurde auch in der Regel zum Unterschied von derjenigen der regelmäßig geladenen Minister nie in den Protokollen vermerkt. Beide aber erreichten im Laufe der Zeit ihre formale || S. 50 PDF || Gleichstellung mit den Ministern, wobei nur Kempen ausdrücklich zum „Mitglied der Ministerkonferenz“ ernannt wurde178. Das ist aber nicht so zu verstehen, daß er in den Rang eines Ministers aufrückte, sondern steht eher damit in Zusammenhang, daß auch die Minister nur noch „Leiter der Administration“ waren. Sie nahm der Kaiser auch nicht mehr als Mitglieder der Ministerkonferenz zur Kenntnis. Die Verbindung bestand nur noch direkt zwischen den Ministern und dem Kaiser. Seit 1848 waren zwar die Minister jeder für sich dem Kaiser verantwortlich gewesen, aber doch als Mitglieder der Gesamtregierung. Jetzt waren sie isoliert und ihres Rückhalts im Ministerrat beraubt. Die bisher im Ministerrat zum Ausdruck gekommene direkte Konfrontation zwischen dem Ministerium und dem Herrscher im Rahmen der Ministerkonferenz wurde unterbunden. Da aber die Ministerkonferenz weiterhin bestehenblieb und dem Kaiser als solche, nicht aber als Gesamtministerium Vorschläge unterbreitete, mußte jemand gefunden werden, der für diese Anträge verantwortlich war. Dazu wurde der Vorsitzende bestimmt — und zwar haftete er nun persönlich, nicht als Repräsentant der Regierung. Bis 1852 gelangten die Protokolle als Ausdruck der Einzelverantwortlichkeit des Ministers dem Monarchen gegenüber nach der Einsichtnahme der Minister an den Kaiser. Buol dagegen sah die Protokolle wahrscheinlich vor und nach den Ministern, wenn dies auch nicht immer ausdrücklich vermerkt wurde. Das „Konferenzprotokoll“ vom 25. Juni 1854 vermerkt z. B. nicht ausdrücklich den Rücklauf an Buol. Eine Nachbemerkung zu einer Korrektur Bachs verrät aber, daß Buol das Protokoll zwischen der Einsichtnahme der Minister und der Vorlage beim Kaiser gesehen hat179. Von Juni 1856 bis Juni 1857 hält Buol seine Nachrevision auch in der Form seiner Signierung fest. Seine Unterschrift ist jeweils mit zwei Daten verbunden: „17. Juni/20. Juli 1856 180“. Zwischen 17. Juni und 20. Juli zirkulierte das Protokoll bei den Ministern, der Kaiser nahm am 25. Juli Einsicht.

Der Bedeutungslosigkeit der Ministerkonferenz angemessen wurde auch die Form der Protokolle zur bloßen Formalität, die mit keinerlei Rechtsfolgen verbunden war. Die Protokolle halten nicht mehr die Meinung politisch leitender Persönlichkeiten fest. Sie referieren nur allgemein: „es wurde“, „man kam überein“. Nicht die Meinung der Mitglieder, sondern die Konferenzmeinung wurde festgehalten. Die Entschlüsse wurden nicht in der Ministerkonferenz, sondern im kaiserlichen Kabinett gefaßt, von wo sie zur Ausführung an die Ministerkonferenz herabgelangten. Anlaß zu Ministerkorrekturen boten die Protokolle nur in seltenen Fällen. Die Möglichkeit der Einsichtnahme wurde weder als Recht noch als Pflicht empfunden. Der wichtigste Teil der Protokolle war von 1852 bis 1859 die Ah. Kenntnisnahme. In Entsprechung zur Rolle des Befehlsempfängers, die die Ministerkonferenz zu spielen hatte, sind eben aus der Zeit jene Fälle bezeugt, in welchen die Beschlüsse der Ministerkonferenz auch in rein organisatorischen Belangen von Franz Joseph zurückgewiesen wurden. Das Protokoll || S. 51 PDF || der Konferenzen vom 24. Juni, 1. und 15. Juli 1856 gelangte „ohne Ah. Entschließung“ zurück — allerdings erst vier Jahre später, am 17. April 1860 181. Das Protokoll vom 2. Juni 1857 ist „unerledigt zurückgelangt182“. Ein früheres Protokoll vom 8. Mai 1857 gelangte mit der Bemerkung zurück: „Ich finde den Konferenzbeschluß vom 8. v. M., MCZ. 1711, nicht zu genehmigen, sondern anzuordnen, daß mit Unterlassung jeder vorläufigen Meinungsäußerung sich lediglich die ordnungsgemäße Amtshandlung vorbehalten werde183“.

Im selben Maße, in dem die Ministerkonferenz als Regierungshilfe ausschied, mußten andere Instanzen an Bedeutung gewinnen. Das wichtigste Werkzeug, das sich der Monarch zu seiner persönlichen Unterstützung schuf, war die „Konferenz“. Die Konferenz unter dem Vorsitz des Kaisers wurde nun das eigentliche, vom Kaiser persönlich dirigierte Regierungsinstrument. Daher verloren die ohne kaiserlichen Vorsitz geführten Beratungen weitgehend an Bedeutung. Ihre Zahl konnte daher beschränkt werden: „Für die regelmäßigen Konferenzen, nämlich der gewöhnlichen kurrenten Geschäfte, werden zwei Tage in jeder Woche als vollkommen genügend erkannt und dazu die Dienstage und Samstage bestimmt184.“ Selbst der Sache nach geringfügige Versuche dieser „regelmäßigen Konferenzen“, Entscheidungen an sich zu ziehen, wurden vom Kaiser unterbunden. Da die „Bestimmungen über die Ministerkonferenz“ hinsichtlich der Behandlung von Auszeichnungsanträgen keine Vorschriften enthielten, glaubte die Ministerkonferenz, der bisherigen Übung entsprechend, solche Anträge in der Ministerkonferenz beraten zu können185. Die Ah. Kenntnisnahme wies die Minister jedoch sogleich in ihre Schranken: „Ich habe den Inhalt dieses Protokolls mit der Bemerkung zur Kenntnis genommen, daß Auszeichnungen, da sie allein Ausfluß der kaiserlichen Gnade sind, nicht in der Ministerkonferenz zu besprechen sind, sondern bloß durch Vorträge der einzelnen Minister in Antrag gebracht werden sollten186.“ Darauf fand sich die Ministerkonferenz zu der ehrerbietigsten Vorstellung veranlaßt, „daß es nicht im entferntesten ihre Absicht war, durch die Besprechung von derlei Auszeichnungsanträgen eine Beschlußfassung darüber zu erreichen oder der Ah. Gnade in irgendeiner Weise vorzugreifen187“. Durch die kaiserliche Leitung und insbesondere die Beiziehung des Reichsratspräsidenten konnte auch die gewöhnliche Ministerkonferenz zur „Konferenz“ werden, wurde aber dann in der Ära Buol immer ausdrücklich als solche bezeichnet188. Meist und für die Behandlung wichtiger Gegenstände || S. 52 PDF || tagte sie aber gesondert von den Ministerkonferenzen. Ihre Sitzungsprotokolle sind daher auch selten in der Reihe der Ministerkonferenzprotokolle überliefert. Damit finden einige Besonderheiten bis 1856 eine Erklärung — warum z. B. längere Zeit hindurch der Kaiser keiner Ministerkonferenz präsidierte, und vor allem, warum die wichtigsten politischen Ereignisse meist überhaupt nicht oder nur in sekundärer Form in der Ministerkonferenz zur Beratung kamen. Überdies klären sich bei Beachtung des Unterschiedes zwischen „Konferenz“ und „Ministerkonferenz“ einige Verwirrungen in der Literatur. Die für die Außenpolitik so wichtigen Protokolle vom 22. und 24. März 1854, die Kübeck in Details bezeugt, wurden von einigen Forschern als unauffindbar bezeichnet. Sie befinden sich tatsächlich nicht in der Reihe der Ministerkonferenzprotokolle, wo sie jeder suchte. Nun bezeichnet sie Kübeck aber ausdrücklich als „Konferenzen189“, und wenn die These zutreffend ist, daß neben der Ministerkonferenz auch eine Konferenz bestanden hat, ist es nur natürlich, daß sie woanders zu suchen sind. Fr. Eckhart hat sie schon 1931 in den Vorträgen an den Kaiser gefunden190. Auch aus späterer Zeit finden sich zahlreiche Beispiele, daß Protokolle über wichtige Beratungen nicht in die Reihe der Ministerkonferenzprotokolle eingereiht wurden, wahrscheinlich, weil sie eben der besonderen Gruppe der „Konferenz“-Protokolle zuzuzählen sind. So befindet sich das Protokoll der entscheidenden Ministerbesprechung vom April 1859, in der Buol die Hilfe Englands und Preußens versprechen zu können glaubte, nicht in der allgemeinen Reihe191, wie auch das Protokoll der Beratung des neuen Regierungsprogramms Rechbergs nicht bei den Ministerkonferenz­protokollen, sondern im Nachlaß Rechberg liegt192. Den Höhepunkt ihrer Bedeutung erlangte die Konferenz nach 1861, als der Kaiser infolge einer schweren Vertrauenskrise der Mehrzahl seiner Minister entfremdet war193.

Kübeck war zwar weder de jure noch de facto nach 1852 der Leiter der Politik — das war der Kaiser —, aber er war der erste Mann im Staate, so wie der Reichsrat dem Thron für einige Jahre näher stand als die Ministerkonferenz. Das Votum des Reichsrates entschied über wichtigste Fragen, die Ministerkonferenz wurde erst in zweiter Instanz zur Begutachtung herangezogen. Versuche der Ministerkonferenz, in solchen Angelegenheiten direkt in Kontakt mit dem Kaiser zu treten, erfuhren eine scharfe Zurückweisung. Z. B. hatte der Ministerrat in Ausübung des ihm verbliebenen Rechtes der Initiative in der politisch wichtigen || S. 53 PDF || Frage der Güterkonfiskation in Ungarn und Kroatien dem Kaiser vorgeschlagen, den Erlaß über die Durchführung dieser Konfiskation aufzuheben. Der Kaiser ließ den Vorschlag begutachten, richtete aber die Ah. Entschließung nicht an die Ministerkonferenz, sondern an den Reichsrat, der sie seinerseits im Auftrag des Kaisers zur „ordnungsgemäßen“ Ausführung dem Ministerrat zustellte. Auch Buol erhielt den diesbezüglichen Befehl nicht vom Kaiser, sondern vom Reichsratspräsidenten. Als sich die Ministerkonferenz direkt an den Kaiser wandte194, reagierte dieser mit einer Schärfe, die der Sache in keiner Weise angemessen war, noch dazu, da der Kaiser im Sinne des Ministeriums entschieden hatte: „Übrigens finde Ich zu bemerken, daß das Resultat der Ministerkonferenz über diese Angelegenheit in Gemäßheit Meiner Ihnen durch den Reichsratspräsidenten eröffneten Entschließung vom 21. November d. J. in diesem speziellen Falle unmittelbar an den letzteren zum Behufe der reichsrätlichen Begutachtung mitzuteilen gewesen wäre195.“ Franz Joseph und der Reichsratspräsident beurteilten den gegenteiligen Beschluß des Ministeriums vom 25. November 1854 196 offenbar nicht als eine Widersetzlichkeit in einer Form-, sondern in einer Grundsatzfrage. Diese Deutung wird durch ein Schreiben Kübecks an Buol untermauert, das im übrigen verrät, daß auch die Ministerkonferenz ihren Beschluß aus prinzipiellen Erwägungen gefaßt hatte. Kübeck betonte, daß der strittige Verhandlungsgang ausdrücklich vom Kaiser angeordnet worden war „und daher keine andere Bedeutung als die genaue Vollziehung eines Ah. Befehles Unseres Ag. Herrn hatte und haben konnte. Welche Folge Ew. Exzellenz und die verehrte Ministerkonferenz solchem Befehle in der Sache und Form zu geben sich veranlaßt sehen mochte, hat mich nicht weiter zu berühren und bleibt der weisen Beurteilung Sr. Majestät vorbehalten197“.

Aber die Ministerkonferenz gab den Widerstand gegen ihre vollkommene Entmachtung nicht auf. Für das Jahr 1856 hatte Bach — zum erstenmal seit 1848 — die Herausgabe eines Staatshandbuches vorbereitet. In der Ministerkonferenz vom 5. Jänner 1856 mußte Bach über die Meinungsdifferenzen berichten, die zwischen ihm und Buol einer- und dem Reichsratspräsidium andererseits darüber herrschten, ob in dem genannten Haus-, Hof- und Staatshandbuche zuerst die Ministerkonferenz und dann der Reichsrat anzuführen sei198. Das interimistische Reichsratspräsidium ging von der Voraussetzung aus, daß nach § 3 des Reichsratsstatuts die Stellung des Reichsrates zum Ministerrat zwar jene der Nebenordnung sei. Da aber nach § 24 dem Reichsratspräsidenten der Rang unmittelbar nach dem Ministerpräsidenten zustand, diese Würde aber seit dem Tode Schwarzenbergs nicht mehr verliehen worden war, schien es unzweifelhaft, daß der Reichsratspräsident „den ersten Rang im Zivildienst behaupte, was wohl auch auf die Rangordnung des Reichsrates zurückwirke“. Dem gegenüber entwickelte Bach seine Theorie. Er ging von der „Behauptung“ aus, || S. 54 PDF || daß die Ministerkonferenz den „ersten und obersten Rat der Krone bildet, wo die wichtigsten und entscheidendsten Staatsangelegenheiten beraten und ausgetragen werden und welcher nicht selten unter dem unmittelbaren Vorsitze Sr. Majestät versammelt wird“. Der ausführlichen Beweisführung Bachs fügte der Minister des Äußern noch hinzu, „daß er nicht glaube, Se. Majestät hätten, nachdem infolge der Ah. Handschreiben vom 20. August und 31. Dezember 1851 der Ministerrat die Bedeutung in konstitutioneller Hinsicht verloren hatte, mit dem ihm selbst unter verändertem Titel übertragenen Vorsitze eine wesentliche Änderung in der Beziehung der Ministerkonferenz zu Allerhöchstderselben beabsichtigt“. Diese Argumente unterbreitete Bach im Auftrag der Ministerkonferenz am 26. Jänner 1856 dem Kaiser199.

Bach fügte seinem Vortrag an den Kaiser die ungeheuerliche Bemerkung bei, daß der Druck des ersten Teiles des Handbuches bereits beendet sei200 und „die Herausgabe desselben unaufgehalten wird erfolgen können, sobald die Ah. Entscheidung Ew. Majestät über die bezüglich der Einreihung des Reichsrates obwaltende Differenz herabgelangt sein wird“. Am 30. Jänner 1856 entschied Franz Joseph im Sinne des Vortrages Bachs. Im Staatshandbuch wurde die Ministerkonferenz vor dem Reichsrat gereiht. Die Affäre hatte aber noch ein Nachspiel.

Zunächst stellte sich heraus, daß eine Beschreibung der Tätigkeit und tatsächlichen Stellung der Ministerkonferenz sich nicht für eine Publikation eignete. Ransonnet war aufgefordert worden, über Zusammensetzung, Geschäfte und Wirkungskreis der Ministerkonferenz eine Notiz für das Staatshandbuch zu verfassen, erklärte sich aber dazu außerstande. Oder wollte er sich von einem Schritt distanzieren, der letztlich einer Kabinettsrevolte gleichkam? Sehr geschickt gab Ransonnet den Auftrag an Bach zurück. Dabei stellte er diesem die wirkliche Lage des Ministerrates vor Augen: „Vorerst muß ich bemerken, daß von einem Wirkungskreis der Ministerkonferenz keine Rede sein kann, indem sie keine Behörde ist und weder mit Behörden noch mit Parteien verkehrt. Ihre einzige Aufgabe ist die Beratung über die au. Anträge oder administrative und legislative Verfügungen der einzelnen Ministerien. Diese Aufgabe ist in den Ah. Bestimmungen über die Ministerkonferenzen vom 12. April 1852 präzisiert; es scheint mir jedoch nicht angezeigt, darüber ein Detail in das Staatshandbuch aufzunehmen ... Die Zusammensetzung der Konferenz ergibt sich aus der stattfindenden Nennung der Herren Minister im Staatshandbuche, und es dürfte kaum nötig erscheinen, ausdrücklich zu erwähnen, daß die Präsidenten der obersten Rechnungskontrollbehörde und der obersten Polizeibehörde, dann der erste Generaladjutant Sr. Majestät und die Sektionschefs des Armeeoberkommandos zuweilen demselben zugezogen werden. Daß Se. Majestät Allerhöchstselbst den Vorsitz darin führen, ist nur Ausnahme und nicht Regel, wie es in der vor 1848 bestandenen Staatskonferenz der Fall war, und auch deshalb im Staatsschematismus ausdrücklich erwähnt wurde201.“ Einer Initiative vorsichtig aus dem Weg gehend, || S. 55 PDF || schlug Ransonnet folgende Notiz vor: „Die Gegenstände, welche in den Ministerkonferenzen zur Beratung kommen, wurden mit Ah. Entschließung vom 12. April 1852 festgelegt.“ Diesen Entwurf erweiterte Bach um die nicht minder gleichgültige Feststellung: „Nach Maßgabe der Geschäfte werden diesen Beratungen der Minister auch die Chefs anderer Zentralbehörden beigeschlossen202.“

Bach und Buol wußten natürlich genau, daß ihre Argumente für den Vorrang der Ministerkonferenz nicht der gegebenen Lage entsprachen, sie hielten aber die Stunde für gekommen, verlorene Rechte wieder geltend zu machen. Ihre Berufung auf die nicht existenten Rechte der Ministerkonferenz hatte den Zweck, einen trotz des nach außen hin beobachteten Gehorsams nie aufgegebenen Anspruch anzumelden. Buol selbst dürfte dabei nicht jene unschuldige Rolle gespielt haben, die er später, vom Kaiser zur Rechenschaft gezogen, vortäuschte.

Was Franz Joseph, von Bach und Buol vor eine vollendete Tatsache gestellt, für 1856 gebilligt hatte, wollte er 1857 wieder rückgängig machen. Eine kaiserliche Entschließung vom 20. Februar 1857 ordnete Änderungen in den Korrekturfahnen für das Staatshandbuch Jahrgang 1857 an: „Auf dem ersten Blatt der zweiten Abteilung hat folgender Titel zu stehen: Zweite Abteilung: Reichsrat. Ministerkonferenzen. Ministerien und oberste Zentralbehörden. Auf dem zweiten Blatt hat der Titel zu lauten: Oberster Rat Sr. k. k. apost. Majestät und der Krone: k. k. Reichsrat. Auf dem dritten Blatt als Titel zu setzen: Oberste Staatsverwaltung. Erster Abschnitt: Ministerkonferenz. Nach kurzer Angabe der Geschäftsaufgabe hat zu stehen: Unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz Karl Ferdinand Grafen Buol203.“ Im Staatshandbuch 1857 wurde nun tatsächlich der Reichsrat vor die Ministerkonferenz gereiht, Buol wurde aber wieder als „Präsident“ bezeichnet und nicht als „Vorsitzender204“. Die einschlägigen Akten zeigen deutlich, daß es sich bei diesem Irrtum um einen bewußt gesetzten Akt von Widersetzlichkeit handelte. Denn die von Bach vorgelegte Version, daß nämlich der Ministerkonferenzkanzlei von der Ah. Entschließung vom 20. Februar 1857 keine Mitteilung gemacht worden sei205, läßt die Frage offen, wieso der erste Teil dieser Anordnung, nämlich die Vorausstellung des Reichsrates, befolgt wurde, während der Teil bezüglich des „Präsidenten“ unbeachtet blieb.

Hätte die Darstellung Bachs den Tatsachen entsprochen, wäre Buol jeder Verantwortung enthoben gewesen. Er berief sich aber nicht darauf, daß ihm die kaiserliche Entschließung unbekannt geblieben ist, sondern versuchte, den Gebrauch des Präsidententitels „zu rechtfertigen“: „Woran mir wesentlich liegt, ist, mich Ew. Majestät gegenüber gerechtfertigt zu wissen, daß ich mich zu dem Gebrauche der nebenerwähnten Bezeichnung für berechtigt, ja für verpflichtet halten mußte, nachdem es Allerhöchstderselben selbst gefällig gewesen war, sie mir und der ersten Behörde des Reiches gegenüber fortwährend zur Anwendung || S. 56 PDF || zu bringen206.“ Selbst in dieser Rechtfertigung verzichtete Buol nicht darauf, das zu fordern, was er für die Ministerkonferenz fordern zu müssen glaubte. Obwohl ihm die ausdrückliche und wiederholte Negierung des Behördencharakters der Ministerkonferenz seitens Franz Josephs nicht unbekannt geblieben sein konnte, sprach er wieder von der „ersten Behörde des Reiches“. Und was noch schwerer wiegt: wie Buols Ausführungen in der Ministerkonferenz vom 5. Jänner 1856 zeigen, wußte er genau über seinen Titel und dessen Bedeutung Bescheid207, wußte auch, daß der Titel „Präsident der Ministerkonferenz“ von seiten des Kaisers bestenfalls geduldet worden war, daß aber daraus nie das Recht abzuleiten war, die ihm offiziell übertragene Stelle eines „Vorsitzenden“ zu der eines „Präsidenten“ zu machen. Dieser Verstoß — er ist als Zeugnis des Lebenswillens der Ministerkonferenz zu werten — blieb nur eine Episode. Selbst unter den günstigeren Voraussetzungen des Jahres 1859 konnte die Ministerkonferenz ihre ehemalige Bedeutung nur vorübergehend zurückgewinnen.

Als Buol am 17. Mai 1859 seiner Funktionen enthoben wurde — eigenartigerweise „unter gleichzeitiger Ernennung zum Staatsminister“ —, erhielt auch sein Nachfolger nur den Titel eines „Vorsitzenden der Ministerkonferenz“ zugebilligt208. Rechbergs Stellung war in dieser Hinsicht zunächst um nichts besser als die seines Vorgängers. Irgendeine Mitverantwortung an der Regierung war ihm ebensowenig zugedacht wie seinem Vorgänger. Als der Kaiser an den italienischen Kriegsschauplatz abreiste, hinterließ er die Verfügung: „Wenn es sich um die Beratung des den Wirkungskreis der Ministerien überschreitenden Verfügungen von Wichtigkeit handelt, habe der Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern sich an Se. k. k. Hoheit [Erzherzog Rainer] wegen Übernahme des Vorsitzes in der bezüglichen Konferenz durch Höchstdenselben zu wenden209.“ Rechberg versuchte auch in keiner Weise, den ihm vorgeschriebenen Wirkungskreis zu überschreiten. Als z. B. der preußische Gesandte Freiherr v. Werther Rechberg am 16. Juni 1859 den „Vorschlag einer bewaffneten Mediation“ mündlich entwickelte, erklärte sich der Minister des Äußern außerstande, in einer so wichtigen Sache Sr. Majestät auch nur ein Gutachten zu erstatten. Und da Werther eine schriftliche Mitteilung verweigerte, lud ihn Rechberg — aber auch das nur nach vorheriger Anfrage beim Kaiser — ein, mit ihm in das Ah. Hauptquartier nach Verona zu reisen210.

Weniger ihre Eigeninitiative als die Macht der Ereignisse stellte die Ministerkonferenz vorübergehend wieder an den Platz, wo der Ministerrat unter Schwarzenberg gestanden hatte. Zunächst wurde es notwendig und möglich, daß sich die Minister öfter als bisher versammelten. Auf Antrag Thuns beschloß die Ministerkonferenz, „sich während der Dauer der gegenwärtigen ernsten Zeitverhältnisse || S. 57 PDF || regelmäßig — und zwar auch, wenn kein spezieller Gegenstand die Beratung erheischt — am Dienstag, Donnerstag und Samstage jeder Woche zum Austausche von Wahrnehmungen und zur fortgesetzten persönlichen Verständigung über Inzidenzfälle“ zu versammeln211. Nach der Niederlage in Italien konnte Rechberg, der „von Anfang an erklärt hatte, daß er zum Unterschied von seinem unmittelbaren Vorgänger auch auf die inneren Verhältnisse Einfluß zu nehmen gedenke212“, mit seinem „Programm“ hervortreten. Am 17. August 1859 unterbreitete er es dem Kaiser213. Die darin enthaltenen Bestimmungen über die Ministerkonferenz greifen vieles von dem auf, was Franz Joseph seinerzeit in dem von Schwarzenberg vorgelegten „Wirkungskreis des Gesamtministeriums“ höchstpersönlich beanstandet hatte.

Der erste die Ministerkonferenz betreffende Artikel des Ministerprogramms lautete: „Der Ministerpräsident leitet die Verhandlungen der Ministerkonferenz. Diese faßt mit Stimmenmehrheit für alle ihre Mitglieder bindende Beschlüsse. Einem jeden Minister steht frei, Separatvoten dem Protokoll beizufügen.“ Dieser kurze, aber inhaltsschwere Passus stellte fast wieder jene Rechtslage her, die 1848 bis 1851 bestanden hatte. In den Beratungen der Minister über das „Programm“ wurden die diesbezüglichen Intentionen deutlicher ausgesprochen als im „Programm“ selbstd . Mit dem Artikel 1 des Programms erfolgte vor allem der Rückgriff auf das Prinzip der Kollektivverantwortung des Ministerrates, das ja eine der wesentlichen Errungenschaften der Behördenreorganisation von 1848 darstellte. Graf Leo Thun sprach sich offen gegen dieses nun wieder aufgenommene Prinzip der Solidarität des Ministeriums aus und deutete gleichzeitig an, wie seiner Auffassung nach unter Schwarzenberg dieses Prinzip gehandhabt worden war. Von der Voraussetzung ausgehend, daß der Begriff der Solidarität des Ministeriums so aufzufassen sei, daß jedes einzelne Mitglied gehalten werde, die Grundsätze des Kabinetts auch außeramtlich zu vertreten, versicherte Thun, nie gegen das Ministerium öffentlich agitieren zu wollen; er sah sich aber für seine Person außerstande zu versprechen, auf alle Fälle den Standpunkt des Ministeriums auch im vertraulichen Privatkreis als den seinigen zu verteidigen. Aus Thun sprach wohl mehr der auf seine Unabhängigkeit bedachte Hocharistokrat, der obendrein mit vielen Grundsätzen der neuen Politik nicht einverstanden war, als der Minister des Kabinetts Schwarzenberg. Denn zwei andere Überlebende der Schwarzenbergschen Ära stellten der unter dem Fürsten geübten Praxis ein anderes Zeugnis aus: Bruck und Hübner betonten nämlich, „daß gerade darin der Begriff eines einheitlichen Ministeriums liege, daß jedes Mitglied desselben die Politik des Kabinetts vertrete“. Bezeichnenderweise verlangte aber doch keiner der Minister wieder eine selbständige Stellung dem Monarchen gegenüber. Die Ursache dafür war gewiß nicht ausschließlich der damals tief gesunkene persönliche Kredit Franz Josephs, sondern auch der aus der Ära Schwarzenberg stammende Traditionsrest der Idee eines Gesamtministeriums || S. 58 PDF || mit einer Gesamtverantwortung. Die Minister einigten sich zunächst, die weitere Diskussion dieser Frage bis zum Schluß der Beratung auszusetzen. Offenbar waren aber damit Probleme berührt, die zunächst besser offenblieben, denn die Minister haben es vermieden, auf die Frage nochmals zurückzukommen. In ähnlicher Weise wurde ein Vorschlag Brucks totgeschwiegen, der allerdings ein wohlgezielter Treffer ins Schwarze war. Bruck sprach den „auch von mehreren anderen Seiten geteilten“ Wunsch aus, daß die Ministerkonferenz wieder „zu einem Ministerrate, der Beschlüsse faßt“, umgewandelt werde. Dieser Wunsch wirft ein bezeichnendes Licht auf die Stellung der Ministerkonferenz unter Buol. Selten wurde der Umstand so klar ausgesprochen, daß der Ministerkonferenz de facto das Recht ermangelte, Beschlüsse zu fassen. Eine Randnotiz: „Konferenz oder Rat“ zeigt übrigens deutlich, daß die Namensfrage nicht ein belangloses Spiel mit Worten war. Die Bezeichnungen Konferenz und Vorsitzender beziehungsweise Rat und Präsident, um die jetzt wie zur Zeit Buols wieder gerechtet wurde, standen eben als Chiffren für Absolutismus beziehungsweise Konstitutionalismus. Graf Rechberg war bestrebt, in den Fragen der Außen- wie der Innenpolitik einen Mittelweg einzuhalten und Konflikten möglichst aus dem Weg zu gehen. Das Hinausschieben klarer Entscheidungen, das den Weg der Rechbergschen Politik kennzeichnet, erschwert ein Urteil über deren letzte Ziele. Ohne Zweifel ist Rechberg dem konservativen Lager zuzurechnen. War er aber bereit, Franz Josephs autokratischen Kurs zu tolerieren? Es ist gewiß dem Einfluß Rechbergs zuzuschreiben, daß sich die Minister dahingehend einigten, es bei der vorgeschlagenen Fassung des ersten Programmartikels „bewenden zu lassen“. Die Halbheit dieser Fassung, die wohl die „Ministerkonferenz“ beibehielt, aber den „Ministerpräsidenten“ restituierte, bedeutet sicherlich nur, daß Rechberg auf halbem Wege in seinem Protest gegen das absolutistische Regime innegehalten hat. Die beiden Neuerungen, an denen Rechberg festhielt, markieren doch zu deutlich ein Verlassen jener innenpolitischen Linie, die von Kübeck inauguriert worden war. Die Wiedereinführung des Amtes des Ministerpräsidenten war ein Zugeständnis des Kaisers, das man in seiner Bedeutung eben erst richtig abzuschätzen vermag, wenn man sich erinnert, daß sich hinter der Diskussion um Namen und Ämter ein Kampf der Prinzipien verbarg. Wenn in der Sitzung vom 2. August 1859 nur festgestellt wurde, daß die Ernennung eines Ministerpräsidenten „als eine wesentliche Bedingung der Einheit und Solidarität des Ministeriums“ angesehen werde, so ist daran gerade das bedeutend, was nicht ausgesprochen wurde, was aber angesichts der Auseinandersetzung um diese Frage nicht hätte fehlen dürfen. Es wurde nämlich nicht eigens betont, daß diese Solidarität vor allem gegenüber der Öffentlichkeit zur Geltung gebracht werden sollte. Die solidarische Haltung des Kabinetts dem Kaiser gegenüber wurde somit als rechtlich festgesetzte Möglichkeit vorbehalten, wiewohl die Loyalität Rechbergs für den Augenblick eine Garantie gegen einen Konflikt zwischen dem Ministerrat und dem Kaiser bot. Ebenso einschneidend war die zweite Neuerung, an der Rechberg festhielt, die Liquidierung des Reichsrates. Auch hier griff Rechberg der Form nach sanft zu. Er verlangte in seinem „Programm“ nicht die Aufhebung des Reichsrates, aber eine Neuordnung, deren statutenmäßige || S. 59 PDF || Festlegung vom Ministerium ausgearbeitet werden sollte214. Was Buol vergeblich mit vorsichtiger, aber zäher Taktik zu erreichen versucht hatte, das forderte hier Rechberg offen vom Kaiser.

Nach einer vorbereitenden Routineberatung am 23. August 1859 trat das Ministerium Rechberg–Gołuchowski am 25. August zu seiner Eröffnungssitzung zusammen, bei der der Minister des Äußern zum erstenmal als Ministerpräsident auftrat215. Es ist nicht festzustellen, unter welchen Bedingungen Franz Joseph das „Programm“ der Regierung Rechberg–Gołuchowski angenommen hat. Die Worte, die er am 25. August an die versammelten Minister richtete, deuteten bereits an, daß er gewillt war, dem Ministerium, das sich anschickte, in die Fußstapfen der Regierung Schwarzenberg zu treten, Zügel anzulegen. Vor allem trug er dem Ministerium auf, „alles sorgfältig zu vermeiden, was den seit einiger Zeit häufiger auftretenden konstitutionellen Gelüsten Nahrung geben könnte; vielmehr müßte solchen Wünschen entgegengetreten werden“.

Dann traf der Kaiser die erste Maßnahme, um die Ministerkonferenz in der eigenen Hand zu behalten: „Um sich von der Tätigkeit Ihrer Minister bei Lösung der vorgezeichneten Aufgaben in fortlaufender, unmittelbarer Kenntnis zu erhalten, beabsichtigen Se. Majestät der Kaiser, fortan regelmäßig alle Donnerstage eine Konferenz Allerhöchst zu präsidieren, vorbehaltlich der etwa noch außerdem unter dem Ah. Vorsitze nach Erfordernis abzuhaltenden Beratungen216.“ Die Donnerstag-Konferenz, teilweise Ersatz und Ergänzung der unter Buol gehandhabten Praxis der gesonderten Konferenz, wurde nun zu einem wichtigen Gremium. Erzherzog Wilhelm als Chef des Armeeoberkommandos hatte ihr von Anfang an beigewohnt. Bald wurde auch Erzherzog Rainer, der Präsident des verstärkten Reichsrates, den unter Ah. Vorsitz abgehaltenen Ministerkonferenzen regelmäßig beigezogen, „damit Höchstderselbe in fortlaufender und unmittelbarer Kenntnis der Tendenzen der Regierung und der in dieser Sphäre stattfindenden Beratungen erhalten werde217“. In ungarischen Angelegenheiten erschien auch der Generalgouverneur Erzherzog Albrecht zu dieser „Ministerkonferenz der Erzherzöge“.

Aber die Zeit arbeitete für die Ministerkonferenz und die allerdings mit immer weniger Energie vertretenen Pläne des Ministerpräsidenten. Wenn Franz Joseph den Wünschen Rechbergs hinsichtlich einer Stärkung der Ministerkonferenz teilweise entsprach, so vor allem deshalb, weil eine „Bürgschaft der Einheitlichkeit“ innerhalb der Regierung, wie sie Rechberg forderte und in Aussicht stellen zu können glaubte, zum ersten Erfordernis der Zeit wurde. Auf die Einheit der Gesamtregierung berief sich Rechberg auch, als er im September 1859 die Änderungen der Bestimmungen über die Kontrasignatur beantragte. Er verlangte, „daß die Ah. Patente ohne Unterschied künftig mit der Gegenzeichnung der sämtlichen k. k. Minister zu versehen sein dürften218“. Die Argumente, die er || S. 60 PDF || dafür ins Treffen führte, waren nicht rechtlicher, sondern politischer Natur. Am einleuchtendsten für Franz Joseph eben der Hinweis, daß dadurch der „Geist der Einigkeit, welcher das treugehorsamste Ministerium beseelt und den die Minister nach der Allerhöchst ausgesprochenen Willensmeinung auch in ihren persönlichen Äußerungen gegenüber dem Publikum kundzugeben haben“, in entsprechender Weise dokumentiert würde. Diese Einheit und die damit verbundene Aufwertung der Ministerkonferenz erlangte für den Kaiser umso größeren Wert, als sich die innenpolitischen Gegensätze verschärften.

Die große Stunde der Ministerkonferenz war wieder gekommen, als der Monarch die „Ah. Erlässe über die neue politische und administrative Organisation der Kronländer“ in der Konferenz vom 16. Oktober 1860 vorlegte und erklärte, daß er zwar eine „Mitwirkung“ des neuen Reichsrates bei der Gesetzgebung über die Kronländer außer Ungarn anerkenne, daß er aber „nicht gewillt sei, über die wichtigsten Interessen Allerhöchst Ihrer deutsch-slawischen Kronländer durch eine oft von Parteien, manchmal selbst von Zufällen gebildete Majorität im verstärkten Reichsrat definitiv entscheiden zu lassen219“. Je größer die allgemeinen politischen Schwierigkeiten wurden, umso mehr sah sich der Kaiser auf das Zweckbündnis mit der Ministerkonferenz verwiesen. Das ist im Wesen der zeitgeschichtliche Hintergrund, der die Aufwertung der Ministerkonferenz in den Jahren 1859/60 begünstigt hat.

Unter diesen Voraussetzungen führten auch Maßnahmen zu einer Stärkung der Ministerkonferenz, denen ursprünglich dieser Zweck nicht zugedacht war. Als Folge des Verfassungsexperiments vom 20. Oktober 1860 wurden, einer aus dem Reichsrat kommenden Forderung entsprechend, die Ministerien des Innern, der Justiz und des Kultus als allgemeine Zentralbehörden aufgelöst. Dafür erstanden die ungarische und die siebenbürgische Hofkanzlei wieder zu neuem Leben. „Die oberste Leitung der administrativ-politischen Angelegenheiten der anderen Länder der Monarchie“ wurde dem neu geschaffenen Staatsministerium zugewiesen220. Neben dem Ministerpräsidenten stand nun ein zweiter leitender Minister, dessen Kompetenz nicht durch die Grenzen eines Ressorts beschränkt war. Anton v. Schmerling, der Nachfolger Gołuchowskis in diesem Amt, nützte aber seine Stellung nicht, um die Rechte des Ministerpräsidenten zu schmälern, sondern um diese zu vermehren. Dies wohl in der Erkenntnis, daß die gerade für seine Politik notwendige Stärkung des Ministeriums vor allem die im Ministerpräsidenten verkörperte Einheitlichkeit zur Voraussetzung hatte. In diesem Sinne forderte Schmerling in der Ministerkonferenz vom 11. Jänner 1861 die Rückkehr zu den rechtlichen Grundlagen der Regierungspraxis unter Schwarzenberg221. Den Anstoß zu diesem Verlangen gaben „mehrere Fälle, wo durch einseitige Anträge des Chefs einer Zentralbehörde ohne vorläufige Beratung in der Ministerkonferenz Ah. Entscheidungen über wichtige Angelegenheiten provoziert wurden, von denen er erst durch die Zeitungen oder auf Privatwegen Kenntnis erhielt und wofür er, zum wesentlichen Nachteil seiner Stellung und des Vertrauens, || S. 61 PDF || das er bis jetzt im Publikum genießt, die Verantwortung mitzutragen hat“. Um ein solches „isoliertes Vorgehen“ auszuschalten, sprach sich Schmerling dafür aus, „daß überhaupt, vorzüglich aber unter schwierigen Verhältnissen wie den gegenwärtigen, die Konzentrierung aller Vorträge beim Ministerpräsidenten eine dringende Notwendigkeit sei“. Er empfahl, zu der „während der ganzen Amtsdauer des Ministerpräsidenten Fürst Schwarzenberg eingeführten Ordnung“ zurückzukehren, „wonach aus der Kabinettskanzlei alle extrahierten Vorträge an Se. Majestät nur im Wege des Fürsten gelangten, welcher dadurch in der Lage war, einzelne Vorträge zu einer Vorberatung im Ministerrat auszuscheiden oder sie mit den ihm nötig erscheinenden au. Bemerkungen einzubegleiten“. Schmerling selbst hat sich in der Praxis nicht daran gehalten, alle wichtigen politischen Fragen vor die Ministerkonferenz zu bringen. Von der Vorbereitung des Februarpatentes z. B. hat er, in den Vorverhandlungen mit dem Kaiser in direktem Kontakt stehend, den Ministerrat völlig ausgeschlossen. Zu diesem Verstoß gegen seine Idee, den Ministerrat und den Ministerpräsidenten wieder zum Entscheidungszentrum der Politik zu machen, zwang ihn allerdings das ausdrückliche Verbot Kaiser Franz Josephs, im Ministerrat irgendwelche Verfassungsreformfragen zu behandeln e .

Als taktisches Ziel seines Vorstoßes hatte Schmerling wohl vornehmlich vor Augen, die beiden mit dem Oktoberdiplom neu geschaffenen Zentralstellen der siebenbürgischen Hofkanzlei und des kroatisch-slawonischen Hofdikasteriums der Ministerkonferenz zu unterstellen und als direkt dem Monarchen verantwortliche Instanzen auszuschalten222. Das Mittel dazu sollte eben eine Aufwertung der Stellung des Ministerpräsidenten sein. Somit war dem Kaiser zwar nicht verboten, wie bisher direkt mit den Ministern zu verhandeln, aber den Ministern wurde untersagt, sich direkt an den Kaiser zu wenden. Der Ministerpräsident war wieder der Vermittler zwischen den Ministern und dem Kaiser. Die Ministerkonferenz war analog dazu wieder das Gesamtministerium, das, alle Minister umfassend, als Einheit dem Kaiser gegenüberstand. Ausgenommen von der Pflicht, alles von Belang über den Ministerpräsidenten und die Ministerkonferenz zu leiten, war das seit dem Oktoberdiplom wieder bestehende Kriegsministerium. Wie der Ministerrat und die Ministerkonferenz nie einen Versuch unternommen hatten, irgendeinen Einfluß auf die Außenpolitik zu beanspruchen, so respektierten sie nun die Tatsache, daß sich Franz Joseph das Kommando über die Armee selbst vorbehalten hatte. Trotz dieser Mäßigung ließ Kaiser Franz Joseph den neuerlichen Vorstoß der Minister nicht unpariert.

Es dürfte schwierig sein, ein einzelnes Motiv als bestimmend für den Entschluß Franz Josephs nachzuweisen, Erzherzog Rainer mit dem Vorsitz im Ministerrat zu betrauen. Eine Deutung aber ist nach dem Vorhergesagten auszuschließen — daß er sich nämlich bestimmt sah, „Erzherzog Rainer zum Präsidenten des ersten || S. 62 PDF || konstitutionellen Ministeriums zu berufen, weil der Vortritt Rechbergs als Leiter der Ministerkonferenz der Stellung Schmerlings als leitendem Staatsmanne nicht entsprochen hat223“. Der „Staatsminister“ und seine Stellung waren noch durchaus ein Teil des Rechbergschen Systems. Die Einsetzung Erzherzog Rainers dagegen scheint ein Teil jener Maßnahmen zu sein, die bestimmt waren, den Einfluß des Kaisers über die Ministerkonferenz erneut zu festigen. Die Zugeständnisse, die der Kaiser unter Rechbergs Präsidentschaft der Ministerkonferenz gemacht hatte, waren unter den innenpolitischen Verhältnissen des Jahres 1861 nicht mehr rückgängig zu machen. Sie konnten aber in ihrem praktischen Wert vermindert werden, wenn ein Mitglied des kaiserlichen Hauses, das noch dazu gleichzeitig Präsident des Reichsrates war, die Leitung der Ministerkonferenz übernahm. Denn als Erzherzog Rainer am 4. Februar 1861 an Stelle Rechbergs mit der „Leitung der Geschäfte des Ministerrates“ — wie die Versammlung der Minister nun wieder heißen sollte224 — betraut wurde, hatte das nicht seine Enthebung als Reichsratspräsident zur Folge. Das Konzept des Ernennungsschreibens, das diese Enthebung vorgesehen hatte, wurde korrigiert, und statt der Enthebung Rainers festgesetzt, daß der Vizepräsident Franz Graf Nádasdy das Präsidium „bis auf weiteres“ führen sollte225. Erzherzog Rainer war ja schon früher Mitglied der Ministerkonferenz gewesen, hatte aber anfänglich als solches eine völlig passive Rolle gespielt. Immer mehr rückte er aber an die Seite des Ministerpräsidenten. Hatte er zuerst die Protokolle wie jeder andere Minister nur vidiert, so wurden sie ihm in der Zeit unmittelbar vor seiner Ernennung zum Vorsitzenden in der Regel als letzter Instanz vor dem Kaiser vorgelegt. Aber auch nach der erfolgten kaiserlichen Kenntnisnahme wurden sie ihm zur Information nochmals unterbreitet226. Er nahm damit eine ähnliche Stellung ein wie seinerzeit Erzherzog Franz Karl. Am 7. Februar 1861 wurde das, was bis dahin schon praktisch gehandhabt worden war, auch rechtlich fixiert. Der Kaiser erschien im Ministerrat, „um den Chefs der Zentralbehörden einige Grundsätze für ihre Tätigkeit vorzuzeichnen227“. Darunter war auch jene „Modalität des Geschäftsverkehrs, durch welche Se. kaiserliche Hoheit in die Lage gesetzt werde, sowohl von den au. Vorträgen der Zentralstellen als auch von den Ah. Erlässen an dieselben unterrichtet zu bleiben, sowie auch über das, was bei den einzelnen Zentralstellen vorgeht, nach Höchsteigenem Ermessen sofort Kenntnis zu erhalten“. Wichtig für den Kaiser war zu jenem Zeitpunkt, den Ministerrat ganz auf seiner Seite zu wissen, was durch die Leitung selbst eines liberalen Erzherzogs gesicherter schien als durch einen Ministerpräsidenten, dem die Möglichkeit || S. 63 PDF || gegeben war, mit der konstitutionellen Partei gegen den Monarchen zu paktieren. In demselben Ministerrat wies der Kaiser nämlich auch allgemein auf die Grenzen hin, die er dem Konstitutionalismus zu setzen gedachte: „Se. k. k. apostolische Majestät geruhten hiernach auszusprechen, an der Basis des 20. Oktober festzuhalten ... In dem Ah. zu erlassenden Reichsratsstatute werden die Beschränkungen, welche Se. Majestät den Rechten Ihrer Krone Allerhöchstselbst zu setzen entschlossen sind, ihren bestimmten Ausdruck finden, und Allerhöchstdieselben zählen darauf, in dem Festhalten an diesen unveränderlichen Bestimmungen durch die Chefs der Zentralbehörden gegen Versuche was immer für einer Art tatkräftigst unterstützt zu werden.“

Daß mit der Ernennung Rainers auch eine Kürzung der Rechte des Ministerrates intendiert war, ergibt sich auch aus einem anderen Zusammenhang. Es war unter den damaligen Umständen unmöglich, das Amt des Ministerpräsidenten wieder abzuschaffen. Dies wünschte der Kaiser aber vor allem im Hinblick auf den von ihm angestrebten Ausgleich mit Ungarn. Der Wechsel in der Person des Vorsitzenden bot die Möglichkeit, ohne Aufsehen die Stelle des Ministerpräsidenten zu liquidieren. Bald nach seinem Amtsantritt nahm Erzherzog Rainer die Gelegenheit wahr, für den internen Gebrauch diesbezüglich Klarheit zu schaffen. Mehrere Zentralstellen richteten ihre Zuschriften an ihn unter der Aufschrift „An Se. k. k. Hoheit den Ministerpräsidenten“. Nicht aus Bescheidenheit, sondern aus dem Wissen um die tiefere politische Bedeutung der Sache wies Erzherzog Rainer im Ministerrat darauf hin, daß er nur mit der „Leitung der Geschäfte des Ministerrates und mit dem Präsidium in demselben“ beauftragt worden sei228.

Mit dem Februarpatent wurde der Kübecksche Reichsrat aufgelöst. Als Beratungsorgan der Krone wurde der Staatsrat eingerichtet. Es ist möglich und wurde auch behauptet, daß dem Staatsrat eine ähnliche Funktion zugedacht war, wie seinerzeit dem Kübeckschen Reichsrat229. Die Initiative, die der Ministerrat aber in Person Schmerlings von Haus aus bei der Ausarbeitung des Statuts für den Staatsrat an sich gezogen hatte, traf diesmal nicht auf den Widerstand des Kaisers. Franz Joseph akzeptierte den Wunsch des Ministerrates, daß der Staatsrat nicht „als unabhängiges und unverantwortliches Gremium neben dem Ministerium“ bestehe, „keineswegs dem Ministerrat übergeordnet“ sein dürfe, „sondern daß das Ministerium vielmehr in den Stand zu versetzen sei, die Anträge des Staatsrates bei deren au. Vorlage an Se. Majestät noch zu begutachten“. Wie so oft berief sich Schmerling auch diesmal auf Schwarzenberg, während dessen Präsidentschaft „diese Idee“ bereits zur Sprache gekommen war230. Der einzige Minister, der für eine unabhängige Stellung des Staatsrates plädierte, war eigenartigerweise Rechberg. Er sprach sich entschieden gegen die Unterordnung des Präsidenten des Staatsrates unter den Ministerrat aus231, während alle anderen || S. 64 PDF || Mitglieder des Ministerrates dem Staatsratspräsidenten auch Sitz und Stimme im Ministerrat „einräumen“ wollten, seine Unabhängigkeit aber eben dadurch in Frage zu stellen gedachten. Schließlich einigte sich der Ministerrat auf den Vermittlungsvorschlag Erzherzog Rainers. Der Präsident des Staatsrates sollte den Rang eines Ministers einnehmen, den Beratungen des Ministerrates beiwohnen, ohne jedoch an den Beschlüssen desselben teilzunehmen. Franz Joseph entschied aber, die Frage überhaupt offenzulassen und einfach festzustellen: „Der Staatsratspräsident wohnt den Beratungen der Minister bei232.“ Im Sinne dieser Bestimmung nahm später Thaddäus Peithner Freiherr v. Lichtenfels regelmäßig am Ministerrat teil. Selbst den Anspruch, daß der Staatsratspräsident über Antrag des Ministerrats ernannt werde, wies der Kaiser nicht zurück. Er fand es nur für überflüssig, in das Statut einen Passus aufzunehmen, „der als Beschränkung der freien Ah. Wahl gedeutet werden könnte“.

So stand das Problem, ob der Staatsrat der Erbe des ständigen Reichsrates werden sollte, wohl im Raum, aber der Kaiser selbst entschied, anders als 1851, für den Ministerrat. Er glaubte sich und den Schutz seiner Herrscherrechte diesem anvertrauen zu können. Im Ministerrat vom 28. Februar 1861 bekräftigte der Kaiser in einem eindringlichen Appell an die Minister diesen seinen Willen. Er erklärte, daß mit den am 26. Februar erlassenen Staatsgrundgesetzen „bereits die äußerste Grenze der nach der Ah. Willensmeinung zulässigen Beschränkung der souveränen Macht“ erreicht sei. Franz Joseph forderte von seinen Ministern das feierliche Versprechen, „daß sie mit voller Energie und einträchtiger Anwendung aller ihrer Kräfte den Thron gegen die Abnötigung weiterer Zugeständnisse, sei es durch Drängen des Reichsrates oder der Landtage, sei es durch revolutionäre Versuche der Massen, verteidigen werden233“. Der Kaiser ließ das Protokoll dieses Ministerrates von allen Ministern unterzeichnen als Ausdruck des „feierlichen Versprechens eines jeden einzelnen, diesen von Sr. Majestät dem Kaiser in Anspruch genommenen tatkräftigen Schutz und Beistand unter allen Umständen zu gewähren“. Am 1. März 1861 unterschrieben Erzherzog Rainer und die Minister Schmerling, Vay, Rechberg, Lasser, Degenfeld, Wickenburg, Mecséry, Plener, Szécsen und Pratobevera. Und Franz Joseph nahm am 9. März 1861 „die Unterzeichnung des Protokolls von allen Mitgliedern“ eigens zur Kenntnis.

Damit war zum erstenmal in der Regierungszeit Franz Josephs die Chance einer echten Annäherung zwischen dem Kaiser und dem Ministerrat gegeben. Wie anders wäre die Entwicklung verlaufen, wenn den Ministerpersönlichkeiten der Regierung Schwarzenberg diese Chance geboten worden wäre! Die personellen und sachlich-politischen Bedingungen eines Ausgleiches waren aber 1861 so gestaltet, daß die Chance ungenützt blieb.

Der Ministerrat des Ministeriums Rainer–Schmerling, der zuletzt aus 13 ordentlichen Mitgliedern bestand, war keine institutionelle Einheit mehr. Als außerordentliche Mitglieder wohnten ihm nicht nur der ungarische, der siebenbürgische, der kroatische Hofkanzler, der Judex Curiae und der Präsident des Staatsrates bei, sondern auch der Präsident || S. 65 PDF || des Obersten Rechnungshofes und der des Obersten Gerichtshofes, der Vorsitzende des Unterrichtsrates, der Vorstand der Marinekanzlei, Vertreter des kroatischen Landtages und der Militärgrenze und regelmäßig einige Staatsräte. Dazu entbehrte dieser Ministerrat eines leitenden Schwerpunktes. Staatsminister Schmerling nahm nicht die dominierende Stellung ein, die ihm als dem Exponenten der Regierungspolitik nach außen hin eigentlich zugekommen wäre. Die Frage der Reihung der Unterschriften der Minister unter dem Februarpatent hatte zur Erörterung über den Rang derselben untereinander Anlaß gegeben234. Dabei beschloß man, auf das 1848 eingeführte Prinzip zurückzugreifen und den Ministerrang nach dem Datum des Eintritts in das Ministerium festzustellen. Darnach rangierten Rechberg und der Polizeiminister Mecséry vor Schmerling. Ihnen fiel auch das Recht zu, Erzherzog Rainer bei der Führung der Präsidialgeschäfte zu vertreten. Der Vorrang, der dem Ministern des Äußern — nicht wie im Falle Rechbergs auf Grund der Anciennität, sondern auf Grund seines Amtes — zukam, wurde erst für Mensdorff ausdrücklich festgesetzt. Erzherzog Rainer stellte sofort nach Mensdorffs Berufung den Antrag, daß dieser „im Ministerrat den ersten Platz unter den Ministern einnehme in Erwägung des Umstandes, daß der obenerwähnte Graf Minister des kaiserlichen Hauses ist und auch als Minister des Äußern von wegen seines Verkehrs mit den fremden Botschaftern und Gesandten einer besonders bevorzugten Stellung bedarf235“.

Aber nicht nur die administrativen Probleme verlagerten sich zunehmend in den Ministerrat und sprengten dessen Einheit. Die an das Februarpatent anschließenden Verfassungskämpfe wurden zum Großteil im Ministerrat ausgetragen236. Die ungarischen altkonservativen Minister haben sich nicht als eigentliche Mitglieder des Ministerrates, sondern nur als Vertreter Ungarns in diesem betrachtet. Polizeiminister Mecséry hat ein diese Frage vorläufig regelndes Kompromiß vorgeschlagen: „Was die Stellung der ungarischen Minister betrifft, so würde eine diesfällige Interpellation im Landtage dahin zu beantworten sein, daß diese Minister in allen gemeinsamen Angelegenheiten sich mit den übrigen Ministern zu beraten haben, in den ausschließlich Ungarn betreffenden Geschäften aber unabhängig sind237.“ Der Wille des Kaisers, den Ministerrat als starke, einheitliche Instanz zu erhalten, war aber zu diesem Zeitpunkt unumstößlich, und dieser Wille wird aus dieser Perspektive erst recht verständlich. „Das Wohl des Gesamtreiches erheische es aber unerläßlich, daß von keiner Seite isoliert vorgegangen werde, und eben deswegen darf die Gemeinsamkeit der Beratungen im Ministerrat nicht ausschließend auf die im Diplom als gemeinsam bezeichneten Angelegenheiten beschränkt bleiben“, so replizierte Franz Joseph auf die ungarischen Prätentionen238. Aber der kaiserliche Wille konnte nicht verhindern, daß sich der Ministerrat in eine ungarische || S. 66 PDF || und eine reichszentralistische Partei spaltete. Der Kaiser sah sich diesmal notgedrungen auf das Amt des Schiedsrichters verwiesen. Wollte er nicht für eine der beiden Gruppen Partei ergreifen, mußte er sich vom Ministerrat trennen. Seine Funktion als oberstes Beratungsorgan der Krone konnte dieser Ministerrat nicht mehr erfüllen. Da auch der neugebildete Staatsrat diese Rolle nicht spielen durfte, lieh der Kaiser in zunehmendem Maße wieder Privateinflüssen sein Ohr, wofür der überragende Einfluß des Grafen Moriz Esterházy, der seit dem 19. Juli 1861 der Regierung als Minister ohne Portefeuille angehörte, das bekannteste Beispiel darstellt.

Franz Joseph hatte sich bei Gewährung der neuen Verfassung dem Ministerrat anvertraut, diesen zum Schutz seiner Herrscherrechte aufgerufen. Daß der Ministerrat nicht geschlossen der am 1. März 1861 eingegangenen Verpflichtung nachkam, führte zu einem neuerlichen Aufbrechen der Kluft, die den Kaiser seit 1848 vom Ministerrat getrennt hatte.

Im Kampf gegen die konstitutionellen Forderungen des engeren Reichsrates stand der Ministerrat nämlich nicht mit der von Franz Joseph erwarteten Bedingungslosigkeit auf seiten des Kaisers. Als im Abgeordnetenhaus das Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit beantragt wurde, „befahl“ Franz Joseph seinen Ministern, dem Antrage mit Entschiedenheit entgegenzutreten und die dazu notwendigen Schritte sogleich zu beraten239. Die Mehrheit der Minister maß der vom Reichsrat aufgegriffenen Frage wenig Bedeutung bei. Sie glaubte sich der Forderung gegenüber, daß die Minister vor dem Reichsrat ihre Politik zu vertreten hätten. Allein Mecséry wies darauf hin, daß nicht diese Verantwortlichkeit, sondern „die Einführung einer parlamentarischen Regierung“ mit dem Verantwortlichkeitsgesetz beabsichtigt werde. Für niemanden konnte das eigentlich zweifelhaft sein. Der Antrag, der für den 25. Juni 1861 auf die Tagesordnung des Reichsrates gesetzt wurde, verlangte ja, daß die Minister für ihre gesamte Amtsführung und für die Beobachtung der Verfassung der Reichsvertretung verantwortlich seien und daß jede Verfügung der Gegenzeichnung eines Ministers bedürfe.

In der ersten Beratung des Ministeriums über diese heraufziehende Gefahr besprach Schmerling die Richtlinien für das Verhalten des Ministeriums in dieser Frage240. Seine Argumente dürften mit denen des Kaisers identisch gewesen sein: „Die Minister werden in allen konstitutionellen Staaten von der Krone ernannt und entlassen; sie sind die Träger der dem Regenten allein zustehenden Exekutivgewalt; sie können für ihre Amtsführung nur diesem, nicht aber der Reichsvertretung, die keine Exekutivgewalt besitzt, verantwortlich sein.“ Die geforderte Verantwortlichkeit „würde die Minister nicht zu Beamten des Kaisers, sondern der Reichsvertretung machen“. Es kann aber nicht übersehen werden, daß der zweite Punkt der Schmerlingschen Argumentation nicht ganz auf diese prinzipielle Ablehnung abgestimmt war: „Es geht nicht an, diese Frage durch ein einfaches Gesetz im Wege des engeren Reichsrates, als welcher die gegenwärtige Versammlung erscheint, lösen zu wollen; sie ist offenbar eine Verfassungsfrage und gehört als solche || S. 67 PDF || vor die Kompetenz des gesamten Reichsrates.“ Wenn Schmerling gegen den rein „theoretischen Lehrsatz“, daß die Minister dem Volke verantwortlich seien, zu Felde zog, so vor allem deshalb, weil eine Umwandlung der „Regierung des Kaisers in eine Regierung der Mehrheit des Reichsrates“ dazu geführt hätte, „daß auch dem Verlangen des ungarischen Landtages nach einem eigenen verantwortlichen Ministerium“ hätte Folge geleistet werden müssen. Es darf vermutet werden, daß Schmerling, anders als Rechberg und der Kriegsminister Graf Degenfeld-Schonburg, nur bedingt die Ministerverantwortlichkeit ablehnte. Seine Ablehnung leitete sich von anderen Voraussetzungen ab als jene des Kaisers. Das wurde im weiteren Verlauf der Krise noch deutlicher.

Der Finanzminister Ignaz v. Plener drohte mit seiner Demission, falls sich das Ministerium gegen die Ministerverantwortlichkeit im Sinne einer Rechtfertigungspflicht aussprechen sollte. Ihm schlossen sich Pratobevera und Lasser an. Dagegen kündigte Degenfeld seinen Rücktritt an, „wenn das Ministerium die gesetzliche Verankerung der konstitutionellen Ministerverantwortlichkeit dulde“. Wohl ergab sich eine Mehrheit für Schmerling, aber die Gegensätze waren so groß, daß Erzherzog Rainer eine Entscheidung des Kaisers erbat. Franz Joseph ordnete zwar die Ablehnung des Reichsratsantrages an, genehmigte aber, „daß gleichzeitig mit dieser Ablehnung die Anerkennung des Prinzips der Verantwortlichkeit ausgesprochen werde — unter welcher jedoch Se. Majestät keineswegs die parlamentarische verstanden wissen wollen, indem Allerhöchstdieselben sich die volle Freiheit der Wahl und Entlassung ihrer Minister vorbehalten haben und keineswegs gesonnen sind, einen Minister deswegen allein seiner Dienste zu entheben, weil seine Anträge in der Minderheit bleiben. Diese parlamentarische Verantwortlichkeit sei in Österreich eine Unmöglichkeit und Allerhöchstdieselben werden niemals die gesetzliche Sanktion derselben erteilen“. Die prinzipielle Anerkennung der Ministerverantwortlichkeit änderte also nichts an der prinzipiellen Ablehnung des Reichsratsantrages. Franz Joseph hielt an der Bestimmung des Handschreibens vom 20. August 1851, das formal noch immer in Geltung war, fest. Die Februarverfassung hatte daran nach den deutlich ausgesprochenen Intentionen Franz Josephs nichts geändert. Nur weil das nicht ausdrücklich ausgesprochen wurde, war das Abgeordnetenhaus mit einer von Schmerling am 2. Juli 1861 abgegebenen Erklärung vorläufig zufrieden241.

Als das Abgeordnetenhaus im April 1862 die Frage neuerlich aufgriff und mit der Votierung des Budgets junktimierte, rückte Schmerling einen weiteren Schritt von der prinzipiellen Ablehnung der Ministerverantwortlichkeit im konstitutionellen Sinn ab. Er beantragte die Zurücknahme des Handschreibens vom 20. August 1851, „insoweit es mit || S. 68 PDF || dem am 2. Juli ausgesprochenen Grundsatz der Ministerverantwortlichkeit nicht in Einklang steht242“. Nur die von Schmerling gewählte Form suchte darüber hinwegzutäuschen, daß er das Handschreiben vom 20. August 1851 in seinem Wesen negierte. Aber der Kaiser hatte im Ministerrat erklärt, daß der am 2. Juli 1861 verkündete Grundsatz eben im Sinne des Handschreibens vom 20. August 1851 zu verstehen sei. Der Widerspruch, von dem Schmerling sprach, existierte nur, sofern der Staatsminister anderer Ansicht als Franz Joseph war. Und das war offensichtlich der Fall, wenn Schmerling — wie auch Freiherr v. Lichtenfels — die Aufhebung der ausschließlichen Verantwortlichkeit gegenüber dem Monarchen als „unvermeidliche Konsequenz“ der Februarverfassung betrachtete. Denn auch diese Auffassung hatte Franz Joseph zu wiederholten Malen als Mißdeutung seiner Intentionen verurteilt. Es wäre schwer zu definieren, was jeder der Diskutanten nun tatsächlich unter Ministerverantwortlichkeit verstanden hat. Letzte Klarheit wurde wahrscheinlich in der Diskussion von beiden Seiten absichtlich vermieden. Eines ist aber sicher: der Kaiser sah sich einer Fronde gegenüber. Nur Rechberg und Degenfeld teilten rückhaltlos die Ansichten des Kaisers. Das Votum der Ungarn — Forgács und Esterházy nahmen dazu Stellung — zählte wenig. Für sie lag die Frage nicht auf der verfassungsrechtlichen, sondern auf der taktisch-politischen Ebene. Sie hielten daran fest, daß die Minister nicht dem engeren Reichsrat, sondern dem Kaiser verantwortlich blieben. Das war für sie aber eine nationale, keine verfassungsrechtliche Frage.

Nach Ansicht des Kaisers hatten die opponierenden Minister ihre Loyalitätspflicht verletzt, indem sie ihn in einem Sinne auf die Februarverfassung festlegten, den er ihr nie zu geben gewillt war. Das letzte Wort, das Franz Joseph zu dieser Sache sprach, war daher ein Vorwurf an den Ministerrat: „Se. Majestät geruhten zu erinnern, daß Allerhöchstdieselben mit der größten Gewissenhaftigkeit die in der Verfassung vom 26. Februar festgesetzten Grenzen der souveränen Gewalt eingehalten haben und daß die übrigen Faktoren ebenfalls jede Überschreitung ihrer verfassungsmäßigen Rechte gewissenhaft unterlassen sollen, widrigens die Übergriffe Ah. Orts mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen würden. Ein Versuch überzugreifen liegt in dem vorhandenen Streben nach der ,parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit‘, gegen die Se. Majestät sich wiederholt, und zwar schon vor der Erlassung des Staatsgrundgesetzes, auszusprechen geruht haben, weil mit dieser Art von Verantwortlichkeit eine Regierung in Österreich nicht möglich ist. Für die Verantwortlichkeit der Minister im Sinne der Verfassung gebe die Erklärung vom 2. Juli Maß und Ziel, worüber auch nicht ein Schritt hinausgegangen werden darf243.“ Schmerling wurde ermächtigt, eine Erklärung in diesem Sinne abzugeben. Der Entwurf, den er dazu am 27. April 1862 vorlegte, enthielt auch den Hinweis auf einen Ah. Befehl an den Ministerrat wegen „sofortiger Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfes über die Ministerverantwortlichkeit“. Der Kaiser korrigierte den Passus und setzte dafür: „Seinerzeit wird die Initiative zu einem Verfassungsgesetz über die || S. 69 PDF || Ministerverantwortlichkeit in Aussicht genommen werden.“ Damit änderte er aber nur das Datum dieses Wechsels auf die Zukunft. Aus welchen Motiven, bleibe hier unerörtert, aber Franz Joseph hatte sich unter Protest „den Konsequenzen“ der Verfassung vom 26. Februar, wie sich Schmerling ausgedrückt hatte, fügen müssen. Daß er dazu letztlich durch die Haltung des Ministerrates genötigt worden war, hat er diesem wohl nie verziehen.

Parallel zu diesen politischen Differenzen wurde das Verhältnis zwischen Kaiser und Ministerrat durch eine schwere persönliche Vertrauenskrise belastet. Ihre Bedeutung kann man nur dann richtig einschätzen, wenn man in Betracht zieht, was für Franz Joseph das Dienstgeheimnis bedeutet hat.

Am 28. September 1857 hatte es Franz Joseph zum erstenmal für nötig befunden, an alle Minister ein Handschreiben zu richten, um ihnen mitzuteilen, daß er „wiederholt mißfällig die Nichtbeachtung des Amtsgeheimnisses wahrgenommen habe, indem Anträge, die zur Ah. Entschließung vorgelegt werden, bevor dieselbe erfolgt, oft gleichzeitig in den Zeitschriften besprochen werden244“. Damals vermutete der Kaiser noch untergeordnete Beamte als Täter. Er mußte aber bald die Überzeugung gewonnen haben, daß die Minister selbst ihre Pflicht in dieser Hinsicht nicht allzu ernst nahmen. Am 6. April 1861 legte der Kaiser dem Ministerrat die wichtige Frage der „Antwort auf die preußischen Vorschläge bezüglich eines Schutzbündnisses“ zur Begutachtung vor. Bei diesem Anlaß wies er ausdrücklich auf sein „Zögern“ hin, diese Angelegenheit in der Ministerkonferenz beraten zu lassen, weil er „in neuester Zeit mit Bedauern wahrgenommen habe, daß das Geheimnis mancher Konferenzberatungen nicht gewahrt wurde, indem die Abstimmung selbst in Zeitungen veröffentlicht werde245“. Am 24. August 1861 war wieder ein Anlaß gegeben, an das Amtsgeheimnis zu erinnern246. Die Wirkung dieses Amtsmißbrauches auf Franz Joseph mußte um so nachhaltiger sein, als es sich in den meisten Fällen um einen Affront gegen seine Person handelte. Überwiegend waren Beratungen unter kaiserlichem Vorsitz der Gegenstand der Indiskretionen. Dazu verband sich der Höhepunkt der Auseinandersetzungen gerade mit jenem Ministerrat vom 27. April 1862, in dem auch die Diskussion um die Ministerverantwortlichkeit geführt worden war247. Im Ministerrat vom 2. Mai 1862 nahm der Kaiser dazu selbst das Wort: „Nachdem Se. k. k. apostolische Majestät erst in der Konferenz am 27. v. M. die trotz wiederholter Ah. Verbote noch stattfindenden Verlautbarungen über die Abstimmungen im Ministerrat rügend erwähnt hatten, mußten Allerhöchstdieselben mit dem bittersten Gefühle in einem Wiener Journal dem Bericht über jene Konferenz begegnen. Die Abstimmung einzelner Konferenzmitglieder ist darin mit einer Bestimmtheit angegeben, als ob dem Berichterstatter das Konferenzprotokoll vorgelegen wäre; zugleich ist sie aber tendenziös dargestellt, um die für nicht liberal geltenden Mitglieder des kaiserlichen Kabinetts zu terrorisieren. Se. Majestät der Kaiser fanden Sich dadurch veranlaßt, über die hier zugrunde || S. 70 PDF || liegende neuerliche Verletzung des beschworenen Dienstgeheimnisses den Ah. Tadel mit der Erwartung auszusprechen, daß dieselbe sich nicht wiederholen werde248.“ Sie wiederholte sich aber nichtsdestoweniger. Am 5. November 1862 mußte Erzherzog Rainer wieder an die Geheimhaltungspflicht erinnern249. Wieder war eine Notiz „aus dem Ministerrat“ über eine Konferenz unter Ah. Vorsitz detailliert in die Zeitung gelangt.

Zwei Jahre später wurde ein kleiner Zwischenfall aktenkundig, der einiges Licht auf die Praktiken der Herren Minister wirft. Bei der Einsichtnahme in das Protokoll vom 20. Juni 1864 250 vermerkte der ungarische Hofkanzler Graf Zichy: „Die Tasche war nicht gesperrt.“ Da die Minister ohne Datum signierten, ist nicht festzustellen, von welchem Minister Zichy die Tasche erhalten hatte. Die Rangfolge, nach der die Protokolle üblicherweise zirkulierten, wurde nicht eingehalten. Der Justizminister Hein rangierte vor Zichy. Er notierte aber: „Die Tasche gelangte erst nach Exzellenz Graf Zichy hierher; alle Versuche, sie zu sperren, blieben fruchtlos.“ Aber der einzige Militär der Ministerliste störte das Spiel. Der Kriegsministerstellvertreter Freiherr v. Schiller stellte als letzter fest: „Die Tasche offen erhalten; mit dem eigenen Schlüssel jedoch sperrbar befunden.“ Dazu muß ergänzt werden, daß der Kriegsminister im Ministerrat vom 20. Juni 1864 eine teilweise Einschränkung der Militärgerichtsbarkeit für Ungarn beantragt hatte. In dieser hochpolitischen Frage hatten sich vor allem der ungarische Hofkanzler und der Justizminister exponiert. Ein Appell an die Öffentlichkeit lag allein in ihrem Interesse. Das Versagen des Schlüssels bei den beiden zunächst interessierten Ministern ist wenig geeignet, die Annahme eines rein technischen Versagens zu stützen. Konkreteres läßt sich zu dieser Episode nicht sagen. Immerhin zeigt sie, daß die Minister höchstpersönlich die Mittelsmänner der Journalisten waren. Der subalterne Beamte der Ministerratskanzlei, der die Protokolle zu den Ministern brachte, hatte keinen Schlüssel zur Tasche. Für die Protokollführer wie für den Kanzleidirektor war aber wohl das Risiko einer Indiskretion, die sie ihre Existenz gekostet hätte, zu groß.

Der Gründe waren also genug, daß der Ministerrat beim Kaiser jeden Kredit verloren hatte. Da der Staatsrat die vertrauliche Funktion einer Nebenregierung nicht erfüllen konnte, der Kaiser sich andererseits seit 1861 verpflichtet fühlte, bis zu einem gewissen Grad mit dem Ministerrat zusammenzuarbeiten, bildete sich im Ministerrat selbst ein engeres Gremium, dessen sich Franz Joseph für vertrauliche Beratungen bediente. Die „Konferenz“, die vor 1861 doch nur als Sonderfall bestanden hat, erlangte nun beinahe institutionellen Charakter, ohne daß allerdings in der Terminologie der Unterschied konsequent beachtet worden wäre. Es waren meist nicht mehr als vier Minister, die der Kaiser unter seinem Vorsitz zu dieser Sonderform des Ministerrates versammelte. Rechberg und Schmerling waren immer dabei, Degenfeld und Mecséry sehr oft, Plener gelegentlich. Die Auswahl dieser Personen ist für Kaiser Franz Josephs formale Objektivität in politischen Fragen charakteristisch. Nicht alle waren Männer seiner || S. 71 PDF || Partei, aber doch Männer seines Vertrauens. Er wahrte das Recht, das er ihnen zugestanden hatte, solange dieses Recht in Geltung war. Es waren immer politisch wichtige Fragen, die in der „Konferenz“ vorberaten wurden: Eventualität eines Krieges mit Sardinien251; Aufforderung an Ungarn und Kroatien zur Beschickung des Reichsrates und Thronrede zur Eröffnung des Reichsrates252; Kongreß über die polnische Frage, Politik Österreichs in dieser Frage, Deutscher Fürstenkongreß, Reform des Deutschen Bundes253; Reformakte des Deutschen Bundes und Fürstenversammlung254; Haltung der österreichischen Regierung in der holsteinischen Angelegenheit, militärische Vorbereitungen255. Immer war es nur ein ganz kleiner Kreis, der unter gelegentlicher Beiziehung eines Fachreferenten diese Fragen beriet, bevor sie dem Plenum des Ministerrates vorgelegt wurden. Franz Joseph hat diesen auf wenige Personen beschränkten Ministerrat selbst als „engere Konferenz“ apostrophiert256. Diese war zumindest bis zur Berufung Belcredis das eigentliche Regierungs­instrument, personell jener Teil des Ministeriums, mit dem der Kaiser zusammenzuarbeiten bereit war.

Als Franz Joseph am 29. Juli 1865 die Minister der neuernannten Regierung Belcredi um sich versammelte, kam er noch einmal auf den Vertrauensmißbrauch, dessen sich das Ministerium Rainer-Schmerling in seinen Augen schuldig gemacht hatte, zu sprechen: „Die schriftlichen Protokolle der Ministerberatungen dürfen nur in die Hände der Minister kommen, und Se. Majestät erwarten, daß von nun an nicht mehr vorkomme, wie es bisher leider geschah, daß selbst untergeordnete Beamte der Ministerien von diesen Schriften Einsicht bekamen257.“ Und tatsächlich konnte der Kaiser nach Jahresfrist den neuen Männern seines Vertrauens das Zeugnis ausstellen, daß „immer das strengste Geheimnis über die Beratungsgegenstände beobachtet worden sei258“.

Als Grundpfeiler der Neuordnung von 1865 mag allein die Bestätigung der persönlichen Herrscherstellung Franz Josephs erscheinen. Sie wurde von dem streng konservativ gesinnten Ministerium tatsächlich in keiner Weise angefochten. Die Ansprache Franz Josephs an das neue Ministerium markiert deutlich dieses neue Verhältnis zwischen dem Ministerrat und dem Kaiser. Am 29. Juli 1865 konnte Franz Joseph mit gutem Grund seiner Hoffnung Ausdruck geben, „nun Minister um sich zu haben, von denen Se. Majestät überzeugt sind, daß sie die Allerhöchst aus der innigsten Überzeugung entspringenden Absichten vollkommen teilen“. Dagegen darf aber ein anderes nicht übersehen werden: der Kaiser anerkannte seinerseits, was er bisher beharrlich verweigert hatte, nämlich die von Schwarzenberg seinerzeit verfochtene Forderung, daß der Ministerrat eine „Behörde“ sei. Die „Instruktion für das Gesamtministerium“ ist im wesentlichen, || S. 72 PDF || soweit sie die Rechtsstellung des Ministerrates betrifft, die späte Genehmigung des Schwarzenbergschen Vortrages vom 9. Jänner 1852 259. Als unmittelbare Vorlage diente allerdings nicht Schwarzenbergs „Wirkungskreis für das Gesamtministerium“, sondern eine „Instruktion für das Gesamtministerium“ aus dem Jahre 1861260. Möglicherweise handelte es sich dabei um ein Projekt im Anschluß an das „Programm“ Rechbergs vom 17. August 1859, das nie zur Durchführung gelangt ist. Diese Deutung scheint naheliegender als die Redlichs, der die Instruktion als „Werk der im kaiserlichen Kabinett jederzeit vorhandenen Nebenregierung“ kritisiert261. Das ist formal ja nicht unrichtig, geht aber am eigentlichen Kern des Problems vorbei.

Die Instruktion ist vom Kaiser dem Ministerium zur Annahme vorgelegt worden. Das als Ausdruck einer neuen Welle des Absolutismus zu deuten liegt nahe. Wesentlich ist allerdings der Umstand, daß das Ministerium in der erfolgten Nachberatung an dem kaiserlichen Vorschlag nichts Wesentliches geändert hat. Belcredi hatte noch im Ministerrat vom 29. Juli 1865 gebeten, „im Hinblick auf die Wichtigkeit der Sache und da namentlich die Punkte 4 und 6 eine reifliche Erwägung erheischen“, die Instruktion von seiten des Ministerrates einer genauen Prüfung unterziehen zu dürfen. Belcredi beriet die „projektierte Instruktion“ mit dem Finanzminister Larisch, mit Moriz Esterházy und mit dem ungarischen Hofkanzler Mailáth. Am 5. August berichtete er dem Kaiser das Ergebnis und unterbreitete die Neufassung der Instruktion, die Franz Joseph in dieser Form am 6. August genehmigte262. Nur zwei Änderungen von Belang wurden an dem Entwurf des Kaisers vorgenommen: „Gesamtinteressen des Reiches“ sollten nicht Gegenstand der Beratung im Ministerrat sein (§ 4a), und der Ministerrat sollte zwar „beraten“, seine Beratungen aber zu keinem „Ergebnis“ führen (§ 6). Letzteres erscheint nur aus dem Zusammenhang gerissen nicht sehr sinnvoll. Der § 6 gestattete den Ministern und Chefs der Zentralstellen, ihre Anträge unmittelbar an den Monarchen zu richten. Die damit zum Ausdruck gebrachte Unabhängigkeit der Minister sollte durch Ministerratsbeschlüsse nicht beeinträchtigt werden. Wieder könnte man eine Neuauflage absolutistischer Praktiken herauslesen. Zu dieser Deutung käme man, legte man die Kategorien der Jahre 1848 bis 1861 an die Instruktion als Maßstab an. Aber im Jahre 1865 ging es nicht um die Teilung der Macht zwischen Ministerrat und Kaiser. Das Hauptproblem war die Wahrung der Reichseinheit, konkret der Ausgleich mit Ungarn. Nur unter diesem Aspekt sind jene Paragraphen der Instruktion zu beurteilen, die vom Programm Schwarzenbergs differieren.

Der Kaiser hatte den § 6 als den Kernpunkt der Instruktion bezeichnet. Würde man diesen Paragraphen verfassungsrechtlich, also als Schmälerung der Macht des Ministerrates deuten, stünde er in eklatantem Widerspruch zu den §§ 1 und 2, die den Behördencharakter des Ministerrates konzedieren. Der § 6 sollte dagegen || S. 73 PDF || lediglich eine Teilnahme der ungarischen Minister an der Regierung ermöglichen, ohne sie dem Ministerrat zu unterstellen. Für die Ungarn mußte der direkte Kontakt mit dem Herrscher gesichert werden. Das entsprach ja auch dem Programm Belcredis. So erteilte er schon am 1. August 1865 die Weisung, „daß die Vorträge der Minister und namentlich des ungarischen Hofkanzlers künftig der Gegenzeichnung nicht unterzogen werden dürfen263“. Aus dem gleichen Grunde durfte es keinen Ministerpräsidenten mehr geben, wie ihn der Entwurf von 1861 noch vorgesehen hatte. Wieder leitete nur ein Vorsitzender die Beratungen des Ministeriums. Deshalb mußten auch die „Gesamtinteressen des Reiches“, die der Entwurf des Kaisers als Kompetenz des Ministerrates genannt hatte, aus der Instruktion eliminiert werden. Gerade diese Korrektur, zu der sich Belcredi veranlaßt sah, liefert den Schlüssel zu der hier vertretenen Interpretation: Die Instruktion für das Gesamtministerium war, soweit sie die Stellung des Ministerrates dem Herrscher gegenüber betraf, die Anerkennung der von Schwarzenberg und Rechberg vertretenen Forderungen. In den Punkten, in denen sie von diesen politischen Leitbildern abwich, richtete sie sich nicht gegen die Stellung des Ministerrates, sondern war ein Zugeständnis an das Unabhängigkeitsstreben der dem Ministerrat angehörenden ungarischen Minister.

In der konkreten Situation des August 1865 war der Konflikt zwischen Kaiser und Ministerrat unzeitgemäß geworden. Nicht der Ministerrat und seine rechtliche Stellung waren daher der Gegenstand der Instruktion für das Gesamtministerium, sondern der Ausgleich mit Ungarn. Das war durchaus der Situation angemessen, der sich der Kaiser und das Ministerium gleicherweise gegenübersahen. Erst aus dieser staatspolitischen Notlage ist das Provisorium von 1865 entstanden. Die Front zwischen Kaiser und Ministerrat, an der bis 1861 so heiß gekämpft worden war, ist 1865 zum Nebenkriegsschauplatz geworden. Freilich hat dieser Waffenstillstand die absolutistische Epoche nicht beendet, sondern ihr Weiterbestehen lediglich verschleiert. 1865 war der für das habsburgische Reich fundamentale Zusammenhang zwischen Konstitution und Reichseinheit beispielhaft offenbar geworden. Gerade aus der Perspektive der Außenpolitik, die seine Domäne war, hat Kaiser Franz Joseph diesen Zusammenhang vielleicht anfangs nur geahnt, seit 1859 aber klar gesehen. Beurteilt man die Entwicklung von ihrem Ergebnis her, so scheint der Kaiser staatsmännischer gedacht zu haben als seine Minister. Ihm war die Reichseinheit oberstes Anliegen, diesen die Wahrung ihres konstitutionellen Rechts. In dieser Ausschließlichkeit waren aber die Fronten nicht gezogen. Es wäre zu prüfen, ob die um Mitbestimmung ringenden Regierungen nicht das gleiche Ziel vor Augen hatten wie der Kaiser. Ja es ist die Frage angebracht, ob ein konstitutionelles Zusammenwirken zumindest zwischen Monarch und Regierung nicht eine bessere Garantie für die Reichseinheit geboten hätte, als es die Dynastie allein auf die Dauer sein konnte. Auf jeden Fall lähmte der de facto nie ruhende Kampf zwischen Ministerium und Kaiser die Aktionskraft gerade jener Instanzen, die zur Lösung des Reichsproblems vordringlich berufen gewesen || S. 74 PDF || wären. Die daraus erwachsende Unsicherheit schuf einen Leerraum gerade im Zentrum der politischen Macht. Denn der Sieg des monarchischen Prinzips in den Jahren 1848 bis 1867 wies ja nicht nur den Liberalismus mit seiner Forderung nach politischer Mitbestimmung für breitere Volksschichten in die Schranken. Gravierender in seinen Folgen für die Neukonstruktion der Monarchie nach den Erschütterungen des Jahres 1848 war der Umstand, daß der Neoabsolutismus die in der damals staatstragenden Schicht lebendigen Traditionen eines staatsbejahenden und zugleich reformerischen Konservativismus verschüttete, wie sie Schwarzenberg, Thun und vielleicht auch noch Rechberg verkörperten. Dieser Konservativismus, der zumindest bis in die Amtszeit Rechbergs die herrschende Ideologie der politisch aktiven Elite geblieben ist, stand dem ministeriellen Konstitutionalismus, wie ihn Stadion, Bach, Philipp und Karl Krauß und Bruck verfochten, näher als den autokratischen Ideen Kübecks. Hübner, dem selbst liberale Geschichtsschreiber ihr Lob nicht versagten264, hat vielleicht am besten das politische Kredo dieser Gruppe formuliert: „Vollkommener Bruch einerseits mit den falschen Lehrsätzen der Revolution, andererseits vollkommener und aufrichtiger Bruch mit dem alten Regiment. Keine Rückkehr zum Absolutismus. Alle Freiheiten, welche die moderne Gesellschaft erheischt, aber keine auf der Volkssouveränität beruhende Charte von 1830265.“ Wie reformbereit dieser Konservativismus war, zeigen gerade neuere Arbeiten, die auf diese bisher wenig erforschten politisch-ideengeschichtlichen Fragen näher eingehen266. Wenn auch damit nur die Frage gestellt ist — und natürlich offenbleibt —, ob diese „vaterländische Reformbewegung je stark genug gewesen wäre, den nationalistischen Kräften zu widerstehen und die Spannung zwischen Gesellschaft und Staat aufzuheben267“, so ist gewiß, daß dazu weder der Liberalismus noch der autokratische Konservativismus, der in Österreich mit dem Neoabsolutismus die Herrschaft antrat, sondern der in seiner Entwicklung damals gehemmte „konstitutionelle Konservativismus“ fähig gewesen wäre, der im österreichischen Ministerrat lange Zeit sein Aktionszentrum besessen hatte. Die Geschichte des österreichischen Ministerrates von 1848 bis 1867 illustriert daher nicht nur eine verfassungsrechtlich-politische Krise, sie dokumentiert mehr noch den Beginn einer sozialpolitischen: gerade der politisch aktivste Teil des österreichischen Hochadels kapitulierte damals vor der Krone und zog sich aus der Politik zurück. Das franzisko-josephinische System der Berufung von Staatsdienern statt von Politikern in führende Stellen nahm seinen Anfang.

4. Die Kanzlei des Ministerrates - Retrodigitalisat (PDF)

Auflösung des Büros der Staatskonferenz — Regulierung des Büros des Ministerrats am 12. Mai 1848 — Stellung des Kanzleidirektors — Instruktion für die Schriftführer vom 9. Jänner 1849 — Bestellung Baron Ransonnets zum Sekretär der Ministerratskanzlei am 25. Mai 1849 — Organisierung der Ministerratskanzlei durch Schwarzenberg am 24. April 1851 — „Bestimmungen über die Ministerkonferenzialkanzlei“ vom 28. Mai 1852 — Arbeit und Personalstand der Kanzlei 1852 bis 1858 — Einführung der Sonderprotokolle — Auflösung der Kanzlei am 8. Oktober 1858 — Einrichtung einer Präsidialkanzlei am 8. Oktober 1861 — Leitung der Geschäfte des Ministerrates durch die Präsidialkanzlei des Staatsministeriums unter Belcredi

Die erste Instanz, die auf die Gestaltung der Ministerratsprotokolle direkten Einfluß nahm, war die Kanzlei des Ministerrates. Vom Standpunkt der Quellenkritik ist dieser Einfluß insofern besonders interessant, als er nicht bloß kanzleitechnischer Art war. Die Schicksale des Ministerrates wirkten nämlich jeweils so nachhaltig auf seine Kanzlei zurück, daß deren Geschichte als ein Spiegelbild der politischen Entwicklung betrachtet werden kann268.

Es ist daher sehr wohl zu verstehen, daß 1848 der Bruch mit dem Vormärz auch auf der Ebene der Kanzleiorganisation vollzogen wurde. Die Büros jener Behörden, auf die man für die Führung der Geschäfte des Ministerrates naheliegenderweise hätte zurückgreifen können, wurden aufgelöst. Keiner der leitenden Kanzleibeamten des „Büros der Staatskonferenz“ oder der „Staatsratskanzlei“ wurde für die Kanzleigeschäfte des neugegründeten Ministerrates eingesetzt. Neben rein politischen Erwägungen dürften allerdings auch solche technisch-organisatorischer Art für diese Entscheidung maßgebend gewesen sein.

Die Hauptaufgabe der zu begründenden Ministerratskanzlei sollte es sein, die Protokolle der zunächst täglich stattfindenden Ministerratssitzungen zu führen. Gerade diese Aufgabe war aber für das bis dahin in Dienst stehende Kanzleipersonal neu. Natürlich gab es auch vor 1848 Sitzungsprotokolle der Staatskonferenz und des Staatsrates, die der Form nach in etwa den Ministerratsprotokollen entsprachen269. Solche Protokolle waren aber selten und wurden, wenn es sich um echte Mitschriften von Beratungen handelte, meist von einem Mitglied des Staatsrates oder der Staatskonferenz, zumindest aber von einem der leitenden Beamten der genannten Gremien geführt. Jene Protokolle aber, die von den bei der Staatskonferenz angestellten „Protokollführern“ verfaßt wurden, können in keiner Weise als aktenkundliche Vorläufer der Ministerratsprotokolle gelten. Die von den Protokollführern der Staatskonferenz angefertigten „Konferenzprotokolle“ sind nur bedingt als „Protokolle“ im üblichen Wortsinn zu werten. Praktisch wurde jeder Vortrag, der der Staatskonferenz zugewiesen war, zum Gegenstand eines „Konferenzprotokolls“. Die Aktenstücke, die diese Bezeichnung tragen, bestehen aus einem Vortragsextrakt, dem Gutachten der Staatskonferenz || S. 76 PDF || und der Ah. Entschließung. Nur das Gutachten und die Ah. Entschließung waren vom Protokollführer abgefaßt. Obwohl es die Meinung der Staatskonferenz ausdrückte, war das Gutachten in der Regel nicht das Ergebnis einer kollegialen, mündlichen Verhandlung. Dem Protokollführer oblag offenbar bei dieser Art der Geschäftsführung vor allem die Aufgabe, die Meinungen der Konferenzmitglieder einzuholen und daraus eine zusammenfassende Stellungnahme zu formulieren. Auch wenn eine mündliche Beratung stattgefunden hat, legte der Protokollführer ihr Ergebnis nicht in Form eines Protokolles, sondern eines Gutachtens nieder. Meist verfaßte dieses Gutachten, und zwar unter Berufung auf eine Konferenzberatung, nicht einmal der Protokollführer, sondern derjenige Minister oder Staatsrat, der für den Gegenstand als Antragsteller die Verantwortung trug. Daher sind z. B. für das Jahr 1847 die Konferenzprotokolle der Minister Kolowrat und Hartig und der Staatsräte Pilgram, Buol und Krauß gegenüber denen des Protokollführers Ludwig v. Rosenfeld in der Überzahl. Kolowrat und gelegentlich auch Hartig bedienten sich für die Abfassung der von ihnen gefertigten Protokolle meist des späteren Staatsrates Josef v. Pipitz, jenes Mannes, der als einziger aus dem höheren Beamtenstand des Vormärz für kurze Zeit in der Ministerratskanzlei an leitender Stelle wirkte.

Die sogenannten „Konferenzprotokolle“ waren also im Normalfall keine Mitschriften von Verhandlungen der Staats- und Konferenzminister, sondern einfache Vortragserledigungen in Form von Empfehlungen der Staatskonferenz an den Monarchenf . Diese Konferenzprotokolle wurden nicht nur den Konferenzmitgliedern, sondern auch den für die Sache zuständigen Staatsräten, Präsidenten der Hofstellen, Ministern und zuletzt auch dem Thronfolger Erzherzog Franz Karl zur Einsicht vorgelegt — dies war das dürftige Ergebnis der Bemühungen Metternichs, aus der Staatskonferenz eine Gesamtregierung zu machen. Weil jeder Vortrag in Form eines solchen Protokolls erledigt wurde, gibt es auch Protokolle folgenden Wortlautes: „Genehmigung dieses Antrages dürfte keinem Anstande unterliegen“, oder: „Dürfte lediglich in den Akten hinterlegt werden“. Es war also bei der Organisation der Kanzlei des Ministerrates kein Anlaß gegeben, für die Führung der Ministerratsprotokolle auf die Protokollführer der Staatskonferenz zurückzugreifen, weil diese für die neue Aufgabe der Abfassung von Sitzungsprotokollen nicht besser vorbereitet waren als jeder andere Konzeptsbeamte.

Daß keine der bestehenden Kanzleiorganisationen für den Ministerrat übernommen wurde, erklärt sich ferner vielleicht auch aus der Tatsache, daß die in Frage kommenden Büros nur noch sehr beschränkt funktionsfähig gewesen sind. Der Staatsschematismus für das Jahr 1847 nennt nur noch zwei Kanzleibeamte im Status der Staatskonferenz: einen Offizial und einen Registranten. Obwohl diese Angabe dem tatsächlichen Personalstand, wie er sich aus dem erhaltenen Aktenbestand rekonstruieren läßtg, nicht entspricht, dürfte insbesondere das Büro der Staatskonferenz als Folge des fast vollständigen Stillstandes der Regierungsgeschäfte || S. 77 PDF || in den Jahren vor 1848 tatsächlich weitestgehend entbehrlich geworden sein. Es ist bekannt, daß die in der Instruktion von 1843 vorgesehenen wöchentlichen Konferenzberatungen infolge der Scheu Erzherzog Ludwigs vor mündlichen Verhandlungen nie Wirklichkeit geworden sind. Es dürfte damit in Zusammenhang stehen, daß der Staatsschematismus von diesem Jahr an keine Protokollführer mehr nennt. Aber auch der Direktor des Büros der Staatskonferenz wurde ab 1846 offiziell nicht mehr als solcher geführt. Der Nachfolger des 1843 ernannten Direktors des Büros der Staatskonferenz, Sebastian Freiherr v. Gervay, Karl v. Czillichh, war Hofrat der ungarischen Hofkanzlei. Der letzte Protokollführer der Staatskonferenzi, Ludwig v. Rosenfeld, war Hofrat in der allgemeinen Hofkammer und offenbar, wie die Mehrzahl der für die Staatskonferenz arbeitenden Kanzleibeamten, der Staatskonferenz nur für den Bedarfsfall zugeteilt. Obwohl also das Büro der Staatskonferenz über genügend Personal verfügte, um die laufenden Arbeiten der Konferenz zu erledigen, kann man nicht von einer gutorganisierten Kanzlei sprechen. Diese hätte mehr sein müssen als die Summe der ihr von anderen Behörden zugeteilten Beamten. Von diesen Voraussetzungen her war es also nur naheliegend, für den Ministerrat ein neues Büro zu begründen, das weder personell noch organisatorisch an vorhandene Institutionen anknüpfte.

Erst im Oktober 1850 bemühte sich Schwarzenberg um eine definitive Organisierung der Kanzlei des Ministerrates. Bis dahin besorgte die Geschäfte des Ministerrates ein „aus Beamten verschiedener Behörden zusammengesetztes“ Kollegium — so hat sich Schwarzenberg rückblickend ausgedrückt270. Dieses als Kritik gedachte Urteil des Ministerpräsidenten bezog sich jedoch nicht auf die Qualität der bis dahin geleisteten Arbeit, sondern nur auf die Vorläufigkeit der im Mai des Jahres 1848 getroffenen Regelung. Wie der Ministerrat selbst, so wurde auch seine Kanzlei nur als Provisorium eingerichtet. Die Behörden, aus denen das Kanzleipersonal des Ministerrates rekrutiert wurde, waren der Staatsrat, das Kabinettsarchiv und die allgemeine Hofkammer. Seit März 1848 führten alternierend die Staatsratskonzipisten Wenzel Wacek, Joseph Marherr und der Hofsekretär der allgemeinen Hofkammer, Carl Freiherr v. Ransonnet-Villez, die Protokolle des Ministerrates. Angesichts der großen Zahl der Ministerberatungen waren diese drei Beamten mit der Verfassung der Protokolle und der Ausfertigung der Beschlüsse des Ministerrates voll ausgelastet. Für die Bearbeitung der an den Kaiser gerichteten Vorträge der Minister, der Eingaben und Bittschriften, die an den Ministerrat oder dessen Präsidenten gerichtet waren, sowie für die Inventarisierung dieser Akten sorgten zwei Registraturbeamte des Staatsrates, Johann Manker und Joseph Sticher.

Am 11. Mai 1848, als sich aus einer mehrwöchigen Erfahrung „über die Bedürfnisse an Arbeitskräften bereits ein gehöriges Licht verbreitet“ hatte, beantragte Pillersdorf die „definitive Regulierung“ eines eigenen Büros für die Protokoll- und || S. 78 PDF || Schreibgeschäfte des Ministerrates271. Das personelle Provisorium der Ministerratskanzlei sollte in ein Definitivum umgewandelt werden.

Als Pillersdorf die Anstellung von sechs ehemaligen Beamten des Staatsrates, des Kabinettsarchivs und der Hofkammer im Ministerrat beantragte, wies er zu ihrer Charakterisierung dezent darauf hin, daß das Personal der Kanzlei auch bei „Änderung des Ministeriums und seiner Grundsätze“ das gleiche bleiben solle, „weil die verwendeten Beamten sich durch Schnelligkeit und Treue der Auffassung, nicht aber durch eine bestimmte politische Meinung auszeichnen müssen“. Dem Hof schien aber diese Garantie politischer Verläßlichkeit nicht zu genügen. Denn die kaiserliche Entschließung vom 12. Mai 1848 272 entsprach nicht ganz dem Antrag Pillersdorfs. Für die Führung der Ratsprotokolle wurden Wacek, Ransonnet und Marherr als „eigens hiezu bestimmte Hofsekretäre“ bestellt. Die Hilfsbeamten Manker und Sticher blieben im Status des Kabinettsarchivs und waren zur Dienstleistung dem Ministerratsbüro zugeteilt. Strenggenommen waren alle fünf keine Beamten des Ministerrates. In betreff der Dienstleistung hatten sie sich „an die Befehle und Weisungen des Ministerrates und desjenigen zu halten, welcher mit der Leitung des für den k. k. Ministerrat bestimmten Büros beauftragt ist“. Von letzterem, von dem die Konzepte der meisten Ministerratsakten stammen, ist eigenartigerweise nirgends die Rede.

Pillersdorf sah diese von ihm getroffene Maßnahme in Zusammenhang mit der Reorganisierung anderer Zentralbehörden, namentlich jener der inneren Verwaltung und des Kriegswesens. Er ging von der nicht ganz zutreffenden Annahme aus, daß der Ministerrat und dessen Präsident mit einer eigenen Kanzlei das Erbe des Staatsrates oder der Staatskonferenz antreten würden. Andererseits dürfte er genau gewußt haben, daß darüber noch keine Entscheidung gefallen war. Denn er verlangte nur, „was unter allen Umständen und ohne irgendeine Beziehung auf die Stellung des Ministerpräsidenten erforderlich ist“. Daher blieb die Neuerung in einem wichtigen Punkt unvollendet: Pillersdorf überließ es dem künftigen Ministerpräsidenten, für die „Direktion der vorkommenden Geschäfte, die Korrespondenz und das Zeitungswesen“ eine offizielle Entscheidung zu treffen. Diese Direktion übte ein halbes Jahr hindurch, ohne einen offiziellen Auftrag dazu erhalten zu haben, der Staatsrat Joseph Ritter v. Pipitz aus273. Er gehörte vermutlich nicht zur Kategorie der von Pillersdorf apostrophierten Beamten ohne eine „bestimmte politische Meinung“. Die Karriere dieses Mannes weist ihn als einen Vertrauensmann Kolowrats aus. Erst am 11. März 1848 war er zum Staats- und Konferenzrat avanciert. Am 19. Mai 1848, als sich der Hof in Innsbruck befand, wurde er auch mit der Leitung der Kabinettskanzlei beauftragt. Diese Personalunion war gewiß keine personalpolitische Verlegenheitslösung, sondern hatte einen politischen Akzent274. Reinöhl hat das in seiner Geschichte der Kabinettskanzlei auch gesehen, wenn er schreibt: „Pipitz’ Tätigkeit in der Kabinettskanzlei darf wohl als eine || S. 79 PDF || vom Kaiser und Erzherzog Franz Karl bloß geduldete gewertet werden275.“ Allerdings ist es nicht sicher, ob Reinöhl Pipitz der richtigen Partei zuordnet. Pipitz war vielleicht doch eher der Mann der Hofpartei. Denn während die anderen fünf „unpolitischen“ Beamten der Kanzlei von der Regierung Schwarzenberg übernommen wurden, mußte Pipitz im Herbst 1848 seine Position aufgeben. Im Ministerrat vom 5. Dezember 1848 trug Franz Graf Stadion den Vorschlag vor, „die bisherigen Kabinettspersonen Staatsrat Pipitz und Hofrat Erb auf eine ehrenvolle, ihren bisherigen Diensten angemessene Art anderweitig unterzubringen276“. Hübner notiert dazu auffallend ausführlich in seinem Tagebuch: „Im Ministerrat wurden mehrere der einflußreichsten Funktionäre der letzten Regierung in Ruhestand versetzt, unter ihnen Pipitz, ein sehr fähiger Mensch. Von ihm sagte mir Fürst Metternich: Er ist ein treuer Diener seines jeweiligen Herrn. Er gehört keiner Sache, aber er gehört seinem Vorgesetzten. Solange er unter seinen Befehlen steht, dient er ihm treu und gewissenhaft. Dies sind kostbare Eigenschaften eines Untergebenen. Warum sich ihrer berauben? Die liberalen Mitglieder des Kabinetts wollen sich aber der vormärzlichen Männer entledigen; nicht, daß sie sie fürchten, aber um ihrem Publikum die Reinheit der neuen Ära vor Augen zu führen. Wenn ich mich auf ihren Standpunkt stelle, kann ich sie deshalb nicht tadeln. Nur frage ich, wenn man so fortwandelt, wird sich nicht das sogenannte Koalitionsministerium in ein Märzministerium verwandeln? Zu wiederholten Malen erlaubte ich mir, den Fürsten auf diese Richtung aufmerksam zu machen, und zwar gewöhnlich in Gegenwart Stadions oder auch, aber seltener, Bachs. Letzterer, immer liebenswürdig, bekämpfte meine Ansichten, ohne mich zu überzeugen, überzeugte aber den Fürsten. In dieser Frage, sowie in der großen ungarischen Angelegenheit, halte ich mich geschlagen277.“ Am 8. Dezember wurde Pipitz der Geschäfte beim Ministerrat enthoben, er wurde Vizepräsident des Generalrechnungsdirektoriums. Am 12. April 1849 avancierte er zum Unterstaatssekretär im Ministerium des Innern, am 6. August zum Gouverneur der Nationalbank. Diese glänzende Karriere kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich Schwarzenberg veranlaßt sah, sich seiner zu entledigen.

Über die praktische Wirksamkeit des Leiters der Kanzlei lassen sich nur schwer konkrete Angaben machen. Auf jeden Fall war er jene Instanz, die für die Gestaltung der Protokolle die letzte Verantwortung trug. Neben dem Vermerk „Protokollführer Ransonnet“ stand daher regelmäßig „Diese Protokollaufnahme bestätigt durch Staatsrat Pipitz278“ oder „Die Richtigkeit der Protokollaufnahme bestätigt. Pipitz279.“ Seit 7. Juli 1848 lautete die entsprechende Formel „Gelesen Pipitz280“. Ihm wurden also die Protokolle zur Revision vorgelegt, was in zahlreichen Korrekturen einen Niederschlag gefunden hat281. Die letzte || S. 80 PDF || Gegenzeichnung des Staatsrates Pipitz stammt vom 8. Juli 1848 282. Von da an lag die Verantwortung für die Textierung im wesentlichen bei den Protokollführern allein.

Zur Festlegung dieser neuen Verantwortung erhielten die Protokollführer am 7. Jänner 1849 eine „Instruktion283“. Als Zweck der Sitzungsprotokolle wird darin angegeben, „die motivierten Beschlüsse des Ministerrates mit allen vorgebrachten abweichenden Meinungen in den Akten niederzulegen, damit man darin Richtschnur und Anhaltspunkt für spätere Verhandlungen finde“. Dem Protokollführer oblag also die Aufgabe, vor allem die Beschlüsse festzuhalten. Im übrigen hatte er den Gang der Verhandlung bloß „darzustellen“. Vielleicht darf es als Hinweis auf den spezifischen Charakter dieser Wiedergabe der Verhandlungen aufgefaßt werden, daß Graf Buol-Schauenstein, als er 1854 Marherr für die Stelle des ersten Protokollführers empfahl, auf dessen „schnelle und richtige Auffassung der Beratungen“ wie auch auf die „lichtvolle und bündige Darstellung derselben in den Protokollen“ verwies284. Zum Unterschied von den Beschlüssen wurde die Diskussion von den Schriftführern oft nur in vereinfachender Zusammenfassung wiedergegeben. Im wesentlichen waren die Protokolle nur Verzeichnisse der Beschlüsse des Ministerrates. Wie wenig die Wiedergabe der Schriftführer gelegentlich dem entsprach, was sich der Minister, wenn es darauf ankam, von dieser Wiedergabe erwartete, zeigt folgendes Beispiel: Bach hat sein Votum für das Reichsratsstatut — und auf seine Stimme war es für die Gewinnung einer Mehrheit angekommen — gegenüber der drei Seiten langen Stilisierung des Protokollführers Wacek völlig neu formuliert285. In derselben Sache hat Bruck die pauschale Stellungnahme, wie sie das Protokoll festhielt („Auch die Minister Graf Thun, Bruck und Freiherr v. Krauß erklärten, dem Entwurf ihre Stimme nicht geben zu können“), durch ein umfangreiches Separatvotum ersetzt286. Kübeck, dessen Animosität gegen den Ministerrat dabei aber wohl in Rechnung zu stellen sein wird, hat sich wiederholt über die mangelhafte Protokollführung beklagt, sei es, daß „bei der Lebhaftigkeit der mündlichen Debatte“ der „ausgezeichnete Protokollführer [Wacek] die Richtung und den Inhalt“ seiner kundgegebenen Meinung nicht genau aufgefaßt hatte287, sei es, daß in dem Protokoll seine Meinung „teils unvollständig, teils nicht ganz richtig aufgenommen war“, was ihn dann zu einer nachträglichen Einlage veranlaßte288. Auch Baron Beust protestierte gegen die entstellende Wiedergabe seiner Ausführungen durch den Protokollführer Bernhard Ritter v. Meyer289. Freilich muß dahingestellt bleiben, ob es sich in diesen und ähnlichen Fällen um Korrekturen einer fehlerhaften Protokollierung handelte oder um nachträgliche Ergänzungen und Änderungen. Daß im allgemeinen mit Unvollständigkeiten, vergröbernden Zusammenfassungen, || S. 81 PDF || ja gelegentlich sogar mit absichtlichen Entstellungen in den Protokollen zu rechnen ist, dürfte jedoch ziemlich sicher sein.

Der zweite Protokollführer, Freiherr v. Ransonnet, hatte schon im Dezember 1848 die Agenden des Staatsrates Pipitz übernommen. Darauf verwies Schwarzenberg, als er am 25. Mai 1849 den Antrag stellte, Ransonnet mit der neu zu schaffenden Stelle eines „Sekretärs des Ministerrates“ zu betrauen290. Als solcher war er dafür verantwortlich, „darüber zu wachen, daß das Resultat der Beratungen und Beschlüsse in geschäftsmäßiger Form zu Papier gebracht und in den den richtigen Vollzug jedes einzelnen Beschlusses sichernden Kanal geleitet werde“. Als Sekretär des Ministerrates war Ransonnet gleichzeitig „Vorsteher des Ministerratsbüros“ — mit dieser Unterscheidung hatte Schwarzenberg seinen Antrag formuliert. In der letztgenannten Funktion hatte Ransonnet „für die entsprechende und schleunige Bearbeitung aller Agenden dieses Büros, insbesondere aber die ordnungsgemäße Fertigung der Entwürfe Ah. Handschreiben und Resolutionen, für die richtige Führung der Ministerratsprotokolle und Vortragsextrakte, endlich für die Amtskorrespondenz des Ministerpräsidenten als solchem“ zu sorgen. Am 1. Juni 1849 erhielt Ransonnet die „Instruktion“, die seinen Aufgabenkreis umschrieb291. Obwohl auch die „richtige Führung der Ministerratsprotokolle“ im Vortrag Schwarzenbergs noch der Kompetenz Ransonnets zugedacht war, formulierte die „Instruktion“ diese spezielle Aufgabe nur sehr allgemein. Ransonnet hat auch — anders als seinerzeit Pipitz — auf die Protokollführung kaum Einfluß genommen. Die Protokolle wurden von ihm auch nicht gegengezeichnet. Seine Revisionstätigkeit, von der es einige Zeugnisse gibt, bezog sich nicht auf die Formulierung des Textes; dafür zeichneten die einzelnen Protokollführer als allein verantwortlich. Gleichsam als Ersatz für die Revision jedes Protokolls durch den Leiter des Ministerratsbüros war aber in der Instruktion vorgesehen, daß Ransonnet Protokolle besonders wichtiger Sitzungen selbst zu führen hätte — das hatte allerdings seinerzeit auch Pipitz getan.

Welche Bedeutung Schwarzenberg der Neuordnung beigemessen hat, erhellt vielleicht aus den Vergleichen, mit deren Hilfe er den Rang des neuen Beamten zu umschreiben suchte. Schwarzenberg verlangte für Ransonnet „den Charakter und die Bezüge eines Ministerialrates“ mit der folgenden Begründung: „Die Wichtigkeit der ihm an dem erwähnten Platze anzuvertrauenden Funktion, die Analogie mit der Stellung des früheren Protokollführers der vor dem März 1848 bestandenen Staatskonferenz, endlich der Umstand, daß der Kabinettssekretär Ew. Majestät den oben erwähnten Rang bekleidet und eine Gleichstellung beider Beamter im Range bei der steten Wechselwirkung unter ihren beiderseitigen Geschäften sich als beförderlich darstellt, alle diese Verhältnisse rechtfertigen meines unmaßgeblichen Erachtens den Vorschlag, den ich Ew. Majestät die Ehre habe zu unterbreiten292.“ In der vorsichtig zurückhaltenden Sprache Schwarzenbergs ist hier der Anspruch formuliert, das Büro des Ministerrates neben die Kabinettskanzlei auf der obersten Sprosse der bürokratischen Stufenleiter || S. 82 PDF || zu placieren. Die Bestellung eines Sekretärs des Ministerrates war sehr gut mit organisatorischen Erfordernissen zu rechtfertigen, sie war aber für den Ministerpräsidenten und den Ministerrat mehr eine Prestigefrage als eine praktische Notwendigkeit. Denn im Büro des Ministerrates herrschte in den oberen Rängen kein Personalmangel. Die Stelle im Ministerratsbüro, die durch das Avancement Ransonnets freigeworden war, blieb daher auch unbesetzt. An die Stelle des zweiten Protokollführers, die Ransonnet bekleidet hatte, rückte zwar der dritte Protokollführer Marherr nach, die Stelle des dritten Protokollführers blieb aber vakant293. Überdies blieb Ransonnet weiterhin als Protokollführer tätig.

Im Hinblick auf die politische Bedeutung dieser Neuordnung des Kanzleiwesens muß darauf hingewiesen werden, daß der Ministerrat bereits im August 1848 einen Versuch unternommen hatte, das kaiserliche Kabinett zu beseitigen294. Diese wahrlich revolutionäre Forderung wurde damals damit begründet, daß in einem konstitutionellen Staat keine Zwischenstelle zwischen dem Ministerrat und dem Herrscher bestehen könne. Die Geschäfte des Kabinetts sollte die Kanzlei des Ministerrates übernehmen. Wenn Schwarzenberg pro forma die Kabinettskanzlei auch weiterhin bestehen lassen mußte, so holte er nun im Juni 1849 in gemäßigterer Form doch etwas nach, was der Kaiser und Erzherzog Franz Karl im August 1848 noch strikte verweigert hatten.

Nachdem die Kanzlei des Ministerrats am 12. Mai 1848 „reguliert“ worden war, hatte sie nun gleichsam als Abschluß dieser „Regulierung“ am 26. Mai 1849 auch einen Direktor bekommen. De facto wie de jure existierte die Kanzlei also. Was mochte Schwarzenberg veranlaßt haben, am 23. und 28. Oktober 1850 neue Anträge zu stellen und die abschließende „Organisierung“ der Kanzlei zu erbitten295? Als Begründung konnte Schwarzenberg nicht mehr vorbringen, als daß die Kanzlei „noch immer nicht förmlich organisiert“ sei296. Wenn nur eine rechtliche Klärung beabsichtigt war, warum hat Schwarzenberg seine Anträge erst und gerade im Oktober 1850 gestellt? Die beantragte Neuorganisierung verbesserte zwar die Besoldung der Beamten, sie brachte aber weder personelle Veränderungen noch eine wesentliche arbeitstechnische Umstrukturierung der Kanzlei. Die einzige Änderung von Belang betraf den Rechtsstatus eines Großteils der Beamten. In dieser Richtung dürfte der eigentliche Beweggrund für die Initiative Schwarzenbergs zu suchen sein.

Von den damaligen sechs Beamten der Kanzlei gehörten drei, nämlich Manker, Sticher und Karpf, dem Status des Kabinettsarchivs an. Auch die sechs Beamten, die seit März 1848 „zur Verfassung der zum Ah. Gebrauche dienenden Extrakte aus den Vorträgen“ verwendet wurden, waren nur vom Kabinettsarchiv zur Dienstleistung in den Ministerrat beordert297. Sie waren dem Ministerrats­sekretär „nicht förmlich untergeordnet“, obgleich derselbe ihre Arbeiten „zu leiten und zu || S. 83 PDF || vidieren“ hatte298. Diese sechs Beamten, d. h. vor allem ihre Funktion, okkupierte Schwarzenberg stillschweigend für den Ministerrat. Dies entsprach jener schon erwähnten Tendenz, die Kabinettskanzlei durch die Ministerratskanzlei zu ersetzen. Denn die Aufgabe, die diese sechs Beamten des Kabinettsarchivs zu erfüllen hatten, war ja eigentlich eine solche der Kabinettskanzlei. Schwarzenberg lag viel daran, diese „anomalen und ganz prekären Verhältnisse in einem Büro, wo sich die wichtigsten und geheimsten Staatsgeschäfte konzentrieren“, zu ändern. Aber nicht um formalrechtlich Klarheit zu schaffen, sondern — das spricht Schwarzenberg in seinem Antrag nicht offen aus — um dem Konflikt mit dem Reichsrat vorzubeugen.

Die Konstituierung des Reichsrates wurde damals in Angriff genommen. Wäre das Kabinettsarchiv unter seinem Direktor Ritter v. Pusswald weiterhin nur das Kabinettsarchiv geblieben, Schwarzenberg hätte kaum Anstoß daran nehmen müssen, daß der größere Teil der Beamten des Ministerratsbüros dem Kabinettsarchiv angehörte. Das Kabinettsarchiv war aber nun dazu bestimmt, die Geschäfte des zukünftigen Reichsrates zu führen. Die abschließende Organisierung der Kanzlei des Ministerrates, wie sie Schwarzenberg am 23. Oktober 1850 beantragte, darf füglich als Teil der Auseinandersetzungen zwischen Ministerrat und Reichsrat angesehen werden. Schwarzenberg wollte, bevor noch der Reichsrat konstituiert war, den Ministerrat als eigenständige Behörde allseitig absichern. Denn der Kaiser hatte bekanntermaßen andere Pläne. Die Zukunft des Ministerrates war noch völlig ungewiß. Daher hat Franz Joseph auch die Genehmigung des Schwarzenbergschen Antrages vom Oktober 1850 bis zum 24. April 1851 hinausgeschoben299. Am 13. April d. J. war das Reichsratsstatut erlassen worden. Die Beamten des Kabinettsarchivs, die bis dahin nur mit der Verwahrung der Akten des aufgelösten Staatsrates befaßt waren, wurden dem Reichsrat „zur Besorgung der Hilfs- und Ordnungsgeschäfte im engeren Sinne, mit Vorbehalt der freien Benützung durch das Ministerium“ zugewiesen. Schwarzenberg wollte aber eben der „Benützung“ eines für den Reichsrat und Ministerrat gemeinsamen Büros aus dem Wege gehen. Alle seine Anträge zielten auf eine Trennung des Ministerratsbüros von der Kabinettskanzlei und dem Kabinettsarchiv, er beanspruchte die absolute Selbständigkeit der Kanzlei des Ministerrates.

Die künftige Entwicklung ging aber gerade dahin, der Ministerratskanzlei diese Selbständigkeit zu nehmen, sie wieder jenen Institutionen einzugliedern, aus denen sie Schwarzenberg gelöst hatte. Der erste Schritt dazu erfolgte schon in Zusammenhang mit der Berufung Buols. Als Nachtrag zu der Aufforderung, eine Geschäftsordnung für die Ministerkonferenz vorzulegen, erreichte Buol am 20. April 1852 ein Ah. Handschreiben300. Der Kaiser machte darin aufmerksam, daß die neue Geschäftsordnung „sich auch auf die künftige Berufstätigkeit, die sonstigen Beziehungen und den Personalstand der Ministerkonferenzkanzlei wird ausdehnen müssen“. Mit dem Entwurf der Geschäftsordnung301 legte Buol daher || S. 84 PDF || in seinem Vortrag vom 4. Mai 1852 auch „Bestimmungen über die Ministerkonferenzialkanzlei“ vor302.

Schwarzenberg hatte offenbar nicht verhindern können, daß sich die Kanzlei des Ministerrates immer mehr zu einer Kanzlei des Kaisers gewandelt hatte. Die Ministerratskanzlei war auf dieselbe Stufe gestellt worden wie die weiterbestehende Kabinettskanzlei, aber in einem anderen Sinn, als es sich Schwarzenberg vorgestellt hatte. Nicht die Ministerratskanzlei hatte die Funktionen der Kabinettskanzlei übernommen, sondern sie war selbst zur Kabinettskanzlei umfunktioniert worden. Die Bestandsaufnahme der „Berufstätigkeit der Ministerkonferenzialkanzlei“, die Buol durch Ransonnet hatte vornehmen lassen, ergab, daß der Kanzlei vor allem Geschäfte oblagen, „welche sie im Ah. Auftrag unmittelbar für Se. Majestät den Kaiser verrichtete“. Die Agenden, welche die Kanzlei für die Ministerkonferenz und deren Vorsitzenden besorgte, waren demgegenüber „der Zahl und dem Umfange nach weit geringer303“. Diese Agenden verringerten sich in dem Maße, in welchem die Ministerkonferenz ihre Bedeutung als echtes Regierungsorgan einbüßte, sodaß sich Ransonnet im Jahre 1856 eingestehen mußte, daß die Kanzlei strenggenommen ihre Existenzberechtigung verloren hatte. Als er aufgefordert wurde, eine Notiz für das Staatshandbuch zu liefern, zog er folgendes Fazit: „Ebensowenig dürfte es nötig erscheinen, die Agenda der Ministerkonferenzialkanzlei anzugeben, welche Kanzlei eben nach ihren Agenden bei weitem mehr eine Kanzlei Sr. Majestät des Kaisers als der Ministerkonferenz bildet und insofern eigentlich einen Teil der Kabinettskanzlei vorstellt. Ich gebe zu, daß es dem Publikum auffallen mag, was denn die fünf Konzipisten der Ministerkonferenzialkanzlei in aller Welt zu tun haben; aber soll man deswegen in die Details der Geschäftsbehandlung in der höchsten Sphäre eingehen304?“

Womit war das Personal der Kanzlei nun wirklich beschäftigt? Die Arbeitslast war so groß, daß Ransonnet immer wieder nachdrücklich gegen beabsichtigte Personalverminderungen protestierte305. Das Personal bestand damals nebst dem Kanzleidirektor aus zwei Protokollführern, „welche vorzüglich zur Schriftführung bei den Sitzungen, aber auch zu anderen Konzeptsarbeiten“ verwendet wurden. Fünf Konzipisten waren mit der Verfassung der Extrakte für den Kaiser beschäftigt. Ein Archivar und zwei Archivsadjunkten besorgten die Manipulationsgeschäfte (Skontro, Index, Registratur und Kopiatur)306. Mit diesem Personal erklärte Ransonnet das Auslangen finden zu können. Die Manipulationsgeschäfte konnten aber schon während des Jahres 1852 nur noch bewältigt werden, weil täglich mehrere Stunden ein Beamter des Kabinettsarchivs mit Indexarbeiten aushalf. Die Arbeiten, die die Kanzlei für den Kaiser zu leisten hatte, vermehrten || S. 85 PDF || sich von Jahr zu Jahr. Hatte sich die Zahl der Vortragsextrakte im Jahr 1854 zunächst noch um 200 verringert, stieg sie 1855 bis 1857 von 3730 auf 4630 an. 1857 wurden 45.000 Seiten exzerpiert, wovon auf jeden Extrahenten 8900 Seiten entfielen — 11.000 Seiten Extrakte wurden Sr. Majestät unterbreitet. Ransonnet selbst mußte einmal „in Ermangelung disponibler Hilfsarbeiter“ einen Vortrag von 330 Seiten extrahieren. Sogar der erste Protokollführer Marherr mußte für das Exzerpieren eingesetzt werden. Da für das Jahr 1858 mit einer weiteren Steigerung dieser Arbeiten zu rechnen war, beantragte Ransonnet am 30. Mai 1858, die seit August 1851 freie Stelle eines Offizials wieder zu besetzen307.

Der Geschäfts- und Personalausweitung im Bereich der Arbeiten für den Kaiser stand eine Verminderung im Bereich der Arbeiten für die Ministerkonferenz gegenüber. Nur mehr die beiden Protokollführer arbeiteten eigentlich noch für die Ministerkonferenz. Je enger aber der Kompetenzbereich der Ministerkonferenz wurde, desto weniger waren sie mit Arbeit ausgelastet. Als daher der erste Protokollführer Wacek am 2. November 1854 als erster Reichsratssekretär in den Status des Reichsrates wechselte, schlug Buol vor, die Stelle unbesetzt zu lassen, „indem ein Protokollführer für die dermal nicht öfter als zweimal die Woche sich wiederholenden Ministerkonferenzen vollkommen genüge308“.

Die Praxis der Protokollführung war 1852, ebenfalls in Zusammenhang mit der Festsetzung der Geschäftsordnung für die Ministerkonferenz und die Ministerkonferenzialkanzlei, vorübergehend neu geordnet worden. Damals war der Ministerrat praktisch entmachtet worden, obwohl er formal weiterbestand. Fortan war er nur noch ein Diskussionsforum, nicht aber das Exekutionsorgan der Gesamtregierung. Dem Willen des Kaisers entsprechend sollte es in Hinkunft keine Gesamtregierung mehr geben, sondern nur noch einzelne Minister. Historisch gesehen, bedeutete das im Wesen die Wiederherstellung der Hofbehörden des Vormärz. Entsprechend dieser De-facto-Auflösung des Ministerrates in einzelne Ressorts, die isoliert voneinander dem Kaiser unmittelbar unterstanden, sollten auch die Ministerkonferenzprotokolle in einzelne Sachakten aufgelöst werden. Jedes Protokoll sollte entsprechend den verschiedenen Beratungsgegenständen in mehrere Hefte geteilt werden. Am 1. Juni 1852 verzeichnete Ransonnet zum erstenmal auf dem Mantelbogen des Protokolls vom selben Tag: „Bei der Bearbeitung dieses Protokolls wurden die Bestimmungen der Geschäftsordnung für die Ministerkonferenz, § 8, in Absicht auf die Form und Teilung der Protokolle zur Richtschnur genommen309.“ Der bürokratische Optimismus, auf diese Weise eine rationellere Verwaltungsführung zu erzielen, mag zunächst gerechtfertigt gewesen sein. Doch drohte die Einheitlichkeit der Verwaltung, sofern auf sie noch Wert gelegt wurde, verlorenzugehen. Die Einheitlichkeit der Verwaltung war es aber, um derentwillen Franz Joseph die Ministerkonferenz überhaupt bestehen ließ. Kaum war die neue Ordnung eingeführt, bemühte sich daher || S. 86 PDF || die Ministerkonferenz, die Anwendung der Geschäftsordnung auf ein vernünftiges Maß zu beschränken. In der Ministerkonferenz vom 5. Juni 1852 kam die „Allerhöchst anbefohlene Verfassung von abgesonderten Protokollen über jeden in der Ministerkonferenz vorgetragenen Gegenstand“ zur Sprache. Die Ministerkonferenz hielt es für „angemessen“, daß in der Regel nur ein Protokoll über eine Sitzung verfaßt und darin alle in der Sitzung vorgekommenen Gegenstände aufgenommen würden. Nur über größere Gesetzgebungssachen, deren Beratung sich meist über mehrere Sitzungen erstreckte, sollten „abgesonderte Protokolle“ angefertigt werden, um den nötigen Zusammenhang zu wahren. In diesem Sinne wurden von diesem Zeitpunkt an zahlreiche Sonderprotokolle verfaßt, die mehrere Beratungen desselben Gegenstandes zusammenfaßten310. Auf sie war aber jeweils in den dazugehörigen kurrenten Protokollen verwiesen. Die Sonderprotokolle ersetzten nicht die normalen Protokolle, sondern ergänzten diese. Die Einheit der Ministerkonferenzberatungen, und darauf kam es den Ministern an, blieb gewahrt.

Das Ende der Existenz der Kanzlei, die ihrer ursprünglichen Bestimmung völlig verlustig gegangen war, konnte nicht mehr fern sein. Es lag durchaus in der Konsequenz der Gewichtsverlagerung in deren Agenden, daß sie am 8. Oktober 1858 vom Kaiser aufgelöst wurde. Künftighin sollten die Manipulationsgeschäfte der Ministerkonferenz durch das Hilfspersonal des Ministeriums des Äußern besorgt werden. Am 4. November 1858 wurde Buol „verständigt“, daß das Personal der Ministerkonferenzkanzlei in die reorganisierte Kabinettskanzlei eingereiht worden sei311. Von der Kanzlei blieben Ransonnet und Marherr als Protokollführer übrig. Mit der Begründung, daß es „unzukömmlich“ wäre, wenn die Geschäfte der Ministerkonferenz zur Kenntnis mehrerer Beamter des Ministeriums des Äußern gelangten, beantragte Buol die Systemisierung einer zusätzlichen Dienststelle312. Am 16. November 1858 wurde Anton Klaps als Offizial im „Büro der Ministerkonferenz-Protokollführer“ eingestellt. Gleichzeitig mit der Auflösung der Kanzlei ging deren Archiv an die Kabinettskanzlei über: „zur Herstellung einer bleibenden Ordnung in Aufbewahrung der Konferenzprotokolle und au. Vorträge“. Alle Protokolle seit April 1848 wurden am 5. November 1858 mit den Akten der Ministerkonferenzkanzlei an die Kabinettskanzlei abgegeben. Vom 5. November an sollten die Ministerkonferenzprotokolle nach der Vorlage beim Kaiser in dessen Kabinettskanzlei bleiben, sodaß der Vorsitzende der Ministerkonferenz erst dort hätte anfragen müssen, ob und in welcher Weise die Anregungen der Ministerkonferenz vom Kaiser aufgenommen worden sind. Daher erbat sich Buol schon am 10. Dezember 1858 die Ah. Anordnung, daß ihm jedes Protokoll nach erfolgter Ah. Kenntnisnahme vom Kabinettsdirektor mitgeteilt werde, „um von der darüber erflossenen Ah. Resolution Kenntnis zu erhalten313“. Von den Akten verlangte Buol die || S. 87 PDF || „eigentlichen Normalien für den Ministerrat und die Ministerkonferenz sowie für deren Protokollführer“ zurück. Am 11. Dezember 1858 wurden diese Handakten vom Kabinettsdirektor Franz Thiel an Ransonnet ausgefolgt314.

Aber die Neuordnung des Kanzleiwesens der Ministerkonferenz erwies sich auf die Dauer als untragbar. Sie hatte nur dem Kaiser ermöglicht, an allen Regierungs- und Verwaltungsgeschäften leichter persönlichen Anteil nehmen zu können. Als auch die politischen Voraussetzungen für eine Reaktivierung der Kanzlei unter Erzherzog Rainer wieder gegeben schienen, wurde sie wiederhergestellt. Nachdem Erzherzog Rainer sein Amt übernommen hatte, erklärte er sofort, ein bis zwei Konzeptsbeamte, über welche er jederzeit zu verfügen in der Lage wäre, zu „benötigen315“. Zur Schonung der Finanzen verzichtete aber der neue Vorsitzende des Ministerrates auf die Systemisierung einer eigenen Kanzlei. Er bat lediglich, die Führung der Präsidialgeschäfte im Ministerrat dem Vorstand der reichsrätlichen Präsidialkanzlei, Hofrat Ritter v. Roschmann, übertragen zu dürfen und die „Manipulationsgeschäfte“ durch reichsrätliche Beamte besorgen zu lassen316. Aber auch mit dieser Lösung war auf die Dauer kein Auslangen zu finden. Am 8. Oktober 1861 stellte Erzherzog Rainer den Antrag auf förmliche Systemisierung der Präsidialkanzlei mit einem Hilfsämterdirektor, zwei Offizialen und fünf Dienern. Eine „achtmonatige Erfahrung“ hatte gezeigt, „daß zwar in der Konzeptsphäre vielleicht noch durch einige Zeit mit den gegenwärtigen Arbeitskräften wird das Auslangen gefunden werden können, daß jedoch in der Manipulationsbranche eine Abhilfe dringend notwendig sei317“.

Im Sinne und als Folge des Kompromisses, der zwischen dem Kaiser und dem wiederhergestellten Ministerrat zustandegekommen war318, verzichtete Belcredi wieder auf die eigene Kanzlei. Er erklärte, für die Geschäfte dieser Kanzlei im Präsidialbüro des Staatsministeriums genügend verfügbare und brauchbare Kräfte zu besitzen, und beantragte die Auflösung der Kanzlei319. Wieder verfügte der Ministerrat wie unter Buol die Ministerkonferenz nur über drei Beamte: die beiden Protokollführer Hofrat Ritter v. Schurda und Alfred Hueber und den Konzipisten Anton Klaps. Aber selbst für diesen Personalstand war angeblich „die Beschäftigung oft eine geringe“. Und um diese Kräfte nicht „kürzere oder längere Zeit brachliegen zu lassen“, sah sich Belcredi veranlaßt, ihre Verwendung in der Präsidialabteilung des Staatsministeriums zu empfehlen320. Die drei Beamten blieben zwar im Status des Ministerrats, wurden aber gleichzeitig im Staatsministerium beschäftigt. Es müssen aber noch andere Motive als diejenigen, die Belcredi vorbrachte, bei dieser abermaligen Auflösung eine Rolle gespielt haben. Wenn es nur darauf angekommen wäre, den drei Beamten genügend Arbeit zu verschaffen, dann wäre es doch wohl nicht notwendig gewesen, || S. 88 PDF || gleichzeitig einen vierten anzustellen. Bernhard Ritter v. Meyer, ein katholischkonservativer Schweizer Emigrant, wurde von Belcredi „mit dem Vertrauen beehrt“, neben seiner Stelle als Chef der Präsidialabteilung des Staatsministeriums auch die Geschäfte des Ministerrates zu leiten. Er trat aus dem Status des Staatsministeriums in den der Ministerkonferenz über321. Die Begründung, die Belcredi für dieses Revirement angibt, liefert einen Hinweis auf den Zusammenhang dieser personellen Neuregelung mit dem neuen Kurs des Ministeriums: „Es scheint höchst notwendig, auf die erste Stelle im Status des Ministerkonferenzpersonals einen Mann zu berufen, der vollkommen vertrauenswürdig ist und durch die früher befolgte Richtung und hiedurch hervorgerufenen persönlichen Verbindungen nicht befangen erscheint. Eine solche Persönlichkeit ist Ritter v. Meyer322.“

Es ging ganz offensichtlich darum, ein letztes Erbstück der Revolutionsära, die Kanzlei des Ministerrates als Symbol einer politischen Idee, zu liquidieren323. Von dieser Perspektive aus gesehen, ist das Kompromiß von 1865 doch als Sieg des Absolutismus zu erkennen, eines Absolutismus, der sich allerdings die Scheinfassade des Konstitutionalismus zu erhalten suchte.

5. Formalstruktur und Überlieferung der Protokolle - Retrodigitalisat (PDF)

Äußerer Aufbau der Protokolle — Registrierung — Überlieferungsform — Begleitakten — Zur aktenkundlichen Definition — Die Rechtsstellung der Minister in vergleichender Betrachtung (England, Frankreich, Preußen) — Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie als Rechtsnachfolger des österreichischen Ministerrates

Obwohl die einzelnen Formelemente der österreichischen Ministerratsprotokolle als Ausdruck der jeweiligen politischen Stellung des Ministerrates einem beträchtlichen Bedeutungswandel unterworfen waren, änderte sich an der äußeren Form der Protokolle von 1848 bis 1867 nur wenig. Die Geschichte des Ministerrates als Spiegelbild der verschiedenen Stufen der Entwicklung der Verfassungswirklichkeit zeigt zwar, welch verschiedener Wert etwa dem Verzeichnis der Anwesenden, der Bezeichnung der Sitzung, der Liste der Anwesenden, der Signatur des Vorsitzenden und der Ah. Kenntnisnahme jeweils zukam. Im äußeren Erscheinungsbild aber kam dieser Bedeutungswandel nur unvollkommen zum Ausdruck. Abgesehen von der kurzfristigen formalen Auflösung der Protokolle in Einzelhefte nach dem Juni 1852 und der im September dieses Jahres vorübergehend eingeführten Praxis der „Sonderprotokolle324“ blieb die Grundform der Protokolle von 1850 bis 1867 gleich. Sofern von einem Wandel überhaupt gesprochen werden kann, dann nur in dem Sinn, daß sich die Form der Protokollführung und der Kanzleipraxis im Laufe der Jahre immer mehr vereinfachte. Eine besondere Bedeutung in dieser Entwicklung haben die Anfangsjahre 1848 bis 1850. In dieser Zeit wurde, den politischen Bedürfnissen entsprechend, das Protokoll schrittweise um einzelne Elemente erweitertj . Mit den Protokollen des Jahres 1850 ist aber diese Entwicklung zu einem gewissen Abschluß gelangt und eine Form festgelegt, die als Normalfall allen editionstechnischen Überlegungen als Maßstab zugrunde gelegt werden kann.

Dieses „Normalprotokoll“ zeigt folgenden Aufbau325:

Der Mantelbogen, ein dem Protokoll beigefügtes, aber an sich selbständiges Aktenstück, besteht in gleichbleibender Reihenfolge aus vier Teilen:

1.   Bis zum Jahre 1855 trägt jedes Protokoll eine dreigliedrige Aktenzahl („5–KZ. 1683–MCZ. 1321/1852“), zusammengesetzt aus der Nummer des Ministerrates, der K[abinetts-]Z[ahl] und der M[inister-]R[ats-] Z[ahl]326 bzw. für die Zeit vom 14. April 1852 bis 4. Februar 1861 der M[inister-]C[onferenz-]Z[ahl]327. Die Nummer des Ministerrates bezeichnet jedes Protokoll in fortlaufender Zählung — mit jedem Kalenderjahr und jedem neuen Vorsitzenden des Ministerrates begann diese Zählung mit Nr. 1. Nur bis zum Jahre 1855 wurde diese Art der Signierung durchgeführt. Von diesem Zeitpunkt an tragen die Protokolle nur noch die Kabinetts- und Ministerratszahl, d. h. sie wurden gemeinsam mit allen anderen Akten der Kabinettskanzlei bzw. des Ministerrates indiziert.

|| S. 90 PDF ||

2.   Die Aktbezeichnung („Protokoll der Sitzung vom 27. April 1852“) stellt eine verkürzte Wiedergabe des Protokolltitels dar.

3.   In einer nach dem Rang der Minister angeordneten Liste („Zur h[ohen] Einsicht der Herren Minister: des Innern, des Kultus „“) bestätigten die Minister ihre Einsichtnahme in das Protokoll.

4.  In Anlehnung an die Gliederung des Protokolls wurde für den Mantelbogen in der Regel vom Protokollführer selbst ein Verzeichnis der Beratungsgegenstände („Inhalt“) angelegt.

Das Protokoll selbst beginnt mit dem Titel, der neben der Zeit- und Ortsangabe auch den jeweiligen Vorsitzenden bezeichnet („Protokoll der am 27. April 1852 in Wien abgehaltenen Minister-Konferenz unter dem Vorsitz des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten und des kaiserlichen Hauses Graf Buol-Schauenstein“).

Es folgen zwei Verzeichnisse: „Gegenwärtig“ und „Abwesend“.

Daran schließt sich linksbrüchig der Protokolltext. Zu Beginn des Protokolltextes zeichnet rechtsbrüchig der Protokollführer.

Das Protokoll schließt mit dem Datum und der Unterschrift des Vorsitzenden.

An gleicher Stelle rechtsbrüchig steht die „A[llerhöchste] E[ntschließung]. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Wien, 29. April 1852. Franz Joseph.“

In der Regel verwendeten die Protokollführer vorgedruckte Formulare: für den Mantelbogen ein Aktenblatt des Ministerrates bzw. der Ministerkonferenz mit den Vordrucken: „Ministerrat“ bzw. „Ministerkonferenz“, „KZ.“, „MRZ.“ bzw. „MCZ.“, „Datum“, „Präsent[atum]“, ,,Exped[itum]“; für die erste Seite des Protokolls ein Blatt mit den Vordrucken: „Ministerrat“ bzw. „Ministerkonferenz“, „KZ.“328, „MRZ.“ bzw. „MCZ.“, „Protokoll, unter dem Vorsitz“ bzw. „unter dem Ah. Vorsitz Sr. Majestät“ und „Gegenwärtige“.

Ein beträchtlicher Teil der Protokolle ist ohne Verwendung eines Vordruckes geschrieben. Daraus resultierende Abweichungen im Gebrauch des formelhaften Teiles der Protokolle sind mit einer Ausnahme vom Standpunkt der Quellenkritik aus belanglos, d. h. sie können bei der Gestaltung der Kopfregesten im Rahmen der Edition unberücksichtigt bleiben. Die Ausnahme bildet der vom Protokollführer jeweils handschriftlich gesetzte Protokolltitel. Abgesehen von verschiedenen aufschlußreichen Ergänzungen des Titels, wie „Mittags-“ oder „Abendsitzung“, oft Angabe des Ortes u. a. m., wurde von den Protokollführern im eigentlichen Protokolltitel — im Gegensatz zum Kurztitel auf dem Mantelbogen — unterschieden zwischen „Ministerrat“, „Ministerkonferenz“, „Ministerratsversammlung“, „Ministerversammlung“, „Besprechung“, „vertrauliche Besprechung“ || S. 91 PDF || usw. Obwohl alle diese Bezeichnungen, mit Ausnahme der „Ministerkonferenz“, ähnlich wie der in der Ausgleichsepoche verwendete Terminus „Kronrat“ nichtamtlich waren, bringen sie im allgemeinen eine Klassifizierung der betreffenden Beratung zum Ausdruck. Dieser handschriftliche Protokolltitel hat demnach einen spezifischen Quellenwert. Das gilt von den anderen Formelementen eines Protokolls nur bedingt. Am ehesten noch von dem Datum, das die Minister in der Regel ihrer Einsichtsbestätigung beifügten.

In jedem Falle ist die auf der ersten Seite des Protokolls gegebene Liste der anwesenden Minister einer Kontrolle zu unterziehen. Sie ist gelegentlich schon nicht identisch mit der Liste des Mantelbogens, mit der der Rundlauf des Protokolls vorgeschrieben wurde, weil im Prinzip das Protokoll auch Ministern zur Einsicht vorgelegt werden konnte, die nicht an der Sitzung teilgenommen haben, wie umgekehrt in der Regel die Protokolle nur den Ministern und nicht allen Anwesenden zur Einsichtnahme unterbreitet wurden. Unberücksichtigt in beiden Listen bleiben meist jene Personen, die als Fachleute zu einem Referat in die Sitzung berufen wurden, oder der Umstand, daß ein Minister die Sitzung vor deren Ende bereits verlassen hat329. Diese Abweichungen von der Anwesenheitsliste sind meist im Text selbst oder in Form von Marginalien an der betreffenden Stelle im Protokoll vermerkt. Sie sind so häufig, daß sie vom Standpunkt der Quellenkritik fast wichtiger sind als die „ordentlichen“ Anwesenheitslisten, die ohne Ergänzung aus dem Text unzuverlässig wären. Ähnliches gilt von dem Verzeichnis der Beratungsgegenstände, das der Mantelbogen seit Mitte Mai des Jahres 1849 aufweist.

Der seit Ende des Jahres 1848 angelegte Mantelbogen bestand ursprünglich nur aus der Liste, in der die Minister ihre Einsichtnahme bestätigten. Wohl waren die Protokolle von Anfang an nach Tagesordnungspunkten gegliedert, aber diese Tagesordnungspunkte waren nirgends übersichtlich zusammengestellt. In Anlehnung an die Formulierungen des Protokolls wurde nun ab Mai 1849 ein solches die Beratungen stichwortartig zusammenfassendes Verzeichnis vom Protokollführer, gelegentlich aber auch von einem anderen Beamten der Ministerratskanzlei, hergestellt.

Neben diesen beiden Verzeichnissen steht oft auch ein solches der Abwesenden. Nach welchem Prinzip Abwesende eigens als solche angeführt wurden, kann nur vermutet werden: als abwesend wurden anscheinend nur jene Personen vermerkt, die zu den Sitzungen eingeladen worden waren und dann an diesen nicht teilnahmen. Das heißt, daß die Abwesenheitsliste den einzigen Anhaltspunkt zur Beantwortung der nicht unwesentlichen Frage liefert, wer jeweils zu den Sitzungen eingeladen wurde. Das erklärt, warum die Liste der Abwesenden nicht alle, sondern nur einen Teil der tatsächlich abwesenden Minister vermerkt.

Zum Teil erklären sich die angedeuteten Divergenzen aus der Tatsache, daß der Mantelbogen, das damit in Verbindung stehende Verzeichnis der Anwesenden und Abwesenden und der Protokolltext in verschiedenen Arbeitsgängen, wenn nicht überhaupt von verschiedenen Schreibern abgefaßt wurden, ohne bei der || S. 92 PDF || Reinschrift aufeinander abgestimmt zu werden. Der Mantelbogen mit Ministerliste und Inhaltsverzeichnis wurde gelegentlich nicht vom Protokollführer, sondern von einem anderen Kanzleibeamten, wahrscheinlich auf Grund der nicht erhaltenen Konzepte, verfaßt. In diesen Fällen haben dann die Protokollführer Falschschreibungen des Mantelbogens berichtigt330 oder das Inhaltsverzeichnis nach den von ihnen selbst verfaßten Protokollreinschriften ergänzt331. Obwohl also nicht alle Teile vom Protokollführer stammen, zumindest aber die einzelnen Teile der Protokolle verschiedenen Arbeitsgängen zuzuordnen sind, hätte es im allgemeinen wenig Sinn, in der Edition die verschiedenen Hände und Arbeitsgänge auszuweisen. Auch das gilt aber wieder nur mit einer nicht unwichtigen Einschränkung. In einem Punkt lohnt sich nämlich die Beachtung der kanzleitechnischen Genesis: Der Wortlaut der Kenntnisnahme des Herrschers wurde in der Regel vom Protokollführer vorgeschrieben. Das Datum der Kenntnisnahme fügte die kaiserliche Kabinettskanzlei hinzu. Und nur den Namenszug setzte der Kaiser persönlich. Die kurzen Formeln dieser Kenntnisnahme sagen in ihrer nuancierenden Wortwahl („Dient zur Kenntnis“; „Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen“ usw.) doch zunächst einiges über das jeweilige Verhältnis des Kaisers zum Ministerrat aus. Im Normalfall hat es nicht viel Sinn, die verschiedenen Hände der Schlußzeichnung, und damit die verschiedenen Instanzen, kritisch auszuweisen. Lediglich jene Ergänzungen, die Franz Joseph in besonders charakteristischer Weise vorgenommen hat, verdienen als persönliche Stilisierungen des Kaisers gekennzeichnet zu werden; z. B.: „Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen und sehe einem Bericht darüber entgegen, was veranlaßt worden ist 332“.

Eine Edition der Ministerratsprotokolle muß, um den sachlichen, die Beratungsgegenstände betreffenden wie den behördengeschichtlichen Zusammenhang zu wahren, vollständig sein. Diesem Anspruch kann bei der bestehenden Aktenlage nur insofern sinnvoll entsprochen werden, daß nur die in den 33 Kartons der „Ministerratsprotokolle“ des Kabinettsarchivs erhaltenen Protokolle gedruckt werden. Dieses Auswahlprinzip rechtfertigt sich von der Tatsache her, daß als echtes Ministerratsprotokoll nur ein von der Regierung dem Kaiser vorgelegtes und von diesem sanktioniertes Schriftstück anzusprechen ist. Der Vorlage an den Kaiser wie der Sanktion kommt dabei der gleiche politische Stellenwert zu. Keines der beiden Kriterien allein genügt daher, um die Mitschrift einer Ministerbesprechung zu einem Ministerratsprotokoll zu klassifizieren. Erst nachdem das Protokoll einer Ministerberatung als Beschluß oder Vorschlag der Regierung über die Kabinettskanzlei dem Monarchen zur Annahme vorgelegt worden ist, war eine Regierungsentscheidung in die Wege geleitet. Und erst wenn der Kaiser den Vorschlag seiner Regierung sanktioniert hatte, war eine Regierungsentscheidung zustande || S. 93 PDF || gekommen. Die echten Ministerratsprotokolle dokumentieren solche verfassungsrechtlich verbindlichen Regierungsbeschlüsse, sie sind der aktenkundliche Ausdruck des konstitutionellen Zusammenwirkens zwischen der Regierung und dem Herrscher. Der wirkliche Anteil der Regierung an diesen Regierungsentscheidungen war im Österreich des Neoabsolutismus praktisch wie rechtlich sehr gering. Der Schein einer Mitwirkung wurde aber immer aufrechterhalten. De facto hat der Kaiser die Vorschläge der „Ministerkonferenz“ in derselben Weise geachtet wie die Beschlüsse des „Ministerrates“. Man kann aber auch umgekehrt sagen, daß er die Beschlüsse des „Ministerrates“ nur als Vorschläge eines beratenden Regierungsorgans betrachtet hat. Das bedeutet, daß das entscheidende Kriterium, ob das Protokoll einer Ministerberatung in die Reihe der Ministerratsprotokolle aufgenommen wurde, die kaiserliche Sanktion war. Vor allem aus diesem Grunde erfolgte die Reihung der Ministerratsprotokolle nicht nach dem Datum des Ministerrates, sondern nach dem Datum der Sanktion. Die Protokolle wurden in der Registratur der Ministerratskanzlei erst dann protokolliert bzw. indiziert, wenn die Stellungnahme des Kaisers erfolgt war. Diese Stellungnahme mußte nicht immer positiv sein. Sie erfolgte oft in Form von Änderungsvorschlägen. Theoretisch wird auch damit zu rechnen sein, daß eine Rückäußerung des Monarchen überhaupt nicht erfolgte, daß die Sanktion nicht expressis verbis verweigert, daß aber das Protokoll ohne Stellungnahme vom Kaiser zurückbehalten wurde. Aber auch in solchen Fällen ist das betreffende Ministerratsprotokoll in der Kabinettskanzlei registriert worden. Zumindest unter Zuhilfenahme der Protokolle und Indizes der Kabinettskanzlei wird sich daher eine vollständige Reihe der echten Ministerratsprotokolle zusammenstellen lassen, wobei unter solch echten Ministerratsprotokollen eben nur jene Mitschriften von Ministerberatungen gewertet sind, für die vom Vorsitzenden des Ministerrates die kaiserliche Sanktion angesprochen worden ist.

In der Reihe der Ministerratsprotokolle der Registratur des Kabinettsarchivs sind zwar alle Ministerratsprotokolle erhalten, nicht aber alle Protokolle von Ministerberatungen. Denn nicht jede Ministerberatung war ein Ministerrat. Wir kennen eine Anzahl von Protokollen von Ministerbesprechungen, die nicht in der Reihe der Ministerratsprotokolle archiviert sind. Allen fehlt aber eines der oben angeführten Kriterien eines echten Ministerratsprotokolls. Manche von ihnen haben sogar die kaiserliche Sanktion erhalten, aber nicht auf dem offiziellen Weg über die Kabinettskanzlei. Sie sind daher auch nicht protokolliert worden und tragen keine Aktenzahl. In all diesen Fällen handelt es sich um Protokolle von Ministerberatungen, nicht aber um Ministerratsprotokolle. Alle Protokolle von Ministerbesprechungen, für die die kaiserliche Sanktion aus irgendeinem Grunde nicht eingeholt worden ist, sind nicht in der Registratur des Kabinettsarchivs enthalten. Von manchen wissen wir, daß sie vernichtet worden sind. Wir kennen solche in anderen Beständen: im Nachlaß Rechberg und in den Vorträgen an den Kaiser. Dabei ist erkennbar, daß manche Protokolle ursprünglich wohl als Ministerratsprotokolle gedacht waren. Erst nach der Sitzung fiel die Entscheidung, daß das Protokoll dem Kaiser nicht vorgelegt werden sollte. Manche „Ministerbesprechung“ wurde aber auch nachträglich in den Rang eines || S. 94 PDF || „Ministerrates“ erhoben, indem das Protokoll dem Kaiser vorgelegt und von diesem sanktioniert worden ist. Praktisch bedeutet das, daß in der Registratur der Kabinettskanzlei zwar alle Ministerratsprotokolle erhalten sind, daß damit aber nicht alle Ministerratssitzungen dokumentiert sind.

In der Reihe der Ministerratsprotokolle selbst spiegelt sich die komplizierte Struktur des offiziellen und inoffiziellen Zusammenspiels zwischen der Regierung und dem Monarchen getreu wider. Die verschiedenen Kategorien von Ministerberatungen haben in der Reihe der offiziellen Ministerratsprotokolle selbst in verschiedener Form deutliche Spuren hinterlassen. Das Ministerratsprotokoll vom 5. Mai 1850 333 z. B. enthält als Beilage ein „Protokoll der am 7., 11., 13. und 15. März 1850 abgehaltenen Beratungen über den vom Banus von Kroatien FZM. Freiherr v. Jellačić dem Ministerpräsidenten unterm 14. Hornung 1850 übergebenen abgeänderten Entwurf der Organisierung der k. k. kroatisch-slawonisch-serbischbanatischen Militärgrenze“. Dieses Protokoll unterscheidet sich formal durch nichts von einem Ministerratsprotokoll. Schwarzenberg führte den Vorsitz. Außer den Ministern waren Jellačić, Denkstein, Gyurić und der Ministerialrat Jarolym anwesend. Alle Anwesenden unterzeichneten dieses von einem Protokollführer des Ministerrates verfaßte Schriftstück. Das Fehlen der Signatur Schwarzenbergs hat in diesem Fall keine besondere Bedeutung, weil er ein ähnliches Protokoll vom 6. April 1850 wie die anderen Minister auch unterzeichnet hat334. Im Hinblick auf die Qualifikation als Ministerratsprotokolle aber haben diese beiden Protokolle zwei Formfehler: sie wurden dem Kaiser nicht zur Sanktion vorgelegt, und sie sind nicht nur von den Ministern, sondern auch von den „beratenden“ Teilnehmern unterzeichnet. Nur die fehlende Ah. Kenntnisnahme ist dabei wirklich ein artunterscheidendes Merkmal, denn Protokolle ähnlicher Beratungen finden sich teilweise unter den Ministerratsprotokollen. Ein Teil der ursprünglich existierenden Ministerratsprotokolle dürfte also für die Überlieferung verlorengegangen sein: jene, die bereits vor der Ah. Kenntnisnahme aus dem Aktenlauf herausgenommen worden sind. Umgekehrt scheinen manche im Wesen ähnliche Besprechungen der Minister nachträglich in den Rang von Ministerratssitzungen erhoben worden zu sein. Die von solchen Beratungen angefertigten Protokolle nehmen eine deutlich erkennbare Sonderstellung in der Reihe der „ordentlichen“ Protokolle ein. Das handschriftliche Protokoll der Sitzung vom 11. Juli 1865 dürfte dieser Kategorie zuzuordnen sein335. Der letzte Ministerrat unter dem Vorsitz Erzherzog Rainers hat am 21. Juni 1865 stattgefunden336, der erste Ministerrat unter Belcredi am 29. Juli 1865 337. Noch vorher, eben am 11. Juli, versammelten sich die Minister unter Mensdorff zu einer „Ministerbesprechung“, deren Protokoll — aber doch wohl als Ausnahme — in die Reihe der Protokolle aufgenommen wurde. Einen ähnlichen Sonderfall, || S. 95 PDF || besonders vom beratenen Gegenstand her, bildet offensichtlich das „Protokoll über eine unter dem Ah. Vorsitz Sr. Majestät am 25. April 1866 stattgefundene vertrauliche Besprechung338“. Der Kaiser beriet mit Mensdorff, Belcredi, Larisch, Franck und Mailáth die Antwortdepesche an Preußen, der Unterstaatssekretär im Ministerium des Äußern, Freiherr v. Werner, führte ausnahmsweise das Protokoll. Es ist eine seltene Ausnahme, daß das Protokoll der Besprechung einer außenpolitischen Frage den Ministerratsprotokollen eingereiht wurde, obwohl mit Sicherheit angenommen werden darf, daß der Kaiser gelegentlich auch zu außenpolitischen Problemen die Stellungnahme des Ministeriums eingeholt hat.

Daß von Ministerbesprechungen dieser Art Mitschriften — teils innerhalb, teils außerhalb der Reihe der Ministerratsprotokolle — erhalten sind, ist mehr oder weniger dem Zufall zu verdanken. Der Großteil solcher und ähnlicher Protokolle dürfte verlorengegangen sein. Die meisten Hinweise auf diese nicht in Form von Protokollen dokumentierten Ministerversammlungen geben die Protokolle selbst. Im Ministerrat am 9. Mai 1848 wurde beispielsweise Doblhoff auf Antrag Pillersdorfs zu einer „Unterredung mit dem Ministerrat“ über die Bedingungen seines Eintritts in das Ministerium eingeladen, und zwar für den 10. Mai339. Am nächsten Ministerrat vom 10. Mai 1848 340 nahm Doblhoff ohne jeden Kommentar bereits als Ackerbau- und Industrieminister teil. Bei der Auswertung solcher Hinweise muß allerdings nicht nur die Unvollständigkeit der Überlieferung, es muß auch die Mangelhaftigkeit der Protokollführung bedacht werden. Wie schwierig sich Rückschlüsse aus solchen Verweisen gestalten, illustriert noch besser das Protokoll des Ministerrates vom [22.] April 1848341. Es enthält den Passus: „Bei der am 11. April d. J. über den Gegenstand der Frage“ — es handelte sich um die Beratung der Verfassung — „zuerst abgehaltenen Ministerversammlung wurden bereits früher die durch ein Inhaltsverzeichnis angedeuteten Grundlinien zu der mit dem Patente vom 15. März d. J. zugesagten Konstitution des Vaterlandes besprochen ... Bei der am 12. April stattgefundenen Erörterung entwickelte der Minister des Innern in neun Fragesätzen die wichtigsten Ausgangspunkte und teilte hierüber den sub % angeschlossenen Aufsatz dem Ministerrat mit.“ Nun enthält weder das uns erhaltene Protokoll vom 11. April342 noch das vom 12. April343 etwas über die am 22. April erwähnte Frage. Wurde darüber nichts ins Protokoll aufgenommen, hat am 12. April eine zweite Sitzung stattgefunden, über die kein Protokoll angefertigt wurde, oder ist ein solches Protokoll zwar angefertigt worden und in Verlust geraten, ist es gesondert verwahrt worden oder überhaupt nicht mehr in die Kanzlei des Ministerrates zurückgelangt, weil ihm die kaiserliche Sanktion nicht erteilt worden war? Noch problematischer sind die ähnlichen Hinweise auf Ministerratssitzungen in nichtamtlichen Parallelquellen, wie den Tagebüchern von Hübner, Kempen, Kübeck || S. 96 PDF || und dem Hofjournal Folliot-Crennevilles, weil für diese am politischen Tagesbetrieb beteiligten Zeitgenossen ganz offensichtlich jede Besprechung der Minister ein Ministerrat war344. Demgegenüber wird festzuhalten sein, daß als Ministerratsprotokolle eben nur jene Aufzeichnungen über Ministerratssitzungen zu betrachten sind, deren Ergebnis als Ministerratsbeschlüsse dem Kaiser vorgelegt und von diesem sanktioniert worden sind, und daß mit diesen Protokollen nur ein Teil der tatsächlich stattgehabten Ministerberatungen überliefert ist.

Die Existenz von Protokollen, die zwar angefertigt, aber nicht archiviert worden sind, bezeugt auch eine Analyse der Aktenzahlen, mit denen die Protokolle in der Registratur versehen worden sind. Nur die kurrenten, mit jedem Kalenderjahr und jedem neuen Vorsitzenden neu mit der Zählung beginnenden Protokollnummern können dabei als Hinweise auf den Grad der Vollständigkeit ausgewertet werden, denn die Kabinettszahl und die Ministerratszahl erhielten die Protokolle in fortlaufender Zählung gemeinsam mit den anderen Ministerratsakten345. Diese Zählung der Protokolle beginnt mit dem ersten Ministerrat unter Schwarzenberg am 5. Dezember 1848 und endet mit der Ministerkonferenz vom 6. August 1853. Für 1854 und 1855 wird diese Zählung mit Bleistift noch fortgesetzt. Unter Belcredi346 kommt dann der Ministerratszahl diese Funktion einer fortlaufenden Zählung zu, da es keine anderen Ministerratsakten mehr gibt. Wo solche Protokollnummern aus der Reihe fehlen, wie 1849 die Nummern 128 und 129 und 1851 die Nummern 162 bis 168, darf mit Sicherheit auf fehlende Protokolle, vermutlich sogar solche mit kaiserlicher Sanktion, geschlossen werden. Umgekehrt geben Doppel-347 oder Zwischenzählungen348 Zeugnis davon, daß ein Protokoll in die Reihe eingeordnet wurde, das ursprünglich nicht als Ministerratsprotokoll klassifiziert war. Daraus läßt sich aber wieder folgern, daß es Protokolle von Beratungen gab, die eben nicht in der Reihe erhalten sind, auch wenn durch die fortlaufende Numerierung die Reihe den Anschein der Vollständigkeit erweckt. Und tatsächlich sind Protokolle bezeugt, die der geschlossenen Reihe der Protokollnummern nach nicht existieren dürften. Zum Beispiel trägt das Protokoll vom 20. Jänner 1849 die Protokollnummer 16349, das folgende Protokoll vom 11. Februar ordnungsgemäß die Nummer 17350. Und doch haben laut Zeugnis des Protokolls vom 11. Februar „Ministerratssitzungen“ am 4., 5., 6. und 7. Februar stattgefunden. Weder die Protokollnummern noch die regelmäßigen Verweise auf vorhergehende (Pr[iora]) und nachfolgende || S. 97 PDF || (V[ide]) Ministerratsprotokolle bieten demnach sichere Anhaltspunkte für die Rekonstruktion einer vollständigen Reihe. Diese Nummern sowie die eigentlichen Aktenzahlen geben keinen Aufschluß über die Anzahl der wirklich abgehaltenen Ministerratssitzungen, sie registrieren nur die übriggebliebenen Protokolle.

Ähnlich unvollständig bleibt die Antwort auf die Frage nach dem Aussagewert der überlieferten Protokolle, weil deren kanzleitechnische Entstehung in keinem Falle belegbar ist. Die Protokolle sind nämlich nur im Reinkonzept überliefert. Ein wichtiges formales Indiz dafür sind die Eigenkorrekturen der Protokollführer. Es handelt sich dabei um typische Stilisierungen während der Reinschrift. Eine Superrevision der Protokollführer durch den Kanzleidirektor ist für das Jahr 1848 häufig, für die Protokolle der Regierung Schwarzenberg gelegentlich bezeugt351. Da kein einziges echtes Konzept für einen Vergleich erhalten geblieben ist352, lassen sich die geistige Autorschaft und damit die Rechtsqualität dieser Korrekturen nur schwer bestimmen. Irgendwelche Regeln, wie etwa bei der Korrektur von Gesetzesentwürfen — diese wurden ab 1853 vom Ministerrat rot, vom Ministerium, das den Entwurf vorlegte, schwarz korrigiert —, sind bei der Korrektur der Protokolle nicht beachtet worden.

Einige Hinweise auf die Entstehungsgeschichte dieser Korrekturen lassen sich aber aus den Protokollen herauslesen. Wo die Protokollführer oder der Kanzleidirektor selbst größere Passagen kürzten, haben sie das auf eigene Verantwortung, wohl nur in Befolgung der für sie verpflichtenden allgemeinen Instruktion über die Protokollführung353 getan. Anders liegt der Fall schon bei umfangreicheren Ergänzungen — die meisten sind nur aus einem vorliegenden Konzept oder aus einer höheren Weisung erklärbar. Fallweise läßt sich die Herkunft noch genauer bestimmen. Dem Staatsrat Pipitz als Kanzleidirektor des Jahres 1848 ist ein sehr weiter Entscheidungsbereich zuzubilligen. Die meisten seiner Korrekturen und Ergänzungen erfolgten wohl aus eigener Verantwortung. Für manche hat er aber sicher einen Auftrag erhalten. Das heißt, daß der Ministerpräsident, vielleicht auch die Minister zum Teil die Autoren jener Korrekturen waren, die Pipitz vorgenommen hat. Als Beispiel diene der letzte von Pipitz nachgetragene Punkt des Protokolls vom 8. Mai 1848: „Der Ministerpräsident Pillersdorf las schließlich den Entwurf eines demnächst zu erstattenden au. Vortrages über die künftige Organisierung des Ministeriums des Innern vor, und sämtliche Glieder des Ministerrates erklärten sich mit den diesfälligen Anträgen völlig einverstanden354.“ Diesen Passus kann er nur auf direkte Weisung Pillersdorfs beigefügt haben.

Auch die Eigenkorrekturen der Protokollführer zeigen gelegentlich Differenzierungen in der Wortwahl, die aus dem üblichen Maß an Sorgfalt bei der Redaktion || S. 98 PDF || der Reinschrift durch Protokollführer oder Kanzleidirektor nicht ganz zu erklären wären, es sei denn als Ausnahmen. Es ist ein Unterschied, ob ein Minister „bemerkte“ oder „entgegnete“355 oder ob Stadion seine Ansichten über die „höchst nötige Reorganisierung des Medizinalwesens“ oder die „Leitung des Medizinalwesens“ entwickelte356. Nur wäre es eine einmalige Ausnahme, wenn der Protokollführer, auch wenn es sich wie in diesem Fall um den Kanzleidirektor Ransonnet selbst handelte, von sich aus diese zwar wichtigen, aber doch nur für den unmittelbar Betroffenen wesentlichen Änderungen vorgenommen hätte. Allzuoft gehen solche Korrekturen augenscheinlich über die Kompetenz der Kanzleibeamten hinaus357. Vorbehaltlich aller paläographischen Unsicherheitsfaktoren — gerade die besonders klar geschriebenen Korrekturen sind nur unter Vorbehalten den verschiedenen Schreibern zuzuordnen358 — scheint die These vertretbar, daß die nicht erhaltenen Konzepte der Protokolle unter Mitwirkung des leitenden Kanzleibeamten und des Vorsitzenden des Ministerrates von den Protokollführern in das Reinkonzept übertragen wurden359. Dieses wurde dann — und zwar seit dem 23. Juli 1848 — den Ministern zur Einsichtnahme übergeben360.

Die Minister erhielten also das Protokoll in einer bereits zweifach redigierten Form. Bedeutsamer als diese scheinbare Benachteiligung ist aber die Tatsache, daß das Protokoll unmittelbar nach der Einsichtnahme der Minister dem Monarchen vorgelegt wurde. Die Minister hatten demnach die Möglichkeit, die Protokollführung und den Ministerpräsidenten zu kontrollieren, ihr eigenes Votum gelangte aber unmittelbar vor den Herrscher, ohne daß der Ministerpräsident davon Kenntnis haben konnte. Diese Kontrolle der Vorsitzenden durch die Minister schloß zwar auch die Möglichkeit einer Korrektur ein, sie wurde aber nie, oder in den seltensten Fällen, in dieser Weise gehandhabt. Der erhaltene Bestand an Korrekturen legt den Schluß nahe, daß zwischen den Ministern und den Ministerpräsidenten ein stillschweigendes Übereinkommen der Art bestanden hat, daß sich jeder der Korrektoren — es gibt allerdings Ausnahmen von dieser Regel — im Prinzip strikt an die Kontrolle seiner eigenen Ausführungen gehalten hat. Daher war es praktisch belanglos, daß der zuletzt kontrollierende Minister, und nicht etwa der Ministerpräsident, als einziger vor dem Kaiser Einblick in das vollständige Protokoll hatte. Dieser amtliche Weg des Protokolls entsprach dem Prinzip der Kollektivverantwortung, welches das Verhältnis der Minister zueinander bestimmte; er entsprach vor allem der Stellung des Ministerpräsidenten || S. 99 PDF || als primus inter pares; er erhielt die Vielfalt der Meinungen. Freilich kommt in diesem Weg, den das Protokoll zum Monarchen nahm, auch die politische Unverbindlichkeit der Ministerratsbeschlüsse zum Ausdruck. Hätte der Ministerrat nicht nur Vorschläge erstattet, sondern auch Entscheidungen getroffen, die ein Ministerpräsident stellvertretend für ein Kabinett verantwortete, dann hätte dieser wohl nicht nur pro forma — wie es in dem ihm zustehenden Zeichnungsrecht zum Ausdruck kam —, sondern auch in der kanzleitechnischen Praxis das Beschlußprotokoll der Regierungsberatungen dem Monarchen unmittelbar vorgelegt.

Eine Reinschrift unter Berücksichtigung der Ministerkorrekturen, d. h. mit der Qualität einer Ausfertigung, wurde von den Protokollen nie hergestellt. Die uns überlieferte Letztform der Protokolle ist mit dem im Rahmen der Aktenkunde der Neuzeit entwickelten Begriffsschema schwer zu definieren. Formal entspricht diese Letztform in ihrem Kern dem, was H. O. Meisner als „Reinkonzept“ bezeichnet361. Der Terminus ist für die Ministerratsprotokolle aber insofern unpassend, weil diese entgegen der üblichen Form des Aktenlaufes von Haus aus nicht zur Reinschrift nach den Ministerkorrekturen bestimmt waren. Es erscheint daher angemessen, die vorliegende Überlieferungsform der Protokolle für die editorische Praxis als „Reinschrift“ zu klassifizieren. Dabei handelt es sich vom Standpunkt der Aktenkunde um „Reinkonzepte“, versehen mit den Korrekturen verschiedener Instanzen der protokollführenden Kanzlei und der Minister. Über die Behandlung der sogenannten „Reinkonzepte“ in der Kanzlei geben die aus dem Jahre 1848 erhaltenen Kopien der Ministerratsprotokolle einigen Aufschluß. Diese interessanterweise gesiegelten Kopien, die bis Juli 1848 von jedem Protokoll angefertigt wurden, sind einfache Abschriften der Reinkonzepte. Gerade deshalb bieten sie ein zusätzliches Mittel, die Entstehungsgeschichte des Reinkonzeptes bis ins Detail zu rekonstruieren. Generell wurden diese Abschriften von der Endform des Reinkonzeptes gemacht. Auch in extremen Ausnahmefällen, wo drei Schreiber am Kopieren beteiligt waren, stimmt die Kopie bis in die Zeilen- und Seitenanfänge mit dem Reinkonzept überein362. Gelegentlich aber wurden Kopien entweder gleichzeitig mit der Reinschrift vom Konzept oder zumindest vom Reinkonzept angefertigt, bevor dieses der Revision des Kanzleidirektors und des Vorsitzenden unterzogen wurde363; im ersteren Fall sind sie nach dem Wortlaut der Konzeptreinschrift nachverbessert, im zweiten wurden die Korrekturen der revidierten Konzeptreinschrift in der Kopie nachgetragen. Das Protokoll vom 1. Juni 1848 364, in dem sich die Korrekturen Pipitz’ und Pillersdorfs deutlich auseinanderhalten lassen, gibt im Vergleich zwischen Reinkonzept und Kopie ziemlich klar eine Vorstellung von dem Weg, den das Schriftstück in der Kanzlei durchlaufen hat: nach der Herstellung der Reinschrift des Konzeptes korrigierte Kanzleidirektor Pipitz das Reinkonzept; von dieser vom Protokollführer Ransonnet und dem Kanzleidirektor redigierten Form wurde dann die Kopie hergestellt; || S. 100 PDF || der Vorsitzende Pillersdorf erhielt dann das Reinkonzept zur Korrektur und Unterfertigung; nachdem der Kaiser die Sanktion erteilt hatte, gelangte das Protokoll zurück in die Kanzlei, wo die Korrekturen des Vorsitzenden mit dem Datum der Sanktion in die Kopie nachgetragen wurden. So erklärt sich, daß die Kopie wie viele andere wohl die Korrekturen des Kanzleidirektors, nicht aber die des Vorsitzenden berücksichtigt365.

Schematisch läßt sich die Entstehung der uns überlieferten Ministerratsprotokolle folgendermaßen darstellen:

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Diese vornehmlich an Hand des Materials des Jahres 1848 gewonnenen Fakten lassen sich mit einiger Sicherheit auf die ganze Periode von der Revolution bis zum Ausgleich übertragen. Wenn sich für das Jahr 1848 solche Zusammenhänge noch leichter an der äußeren Form der Protokolle ablesen lassen als in den späteren Jahren, so liegt der Grund sicher nicht darin, daß etwa mit oder nach Schwarzenberg eine andere Kanzleipraxis in Übung kam. Daß in den Protokollen unter Buol-Schauenstein und Rechberg kaum mehr eine Korrektur oder ein Kanzleivermerk etwas von der Redaktion der Konzepte verrät, beweist nicht mehr, als daß die Routine bei der Herstellung der Reinschriften größer geworden war.

In viel höherem Maße als andere Schriftsätze der politischen Geschäftsführung tragen die Ministerratsprotokolle das konstitutive Merkmal einer Akte: sie sind nur Teil einer größeren Überlieferungseinheit; sie dokumentieren nur eine, oft gar nicht die ausschlaggebende Phase der Entstehung einer bestimmten politischen Entscheidung. Die Beratung in der Versammlung der Minister ist einerseits bereits ein Arbeitsergebnis eines Geschäftsganges, welches dem Ministerrat teils zum Zwecke der Beschlußfassung, teils aber auch nur zur Information vorgelegt wurde. Andererseits bilden die Beschlüsse des Ministerrates und die damit in Verbindung stehenden Beschlüsse des Monarchen nur die undifferenzierte Grundlage für ihre administrative oder legislative Durchführung. Die Behandlung || S. 101 PDF || eines Gegenstandes im Ministerrat ist auf weite Strecken — auch wenn im Ministerrat eine abschließende Diskussion geführt wurde — im wesentlichen nur der formale Kristallisationspunkt einer Beschlußfassung, die ihre spezielle Vor- und Nachgeschichte hat. Diese Vor- und Nachgeschichte spiegelt sich in den Protokollen meist nur in Aktenverweisen wider, die mehr oder weniger ausdrücklich den Zusammenhang zwischen dem Beratungspunkt und den dazugehörigen Akten herstellen, deren Inhalt von den Protokollführern nie ausgeführt werden brauchte, weil er bei den Ministern als bekannt vorausgesetzt werden konnte. Daraus erwächst die besondere Schwierigkeit, daß ein großer Teil des Sachinhaltes der Beratungen nicht in den Ministerratsprotokollen, sondern in den darin angezogenen Vorträgen, ministeriellen Entwürfen bzw. Ah. Erlässen und Gesetzen zu finden ist. Die sachliche Argumentation der Minister etwa zu Gesetzentwürfen ist viel häufiger als aus dem einschlägigen Ministerratsprotokoll aus den Korrekturen und Separatvoten der Minister zu den Entwürfen selbst abzulesen366.

Die Protokolle bilden weitgehend nur die formale Zusammenfassung verschiedener, meist außerhalb des Ministerrates liegender Geschäftsgänge. Infolge ihres stark formalisierten Charakters verweisen sie oft nur auf den Verhandlungsinhalt. Wie eng, vielfältig und doch unausgeführt dieser Zusammenhang sein kann, illustriert etwa ein Passus aus dem Ministerratsprotokoll vom 8. Mai 1848 367: „Der Finanzminister entwickelte seine Ansichten über jene Modifikationen, welche an dem Entwurf des Grafen Franz Stadion über das zu erlassende Patent wegen Abolition der Urbarialbesteuerung in Galizien vorzunehmen wären. Nachdem sämtliche Anwesende diesen Ansichten beistimmten, so wurde beschlossen, daß Baron Krauß sofort mit Beiziehung des Hofrates Zaleski den Entwurf einer definitiven Redaktion unterziehe, in welcher Form er sodann dem galizischen Gubernium zur Kundmachung mitzuteilen sein wird. Eine Abschrift wird dem Protokoll nachträglich beigelegt werden.“ Aus dem Protokoll selbst ist nichts über die Ansichten Baron Krauß’ zu entnehmen, auch die erwähnte Abschrift liegt dem Protokoll nicht bei. Lediglich zwei Aktenzahlen368 weisen teilweise den Weg zu den ergänzenden Schriftstücken aus dem Bereich der Ministerratsakten. Nicht immer wurden diese Hinweise expressis numeris gegeben, und nur ein Teil der zum sachlichen Verständnis des Protokolls heranzuziehenden Akten ist in den Ministerratsakten selbst zu finden.

In jedem Falle bildeten die Protokolle und die sie ergänzenden Akten eine Einheit, die in irgendeiner Weise wieder hergestellt werden muß. Die Edition der Ministerratsprotokolle kann daher streng genommen nur eine „Dokumentation“ sein, in deren Mittelpunkt zwar die Protokolle stehen, die aber zumindest im || S. 102 PDF || Rahmen des Kommentars alle zu den Protokollen gehörenden Akten miteinbezieht. In der Frage, wie die „Begleitakten“ den Protokollen im Rahmen der Edition zugeordnet werden können, liegt das editionstechnische Problem der Erschließung der Protokolle schlechthin. Allerdings ist dieses Problem nicht schematisch zu lösen. In welcher Form die verschiedenen Kategorien von „Begleitakten“ berücksichtigt werden sollen, ob mittels Verweis, Teilzitat, Regest, Aktenreferat oder Vollabdruck, ist nur am jeweiligen Einzelfall zu entscheiden. So einfach theoretisch zwischen echten „Beilagen“, d. h. Bestandteilen der Protokolle, und bloßen „Rahmenakten“, die zu den Protokollen nur ergänzend in Beziehung stehen, unterschieden werden kann, so wenig ist damit etwas für die praktische Frage ihrer Berücksichtigung gewonnen. Schon die im allgemeinen einleuchtende Forderung, alle echten „Beilagen369“, auch wenn sie, was meist der Fall ist, nicht wirklich bei den Protokollen liegen, vollständig abzudrucken und die „Rahmenakten“ in den Kommentar einzufügen, wirft die Frage auf, ob damit nicht die Grenze von einer Edition der Ministerratsprotokolle zu einer allgemeinen Aktenpublikation überschritten ist. Trotzdem wird an dem Grundsatz, die Protokolle als Teile eines größeren Aktenzusammenhanges zu edieren, festzuhalten sein, weil es sich dabei um eine Forderung handelt, die in der aktenkundlichen Eigenart gerade der österreichischen Ministerratsprotokolle begründet ist.

Die Protokolle des österreichischen Ministerrates lassen sich nicht ohne weiteres dem Typus des „Sessionsprotokolls“, wie ihn die Aktenkunde beschreibt, subsumieren. Ein Vergleich, sofern er die verfassungsrechtliche Bedeutung der formalen Elemente der Protokolle gebührend berücksichtigt und sie als Veranschaulichung eines Macht- oder Rechtsverhältnisses wertet, zeigt Besonderheiten, welche die Protokolle des österreichischen Ministerrates deutlich von dem unterscheiden, was etwa H. O. Meisner als Merkmale eines Sitzungsprotokolls beschreibt. Die Divergenz erklärt sich aus der bekannten Tatsache, daß Meisner seine Aktenkunde ausschließlich aus brandenburgisch-preußischen Beispielen entwickelt hat. Der in Österreich und Preußen zwar sehr ähnlichen Verfassungsstruktur entsprachen aber nicht gleiche Formen der ministeriellen Mitsprache bei den Regierungsgeschäften.

Auch Preußen hat in der oktroyierten Verfassung von 1848 und der revidierten Verfassung von 1850 an dem monarchischen Prinzip als dem institutionellen Kern des preußischen Staatsrechts festgehalten. Der preußische König war wie || S. 103 PDF || der österreichische Kaiser der wahre und alleinige Herrscher, trotz des konstitutionellen Systems. Aber das Verhältnis des Herrschers zu seinem Ministerium war in Preußen doch ein anderes, und die Ministerratsprotokolle hatten offenbar eine andere Funktion im Rahmen der praktischen Regierungstätigkeit. Das preußische Staatsministerium von 1849370 hat tatsächlich unter sich beraten und nur gelegentlich „beschlossen, die ... verschiedenen Ansichten Sr. Majestät dem König vorzulegen371“. Diese Schlußformel des preußischen Protokolls mit ihren rechtlichen Konsequenzen ist grundverschieden von ihrem österreichischen Pendant372, eben weil die preußischen Protokolle nicht direkt als Mittel dienten, eine Übereinstimmung zwischen den ministeriellen und herrscherlichen Beschlüssen herzustellen und zu beurkunden. Die preußischen Protokolle halten lediglich den Verlauf einer Ministerbesprechung schriftlich fest, sie sind daher wirklich nur Protokolle, nicht wie ihr österreichisches Gegenstück Urkunden. Daher gibt es im Preußischen Geheimen Staatsarchiv neben den „Protokollen des preußischen Staatsministeriums“ die „In Gegenwart Sr. Majestät des Königs und der Mitglieder des Staatsministeriums in den Konseil-Sitzungen aufgenommenen Originalprotokolle373“. Auch diese „Konseilprotokolle374“ entsprechen nur in etwa den österreichischen Ministerratsprotokollen. Sie wurden zwar vom preußischen König „approbiert375“ oder „vollzogen376“, aber der König war in diesem Kronrat nur primus inter pares, er beugte sich gelegentlich sogar dem Beschluß der unter seinem Vorsitz versammelten Minister und fügte in einem solchen Fall dem Protokoll wie ein Minister sein Separatvotum bei377, d. h. er unterwarf sich als König dem kollegialischen Prinzip378. Diese Frage war im Rahmen des österreichischen Ministerrates nie gestellt. Auch die preußischen „Konseilprotokolle“ sind demnach vom Standpunkt der Aktenkunde echte Protokolle, die als „neutrale Schriftsätze“ „ausschließlich der Tatsachenfestlegung ohne jeden || S. 104 PDF || Formzwang im Hinblick auf den Empfänger“ dienten379, „unbeweglich“ und „an und für sich nicht expedierbar“ waren380. In alledem unterscheiden sie sich von den österreichischen Ministerratsprotokollen, die nicht einfach als Mitschriften von Ministerberatungen, sondern als Instrumente der Integration des Herrscherwillens mit den ministeriellen Gesichtspunkten anzusprechen381, und aktenkundlich daher am ehesten als Schriftstücke der Unterordnung zu klassifizieren sind. Mit dem Protokoll eines österreichischen Ministerrates wurde dem Monarchen vom Vorsitzenden ein Ministerratsbeschluß zur Sanktion vorgelegt. Die Sanktion, auch wenn sie in der verschleierten Form der Ah. Kenntnisnahme erfolgte, machte aus dem Antrag oder der Berichterstattung die Beurkundung einer Regierungshandlung. Das sanktionierte Protokoll ist der formale Ausdruck des konstitutionellen Zusammenwirkens zwischen dem Ministerium und dem Monarchen, Spiegelbild jener spezifisch österreichischen Verfassungsform eines konstitutionell verschleierten Absolutismus, der in der Ära von 1848 bis 1867 institutionalisiert wurde.

Von allen europäischen Großmächten, in deren Verfassungsstruktur die Revolution von 1848 ihre Spuren hinterlassen hatte, kehrte damit Österreich am weitesten und am dauerhaftesten zu den Prinzipien absoluter Herrschergewalt zurück, nachdem es 1848 zum Ministerialsystem übergegangen war382. Die meisten der konstitutionellen Verfassungen Europas sahen ein Ministerium vor, das „als selbständiges Vollzugsorgan der Staatsgewalt vom Monarchen ernannt, diesem und einem Parlament“ verantwortlich war383. Dieses Prinzip war in der Praxis des englischen Verfassungslebens vollkommen verwirklicht. Der englische König war in Ausübung seiner Prärogativen an die Mitwirkung eines Kabinetts gebunden, das der Majorität des Parlaments entstammte und von dieser Majorität abhängig war. Der Theorie nach ist aber der König in England der alleinige Träger der obersten Staatsgewalt geblieben, wenn auch diese Staatsgewalt auf Grund einer lex non scripta vom König, dem unter sich solidarischen Kabinett und dem Parlament in harmonischem Zusammenwirken ausgeübt wird. Auch Belgien und Italien besitzen || S. 105 PDF || um die Mitte des 19. Jahrhunderts konstitutionell-parlamentarische Ministerien. Beide verkörpern den Typus des Verfassungsstaates, der aus einer Volksbewegung entstanden ist. In solchen Staaten fußt die Macht der Volksvertretung auf historisch erworbenen politischen Rechten. Die Monarchie war wirklich eine solche von Volkes Gnaden und mußte daher ihre Rechte mit der Vertretung des Volkes teilen. Über die belgische Verfassung kamen die Ideen Constants und Thiers nach Österreich und gerieten hier in Konflikt mit einer anderen Auffassung vom Konstitutionalismus. In den sogenannten „historischen“ Staaten, die ihren Bestand und ihre Verfassung ihren Fürsten verdankten, nahm die Krone gegenüber der Volksvertretung, aber auch gegenüber der „verantwortlichen“ Regierung eine dominierende Stellung ein. Die Staaten dieses Typus waren in der Hauptsache die Träger der Reaktion nach 1848. Aber selbst Frankreich, von wo sich zwar die Revolution über Europa ausgebreitet hatte, von dem aber Europa auch wieder die entscheidenden Impulse zur Restitution der absoluten Monarchie erhalten hatte, selbst dieses Frankreich Napoleons III. tendierte zum Parlamentarismus384. Die Napoleonische Staatskonstruktion hatte es verstanden, nicht nur an die Verfassungen von 1814 und 1830 anzuknüpfen, sondern sich auch das revolutionäre Prinzip der Volkssouveränität zunutze zu machen. In der Monarchie Napoleons verbanden sich bourbonische und orleanistische Tradition mit wesentlichen Verfassungselementen der zweiten Republik: der Monarch als „chef suprême de l’Etat“ leitete seine Gewalt von der direkten Volkswahl her. Er teilte diese Gewalt weder mit der Regierung noch mit der Assemblée. Der Monarch regierte selbst „au moyen des ministres, du Conseil d’Etat et du Corps legislatif“. Praktisch wurde nicht das Ministerium, sondern der Staatsrat zum obersten Regierungsorgan. Die Minister waren Staatssekretäre des Herrschers, jeder war einfach Verwalter seines Ressorts. Weder das Kabinett als Ganzes noch die Einzelminister hatten Anteil an den Kammerdebatten. Der Staatsminister, der Präsident des Staatsrates oder ein Regierungssprecher präsentierten dem Corps legislatif die Gesetzesvorlagen. Der Idee der Vereinigung der Minister zu einem Gesamtministerium setzte der Artikel 13 der Konstitution von 1851 eine klare Schranke: „Il n’y a point de solidarité entre eux.“ Die gleiche Entwicklung wie in Frankreich ist in Österreich und Preußen nach 1851 zu beobachten. In Österreich kam es überdies infolge der komplizierten Staatsstruktur nie zur Konstituierung einer funktionierenden Volksvertretung. Während sich aber in Österreich und Preußen die neue absolutistische Ordnung konsolidierte, wandelte sich Frankreich zum „empire liberale“. Angesichts neuer Kammerwahlen im Jahre 1869 erklärte ein Dekret, daß die Minister wieder den Kammern angehören dürften und vom Senat zur Verantwortung gezogen werden könnten385. Wenn dasselbe Dekret noch betonte, daß die Minister nur vom Kaiser abhängig seien, so änderte das wenig an der Tatsache, daß das Prinzip der Alleinverantwortlichkeit || S. 106 PDF || der Minister nur dem Monarchen gegenüber gefallen war. Der Weg zur parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit war beschritten und wäre sicher unter dem Druck der Opposition weiter verfolgt worden, hätte nicht der deutsch-französische Krieg dem Experiment ein Ende bereitet. Frankreich war zurückgekehrt zu den Prinzipien seiner Verfassung von 1814, die „zum erstenmal auf dem Festland die Möglichkeit eines Kabinettes“ geschaffen hatte, d. h. „eines homogenen Ministerrates, der zwischen Krone und Parlament vermittelt und durch die Verantwortlichkeit, die er beiden schuldet, gezwungen ist, seine Gewalt innerhalb der Verfassung auszuüben386“. Die Charte von 1830 hatte dann wieder die Frage der Verantwortlichkeit der Minister offengelassen. Auch die zweite Republik hatte die Stellung der Minister zwischen dem Präsidenten und dem Parlament nicht geklärt. Der Dualismus zwischen souveräner Exekutive des Monarchen bzw. des Präsidenten der Republik und der souveränen Legislative der Kammern bestimmte das Verhältnis zwischen dem Ministerium und dem Staatsoberhaupt in der Julimonarchie, der zweiten Republik und dem zweiten Kaiserreich.

Die gleiche rechtliche Position nahmen die Minister Österreichs und Preußens nach 1851 ein. Beide Staaten hatten eine monarchisch-konstitutionelle Verfassung. Was aber das Ministerrecht anlangt, war diese Verfassung nur dem Wortlaut nach konstitutionell. Die Verantwortlichkeit der Minister war verfassungsrechtlich zwar im Prinzip zugestanden, ihre Geltendmachung aber einem eigenen Gesetz vorbehalten. Nach den Regeln der juristischen Interpretation darf behauptet werden, daß auf Grund dieser Gesetzeslage der Grundsatz der Ministerverantwortlichkeit in Österreich und Preußen keine Geltung hatte387. In Preußen lag der Schwerpunkt der politischen Geschäftsführung von Anfang an nicht im Gesamtministerium, sondern in den einzelnen Fachministerien, d. h. im persönlichen Verkehr der Minister mit dem Monarchen. In Österreich war die Ausgangssituation eine andere. Zuerst die zum Liberalismus neigenden Revolutionsminister, dann die Persönlichkeit Schwarzenbergs hatten ein solidarisches Gesamtministerium als starke politische Instanz geschaffen, die fast gleichberechtigt neben dem Monarchen stand. Aber während sich in Österreich der Herrscher behauptete, das Gesamtministerium einige Zeit lang durch den Reichsrat neutralisierte und schließlich sogar ganz auflöste, setzte in Preußen bis zu einem gewissen Grade eine umgekehrte Entwicklung ein. Die Kabinettsordre vom 8. September 1852 verlieh dem Minister v. Manteuffel als Präsidenten des Staatsministeriums eine beschränkte allgemeine Leitungsbefugnis und die Kontrolle über den geschäftlichen Verkehr der Fachminister mit dem König. Nicht unvorbereitet hat später das Deutsche Reich als einziger Staat nach England das Prinzip der Kollegialität im Ministerrat aufgegeben und einen einzigen verantwortlichen Minister, || S. 107 PDF || den Reichskanzler, mit der Leitung der Regierung betraut. Kaiser Franz Joseph dagegen hat nie mehr nach Schwarzenberg wirklich einen Ministerpräsidenten mit den Kompetenzen eines solchen geduldet — das Staatsministerium war keine politische, sondern de facto eine verwaltungsorganisatorische Einrichtung. Den Ministerrat hat der österreichische Kaiser zu einer Ministerialkonferenz alten Stils degradiert.

Daran änderte sich auch 1867 nichts, als der gemeinsame Ministerrat Teile der Funktionen seines formalen Rechtsvorgängers übernahm388. Der gemeinsame Ministerrat war nur formal eine Neugründung. Organisationsform und rechtliche Stellung des neuen Regierungsorgans waren durch den Status des österreichischen Ministerrates vorbestimmt. Nur kurzfristig, in Zusammenhang mit dem Reichskanzleramt, hatte der gemeinsame Ministerrat organisatorisch eine selbständige Stellung. Mit der Abschaffung des „Reichskanzlers“ wurde auch die „Reichskanzlei“ aufgelöst, die die Geschäfte des gemeinsamen Ministerrates geführt hatte. Ihre Funktionen übernahm die Präsidialsektion des gemeinsamen Ministeriums des Äußern. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates führten von da an hochgestellte Beamte des auswärtigen Dienstes. In organisatorischer Hinsicht unfertig geblieben, fristete der gemeinsame Ministerrat wie sein Vorgänger, der österreichische Ministerrat, eine rechtlich unverbindliche Existenz — zwar praktisch wirksam, politisch nicht bedeutungslos, aber letztlich doch nur ein Diskussionsforum.

Wie der österreichische, so trug der gemeinsame Ministerrat alle Merkmale eines Kompromisses, und zwar nicht nur eines solchen zwischen Ungarn und dem Reich, sondern auch zwischen der Krone und einer auf Mitbestimmung bedachten Reichsregierung. Verfassungsrechtlich stand das neue Reichsregierungsorgan auf derselben Basis wie sein Vorgänger. Der § 18 des Gesetzes vom 21. Dezember 1867, RGBl. 146, erklärte zwar das gemeinsame Ministerium als verantwortlich, aber die näheren Bestimmungen dieser Verantwortlichkeit wurden wieder einem späteren Gesetz vorbehalten389. Als Forum zur Geltendmachung dieser Verantwortlichkeit wären die Delegationen in Frage gekommen, denen der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates zu berichten hatte. Aber so wie die Delegationen nie ein Reichsparlament geworden sind, so konnte der gemeinsame Ministerrat nie eine zwischen diesem Parlament und der Krone vermittelnde Reichsregierung werden. Wenn je beabsichtigt gewesen wäre, mit dem gemeinsamen Ministerrat eine verantwortliche Reichsregierung zu installieren, dann hätte diese dem Herrscher und den Delegationen gleichermaßen verantwortlich sein müssen. Den Delegationen wäre dann jene Kontrollfunktion zugefallen, die ein konstitutionelles Zusammenwirken zwischen Krone und Regierung auf der Basis der Gleichberechtigung garantiert hätte. Während sich in den beiden Reichshälften, auf Grund einer ungebrochenen ständischen Tradition insbesondere in Ungarn, die konstitutionelle Regierungsform zögernd durchsetzte, wurden || S. 108 PDF || die gemeinsamen Reichsangelegenheiten weiterhin nach den Grundsätzen des monarchischen Absolutismus entschieden. Es ist das Verdienst der tiefschürfenden Untersuchung. M. Komjáthys, den Nachweis erbracht zu haben, daß von den Gesetzgebern des Jahres 1867 nie daran gedacht wurde, mehr als eine Scheinregierung ins Leben treten zu lassen, und daß die Ursache für diese Entscheidung nicht in den objektiven Gegebenheiten einer komplizierten Reichsstruktur, sondern in dem ungebrochenen Fortleben der absolutistischen Traditionen aus der Zeit des Neoabsolutismus zu sehen ist. Im gemeinsamen Ministerrat wurde bewußt ein Apparat geschaffen, in dem das bis dahin herrschende absolutistische Regierungssystem zumindest in seinen Elementen prolongiert werden sollte. Von Kaiser Franz Joseph wie von seiten Ungarns wurde der „Regierungscharakter“ des neuen Organs, wenn auch aus verschiedenen Motiven, so doch mit gleicher Entschiedenheit geleugnet. Im Grunde genommen, war der gemeinsame Ministerrat nie mehr als ein Debattierforum, dessen „Beschlüsse“ im Konfliktsfall vom Vorsitzenden oder vom Kaiser ignoriert worden sind. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der Form der Protokolle wider. Anders als die österreichischen oder ungarischen Ministerratsprotokolle, die doch wesentlich Beschlußprotokolle sind, werden in den gemeinsamen Ministerratsprotokollen vornehmlich Debatten wiedergegeben, und zwar „in einer in der Amtsführung der Monarchie bis dahin unbekannten Detaillierung390“. Wie die Protokolle des österreichischen Ministerrates für die Zeit von 1848 bis 1867 so sind die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates für die Epoche des Dualismus die beredtesten Zeugnisse einer Regierungspraxis, der es gelungen ist, hinter einer konstitutionellen Fassade die Grundsätze des monarchischen Absolutismus unverändert bis in das Jahr 1918 aufrechtzuerhalten.