Nr. 355 Ministerrat, Wien, 19. Mai 1863 - Retrodigitalisat (PDF)
- ℹ️ anwesend:
- RS.Reinschrift; P.Protokoll Ransonnet; VS.Vorsitz Kaiser; BdE.Bestätigung der Einsicht und anw.anwesend (Erzherzog Rainer 21. 5.), Rechberg, Mecséry, Degenfeld, Schmerling, Esterházy; außerdem anw.anwesend Aldenburg; BdR.Bestätigung des Rückempfangs Erzherzog Rainer 25. 5.
MRZ. 1159 – KZ. 1677 –
Protokoll der zu Wien am 19. Mai 1863 abgehaltenen Ministerkonferenz unter dem Allerhöchsten Vorsitze Sr. k. k. apost. Majestät.
I. Kongreß über die polnische Frage; Politik Österreichs in dieser Angelegenheit; Deutscher Fürstenkongreß; Reform des Deutschen Bundes; Weisungen an die Presse
Se. k. k. apost. Majestät geruhten zu eröffnen, Allerhöchstdieselben hätten die heutige engere Konferenz zu dem Zwecke berufen, um die bei der gegenwärtigen Wendung der polnischen Frage vom k. k. Kabinet einzunehmende Stellung und die ferner anzustrebenden Ziele einer vertraulichen Besprechung unterziehen zu lassen1. Die österreichische Regierung habe nämlich den Westmächten einen Entwurf || S. 39 PDF || der Forderungen mitgeteilt, welche an Rußland in der polnischen Angelegenheit zu richten wären2, und hierauf französischerseits die Erwiderung erhalten, daß dieses nicht genüge und man erwarte, Österreich werde sich den von den Westmächten beabsichtigten kategorischen Forderungen – worunter auch jene eines Waffenstillstandes in Polen – mit Entschiedenheit anschließen3. Zur näheren Beleuchtung der Verhältnisse wurden, gemäß Ah. Befehls, durch den Legationsrat Baron Aldenburg folgende Aktenstücke vorgelesen:
1. Eine vom k. k. Minister des Äußern verfaßte Übersicht der gegenwärtigen politischen Lage nach Außen4.
2. Die an die k. k. Botschafter zu Paris und London von hieraus unterm 10. d. M. gerichtete Depesche5.
3. Ein Telegramm des Grafen Apponyi vom 16. d. M.6.
4. Ein Schreiben des Ministers Drouyn de Lhuys an den französischen Botschafter Duc de Grammont vom 13. d. M.7 und
5. ein Schreiben desselben an den selben vom 14. d. M.8.
Hierauf ergriff der Minister des Äußern das Wort und zeigte, wie das französische Kabinett in den zwei zuletzt gelesenen Depeschen die eigentliche Sachlage zu verdrehen bemüht ist. Den Österreich gemachten Vorwurf, seine jetzige Stellung sei eine ganz andere als die anfängliche, könnten wir vielmehr gegen Frankreich richten. Wir haben von Anfang gleich gesagt: „Wir brauchen den Frieden zu unserer inneren Entwicklung, wir wollen ihn daher erhalten sehen, und darauf wird stets unsere Aktion gerichtet sein.“ Und dies ist auch noch heute das Ziel unserer Politik. Rußland kann sich den Waffenstillstand mit der Revolution nicht vorschreiben lassen, und eben weil eine solche peremtorische Forderung den Krieg herbeiführen müßte, können wir uns nicht dabei assozieren. Österreich darf nicht eine Politik verfolgen, die das Übergewicht Frankreichs auf dem Kontinent besiegeln würde und den Verlust der Rheinländer für Deutschland zur Folge hätte9. Wenn aber Frankreich in der Depesche vom 14. 5. schon auf die Nachteile und Gefahren hindeutet, denen wir im Fall der Trennung von den Westmächten entgegengehen, wenn diese || S. 40 PDF || Macht allerdings durch revolutionäre Mittel uns schwere Verlegenheiten in Galizien, Ungarn, Siebenbürgen, in den südslawischen und italienischen Ländern bereiten kann, so muß man andererseits auch jetzt in reife Überlegung ziehen, ob wir die Mittel haben, unsere Sonderpolitik zu verteidigen und der Aufstände in jenen Ländern, falls es dazu kommt, Herr zu werden. Über diesen Punkt müsse Graf Rechberg sich die Äußerungen des Kriegs- und des Staatsministers erbitten. Was aber die diplomatischen Verhandlungen betrifft, so müssen diese vorerst darauf gerichtet sein, bdie Angelegenheit auf den friedlichen Weg zu lenkena . Weiters muß das Zusammentreten eines deutschen Fürstentages oder Kongresses bewirkt werden, wobei auch Preußen vertreten wäre, und auf welchem man die deutschen Regierungen bestimmen müßte, sich mit Österreich zur Verfolgung der im gemeinsamen Interesse der Bundesstaaten gelegenen Neutralitätspolitik zu vereinigen. Diesen Versuch zu machen, sei unerläßlich. Leider aber könne man nicht den Erfolg desselben verbürgen, denn ohne Preußen werden die deutschen Staaten nicht zu einem solchen Entschlusse zu bringen sein, und auf eine dauernde aufrichtige Mitwirkung des Berliner Kabinetts ist durchaus nicht zu rechnen, so sehr auch diese Einigung unter den gegenwärtigen Konjunkturen den wahren Interessen Preußens am Rhein und an der Weichsel entspräche. Bei einem Ministerium der Linken, ja selbst bei einem Ministerium Auerswald10, wäre Österreich nicht eine Stunde sicher, von Preußen im Stich gelassen zu werden; aber auch bei Bismarck muß man darauf gefaßt sein, daß er uns eines schönen Morgens „mit Bedauern“ uns selbst überläßt. An Vorwänden zu dem „non possumus“ wird es ihm sicher nicht fehlen, zumal die Abneigung gegen Österreich in der Armee und in den altbrandburgischen Provinzen einen Grad erreicht hat, daß sie nur mit Widerstreben für Österreich ins Feld würden rücken wollen. Um die verschiedenen Kongreßprojekte und die russischen Ansichten darüber zu beleuchten, wurde sofort ein Teil des Schreibens vom Graf Gorčakov an Herrn v. Balabine dedato 2. Mai alten Stils vorgelesen11. Hiernach fände das russische Kabinett eine „quasi europäische“ Konferenz zur ausschließenden Behandlung der polnischen Frage unannehmbar – dagegen würde es gegen eine réunion européenne über die polnische und alle übrigen Europa jetzt bewegenden Fragen keine Einwendung erheben. Für zweckentsprechend hielte dieses Kabinett aber eine fortgesetzte „diplomatische Konversation“ mit den in Petersburg akkreditierten Gesandten, „behufs eines Ideenaustausches“. Schließlich versichert Gorčakov auf das feierlichste, es gäbe keine Wahl zwischen der Würde seines Souveräns und dem Kriege, und getreu dem Ausspruche Alexander I. werde er keinen Friedensvorschlag anhören, solange noch der Fuß eines feindlichen Soldaten den russischen Boden tritt. Schließlich fügte Graf Rechberg bei, Rußland werde sich herbeilassen, an einem Kongreß der Mitunterzeichner der Wiener Kongreßakte teilzunehmen, auf welchem nichts anderes als die polnische Frage verhandelt würde.
|| S. 41 PDF || Nachdem Se. Majestät der Kaiser die übrigen Minister Ah. aufzufordern geruht hatten, sich über diese wichtige Angelegenheit mit aller Offenheit auszusprechen, äußerte der Staatsminister , das letzte Ziel der napoleonischen und – vielleicht nicht ganz selbstbewußt – der englischen Politik sei die Restauration eines unabhängigen Polenreiches, wobei man auch die Reinkorporierung Galiziens im Schilde führt, denn zugunsten Österreichs allein wird man keine Ausnahme machen wollen. Es sollte dies allein schon uns von der Förderung der Restauration abhalten, aber es kommt noch weiter zu erwägen, daß dadurch ein Herd für Revolution und Anarchie an Österreichs – und zwar an Ungarns und Siebenbürgens – Grenze geschaffen wird, dessen verderblicher Einfluß sich nur zu bald wird fühlen machen. Rußland ist gewiß kein „guter Nachbar“; aber was kann man von einem durch die Revolution geschaffenen und durch zügellose Parteien abwechselnd beherrschten Polen erst erwarten! Es wäre ein Wahn, zu hoffen, Deutschland könne durch ein Bündnis mit Polen sich verstärken. Der Pole haßt den Deutschen, während er den Franzosen bewundert und liebt und um so mehr lieben wird, wenn er Frankreich seine Unabhängigkeit zu verdanken hat. Ebenso würde man sich einer argen Täuschung hingeben, wollte man glauben, durch das Opfer Galiziens einen treuen Freund an Frankreich und eine sichere Garantie für unseren Besitz in Italien gewonnen zu haben. Warum also sich an einer Allianz mit den Westmächten beteiligen und auf blutigem Wege eine Restauration zustande bringen helfen, wobei wir schließlich selbst werden eine schöne Provinz opfern müssen ohne irgendeine Kompensation. Möglich wohl, daß es nicht zur Restauration Polens kommt und daß Napoleon nur – wie mehrmals früher – einen Anlauf nimmt und dann plötzlich mit Rußland Frieden schließt; doch wird dieser Frieden – wie der Tilsiterb, 12 – für uns nur ein nachteiliger sein. Wenn man endlich besorgt, daß ein uns feindliches Frankreich aufrührerische Bewegungen in manchen österreichischen Kronländern hervorrufen kann, so möge man andererseits auch versichert sein, daß das von uns bedrohte Rußland in dieser Richtung nicht minder tätig sein würde. Bei solchen Aussichten erscheint es klüger und würdiger, daß Österreich bei der Wahl seiner Politik in der polnischen Frage nur seine eigenen Interessen zu Rate ziehe und sein gutes Recht auf Galizien zu schützen bedacht sei; es kann schlimme Folgen für uns nach sich ziehen, aber der erstere Weg ist noch gefährlicher. Das Dringendste ist dann freilich, die anzunehmende neutrale Stellung durch ein Bündnis mit Deutschland zu stärken. Es wird gesagt, Preußen werde sich daran nicht beteiligen wollen und dadurch das Ganze scheitern machen. Allein Preußen ist ja durch die Rücksicht auf die Erhaltung Posens gezwungen, eine entschiedene Stellung zu nehmen und sich durch Allianzen zu stärken. Mit Rußland ernstlich zu brechen und sich den Westmächten anzuschließen, wird man in Berlin ernste Bedenken tragen. Ritter v. Schmerling stimme daher für die Abhaltung eines deutschen Fürstenkongresses und dafür, daß auch die deutsche || S. 42 PDF || Reform aufgrund formulierter Vorschläge in die Hand genommen werde13. Gegen einen Kongreß exklusiv zur Lösung der polnischen Frage, woran bloß die Unterzeichner des Wiener Kongresses teilzunehmen hätten, finde der Staatsminister nichts zu erinnern. Se. k. k. apost. Majestät geruhten Ah. zu bemerken, daß die österreichischen Reformvorschläge zwar in den liberalen Kreisen gut aufgenommen werden dürften, allein es sei wohl kaum zu hoffen, daß man sie dermalen neben der anderen großen Frage durchbringe. Preußen werde darauf nicht eingehen wollen und den Kongreß vielleicht lieber nicht beschicken. Der Minister des Äußern beleuchtete die eigentümliche Stellung Preußens, welche es diesem Staat, wenn die Franzosen den Krieg von der Ostsee aus beginnen, nicht mehr gestattet, neutral zu bleiben. Die Folge davon werde sein, daß Frankreich die Rheinprovinzen angreift, aus denen es die Preußen mit 100.000 Mann leichten Kaufs hinauszujagen hoffet. Dann freilich werde man sich an uns um Bundeshilfe wenden. Der Kriegsminister glaubte, daß Österreich diesem Ansinnen – nach allem vorausgegangenem – wohl nicht absolut zu folgen nötig hätte. Übrigens komme zu berücksichtigen, daß Frankreich zwei Kampagnen zugleich – in den Ostseeländern und am Rhein – zu führen nicht imstand sei, zumal die von England zu erwartende Unterstützung an Landtruppen nicht hoch angeschlagen werden kann. Die Kampagne in Rußland ferner könne in einem Feldzuge zu keinem glücklichen Ende gebracht und zur Restauration Polens dürften wenigstens zwei Jahre nötig werden. Auf die vom Minister des Äußern ausgesprochene Besorgnis, die in die Länge auch nicht haltbare Neutralität Österreichs werde uns mit den Westmächten überwerfen, ohne die Restauration Polens zu hindern, erwiderte der Kriegsminister , daß man – im Falle es wirklich dazu kommt – seine Kräfte doch während der Dauer der Neutralität geschont haben würde. Übrigens sei zu erwarten, daß während der ersten Stadien eines Krieges der Westmächte mit Rußland vielen Leuten in und außer Deutschland die Augen aufgehen werden. Der Polizeiminister hält sich gegenwärtig, daß die Wiederherstellung eines unabhängigen Polenreiches – das letzte Ziel der napoleonischen Politik – für uns das größte Übel wäre und daß – sofern wir es nicht zu verhindern vermögen – Österreichs Interesse es verbietet, die Erreichung dieses Zieles durch unsere Mitwirkung zu erleichtern und zu beschleunigen. Wir sind bis jetzt mit den Westmächten auf gleichen Pfaden gewandelt, nun aber, wo sie ihre Intentionen enthüllen, dürfte der Augenblick gekommen sein, sich von ihnen zu trennen, eine neutrale Stellung anzunehmen und sich durch den Anschluß an unseren natürlichen Alliierten – Deutschland – zu stärken. Wenn man jetzt mit den Westmächten weitergeht, wann soll Österreich auf der abschüssigen Bahn stehenbleiben? England läßt sich in seiner Verblendung vorwärts führen, ohne sich die Folgen gegenwärtig zu halten. Schweden gibt noch beruhigende Zusicherungen, aber ein Halt ist dort nicht zu finden. Baron Mecséry stimmt daher mit dem Staatsminister.
Minister Graf Esterházy ist prinzipiell mit dem Minister des Äußern und dem Staatsminister einverstanden. Österreich muß suchen, seine eigenen Interessen || S. 43 PDF || zu wahren. Graf Esterházy, der sich übrigens zum Pessimismus bekennt, sieht jedoch voraus, daß sich die Neutralität Österreichs nicht werde halten lassen; die Rheinfrage werde uns in den Krieg drängen. Sollte es aber gelingen, den französisch-preußischen sowie französisch-russischen Krieg zu verhindern, so werde die italienische Frage wieder hervorgezogen werden, um an uns Rache zu üben. Die Abhaltung eines Kongresses wäre wenigstens zum Zeitgewinne nützlich. Dort könnte man auch allenfalls einen Waffenstillstand in Polen beantragen – wogegen Se. Majestät Ah. bemerken geruhten, ein Waffenstillstand sei nur dort durchzuführen, wo sich zwei Armeen gegenüberstehen, nicht aber bei einem Kriege, der von so vielen unabhängigen Parteigängern auf eigene Faust geführt wird. Übrigens, glaubt Graf Esterházy , müsse man darauf gefaßt sein, daß Krakau auf jenem Kongresse von uns zurückgefordert werden wird, so wie Österreich sich unter den dermaligen Konjunkturen auf das Schlimmste vorbereiten muß, zumal keineswegs darauf zu zählen ist, daß Deutschland sich unserer neutralen Stellung anschließen werde. Wir mögen uns nach was immer für einer Seite wenden, der Krieg ist unabwendbar. Der Kriegsminister , welcher beiläufig sehr bedauert, daß man in der gleichzeitig mit den Westmächten nach Petersburg gerichteten Note14 so weit vorwärts gegangen ist, teilt die Ansichten der Vorstimmen über den gegenwärtig zur Wahrung der österreichischen Interessen einzuhaltenden Gang. Preußen ist allerdings jetzt in großer Gefahr. Aber die bezüglich Österreichs soeben vernommenen düsteren Besorgnisse kann Graf Degenfeld nicht ganz teilen und die Rache Frankreichs fürchtet er nicht in so hohem Grade als Graf Esterházy. Daß Österreich in bezug auf die deutsche Reform jetzt wieder die Initiative ergreife, entspricht ebensosehr den Gefühlen und Wünschen des Kriegsministers als seinen politischen Anschauungen. Doch müsse er gestehen, daß seiner Meinung nach der Erfolg dieses Schrittes durch Preußen paralysiert werden wird.
Se. Majestät der Kaiser geruhten das Ergebnis der heutigen Beratung dahin zu resümieren: 1. daß man österreichischerseits auf die Idee der Abhaltung einer Konferenz, welche sich ausschließend mit der polnischen Frage zu beschäftigen hätte, eingehe; und 2. daß die Festhaltung der Neutralität als leitender Grundsatz der künftigen Politik Österreichs zu gelten habe. Um aber zur Stärkung dieser neutralen Stellung sich auf Deutschland stützen zu können, seien die nötigen Schritte, und zwar sogleich auch in Berlin, einzuleiten.
Nachdem Se. k. k. apost. Majestät den Minister des Äußern aufzufordern geruht hatten, die diesfälligen Modalitäten in Überlegung zu nehmen und dafür zu sorgen, daß die von der k. k. Regierung inspirierte Presse ihren Ton umstimme, fügte Graf Rechberg bei, daß die Presse insbesondere möglichst abzuhalten sein werde, die deutsche Reformfrage schon jetzt dzu besprechen und eine jede auch noch so reservierte Verlautbarung dieses Projektes dahin führen würde, dessen Verwirklichung scheitern zu lassenc zu besprechen und eine jede auch noch so reservierte || S. 44 PDF || Verlautbarung dieses Projektes dahin führen würde, dessen Verwirklichung scheitern zu lassen, 15.
Wien, 21. Mai 1863. Erzherzog Rainer.
Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Franz Joseph. Schönbrunn, 25. Mai 1863. Empfangen 27. Mai 1863. Erzherzog Rainer.