- „Die Ministerien Erzherzog Rainer und Mensdorff“
- Der Kampf um das Budget für das Jahr 1865
- Die Finanzlage und das Problem der Geldbeschaffung – Die Finanzpolitik Pleners
- Handels- und Zollverträge
- Eisenbahnbau
- Die Aufhebung des Provisoriums in Ungarn und die Anbahnung des Ausgleichs
- Die Einberufung des kroatischen Landtags
- Wasser für Wien – Telegraphie – Beamtengehälter
- Das Ende des Ministeriums Erzherzog Rainer
„Die Ministerien Erzherzog Rainer und Mensdorff“ - Retrodigitalisat (PDF)
Der vorliegende Band enthält die Ministerratsprotokolle der letzten acht Monate der Regierung, die unter dem Vorsitz des Erzherzogs Rainer und mit dem liberalen Staatsminister Anton Ritter von Schmerling als politischer Leitfigur vier Jahre und fünf Monate lang die Geschicke Österreichs lenkte. Erzherzog Rainer, Sohn des gleichnamigen jüngeren Bruders von Kaiser Franz und ehemaligen Vizekönigs des lombardischvenetianischen Königreichs, war am 4. Februar 1861 mit dem Präsidium des Ministerrates betraut worden, weil er sowohl das Vertrauen Kaiser Franz Josephs und der Konservativen, als auch das Ansehen der Liberalen genoß und weil er als Vorsitzender des verstärkten Reichsrates seine ausgleichenden Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte. Er war all die Jahre hindurch, das zeigen die Ministerratsprotokolle, ein zurückhaltender, auf geschäftsmäßige Korrektheit bedachter Vorsitzender, der seine Aufgabe nicht in der politischen Gestaltung, sondern in der formalen Abwicklung der Agenden des Ministerratspräsidiums sah. Dies bedeutete nicht Verzicht auf die eigene Meinung. Wenn ein Gegenstand alle Verhandlungsstadien – Ministerebene, Staatsrat, Ministerrat – durchlaufen hatte, war es die Aufgabe des Präsidenten des Ministerrates, den abschließenden Vortrag zu erstatten. Dabei scheute sich der Erzherzog nicht, seine Meinung zu sagen. Dennoch: die politische Gestaltung lag eindeutig bei Schmerling und bei den anderen Kapazitäten des Kabinetts wie Mecséry, Plener, Lasser, Rechberg. Auch der nicht stimmberechtigte Staatsratsvorsitzende Freiherr von Lichtenfels spielte eine bedeutende Rolle. Erzherzog Rainer hatte auch darauf verzichtet, im Reichsrat das Wort zu ergreifen. Auf der parlamentarischen Ebene vertraten Schmerling oder Lasser, der auch Sprechminister genannt wurde, die Regierung.
Am 26. Juni 1865 trat Erzherzog Rainer zunächst einen Urlaub an. Die Leitung der Geschäfte des Ministerratspräsidiums wurde provisorisch dem Grafen Mensdorff, seit Oktober 1864 Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern, übertragen1. Am 22. Juli wurde Rainer unter Ah. Anerkennung von der Leitung der Geschäfte des || S. 10 PDF || Ministerrates enthoben, d. h. die Beurlaubung wurde in eine definitve Enthebung umgewandelt2. Am 27. Juli 1865 ging dann der Vorsitz des Ministerrates auf den Grafen Belcredi, die neue politische Hoffnung, über. Am selben Tag wurden sieben Minister des alten Kabinetts enthoben3. Belcredi übernahm in sein Kabinett nur Mensdorff als Minister des Äußern, Franck als Kriegsminister und den Minister ohne Portefeuille Móric Esterházy. Auch der kroatisch-slawonische Hofkanzler Mažuranić blieb noch drei Monate lang im Amt. Der Wechsel in der Leitung der ungarischen Hofkanzlei von Zichy zu Mailáth und die Enthebung des siebenbürgischen Hofkanzlers Nádasdy hatten bereits am 26. Juni gleichzeitig mit der Beurlaubung Erzherzog Rainers stattgefunden4.
Mensdorff hatte also vom 26. Juni bis zum 27. Juli 1865 den Vorsitz des Ministerrates inne. Das ist der formale Grund für die Bezeichnung „Die Ministerien Erzherzog Rainer und Mensdorff“. In diesen vier Wochen gab es nur eine Ministerratssitzung, es ist das letzte Protokoll dieses Bandes. Die Fortsetzung sind die Protokolle des Ministeriums Belcredi – die bereits erschienene VI. Abteilung der Edition.
In der Literatur findet sich auch der Ausdruck „Regierung Schmerling“ oder „Rainer – Schmerling“. Die Bezeichnungen variieren also, je nachdem die formale oder die inhaltliche Seite betont wird, richtig sind sie alle.
Zwei Themenkreise beherrschten die Tätigkeit des Ministerrates in diesen Monaten. Der eine war die ungarische Frage im weiteren Sinn, d. h. die Beendigung des sogenannten Provisorium und die Einberufung der Landtage von Kroatien-Slawonien und von Ungarn. Obwohl diese Frage langfristig gesehen die politisch wichtigere war, wurde sie vom anderen Themenkreis sowohl an Häufigkeit als auch an öffentlicher Resonanz übertroffen, nämlich von der Zustandebringung eines Budgets und von der Geldbeschaffung. Allein diesem Themenkreis sind 58 Tagesordnungspunkte von 229 gewidmet, das sind 25,3%. Der Kampf mit dem Reichsrat um das Budget für 1865 war durch Wochen und Monate hindurch das politische Hauptthema. Wenn man noch die 16 Besprechungen von Handels- und Zollverträgen und die 27 Punkte betreffend Eisenbahnen dazunimmt, dann sehen wir, welch bedeutenden Umfang die finanziellen und wirtschaftspolitischen Themen in den Besprechungen der Minister einnahmen.
Der Kampf um das Budget für das Jahr 1865 - Retrodigitalisat (PDF)
Am 12. November 1864 war der Gesamtreichsrat einberufen worden5, dem gemäß Oktoberdiplom, Februarpatent und Grundgesetz über die Reichsvertretung von 1860/61 die Beschlußfassung über den Staatsvoranschlag oblag. Am 17. November 1864 hatte Finanzminister Plener die Budgetrede im Abgeordnetenhaus gehalten. || S. 11 PDF || Das von der Regierung vorgelegte Budget sah Ausgaben in der Höhe von 548 Millionen Gulden, Einnahmen in der Höhe von 518 Millionen, somit ein Defizit von 30 Millionen Gulden vor, Zahlen, die dann in Zweifel gezogen wurden. Das Haus wählte den Ausschuß zur Beratung des Staatsvoranschlags, kurz Finanzausschuß genannt, der am 7. Jänner 1865 mit seinen Arbeiten begann. Am selben Tag beschloß der Ministerrat, ein ständiges Komitee bestehend aus den Ministern Mecséry, Schmerling, Lasser und Plener einzusetzen, um die Budgetverhandlungen zu überwachen und flexibel reagieren zu können. Des öfteren bildeten einige Minister ein Komitee zur Vorberatung eines Gegenstandes. Dies war das erste ständige Komitee.
Bis hierher konnte man von einer gewissen Routine sprechen, war es doch schon das vierte Budget, das der verfassungsmäßigen Behandlung unterzogen wurde. Es stellte sich aber heraus, daß die liberale Mehrheit des Abgeordnetenhauses nicht gewillt war, ein Defizit von 30 Millionen Gulden zu bewilligen, sondern bedeutend größere Einsparungen forderte, vor allem wieder im Hinblick auf das Armeebudget, wie schon in den vergangenen Jahren. Übrigens war das Armeebudget von der Regierung keineswegs besonders hoch veranschlagt worden. Das Defizit war vielmehr noch immer eine Folge der Gesamtsituation des Staates: Die hohe Verschuldung durch den verlorenen Krieg von 1859 hatte wesentlich zum Übergang auf das konstitutionelle Regierungssystem beigetragen, dessen Hauptaufgabe zunächst die Sanierung der Staatsfinanzen war. Diese äußerte sich in einem strikten Sparkurs und im Abkommen mit der Nationalbank, der sogenannten Bankakte von 1862/63, nach welcher durch die Tilgung der Schuld des Staates bei der Bank die Konvertierbarkeit der Währung bis zum 1. Jänner 1867 wiederhergestellt werden sollte. Der Rückzahlungsplan sah 29 Millionen Gulden im Jahr 1863, 22 im Jahr 1864, 39 im Jahr 1865 und 46 im Jahr 1866 vor6. Dazu kamen noch Tilgungsraten anderer Anleihen. Allein die Rückzahlungen an die Nationalbank überstiegen also 1865 das budgetierte Defizit.
Die Abgeordneten ließen sich aber von ihren Forderungen nicht abhalten, und die Regierung mußte, darauf lief die Sache hinaus, ein neues Budget machen. Das Ergebis sei vorweggenommen. Die Ausgaben wurden um rund 5% gekürzt, das Defizit bis auf wenige Millionen zum Verschwinden gebracht. Allerdings blieben auch diese Zahlen nur auf dem Papier und wurden nicht eingehalten, und der Reichsrat konnte sich nach der Auflösung im Juli 1865 und vollends nach der Sistierung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung am 20. September 1865 nicht dagegen wehren. Der Geldbedarf des Kriegsjahres 1866 bewirkte, daß die Staatsfinanzen wieder aus den Rudern liefen. An dieser Entwicklung hatten aber weder der Reichsrat, noch die Regierung Schmerling einen Anteil, die im Frühjahr 1865 miteinander um das Budget kämpften.
Schon am 10. Jänner fiel im Ministerrat in Anwesenheit des Kaisers der Grundsatzbeschluß, weitere Einsparungen vorzunehmen. Anlaß dafür war ein bemerkenswerter Antrag des niederösterreichischen Abgeordneten Graf Vrints im Finanzausschuß, der dort auch zum Beschluß erhoben wurde: Die Regierung solle selbst das Budgetdefizit zum Verschwinden bringen, || S. 12 PDF || dafür würde der Reichsrat den Ministern das freie Virement innerhalb der Hauptsummen eines Zweiges unbeschränkt erlauben. Dieser Vorschlag wurde im Ministerrat mit einer Mischung aus Erleichterung und Skepsis aufgenommen. Er eröffnete die Aussicht, das Budget rasch über die Bühne zu bringen und die mühsamen und oft peinlichen Detailberatungen und Detailauskünfte zu vermeiden. Andererseits wußte man nicht, welche Konsequenzen das für die Zukunft haben könnte. Der Finanzminister kommentierte den Vorschlag so: „Dieser Schritt des Ausschusses bekundet den Wunsch, Konflikten aus Anlaß des Budgets vorzubeugen. Es ist ein nicht zu unterschätzendes Zeichen von Entgegenkommen und schon aus diesem Grunde nicht ohne reifliche Erwägung hintanzuweisen. Allein die Annahme des Vorschlages hat Konsequenzen von einer solchen Tragweite, daß hiebei mit der größten Vorsicht vorzugehen ist und der Finanzminister es nicht wagt, heute schon eine meritorische Meinung darüber auszusprechen“7. Dann rechnete er den Kollegen vor, daß man die Hälfte des Defizits von 30 Millionen nicht dem Jahr 1865 anlasten könne. Die andere Hälfte sollte wohl eingespart werden. Offensichtlich hoffte Plener, sowohl die Abgordneten als auch die Ministerkollegen zum Verzicht auf 15 Millionen zu gewinnen. Außerdem schlug Plener vor, als Gegenforderung der Regierung eine gleiche Behandlung des 1866er Budgets zu verlangen. Das hatte einen guten Grund in dem schon erwähnten Umstand, daß in den beiden Jahren 1865 und 1866 noch große Rückzahlungsraten an die Nationalbank zu leisten waren. „Im Jahre 1867“, so Plener, „tritt schon eine bedeutende Erleichterung ein, und es ist daher für die Monarchie im hohen Grade wichtig über jene vorübergehenden Schwierigkeiten glücklich hinauszukommen“.
Jedenfalls stand nun eine Ziffer im Raum. Auf die sehr praktische Frage des Kaisers, was das für die einzelnen Minister bedeute, schlug Erzherzog Rainer vor, die Summe nach einem Schlüssel aufzuteilen, und der Polizeiminister rechnete schnell und meinte, mit 5% pro Ressort werde man leicht auskommen. Gegen den Vorschlag wehrte sich der Kriegsminister, der „nicht ab[sah], wo er eine Reduktion am Armeebudget machen könne, nachdem man bei dem Ordinarium bereits die äußerste Grenze erreicht hat und die extraordinären Auslagen durch Verhältnisse bedingt sind, deren Beseitigung nicht in seinem Bereiche liegt.“ Sofort wußte der Finanzminister einen Ausweg: die präliminierten Kosten der Naturalverpflegung beruhten nicht auf den jetzigen niedrigeren Marktpreisen, hier werde man einsparen können. Ablehnend äußerte sich auch der ungarische Hofkanzler, doch zählte sein Einwand angesichts des relativ kleinen Anteils seines Budgets weniger.
Die 15 Millionen Einsparung wurden zehn Tage später beschlossen, wobei der widerstrebende Kriegsminister von seinen zivilen Kollegen unter stärksten Druck gesetzt wurde8. Bei dieser Summe blieb es nicht. Während Schmerling die 15 Millionen am 16. Jänner als ein „Ultimatum der Reduktion“ bezeichnete, waren sie für Mecséry am 21. Jänner die mindeste Summe, von der ein Effekt zu erwarten sei: „Ein Opfer von 15 Millionen sei aber das geringste, von dem man einen Erfolg absehen könne, ein geringeres würde keinen Effekt machen.“ || S. 13 PDF || Am 24. Jänner fand die erste Verhandlung zwischen der Regierung und dem Finanzausschuß statt, wobei nach Lasser „die Sache weniger die Gestalt eines engagierten Kampfes als vielmehr die einer forcierten Rekognoszierung von beiden Seiten angenommen habe“9. Am 25. Jänner war man daher schon bei 19 Millionen, „wovon sich schon ein gewisser Effekt versprechen lasse“10. Am 30. Jänner wurde den Ministern der Ah. Befehl mitgeteilt, sich an die neuen Ziffern zu halten, auch wenn sie gesetzlich noch nicht festgestellt waren11. Ende Februar wurde dann die Summe von 20,100.000 Gulden als „beschlossener Gesamtabstrich“ bezeichnet, mit der man in die Verhandlungen mit dem Finanzausschuß gehen wollte12. Diese Summe wurde lange als Ultimatum der Regierung bezeichnet. Dennoch nannte Plener am 12. Mai schon die Summe von 21,493.350 Gulden13. In der Schlußphase der Budgetverhandlungen im Juli erhöhte sich die Summe auf über 25 Millionen Gulden. Am 22. Juli wurden das Budget und das Finanzgesetz für 1865 endgültig verabschiedet14.
Der rasche Ausgleich, den man sich von der Annahme des Vrints’schen Antrags erhofft hatte, war nicht zustandegekommen. Dazu hatte wesentlich die Forderung der Regierung beigetragen, auch das 1866er Budget sofort in gleicher Weise zu behandeln und zu beschließen, sozusagen als Doppelbudget 1865/1866. Hinderlich war auch die von Schmerling durchgesetzte Vorgangsweise, die geplante Einsparungssumme erst dann zu nennen, wenn der Finanzausschuß die Mitbehandlung des 1866er Budgets zugesagt habe, während der Finanzausschuß zuert die Summe wissen wollte, die die Regierung einzusparen bereit war. Die Regierung handelte glücklos, vielleicht ungeschickt. Jedenfalls war das Mißtrauen zwischen Abgeordnetenhaus und Regierung zu groß, um zu einem raschen Kompromiß zu kommen. Dieses Mißtrauen gründete aber nicht etwa in divergierenden Auffassungen über die Notwendigkeit, einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu erreichen. Dahinter standen vielmehr die unterschiedlichen Auffassungen über die Größe der Armee, über die Finanzgebarung der Regierung, über den Notverordnungsparagraphen, über die Erlassung eines Ministerverantwortlichkeitsgesetzes, über die Lösung der ungarischen Frage, und andere politische Probleme mehr.
Die Regierung befand sich eben auch in der Frage des Budgets in jener Position „zwischen Kaiser und Reichsrat“15, die ihren Spielraum einschränkte. Die kräftige || S. 14 PDF || Verminderung der Heeresausgaben, die Plener dem Reichsrat nicht geben konnte, obwohl er sie gern gegeben hätte, erhielt die neue Regierung Belcredi als Einstandsgeschenk, weil es der Kaiser so wollte. Plener selbst schilderte die Vorgänge im Brief vom 5. Juli 1865 an seinen Sohn Ernst, den späteren deutschliberalen Politiker, der in der österreichischen Botschaft in Paris seinen ersten Dienst versah: „Gestern hat S. M. beschlossen, den Abstrich im Militärbudget, welchen das Abgeordnetenhaus beantragte, zuzugestehen, 5 Millionen zu den von der Regierung bereits zugegebenen 11 Millionen, welche letzteren festzuhalten und mit aller Energie zu verteidigen wir abtretende Minister seinerzeit und bis zum letzten Augenblicke strengstens angewiesen waren. Belcredi machte seinen Eintritt von dieser Concession abhängig. Das Herrenhaus, welches ebenfalls in die Bahn geleitet war, nur den Abstrich der Regierung festzuhalten und jenem des Abgeordnetenhauses seine Zustimmung zu versagen und seinen diesfälligen Kommissionsbericht bereits in den Zeitungen veröffentlichen ließ – muß nun plötzlich eine Wendung machen und den Abstrich des Abgeordnetenhauses beantragen. Es dient diese neueste Wendung zu einer joieuse entreé für das neue Ministerium. Dasjenige, was der bisherige Finanzminister stets vergeblich anstrebte, Ersparung, wird vom neuen Ministerium gebracht.“ Und sarkastisch fügte er hinzu: „Es wird sonach ein Finanzgesetz ermöglicht, ein Kreditgesetz zu Stande gebracht und alles gut gehen unter der neuen Regierung? […] Das alte Ministerium tritt daher noch unter dem Odium ab, als ob es nicht sparen wollte und S. M. den Rat gegen Armeereduktionen gegeben hätte!“16
Die Finanzlage und das Problem der Geldbeschaffung – Die Finanzpolitik Pleners - Retrodigitalisat (PDF)
Die unangenehmste Folge des langen, zermürbenden Streits um das Budget für die Regierung war, daß die Staatskasse an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geriet, nicht weil die Monarchie bankrott war, sondern einfach, weil das Finanzgesetz nicht zustandekam, das die gesetzliche Grundlage für die Geldbeschaffung und Kreditaufnahme war, um die fälligen Raten zu bezahlen. Das erstemal berichtete Plener am 31. Jänner über die Finanzlage. Er informierte die Ministerkollegen ausführlich über die getätigten und bevorstehenden Ratenzahlungen und über die Unmöglichkeit, sie weiter allein durch Kassamittel zu bestreiten. Erschwerend kam hinzu, daß die Kriegskostenentschädigung aus dem siegreich beendeten schleswig-holsteinschen Krieg in der Höhe von 18 Milliarden Gulden nicht einging und daß sich die Verhandlungen über ein großes Vorschußgeschäft auf den geplanten Verkauf von Staatsgütern verzögerten. Plener berichtete über verschiedene, z.T. alternative Möglichkeiten einer kurzfristigen Lösung des Problems. Darunter waren mehrere Varianten von Verkauf oder Belehnung von Staatsgütern und die Verpfändung gewisser Einkünfte des Salzmonopols oder indirekter Steuern, verbunden mit einem Appell an den Patriotismus der Bankiers: „Als äußerstes Mittel werde da nichts anderes erübrigen, als ein Konsortium größerer Bankiers unvorbereitet zusammenzuberufen und an deren Patriotismus zu appellieren, daß sie die Wechsel geben, die eskomptiert werden können, um den Rest zu beschaffen.“
|| S. 15 PDF || Der Finanzminister begnügte sich aber nicht mit der praktischen Ebene, sondern wurde grundsätzlich-politisch: „Übergehend auf die allgemeine Finanzlage bemerkte der Referent, daß es dermal nicht mehr möglich sei, das Gleichgewicht der Staatseinnahmen und -ausgaben zu erzielen. Die Lage sei sehr ernst und die Zeit dringend, nach einem radikalen Abhilfsmittel zu forschen.“ Allen Anwesenden war klar, daß nur das Armeebudget einen nennenswerten Spielraum bot. „Das ewige von Monat zu Monat Leben müsse aufhören“, beschwor er die Kollegen, um dann auf den Punkt zu kommen: „Solange die Verhältnisse im Innern der österreichischen Monarchie nicht konsolidiert und eine Pazifikation mit Ungarn nicht eingetreten sein wird, werde in Österreich kein Vertrauen Platz greifen und von der Rehabilitierung des Kredits keine Rede sein können.“ Die nachfolgende Diskussion wurde dem vom Finanzminister sehr eindringlich vorgetragenen Problem nicht ganz gerecht. Der Polizeiminister stimmte zu und sprach von notwendigen Schnitten in Fleisch. Aber sein Plan einer Umkehr in der Budgeterstellung, der Erzielung eines „Normalbudgets“, war, auch wenn von Plener geteilt, mehr Wunschdenken als erreichbare Wirklichkeit: statt für den von den einzelnen Ressorts angemeldeten Bedarf das Geld zu beschaffen, müsse man das vorhandene Geld auf die Ressorts aufteilen. Vollends hilflos, ja unzeitgemäß wirken auf uns die Äußerungen Schmerlings, wenn er zwecks Einsparung in der Verwaltung vorschlug, den Adel aus der staatlichen Gerichtsbarkeit teilweise wieder herauszunehmen, oder „auf die Institution der Kaiserin Maria Theresia“ zurückzugehen, „wo die politischen Geschäfte jedes Kreises von dem Kreishauptmann in Person geschlichtet wurden, ohne daß eine ganze Behörde hinter ihm stand“, oder wenn er der Steuerpacht wie in Italien das Wort redete.
Pleners Klagen bewirkten direkt nichts. Die Lektüre des Protokolls konnte Franz Joseph aber bestärken, die Gespräche mit Deák zur „Pazifikation mit Ungarn“, die bereits begonnen hatten, nicht scheitern zu lassen. Vorerst mußte sich der Finanzminister aber weiterhin mit dem Von-Monat-zu-Monat-Leben abfinden. Er erfüllte diese Aufgabe mit Geschick und Erfolg. Er verhandelte mit der Nationalbank, mit Bankiers, erließ am 20. Februar an die Finanzlandesdirektionen eine strikte Anweisung zu größter Sparsamkeit und erteilte den Auftrag, sich um erhöhte Einnahmen zu bemühen. Diese Weisung löste eine Flut von Reform- und Einsparungsvorschlägen aus17. Freilich mußte er auch zu sogenannten Depotgeschäften greifen, wodurch er und mit ihm die Regierung in Konflikt mit der Staatsschuldenkontrollkommission des Reichsrates geriet. Diese Kommission war der Meinung, daß die Belehnung von im Besitz des Fiskus befindlichen Wertpapieren und die Verpfändung von erwarteten Einkünften eine Vermehrung der Staatsschuld darstellten und deshalb nur mit Zustimmung des Reichsrates geschehen könnten. Der Regierung verteidigte das Instrument der kurzfristigen Kreditaufnahme durch Belehnung in eigener Verantwortung als absolut unverzichtbar für die Finanzverwaltung. Auch war nicht jedes Depotgeschäft eine Vermehrung der Staatsschuld18.
|| S. 16 PDF || Ende März 1865 berichtete Plener wieder über die Finanzlage, diesmal weniger sorgenvoll, da er mit der „nicht mehr fernen Zustandebringung der Finanzgesetze für 1865 und 1866“ rechnete, um sich dann vom Reichsrat „zu einer großen Kreditoperation“ ermächtigen zu lassen. Dadurch würden „die Defizits der gedachten zwei Jahre gedeckt, welche die schwierigste Periode der österreichischen Finanzen hoffentlich abschließen werden“19. Auf die Erwiderung Schmerlings, daß mit dem Finanzgesetz für 1865 nicht vor Ende Mai, mit dem für 1866 nicht vor Anfang Juli zu rechnen sei (es wurde dann Ende Juli für das 1865er Gesetz), erklärte Plener, so lange könne er nicht warten, weil der Spätsommer die tote Saison auf dem Geldmarkt sei. Der Ministerrat stimmte der Einbringung eines Kreditgesetzes prinzipiell zu. Einen entsprechenden Vortrag erstattete Plener erst am 31. Mai. Er wurde am 6. Juni zuerst im ständigen Finanzkomitee der Ministerrates besprochen, worüber kein Protokoll vorliegt, dann im Ministerrat selbst20. Plener forderte insgesamt 116,8 Millionen Gulden, eine „gewaltige Summe“, wie der Marineminister meinte, die sich aber aus verschiedenen in den Jahren 1865 und 1866 fälligen Schuldentilgungsraten und aus den zu erwartenden Budgetdefiziten ebenfalls für beide Jahre, darüberhinaus noch aus dem Defizit für 1864 zusammensetzte. Am 8. Juni legte Plener das von der Öffentlichkeit schon seit Wochen erwartete Kreditgesetz dem Abgeordnetenhaus vor. Man war entsetzt und bestürzt21, zum guten Teil wohl aus politischen Gründen, da die Zahlen selbst wohlbegründet waren und das tatsächliche Budgetdefizit nur einen Bruchteil der Gesamtsumme ausmachte. (Franz Joseph absolvierte in diesen Tagen gerade den historischen Besuch in Budapest, wo er seinen entschiedenen Willen bekundete, die Völker der ungarischen Krone möglichst zu befriedigen.) Sehr bald zeigte es sich, daß das Abgeordnetenhaus das Kreditgesetz nicht beschließen würde. Das Haus eröffnete vielmehr eine andere Front und versuchte, der in Geldnot befindlichen Regierung ein Zugeständnis in der politischen Frage des Notverordnungsparagraphen abzuringen22.
Plener ergriff nun die Flucht nach vorn und stellte Zahlungsunfähigkeit und Demission in den Raum23. Im Ministerrat berichtete er zuerst wieder ausführlich über die Finanzlage und erklärte, was er alles getan habe und wie es in Zukunft nicht ohne die schon am 31. Jänner erwähnte Umkehrung der Budgeterstellung gehen werde, wobei er ausdrücklich ein Armeebudget von bloßen 90 Millionen Gulden forderte (bei 9 Millionen Eigeneinnahmen ein Staatszuschuß von 81 Millionen – das war nahe an der alten Traumziffer der Einsparungskommission von 1859/6024). Dann schlug er vor, statt des großen Kreditgesetzes, das keine Aussicht auf Annahme hatte, dringlich ein kleineres über bloße 18 Millionen Gulden einzubringen. Denn „jetzt gelange der || S. 17 PDF || Julikupon zur Zahlung, und mit allen nur denkbaren Mitteln sei die Finanzverwaltung nicht mehr in der Lage, die kommenden Zahlungen zu bestreiten, da auch kein Materiale mehr vorhanden sei, auf welches Vorschüsse genommen werden könnten“. Und weiter: „In pleno des Hauses wäre dann das Durchbringen dieses Gesetzes leichter möglich, weil auch die Dringlichkeit dieser Abhilfe mit der Notwendigkeit der Zahlung des Julikupons leichter motiviert werden könnte.“ Diese unumwundene Erklärung von der bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit machte zunächst die Ministerkollegen betroffen. Sie flüchteten in den Vorwurf, daß Plener „erst im Momente der größten Not mit der nackten Sachlage herausrücke“ (Mecséry) und daß der Finanzminister die Regierung „in eine äußerst gefahrvolle Lage“ gebracht habe (Schmerling). Plener verteidigte sich damit, „daß er schon oft im Ministerrate darauf aufmerksam gemacht habe, daß das fortwährende von Monat zu Monat fretten nicht mehr möglich sei und daß er in dem au. Vortrage über das Kreditgesetz bemerkt habe, daß es weder ihm, noch seinem Nachfolger im Amte gelingen werde, gewaltigeren Ereignissen vorzubeugen, und daß er hiebei ziemlich unverhüllt seine Demission gegeben habe“. Die Enttäuschung Pleners ist sehr deutlich in folgenden Sätzen zu spüren: „Wenn die Konferenz sich die Mühe nehmen wollte zu erforschen, welche Mittel er bereits herbeigeschafft habe, würde sie wohl zu anderen Ansichten gelangen. Einmal müsse alles ein Ende nehmen. Er habe nicht erst 14 Tage vor Erschöpfung der Mittel die Konferenz daran erinnert, daß es so kommen werde, da er nicht erst am 12. Juni, sondern schon längst früher und wiederholt aufmerksam gemacht habe, daß in nächster Zeit keine Mittel für die Staatsbedürfnisse vorhanden sein werden.“ Schließlich wurde beschlossen, zwar nicht das große Kreditgesetz zurückzuziehen und ein kleineres einzubringen, um nicht „jede Respektabilität“ zu verlieren (Lasser), wohl aber dem Finanzausschuß reinen Wein einzuschenken und ihn zu veranlassen, von sich aus wenn schon nicht die 116 Millionen, so doch wenigstens die unbedingt erforderlichen Summen für die Tilgung der Julirate im Abgeordnetenhaus durchzubringen. Das geschah dann auch, und das Haus bewilligte die Kreditaufnahme von 13 Millionen Gulden25.
Sowohl der Vollzug des 1865er Budgets als auch die große Kreditaufnahme wurden Plener durch die Entlassung der Regierung Schmerling aus der Hand genommen. Es wäre falsch zu sagen, daß Plener als Finanzminister gescheitert ist. Im Gegenteil, seine Finanz- und Budgetpolitik erwies sich langfristig als richtig, auch wenn er die Früchte nicht mehr ernten konnte. Der größte Erfolg war das Abkommen mit der Nationalbank und die damit eingeleitete Phase der Währungssanierung. Zwar beklagte er, daß das Abgeordnetenhaus die Abtragung der Schuld des Staates an die Bank auf den kurzen Zeitraum von vier Jahren festgesetzt hatte und so die „schwierigste Periode der österreichischen Finanzen“ mitverursacht hatte. Doch war es ihm gelungen, die Schuldentilgung durchzuhalten. Erst sein Nachfolger Larisch fand sich, bedingt durch den Krieg von 1866, bereit zum Bruch der Bankakte. Aber selbst dabei wurde eine Vorgangsweise gewählt, die den Kern des Plenerschen Vertragswerkes unangetastet ließ, || S. 18 PDF || nämlich die Unabhängigkeit der Nationalbank26. Von der Konvertierbarkeit der Währung am 1. Jänner 1867 war freilich keine Rede mehr. Bestehen blieb auch Pleners Reform des Staatsvoranschlags, die mit dem Übergang auf das Bruttobudget, also der strikten Trennung zwischen Einnahmen und Ausgaben, und einer Reihe anderer Maßnahmen ein klareres und wahreres Budget ermöglichte27. Die deutliche Verminderung des Armeebudgets in den Jahren von 1861–1865 war zwar vor allem auf den Druck des Abgeordnetenhauses zurückzuführen, doch war Plener im Ministerrat ein steter und eindringlicher Anwalt dieses Anliegens. Die von ihm geplante große Steuerreform kam nicht zustande, doch wurden die vorgesehenen Grundsätze, vor allem die allgemeine Klassen- und Einkommensteuer, später verwirklicht28.
Am 22. Juli 1865 meldete sich Plener im Herrenhaus anläßlich der abschließenden Budgetdebatte zu Wort. Es war – vier Tage vor der Abberufung des Ministeriums – seine letzte Rede als Finanzminister, und sie geriet zu einer weitausholenden Verteidigung29. Es seien der Finanzverwaltung sowohl im Herrenhaus als auch in anderen Kreisen Plan- und Ziellosigkeit und Von-der-Hand-in-den-Mund-Wirtschaften vorgeworfen worden. Doch was habe er 1860 vorgefunden? „Der größte Übelstand war die zerrüttete Valuta, ein Zustand, der für die Ehre und das Ansehen Österreichs von den weitgehendsten Folgen war. […] Die ganze Schwierigkeit und Last des Schuldverhältnisses zwischen Staat und Bank ist aus der früheren Zeit auf die gegenwärtige Regierung und Finanzverwaltung übergegangen.“ Um diesem ererbten Übel entgegenzutreten sei die Bankakte abgeschlossen worden, die freilich schwere Opfer abverlangte. Sie sei ein völliger Bruch mit den früheren Verhältnissen, wo die Bank ein willkommener Geldgeber des Staates gewesen sei. Die Einhaltung des Abkommens sei die Ehrenpflicht und Rechtspflicht dem In- und Ausland gegenüber. Plener wies dann auf die von ihm nicht verschuldeten außerordentlichen Faktoren || S. 19 PDF || hin: die „von den früheren Regierungen um mehr als eine Milliarde vermehrte Staatsschuld“ mit der entsprechenden Zinsenlast; die Militärbudgets der Jahre 1859 und 1860 mit 225 und 168 Millionen Gulden; der „– ich kann es nicht anders nennen – bewaffnete Frieden in Venetien“; der Konflikt in Schleswig-Holstein; die Mißernte in Ungarn 1863, die die Finanzen mit einer Unterstützung von 20 Millionen Gulden und zugleich einem Steuerausfall in derselben Höhe belastete. Da nun aber die laufenden Einnahmen nicht ausreichten, um die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, habe man zur Kreditaufnahme greifen müssen, und Plener meinte, es gleiche eher einem Wunder, daß dies immer gelungen sei. „Wie man daher die Kontrahierung der Staatsschulden der Finanzverwaltung vorwerfen kann, wie man ihr daraus Plan- und Ziellosigkeit deduzieren will, ist mir in der Tat unbegreiflich.“ Plener verteidigte dann seine große Kreditvorlage, die im Abgeordnetenhaus gescheitert war: sie sei notwendig wegen der außerordentlichen Rückzahlungen an die Bank in den Jahren 1865 und 1866, die „trotz aller entgegengesetzten sachkundigen Einwendungen denn doch die Hauptursache der Kalamität“ seien. Er erläuterte schließlich seinen Plan, zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt zu kommen: ständige Verminderung des Defizits, „wobei das heurige Jahr bei der neuerlichen bedeutenden Reduzierung des Militärbudgets einen hervorragenden Platz einnimmt“, und ab 1867 Bedeckung der laufenden Ausgaben (einschließlich der Staatsschuldentilgung) aus den laufenden Einnahmen.
Es sei das Los der Finanzverwaltung, meinte er abschließend, daß ihr alle Übelstände zugeschoben würden, wie die Steuern und die Kreditaufnahme mit ihren Wirkungen auf den Geldmarkt und auf die Verteuerung des Kapitals. Doch von der Richtigkeit seiner Politik überzeugt, meinte er: „Die spätere Zeit wird ein richtigeres, objektives Urteil über die bisherige Finanzverwaltung bringen.“ Er verabschiedete sich versöhnlich mit einem Zitat, das Verständnis für seine Gegner ausdrückte. Frankreichs Finanzministers Necker habe schon bemerkt: „Die Administration der Finanzen ist ein Werk, dermaßen kompliziert, mit einer Unendlichkeit von Umständen und besonderen Verhältnissen. Die Lage des Finanzministers selbst ist eine in weiten Kreisen so wenig gekannte, daß es ganz natürlich ist, daß der Leiter der Finanzen in schwierigen Momenten den ungerechtesten, aber auch den unrichtigsten Klagen und Vorwürfen ausgesetzt ist“.
Handels- und Zollverträge - Retrodigitalisat (PDF)
Seit 1862 war heftig um die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Österreich und den deutschen Staaten in Handelsfragen gerungen worden. Preußen hatte sich 1862 mit dem Vertrag mit Frankreich der Freihandelspolitik verschrieben und konnte diese Politik auch innerhalb des Deutschen Zollvereins durchsetzen, allen Widerständen seitens einiger deutscher Staaten und Österreichs zum Trotz. Politisch gesehen war das eine Niederlage Österreichs, doch verliefen die wahren Fronten nicht zwischen Österreich und Preußen, sondern zwischen den Anhängern des Freihandels und den Vertretern der Schutzzollpolitik. Österreich mußte auf eine nähere Zolleinigung mit den Staaten des Deutschen Zollvereins verzichten und sich mit einem Handels- und Zollvertrag begnügen, was aber jenen österreichischen Industriellen, die ihren Absatzmarkt vor allem im Innern hatten, || S. 20 PDF || durchaus recht war30. Ab Dezember wurde wieder in Berlin verhandelt31. Der Ausgang der Verhandlungen war noch offen. Der Minister des Äußern Mensdorff ging einmal so weit zu sagen, die Allianz mit Preußen (gemeint war das damals noch bestehende Kondominium in Schleswig-Holstein) könne auch ohne Zolleinigung fortbestehen32. Am 11. April 1865 konnte der Handels- und Zollvertrag mit dem Deutschen Zollverein in Berlin doch unterzeichnet werden. Er befreite eine Reihe von Erzeugnissen vom Zoll und ermäßigte bei anderen die Zollsätze, war also insgesamt ein gemäßigt schutzzöllnerischer Vertrag. Mensdorff kommentierte den Abschluß mit folgenden Worten: „Graf Mensdorff erkläre den Vertrag für Österreich von hohem Nutzen und jedenfalls für den vorteilhaftesten, den es unter den obwaltenden Verhältnissen schließen konnte, indem er das Prinzip der allgemeinen Zolleinigung aufrechterhält, die innige Handelsverbindung zwischen beiden Zollgebieten befestigt und erweitert, die vor allen andern Nationen bevorzugte Stellung Österreichs im Zollverein ausspricht, bedeutende Zollermäßigungen gewährt und die Fortdauer des Zollkartells zugesteht, während die von Österreich gebrachten Opfer unbedeutend sind“33. Der Vertrag wurde sofort zur verfassungsmäßigen Behandlung im Reichsrat eingebracht, der ihn am 20. Mai annahm. Dabei kam es zu „einer der erregtesten Debatten“ zum Thema Schutzzoll oder Freihandel34. Am 21. Mai wurde er ratifiziert. Am 1. Juli 1865 trat er in Kraft. Er ersetzte den Vertrag von 1853, wurde aber schon drei Jahre später durch den Vertrag von 1868 abgelöst, der die volle Wendung zum Freihandel brachte35.
Für längere Diskussionen im Ministerrat im Zusammenhang mit dem Handelsvertrag sorgte die Branntweinsteuer. Die schlechte Zuckerrübenernte 1864 – die Zuckerrüben enthielten überdurchschnittlich viel Wasser – hatte die Zuckerbarone in Schwierigkeiten gebracht. Sie verlangten staatliche Hilfe. Obwohl sich der Finanzminister dagegen wehrte, von einer „selbstverschuldeten Krisis“ durch Überproduktion sprach und darauf hinwies, daß der Staat auch in den ungleich schwereren Baumwoll- und Eisenkrisen nichts getan habe36), beschloß der Ministerrat doch eine Hilfsmaßnahme, und zwar eine 10%ige Herabsetzung der Branntweinsteuer. Der Zuckerlobby war das zu wenig. Im Abgeordnetenhaus beantragte sie zusätzlich eine 6%ige Exportbonifikation. Das rief wiederum die Zuckerfabrikanten aus den deutschen Staaten auf den Plan, die darin einen unerlaubten, mit dem Handelsvertrag unvereinbaren Vorteil für die Konkurrenz erblickten. Der österreichische Verhandler in Berlin Sektionschef Freiherr von Hock warnte wiederholt, die Handelsvertragsverhandlungen könnten über dieser Frage scheitern. Nach der Unterzeichnung sah er die Ratifikation in Gefahr. Die Regierung || S. 21 PDF || versuchte Zeit zu gewinnen und konnte sich schließlich gegen die Zuckerlobby im Abgeordnetenhaus durchsetzen37).
Ein weiteres mit dem Handelsvertrag zusammenhängendes Thema war der allgemeine Zolltarif. Aufgrund der neuen europäischen Freihandelsströmung mußte die Monarchie auch ihren allgemeinen Zolltarif von 1853 revidieren. Finanz- und Handelsministerium hatten den neuen Tarif schon vorbereitet, doch fürchtete die Regierung die schutzzöllnerische Minderheit im Reichsrat und beabsichtigte daher, den Tarif gleichzeitig mit dem Handels- und Zollvertrag mit den Deutschen Zollverein einzubringen, weil sie annahm, daß der Tarif „im Geleite eines Staatsvertrages“ (Plener), der „gewissermaßen doch eine zwingende Macht“ (Mecséry) darstellte, leichter durchzubringen war38. Da sich der Abschluß des Handelsvertrags aber verzögerte, wurde der neue Tarif doch allein eingebracht39. Als es sich abzeichnete, daß das Abgeordnetenhaus den Tarif nicht verabschieden würde, brachte die Regierung noch schnell am 23. Mai einen „Gesetzentwurf betreffend einige interimistische Änderungen des allgemeinen österreichischen Zolltarifs“ ein. Dieser „Interimistische Tarif“, der den Zollschutz in viel geringerem Maße aufhob, wurde angenommen40.
Den Ministerrat beschäftigte nicht nur die Handelspolitik gegenüber dem Deutschen Zollverein. In alle Handelsbeziehungen war Bewegung geraten. Ein Handelsvertrag mit Frankreich sollte folgen. England schickte eine Enquetekommission nach Wien. Mehrere Handelskammern forderten sogar einen Vertrag mit Rußland. Die Monarchie schloß in den folgenden Jahren tatsächlich mehrere Handelsverträge ab. Mit dieser „Vertragspolitik“ (Beer) wurde der Abbau der Zollbeschränkungen vorangetrieben41.
Eisenbahnbau - Retrodigitalisat (PDF)
Anders als in der Budget- und in der Zollpolitik, wo die Regierung im Reichsrat auf beträchtliche Kritik und Opposition stieß, waren in bezug auf den Eisenbahnbau Regierung und Reichsrat im wesentlichen einer Meinung. Nach jahrelanger Stagnation war die Zeit reif für einen Investitonsschub in diesem wichtigsten Infrastruktur-Produktionszweig des 19. Jahrhunderts. Es galt nach wie vor das Prinzip der „garantierten Privatbahnen“, d. h. die Eisenbahnlinien wurden zwar von privaten Gesellschaften gebaut, der Staat aber vergab die Baukonzession und gewährte eine „Zinsengarantie“, d. h. er garantierte den Aktionären der Errichtungsgesellschaft einen bestimmten Gewinn, meist 5%. Warf die Bahnlinie einen geringeren Ertrag ab, so zahlte der Staat die Differenz als Zuschuß. Bei Linien, die von vornherein als ertragreich galten, wurde nur die Baukonzession erteilt, aber keine Zinsengarantie gewährt. Da die Zuschüsse eine Staatsausgabe darstellten, mußten sie vom Reichsrat bewilligt werden. Die Regierung brachte also für jede Eisenbahnlinie, deren Errichtung sie aus volkswirtschaftlichen || S. 22 PDF || Gründen durch eine Zinsengarantie fördern wollte, einen Gesetzentwurf über diese Garantie ein. Der Reichsrat beeilte sich meist mit der Zustimmung. Nicht selten warteten die Abgeordneten sehnlich auf die entsprechende Vorlage, da sie daran interessiert waren, an der Errichtung einer Eisenbahn in ihrem Kronland mitwirken zu können. Andererseits ließen sich die Regierung und vor allem der Finanzminister nicht drängen, da geschickte Verhandlungen mit den Errichtungsgesellschaften dem Ärar viel Geld ersparen konnten. Die Regierung achtete auch entschieden darauf, daß der Reichsrat nur bei der Zinsengarantie mitzuwirken hatte, während die Konzessionserteilung selbst ein reiner Verwaltungsakt war42.
Zwischen dem Antrag einer Gesellschaft auf Errichtung einer Eisenbahn und der Konzessionserteilung einschließlich der Bewilligung der Zinsengarantie vergingen Monate und Jahre. Die letzten Monate der Regierung Schmerling und die Reichsratssession 1864/65 waren in dieser Hinsicht sehr erfolgreich. Es wurde endlich die Konzessionierung der seit Jahren verhandelten Eisenbahn durch Siebenbürgen, deren Trassenführung umstritten war, bewerkstelligt43. Die Strecke Arad – Karlsburg konnte dann 1868 eröffnet werden. Zwischen 1870 und 1879 wurde die Fortsetzung nach Norden, nach Osten und der Durchbruch nach Süden in die Walachei erreicht44. Darüberhinaus wurden noch sechs andere Linien bewilligt, mit deren Bau in den folgenden Monaten begonnen werden konnte, darunter die Kaiser-Franz-Josef-Bahn von Wien nach Eger (Cheb) mit einer Zweigbahn nach Prag und die Eisenbahn von Kaschau nach Oderberg (Starý Bohumín)45. Der 1867 einsetzende sogenannte Eisenbahnboom der Gründerzeit fußte also zum Teil auf den 1865 erteilten Konzessionen.
Der Ministerrat befaßte sich u. a. mit der Streckenführung, mit den Bauauflagen, ob z. B. Tunnels ein- oder zweigleisig und die Brücken aus Holz oder aus Stein zu errichten waren, oder mit der Finanzierung. In volkswirtschaftlicher Hinsicht sind die beiden Protokolle über die Errichtung einer Eisenbahn von Kaschau nach Oderberg besonders interessant, der Verbindung zwischen dem slowakisch-oberungarischen Gebiet und dem südschlesischen Industriegebiet. Während der Staatsrat Bedenken äußerte und meinte, solange Ungarn nicht im Reichsrate vertreten sei, werde dieser für Ungarn nichts übrig haben, machte sich Schmerling mit folgenden Worten für diese Linie stark: „Der Staatsminister war der Ansicht, daß die vom politischen oder verfassungsmäßigen Standpunkte hergeholten prinzipiellen Bedenken nicht als die entscheidenden ins Auge zu fassen, sondern daß der volkswirtschaftliche Standpunkt für die Regierung der maßgebende sein solle. Es sei nicht zu leugnen, daß die Produktivität eines Landes je mehr sich hebe, desto vollständiger das dasselbe bedeckende Eisenbahnnetz sei. Von dem Aufschwunge ganzer Gegenden durch Entstehung von Eisenbahnen ernte aber auch der Staat reiche Früchte. Die Zustände in Österreich seien derart, || S. 23 PDF || daß die volkswirtschaftliche und finanzielle Frage die brennendste geworden sei. Von allen Seiten werde der Regierung zum Vorwurfe gemacht, daß sie in dieser Richtung nichts tue, und bis zu einem gewissen Grade habe dieser Vorwurf seine Berechtigung. Dem entgegenzutreten müsse die Regierung sich für verpflichtet halten und Unternehmungen solcher Art, wie die in Rede stehende, nach allen Kräften fördern.“46
Wenn der Präsident des Abgeordnetenhauses Leopold v. Hasner in der Schlußansprache in der letzten Sitzung der Session meinte, neben den Einsparungen im Budget seien die Gesetze betreffend die Eisenbahnkonzessionen die zweite große Leistung des Hauses, so zeigt dies den Stellenwert, der dem Ausbau des Verkehrsnetzes in der öffentlichen Meinung zukam. Hasner maß dabei dem Eisenbahnbau nicht nur eine nationalökonomische, sondern auch eine kulturpolitische und politische Bedeutung bei. Die Eisenbahnen seien „die Mittel, mit den Gütern die Menschen zueinander zu führen und sie so zum Bewußtsein desjenigen zu bringen, was uns vor allem not tut, nämlich zum Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, der Verbindung durch die Gemeinsamkeit der Interessen“47.
Die Aufhebung des Provisoriums in Ungarn und die Anbahnung des Ausgleichs - Retrodigitalisat (PDF)
Neben dem Budget war Ungarn das große Thema dieser Monate. Es fand der politische Umschwung statt, der schließlich im Jahre 1867 in jene Neukonstruktion der Verfassung der Monarchie mündete, die mit dem Verfahrensbegriff „Ausgleich“, mit dem Konstruktionsbegriff „Dualismus“, mit den legistischen Begriffen „Dezemberverfassung“ für Österreich und „Ausgleichsgesetzartikel“ für Ungarn bezeichnet wurde und die aus dem „Kaisertum Österreich“ von 1804 die „Österreichisch-ungarische Monarchie“ von 1867 machte. Auch wenn diese Neukonstruktion auf Kosten der slawischen Bewohner des Reiches errichtet und daher von ihnen abgelehnt wurde, bestand sie doch ein halbes Jahrhundert lang. Daraus und aus dem Umstand, daß das Reich nach diesem halben Jahrhundert zu bestehen aufhörte, bezieht der Ausgleich von 1867 seine historische Bedeutung. Dementsprechend ausführlich wurde er in der historischen Literatur behandelt48.
|| S. 24 PDF || Auch die Zeit vor dem Ausgleich, also jene Ereignisse und Faktoren, die zum Ausgleich führten, wurde schon eingehend untersucht49. Dazu wurden auch die Ministerratsprotokolle herangezogen, manche finden wir bei Redlich auszugsweise publiziert50. Der vorliegende Band enthält nun den vollständigen Wortlaut aller dieser Protokolle ab dem wichtigen Protokoll vom 5. Jänner 1865, auch jener, die Redlich gar nicht erwähnt. Es geht im wesentlichen um die Aufhebung des Provisoriums und um die Einberufung der Landtage von Ungarn und von Kroatien-Slawonien. Der Zusammenhang zwischen dem kroatisch-slawonischen Landtag und der ungarischen Frage wird vom ersten Tag an deutlich.
Obwohl die ungarische Frage den Ministerrat nicht so oft wie das Budget oder die Finanzprobleme beschäftigte, enthält der Band doch zwölf Besprechungen zum ungarischen und 17 Besprechungen zum kroatisch-slawonischen Landtag.
Das Verfassungsexperiment „Oktoberdiplom 1860“ wurde nur von einer politischen Kraft in Ungarn abgelehnt, von den Liberalen. Seine Fortführung, das Verfassungsexperiment „Februarpatent 1861“ wurde sowohl von den Altkonservativen als auch von den Liberalen abgelehnt. Die Oktroyierung dieser Verfassungsdokumente widersprach der ungarischen Verfassungstradition, ihr Inhalt blieb hinter den Aprilgesetzen des Jahres 1848 zurück, und die Integrität und Unabhängigkeit des Landes waren nicht gewährleistet. Die Krone und ihre Regierung hatten auf diese Ablehnung mit der Wiedereinführung des Absolutismus in Ungarn reagiert. Vom ersten Tag an war es aber klar, daß es sich um ein Provisorium handelte. Es war auf die Dauer nicht möglich, die eine Hälfte des Reiches absolutistisch, die andere konstitutionell zu regieren. Die Frage war immer gewesen, mit welchen politischen Ideen (und mit welchen Personen) man zu einem Kompromiß kommen konnte, der auch in Ungarn wieder ein verfassungsmäßiges Regieren ermöglichte. Schmerling vertrat den Standpunkt, daß Ungarn durch die Revolution seine Verfassung „verwirkt“ habe (Verwirkungstheorie) und daher die vom Kaiser erlassene Verfassung annehmen müsse. Die Ungarn beharrten auf der Theorie der Rechtskontinuität und verlangten Verhandlungen über die Februarverfassung. Die Lösungsversuche der ungarischen Hofkanzler im Kabinett Schmerling, zuerst Anton Graf Forgách, insbesondere sein großer Ausgleichsversuch vom März 1863, mißlangen51. Auch der von Hofkanzler Zichy eingeschlagene Weg, zuerst die allseits als dringend empfundene Reform der Justizverwaltung anzugehen und so Sympathien für die Regierung zu sammeln, die staatsrechtliche Frage aber zurückzustellen, erwies sich als zu schmal konzipiert52.
|| S. 25 PDF || Seit dem Sommer 1864 begann die Stimmung umzuschlagen. Die deutschösterreichischen Liberalen sahen, daß Schmerlings andauernder Mißerfolg in der ungarischen Frage durch das Beharren auf „seiner“ Verfassung, dem Februarpatent, diese immer noch junge Verfassung selbst gefährdete. In den Zeitungen wurde schon seit Juli 1864 die Einberufung des ungarischen Landtags gefordert53. Im Dezember war die Stimmung schon so weit gediehen, daß die große Rede des steirischen Abgeordneten Moritz v. Kaiserfeld anläßlich der Adreßdebatte im soeben wiedereröffneten Reichsrat, in der er von Schmerling die endliche Lösung der ungarischen Frage forderte, auf stürmisches und begeistertes Echo stieß54. Die Reaktionen aus Ungarn blieben nicht aus. Der Pester Lloyd begann z. B. einen mit „Kaiserfeld und Schmerling“ übertitelten Leitartikel mit den Worten: „Kaiserfeld ist der Mann, der dem ungarischen Staatsrechte den Einzug in den Wiener Reichsrat verschaffte, ihm müssen wir an dieser Stelle zuerst den Dank aussprechen.“55
Aber nicht nur die Rede eines einzelnen Abgeordneten, sondern die Adresse des Abgeordnetenhauses an den Kaiser selbst bezeugt die Meinungsänderung. Die Adresse war stets ein sorgfältig stilisiertes und von der Mehrheit des Hauses verabschiedetes programmatisches Dokument. Vergleicht man die Adresse vom Dezember 1864 mit jener der zweiten Session vom Juni 1863, so zeigt sich nicht nur ein deutlicher Unterschied in der Länge der betreffenden Textstellen, nämlich ein Anwachsen von zwei auf fünf Absätze, sondern auch im Inhalt. Wurde 1863 ohne Nennung eines Kronlandes nur lebhaft bedauert, daß der Reichsrat die Mitwirkung der Vertreter aus einigen Ländern entbehren müsse und daß dort das Verfassungsleben unterbrochen sei, so wurde es 1864 tief beklagt, daß in einem großen Teile des Reiches die verfassungsmäßige Tätigkeit noch gar nicht begonnen habe oder unterbrochen sei. Dann ging man namentlich auf Lombardo-Venetien, Galizien, Ungarn und Kroatien ein und forderte die Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände und die „ungesäumte Einberufung der Landtage dieser Königreiche“. 1863 erklärte das Abgeordnetenhaus im zweiten Absatz seine Bereitschaft, die Schwierigkeiten beseitigen zu helfen, die dem gemeinschaftlichen Zusammenwirken entgegenstanden. 1864 hieß es dagegen im letzten Absatz ganz klar, das Haus wolle beitragen, daß „jenen Ländern im verfassungsmäßigen Wege die nötigen Garantien für ihre Autonomie in allen Angelegenheiten werden, welche diesen Landtagen vorbehalten sind“56.
Kurze Zeit später erschien die von den Altkonservativen inspirierte Schrift „Drei Jahre Verfassungsstreit“. Auch sie erregte große Aufmerksamkeit und trug zur Belebung der Diskussion bei57. Sie rief auch Deák auf den Plan, das geistige Haupt der ungarischen || S. 26 PDF || Liberalen. Er publizierte daraufhin seinen schon vorbereiteten „Beitrag zum ungarischen Staatsrecht“58.
Alle diese Ereignisse überkreuzten sich und verstärkten einander. Sie und wohl auch die Gespräche mit den ungarischen Vertrauensleuten wie z. B. dem ungarischen Minister ohne Portefeuille Graf Esterházy veranlaßten Franz Joseph Ende Dezember 1864, die Initiative zu ergreifen. Es kam nach Weihnachten 1864 zu den bekannten Gesprächen zwischen Franz Deák und dem Baron Antal Augusz als dem Abgesandten von höchster Stelle, in denen Deák den Weg des Kompromisses wies, indem er erklärte, auf der Basis der Pragmatischen Sanktion seien die Unabhängigkeit Ungarns und die Anerkennung von mit den anderen Kronländern gemeinsamen Interessen vereinbar. Diesen Standpunkt konnte auch Franz Joseph annehmen. Obwohl noch viele Monate bis zur endgültigen Erzielung des Ausgleich vergingen, wurde bereits um die Jahreswende 1864/65 der tragfähige Grund gelegt.
Die Tatsache selbst, daß am 27. Dezember 1864 zwischen Augusz und Deák ein Gespräch über die Bedingungen des Ausgleich stattgefunden hatte, war nicht geheim geblieben, wenn auch die Tragweite nicht erkennbar war. Im Haus-, Hof- und Staatsarchiv liegen vier Berichte des Leiters der Polizeidirektion Ofen, Regierungsrat Joseph Worafka, nach denen Augusz selbst bereitwillig über das Gespräch erzählt habe und sogar Zeitungsnotizen darüber erschienen seien59. Augusz sagte auch, die Unterredung habe mit Wissen Erzherzog Rainers und Schmerlings stattgefunden. Der Baron wird in diesen Berichten als geschwätzige, eitle, ja lächerliche Figur dargestellt.
Bereits am 2. Jänner berichtete Worafka: „Der vormalige k.k. Statthaltereivizepräsident Freiherr von Augusz ist hier im Interesse der Zustandebringung eines Ausgleiches tätig und macht gegen seine Freunde keinen Hehl daraus, daß er dies mit Wissen Sr. kaiserlichen Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Ministerpräsidenten Erzherzog Rainer und Sr. Exzellenz des Herrn Staatsministers tue. Infolgedessen pflegt er auch hier mit der Deákschen Partei Verhandlungen. Wie mir nun aus zuverlässiger Quelle bekannt geworden ist, hatte Baron Augusz am 27. Dezember von 10 Uhr morgens bis nachmittags 2 Uhr bei verschlossener Tür mit Deák in dessen Wohnung im Hotel zur Königin von England eine Besprechung, wobei letzerer in eine Detaillierung seiner Anschauungen in betreff des Ausgleiches und der Mittel zur Erzielung desselben einging.“ Im Bericht folgt nun eine kurze Zusammenfassung des Gesprächs in sechs Punkten, die ganz dem Bericht des Augusz entspricht60. Er schließt mit dem Satz: „Baron Augusz hat das Resultat seiner Besprechung zu Papier gebracht und beabsichtigte, dasselbe bereits am 31. Dezember Sr. kaiserlichen Hoheit dem Herrn Ministerpräsidenten Erzherzog Rainer zu übermitteln.“ Fünf Tage später berichtete Worafka, || S. 27 PDF || „daß Baron Augusz in seiner bekannten Weise es nicht verwinden kann, allen seinen Bekannten vertraulich das Resultat seiner Unterredung mit Deák mitzuteilen. Man macht sich darüber auch bereits lustig und glaubt, daß man den Baron einfach habe ,aufsitzen‘ lassen“. Der Statthalter Pálffy meinte zu Worafka, er würde es bedauern, wenn man Augusz in Wien ernst nehme. Deák werde kein Haar breit von seinem Standpunkt abweichen. Aber auch Deák machte kein Geheimnis aus dem Gespräch selbst. Am 10. Jänner berichtete Worafka, er habe mit dem Redakteur des Pesti Napló Zsigmond Kemény über die Zeitungsnotizen betreffend die Unterredung zwischen Deák und Baron Augusz gesprochen. „Baron Kemény erwähnte, wienach ihm Deák mitgeteilt habe, daß Baron Augusz bei ihm gewesen sei, ihn über einige Punkte um seine Ansicht ersucht und sich auch über die erhaltenen Antworten Notate gemacht habe.“ Anfang Februar schließlich berichtete Worafka: „Das Benehmen des Freiherrn von Augusz ist derart, daß er sich bereits geradezu lächerlich macht. Die Unterredung welche zwischen ihm und Deák stattgefunden hat, wird allgemein so dargestellt, als ob ihn Deák nur zum besten gehabt hätte. Baron Augusz seinerseits aber begeht die Ungeschicklichkeit, daß er weder über das, was er erfahren, noch über das, was er wünscht und hofft, Stillschweigen beobachten kann und jedermann im Vertrauen mitteilt, daß er auf den Tavernikusposten Aussicht habe. Ich selbst wurde bereits von mehren Seiten gefragt, ob es denn möglich sei, daß man dem Baron Augusz in Wien ein williges Ohr leihe und daß man ihn dort nicht längst als einen Mann kenne, welcher hier weder Achtung genießt noch Einfluß hat.“ Über die weiteren Gespräche am 25. Februar und am 7. April liegen keine Polizeiberichte vor.
Ob nun Augusz lächerlich war oder nicht, ob alle Beteiligten taktierten, ob Erzherzog Albrecht, wie es Wertheimer vermutet hat, oder Erzherzog Rainer, wie es im zitierten Bericht heißt, der Adressat der Berichte des Augusz war, ob die Verhandlungen wirklich nach Redlich in „tiefstem Geheimnis“ stattfanden oder nicht, alle diese atmosphärischen oder amüsanten Details sind angesichts zweier Tatsachen nur von untergeordneter Bedeutung. Die eine Tatsache ist der Umschwung zum Jahreswechsel 1864/65 selbst, die andere Tatsache ist, daß die Gespräche über kurz oder lang zu einer öffentlichen Aktion führen mußten. Ein geheimer Ausgleich wäre kein Ausgleich gewesen. Die ganze Sache betraf die Öffentlichkeit: öffentliches Recht als Inhalt des Ausgleichs, die politische Öffentlichkeit als die Fordernde, aber auch die Garantin des zu findenden Interessenausgleiches.
Im Ministerrat wird der Umschwung plötzlich und unvermittelt bemerkbar. Es führte nicht etwa eine Diskussion in diesem Gremium die Wende herbei, sondern vollendete Tatsachen veranlaßten das Gremium zur Diskussion. Noch am 19. und am 21. Dezember 1864 diskutierte man die Details der geplanten, durch ein Oktroy durchzuführenden Reorganisation des Gerichtswesens in Ungarn. Zichy erklärte dabei, er „sei noch immer unverändert der Ansicht, daß vorerst die Gerichtspflege in Ungarn geregelt sein müsse, bevor man darangehen könne, den Landtag einzuberufen“61. Kaum zwei Wochen später, am 5. Jänner 1865, erklärte Zichy in einer engeren Ministerkonferenz, an der nur die Leiter der Hofkanzleien sowie Schmerling und Lasser teilnahmen, || S. 28 PDF || der ungarische Landtag müsse beschleunigt einberufen werden, und die Konferenz erkannte, daß von der Reorganisation der Gerichtspflege „wegen der Kürze der verfügbaren Zwischenzeit füglich nicht mehr die Rede sein könne“. Die Begründung, die Zichy gab, beschrieb zwar gut den stattfindenden Umschwung, doch war sie nicht vollständig: „Abgesehen von dem lauten, obgleich von Parteibefangenheit nicht freien, jedoch gleichmäßig beharrlichen Drängen aus allen Schichten der Bevölkerung Ungarns liefern hiefür sowohl die Verhandlungen im versammelten Reichsrat als die einschneidenden Reklamationen der Tagesblätter und die anderweitigen Kundgebungen der öffentlichen Stimmung aus den übrigen Teilen der Monarchie eine auffällige Zeugenschaft, deren Gewicht umso weniger unterschätzt oder verkannt werden kann, da es gewissermaßen zum landläufigen politischen Schlagworte geworden ist, daß aus den Nöten der Verfassungswirren kein Ausweg zu finden sei, wenn nicht Ungarn ehestens Gelegenheit geboten wird, seinerseits über die wieartige Lösung der obschwebenden Differenzen auf dem eigenen Landtage sich auszusprechen.“ Das Drängen aus Ungarn, der Reichrat, die Reklamationen der Tagesblätter, die öffentliche Meinung, das Schlagwort: all das war auch schon am 21. Dezember vorhanden und konnte also kaum der zureichende Grund für den abrupten Meinungswechsel zum 5. Jänner sein. Dazu war wohl einzig und allein ein Wink von oben imstande. Peter Hanák hat den 5. Jänner zutreffend als den „offiziellen Beginn der Ausgleichpolitik“ bezeichnet62. Die Beschlüsse der engeren Konferenz wurden vom gesamten Ministerrat am 7. Jänner gebilligt. Es ist auffallend, daß die Protokolle keine Wortmeldung Schmerlings, der beide Male anwesend war, verzeichnen. Er äußerte also weder ein abweichende Meinung, noch verteidigte er Zichy gegen die Bedenken, die Nádasdy und Lichtenfels am 7. Jänner vorbrachten.
Es würde zu weit führen, hier die Ereignisse der folgenden Monate nachzuzeichnen. Es sei auf die Arbeit Peter Hanáks verwiesen, die eine umfassende Analyse der Ursachen innen- und außenpolitischer Natur bietet und das Ineinandergreifen der Handlungsstränge von Herbst 1864 bis zum berühmten Osterartikel Deáks vom 16. April 1865, der „öffentlichen Anmeldung der Ausgleichsbereitschaft“63, beschreibt und analysiert, also die Verhandlungen mit Deák, die publizistischen Schritte Deáks, die Gespräche Franz Josephs mit Belcredi und die Versuche Schmerlings, das Gesetz des Handelns wieder zu erlangen.
War der Ministerrat beim Ausgleichsversuch im März 1863 das Zentrum der Auseinandersetzung gewesen, so war er diesmal nur das Vollzugsorgan. Am 10. Jänner 1865 erstattete Zichy den Vortrag über die im Ministerrat gefaßten, besser gesagt dem Ministerrat abverlangten Beschlüsse. Nach einer weitläufigen Rechtfertigung seiner bisherigen Politik beschrieb Zichy z.T. mit den gleichen Worten wie im Ministerrat vom 5. Jänner den eingetretenen Wandel. Sein politisches Scheitern formulierte er so: Ohne seine Meinung geändert zu haben, müsse er doch „das vorwiegende Moment ins Auge fassen, wonach es der allgemeinen Lage der Monarchie mehr zu entsprechen scheint, den ungarischen Landtag je früher zu berufen“. Die Ah. Entschließung vom 23. Jänner auf diesen Vortrag war der erste konkrete Schritt zur Beendigung des seit || S. 29 PDF || dem 5. Dezember 1861 bestehenden Provisoriums. Der Kaiser gestattete den Aufschub der Reform der Gerichtspflege und ordnete an, die Aufhebung der Kriegsgerichte vorzubereiten: „[…] schließlich sehe ich in Beziehung auf die Aufhebung der dermaligen ausnahmsweisen Wirksamkeit der Kriegsgerichte in Ungarn und der hiemit im Zusammenhange stehenden erforderlichen Maßnahmen Ihren weiteren Anträgen entgegen“64. Anfang Februar beriet sich Zichy mit den Spitzen der Verwaltungs- und Gerichtsbehörden Ungarns, und am 6. März beantragte er die Aufhebung der Militärgerichte ab 1. Mai und einige damit zusammenhängende Maßnahmen. Dieser Termin konnte nicht eingehalten werden, denn die Prüfung der Maßnahmen durch den Staatsrat und die darauffolgenden Diskussionen im Ministerrat nahmen geraume Zeit in Anspruch. Dabei kam es zu heftigen Rückzugsgefechten betreffend die Geltung der österreichischen Rechtsordnung in Ungarn65. Erst am 26. Mai waren sämtliche Punkte ausdiskutiert66.
Für die Resolution des Vortrags vom 6. März und für den Befehl zur Aufhebung der Militärgerichte wählte Franz Joseph einen besonderen Zeitpunkt aus, nämlich den überraschenden Aufenthalt in Budapest vom 6.–8. Juni. Es war die erste Reise des Monarchen nach Budapest seit 185767. Er wurde begeistert empfangen. Auf die Huldigungsadresse, die der Kardinalprimas verlas, antwortete er (in ungarischer Sprache): „Wie immer ist es auch gegenwärtig mein entschiedener Wille, die Völker meiner ungarischen Krone nach Möglichkeit zu befriedigen […]. Schon in nächster Zeit werde ich dem Lande jenen Raum öffnen, wo einerseits die berechtigten Wünsche der Bevölkerung durch deren gesetzliche Vertreter zu meiner Kenntnis gelangen können, andererseits aber jene meiner Wünsche, mit welchen die Machtstellung der Monarchie bedingt ist, berechtigte Würdigung finden werden […]“68. Am 8. Juni unterzeichnete er das Handschreiben über die Aufhebung der Militärgerichte und über die Wiedereinsetzung der Statthalterei in ihre vollen Befugnisse. Damit war das Provisorium zu Ende. Die Reise nach Budapest war die öffentliche Antwort Franz Josephs auf den Osterartikel Deáks. Es ist bemerkenswert, daß sie nicht im Ministerrat vorbereitet wurde. Sie wird nur nachher zweimal erwähnt69.
Am 21. Juni eröffnete Zichy dem Ministerrat, er halte nun den Zeitpunkt der Einberufung des ungarischen Landtags für gekommen. Der Ministerrat diskutierte einige Details und beschloß, beim Kaiser die Einberufung auf den 23. Oktober zu beantragen. Zum entsprechenden Vortrag ist es aber nicht mehr gekommen. Rogge erzählt, Minister Graf Esterházy habe zum Kaiser gesagt, bei der Einberufung des Landtags werde der || S. 30 PDF || bloße Name Zichy auf dem Einberufungsreskript alles verderben70. Wie dem auch sei, fünf Tage später wurde Zichy enthoben und Georg Mailáth v. Szekhely zum Hofkanzler ernannt. In seine Zeit fiel die Vorbereitung und schließliche Einberufung des Landtags auf den 10. Dezember 1865 71. Der Statthalter des Provisoriums, Graf Pálffy, wurde am 18. Juli abberufen72.
Die Einberufung des kroatischen Landtags - Retrodigitalisat (PDF)
Der Plan, den kroatischen Landtag einzuberufen, und zwar vor dem ungarischen, hatte schon 1864 bestanden, doch hielt die Regierung den richtigen Zeitpunkt nicht für gekommen73. Auch in der schon besprochenen Ministerkonferenz vom 5. Jänner 1865 war, gleichzeitig mit dem ungarischen, vom kroatischen Landtag die Rede. Der Gesamtreichsrat, der kroatische und der ungarische Landtag sollten in dieser Reihe aufeinander folgen. Der kroatische Landtag war ebenfalls als Ausgleichslandtag konzipiert. Schon in der Punktation des Hofkanzlers Mažuranić vom März 1864 hatte es geheißen, daß der einfache Beitritt des Landes zur Reichsverfassung nicht zu erwarten sei, und es war von „Ausgleichsmodalitäten“ und „Ausgleichsvorschlag“ die Rede74. Daran hatte sich nun, ein Jahr später, nichts geändert. Der Hofkanzler erläuterte am 18. April 1865 dem Ministerrat die konkreten Anträge. Unter anderem sollte dem Lande die Februarverfassung offiziell mitgeteilt werden, und die Aufforderung zur Beschickung des Reichsrates sollte „nicht so imperativ wie beim ersten Landtage [1861], sondern mehr fakultativ“ gestellt werden. Schmerling gab zu, daß auf eine rasche Beschickung des Reichsrates keine Aussicht vorhanden war. Er meinte nur, man müsse „das von der Regierung Angestrebte deutlich formulieren. Über die vom Landtage zu machenden Gegenvorschläge werde sich diskutieren lassen.“ Diese Zustimmung zu einer Transaktionspolitik gründete auf der Hoffnung, daß es auf diesem Landtag doch eine Mehrheit für die von Mažuranić angeführte Politik des Ausgleichs mit der Wiener Regierung geben werde.
Eine besondere Schwierigkeit dabei war, daß der kroatische Sabor nur aus einer Kammer bestand, in der auch die Magnaten stimmberechtigt waren. Während aber die anderen Stände Vertreter entsandten, waren alle Magnaten stimmberechtigt und daher im Verhältnis zu den anderen zu zahlreich vertreten. Dazu kam, daß die meisten von ihnen, darunter viele ungarische Großgrundbesitzer, der Opposition angehörten. Die Regierung suchte daher verzweifelt nach einem Mittel, die Anzahl der Magnaten auf dem Landtag zu verringern. Folgende Möglichkeiten wurden erwogen: Vermehrung der nichtadeligen Landtagsmitglieder, Ernennung einer begrenzten Zahl || S. 31 PDF || durch den König wie in Siebenbürgen (Regalisten), Aufstellen von Bedingungen (Ansässigkeit, Kenntnis der kroatischen Sprache, Zensus), Selbstbeschränkung der Magnaten (Kommentar dazu im Ministerrat: man könne doch nicht einen politischen Selbstmord erwarten). Schließlich verwarf man alle diese Auswege als verfassungswidrig oder als nicht gangbar und einigte sich darauf, wieder die provisorische Wahlordnung von 1861 anzuwenden, die ihrerseits fast identisch mit der von 1848 war. Dabei nahm man sogar die Peinlichkeit in Kauf, eine schon hinausgegebene Ah. Entschließung wieder zurückzunehmen75.
Trotz dieser Probleme wurde die Einberufung sehr zügig vorangetrieben. Am 1. Juni 1865 (eine Woche vor der Reise nach Budapest) veröffentlichte die Wiener Zeitung das Einberufungsreskript, gemäß dem der Landtag am 17. Juli zusammentreten sollte. Ein Erfolg für die Regierung Schmerling wurde nicht mehr daraus. Am 7. Juli – die Demission der Regierung war mündlich schon angenommen – beantragte der kroatisch-slawonische Hofkanzler die Verschiebung der Eröffnung auf den 28. August, „denn solange das Ergebnis dessen, was sich soeben infolge der Personalveränderungen in Eurer Majestät Regierung vollzieht, nicht klar vor Augen liegen wird, kann man eine Versammlung nicht zusammentreten lassen, die unter dem Einflusse und Drange anderer Verhältnisse und Anschauungen einberufen wurde als es jene sind, welche den soeben schwebenden Zustand hervorgerufen haben und ihn zum Abschlusse zu bringen berufen scheinen“. Der Antrag wurde angenommen76. Noch zweimal wurde der Landtag verschoben, erst auf den 9. Oktober77 und zuletzt auf den 12. November78.
Als der Landtag dann am 12. November 1865 tatsächlich zusammentrat, stellte sich heraus, daß die Kroaten immer mehr unter den Druck des sich anbahnenden österreichisch-ungarischen Ausgleichs gerieten79.
Wasser für Wien – Telegraphie – Beamtengehälter - Retrodigitalisat (PDF)
Neben den großen Themenkomplexen enthält auch dieser Band so wie die bisherigen eine Fülle von Tagesordnungspunkten zu einzelnen Problemen und Gegenständen: Personalia, Gesetze, Kompetenzkonflikte, Außenpolitik, konfessionelle Angelegenheiten, Interpellationen und vieles mehr. Auf drei Gegenstände sei ganz kurz hingewiesen.
|| S. 32 PDF || Am 27. April besprach der Ministerrat die „Überlassung des Kaiserbrunnens an die Gemeinde Wien zum Behufe der Ausführung ihres Wasserleitungsprojektes“80. Die ergiebige Quelle „Kaiserbrunnen“ am Fuße des Schneeberges sollte die I. Wiener Hochquellenwasserleitung speisen. Sie befand sich auf dem Gebiet der Domäne Reichenau, und daher mußte der Kaiser die Überlassung der Wassernutzungsrechte aussprechen. Franz Joseph wollte dies anläßlich der feierlichen Eröffnung der Ringstraße tun, die auf die traditionelle erste Praterausfahrt des Kaiser am 1. Mai angesetzt worden war. Der Finanzminister hatte den entsprechenden Vortrag vorbereitet. Es ging vor allem um die Frage, in welcher juristischen Form die Überlassung geschehen sollte. Plener regte einen Gesetzenwurf an, Schmerling meinte dagegen, ein Gesetz sei zumindest vorläufig nicht notwendig. Es handle sich nicht um eine Veräußerung von Staatseigentum, sondern nur um die bestimmte Zusage der Überlassung, damit die Gemeinde Wien das Projekt weiter betreiben könne. Der Ministerrat trat der Meinung des Staatsministers bei. Daraufhin wurde die Ah. Entschließung formuliert, die der Kaiser am 30. April unterzeichnete: „Ich bewillige die unentgeltliche Überlassung des Kaiserbrunnens an die Stadtkommune Wien zum Zwecke der beabsichtigten Wasserversorgung und überlasse Ihnen die Feststellung der Bedingungen dieser Überlassung und die hiebei zu treffenden Vorsichten zur Schadloshaltung des Ärars und zur Sicherstellung desselben gegen Entschädigungsansprüche dritter Personen. Sie haben die unverzügliche Bekanntgebung Meiner gegenwärtigen Entschließung an die Stadtkommune Wien zu veranlassen.“ Die Wasserleitung wurde acht Jahre später, 1873, eröffnet.
Zweimal wurde der Ministerrat mit der neuen Technik der Telegraphie befaßt. Die erste Telegraphenlinie in Österreich war 1845 errichtet worden. Das Netz der Telegraphenlinien entwickelte sich sehr rasch. Die Linien wurden vom Staat und von den Eisenbahnen betrieben. Im Dezember 1864 erörterte der Ministerrat das Ansuchen eines privaten Vereins um die Erlaubnis, ein Telegraphennetz in Wien errichten zu dürfen. Der Ministerrat war einstimmig für die Erlaubnis, jedoch unter ziemlich lästigen Bedingungen. Die Staatsverwaltung sollte ein weitgehendes Aufsichtsrecht erhalten, und für Staatsdepeschen sollte nur die halbe Tarifgebühr zu entrichten sein. Der Finanzminister trat sogar für die kostenlose Versendung von solchen Depeschen ein81. Die Bewilligung wurde erteilt, und 1869 konnte die Wiener Privat-Telegrafen-Gesellschaft den Betrieb aufnehmen. Diese Gesellschaft war auch zehn Jahre später die erste, die sich um die Konzession zur Errichtung einer Telefonanlage bemühte. 1881 begann in Österreich-Ungarn das Zeitalter der Telefonie, zuerst in Budapest, wenige Monate später in Wien.
Im Jahre 1865 fand in Paris die Erste internationale Telegraphenkonferenz statt, und am 17. Mai 1865 wurde der Internationale Telegraphenvertrag abgeschlossen. Für Aufregung im Ministerrat sorgte eine Formulierung im Vertragsentwurf, nach der nicht nur in allen auf der Konferenz vertretenen Sprachen telegraphiert werden durfte, sondern auch chiffrierte Telegramme zugelassen waren. Eine geharrnischte Intervention || S. 33 PDF || des Polizeiministers verhinderte in letzter Minute diesen Passus. „Denn welche Gefahr für die Regierung durch die Zulassung von chiffrierten Privatdepeschen entstünde, darüber dürfte es wohl keines umständlichen Nachweises bedürfen“, meinte er82. Schließlich wurde in den Verhandlungen die Formulierung durchgesetzt, daß die zugelassenen Landessprachen und die Erlaubnis zur Chiffrierung von den Regierungen festzustellen seien. Chiffrierte Telegramme waren zwischen Ländern, welche die Chiffrierung erlaubten, zugelassen. Ein Land, das die Chiffrierung nicht erlaubte, mußte jedoch den Transit eines solchen Telegrammes gewährleisten83. Die Vorsicht der Staatsverwaltung, man ist versucht zu sagen des Polizeistaates, gegenüber der neuen technischen Kommunikationsmöglichkeit ist in beiden Fällen offenkundig.
Weniger erfolgreich als die Gemeinde Wien in der Wasserversorgung und als der Verein zur Vorbereitung eines Privattelegraphennetzes verliefen die Bemühungen, die Gehälter der untersten Beamtenkategorien anzuheben, obwohl die kleinen Beamten mächtige Fürsprecher hatten. Am 17. Dezember 1864 beriet der Ministerrat einen Vortrag des Finanzminister über die „Gehaltsaufbesserung für die subalternen Beamten“84. Schon mehrmals war im Ministerrat darüber gesprochen worden, den untersten Beamtengruppen ein jährliches Mindestgehalt von 450 Gulden zu gewähren. Nun beantragte Plener eine Neuregelung der untersten Beamtenkategorien. Das Mindestgehalt sollte 450 Gulden betragen, die Kategorien bis 1050 Gulden sollten entsprechend angehoben werden. Zugleich wollte er eine Vereinheitlichung im Gehaltsschema durch Reduktion der Gehaltsklassen von 37 auf 9 einführen. Rund 27.000 Personen waren betroffen, die Hälfte davon, 13.223, ressortierten zum Finanzministerium. Meist handelte es sich um Angestellte bei den staatlichen Forst- und Bergwerksämtern, also z. B. Wald- und Holzarbeiter. 6982 ressortierten zur politischen Verwaltung, je 2000 zum Handels- und zum Justizministerium. Die Reform sollte 1,9 Millionen Gulden kosten.
Die Begründung im Vortrag des Finanzministers ist ein bemerkenswertes Zeugnis für die Verbindung von Sozialpolitik und Staasraison. Plener wies auf die Zunahme der Teuerung seit 1847 hin. Die Lebenshaltungskosten seien so gestiegen, daß es für die unteren Gehaltsempfänger zu einer „wahrhaft beklagenswerten Lage“ gekommen sei. „Während alle anderen Stände sich den Wirkungen der Teuerungszunahme durch entsprechende Preissteigerung für ihre Erzeugnisse oder Leistungen mehr oder weniger zu entziehen vermögen und selbst Privatanstalten oder Dienstgeber ihre Bediensteten höher zu entlohnen genötigt sind, blieben allein die Staatsbeamten – wenige Ausnahmen abgerechnet […] – auf ihr in früherer günstigerer Zeit festgesetztes Gehaltsausmaß beschränkt und somit den das Familienleben zerstörenden und selbst die Existenz bedrohenden Wirkungen des Mißverhältnisses zwischen Bedarf und Einkommen in vollem Maße ausgesetzt. Die Folgen davon fallen auf den Staat selbst wieder zurück. Der intelligente Nachwuchs wendet sich lohnreicheren Erwerbszweigen zu; was für den Staatsdienst bleibt, stammt entweder aus früherer Zeit oder hat sonst nirgend Aussicht gefunden […]. Wenn demungeachtet der österreichische Staatsbeamtenstand im Ganzen || S. 34 PDF || sich seinen früheren ehrenvollen Ruf zu bewahren wußte, so liegt hierin der glänzendste Beweis für seine Moralität, seine Mäßigkeit und seinen vom Schwindelgeiste nicht erfaßten gesunden Sinn. Doch mehren sich in neuerer Zeit leider auch, besonders in den gering besoldeten Beamtenkategorien, denen oft namhafte Werte anvertraut sind, die Fälle des Schuldenmachens, der aus zerrüttetem Familienleben hervorgehenden Immoralität und selbst der Veruntreuung. Welchen Anteil hieran die ungenügende Salarierung trägt und wie die Gewalt des Selbsterhaltungstriebes stufenweise auf der Bahn des Verbrechens abwärts führt, zeigen die zahlreichen strafgerichtlichen und Disziplinarverhandlungen deutlich genug.“85
Es sprachen also gute Gründe für die Gehaltsaufbesserung. Dennoch mußte der Finanzminister im Ministerrat mitteilen, daß er seine Meinung geändert habe: zwar nicht über die Notwendigkeit der Maßnahme, aber über die Möglichkeit der Durchführung im jetzigen Augenblick. Anspielend auf die beginnende Debatte über das Budget für 1865 meinte er, es wäre besser, diesen Vorschlag erst nach Abschluß der Diskussion über das Militärbudget ins Abgeordnetenhaus zu bringen. Der Ministerrat folgte diesem Vorschlag. Kaiser Franz Joseph genehmigte die Gehaltsreform und überließ es dem Finanzminister, den geeigneten Zeitpunkt der Einbringung im Reichsrat festzustellen. Dieser Zeitpunkt ist aber nicht mehr gekommen.
Das Ende des Ministeriums Erzherzog Rainer - Retrodigitalisat (PDF)
Der deutschliberale Publizist Walter Rogge hat 1873 die witzig-anschauliche Formulierung geprägt, das Festgeläute in Pest sei das Zügenglöcklein, also die Totenglocke für das Ministerium Schmerling gewesen86. Der innere Zusammenhang zwischen der geänderten Politik des Kaisers gegenüber Ungarn und dem Ende der Regierung Rainer-Schmerling ist unbestritten. Franz Joseph wollte die neue Politik neuen Leuten anvertrauen. Der letzte Anstoß für den Rücktritt der Regierung war aber nicht die Reise selbst oder die bei dieser Gelegenheit verfügte Beendigung des Provisoriums, die ja vom Ministerium selbst vorbereitet worden war, sondern die Enthebung des ungarischen Hofkanzler Graf Zichy am 26. Juni 1865 und die gleichzeitige Ernennung von Georg Mailáth von Szekhely zum ungarischen Hofkanzler. Die fünf Ministerratsprotokolle zwischen dem 9. und 26. Juni, d. h. zwischen der Budapestreise und der Enthebung Zichys, enthalten nicht den geringsten Hinweis auf das bevorstehende Ende des Kabinetts, vielmehr treten uns ernsthaft und heftig diskutierende Minister und ein kraftvoller Schmerling entgegen. Doch die Abberufung Zichys über den Kopf Schmerlings hinweg war offensichtlich das Signal für den Staatsminister und die Minister seines Vertrauens, ihre Demission einzureichen. Wir besitzen eine Darstellung der Ereignisse aus nächster Nähe in dem Brief des Finanzministers Ignaz von Plener an seinen Sohn Ernst. Bereits einen Tag nach der Demission, am 27. Juni, schilderte Plener seinem Sohn die neue Lage. Aus dem Brief, der in manchen Passagen fast atemlos wirkt, ist deutlich zu sehen, wie überrascht Plener war:
|| S. 35 PDF || „Mein theurer Sohn! Es ist besser, die neuesten Nachrichten kurz heraus zu sagen. In Folge des a.h. gefaßten Beschlusses, gegenüber Ungarn eine andere Politik einzuschlagen, hat Erzherzog Rainer seine Demission erhalten87, Hofkanzler Zichy und Nádasdy enthoben, Georg Majlath ungarischer Hofkanzler und letzterer nebst Belcredi (künftiger Staatsminister) zur Bildung eines neuen Kabinetts berufen. In dieser Folge haben wir – sobald uns hievon durch Erzherzog Rainer die Kunde war – haben wir: Mecsery, Schmerling, ich, Lasser und Hein (ein jeder einzeln), um den a.h. Intentionen entgegenzukommen, unsere Demission S. M. angeboten, welche angenommen wurde; und zwar bei mir unter den gnädigsten Ausdrücken des Bedauerns, aber in Folge notwendig gewordener geänderter Anschauungen und Maßregeln. Füglich ersuchte mich der Kaiser, die Geschäfte wahrscheinlich bis Schluß der Reichsratssession (halber Juli) fortzuführen, indem sodann die neuen Ministerernennungen erfolgen werden. Staatsratspräsident Lichtenfels hat seine Pensionierung angesucht und erhalten. – Das übrige denke dir selbst. Die Art des Austrittes, nämlich des ganzen Februar Verfassungs Ministeriums ist gewiß ehrenvoller als der Austritt eines Einzelnen.[…]“88.
Auch die Presse war überrascht. Eine erste indirekte Andeutung finden wir in einem Artikel des „Wanderer“, in dem von Systemwechsel zu den Altkonservativen die Rede ist89. In den Tagen nach dem 26. Juni sind die Zeitungen dann voll von entsprechenden Kommentaren. Im Botschafter vom 30. Juni lesen wir: „Die Plötzlichkeit der Veränderung hat Freund und Feind überrascht.“
Noch ein Brief Pleners an seinen Sohn sei zitiert, in dem die Absicht des Kaisers, eine weitgehende programmatische und personelle Änderung vorzunehmen, eine ausdrückliche Bestätigung findet. Nach einer kurzen Einleitung über den Stand der Dinge antwortet der Vater auf die Frage des Sohnes, warum er zugleich mit Schmerling zurückgetreten sei:
„In der hiesigen Situation folgendes: Du weißt, daß S. M. unsre Demission mündlich bereits angenommen hat. Seither arbeiten Mensdorff, Mailath und Belcredi (der künftige Staatsminister) an einem Ministerprogramm und einer Ministerliste und konferieren darüber mit S. M. Ich war vorgestern bei S. M., um über den Stand der Cassenmittel und die Bewegungen der Börse zu relationieren. […] Du schreibst, daß du keinen Grund zu meiner Resignation einsiehst und namentlich die Gemeinschaftlichkeit des Vorganges mit Schmerling nicht gerechtfertigt erachtest. Vorerst bemerke ich, daß S. M. den Rücktritt des ganzen Kabinetts wünschte, daher wir nur einer Aufforderung zuvorkamen, die Demissionsgesuche einzureichen. Der gemeinschaftliche Rücktritt mit Erzherzog Rainer, der ist doch viel honoriger, als mein vereinzelter. Endlich waren wohl ich und Schmerling nicht identisch, aber wir waren alle zusehr mit dem Erzherzoge Rainer identifiziert, um zu bleiben. Endlich konnten wir ja nicht mehr zweifeln, daß wir das persönliche Vertrauen S. M. gänzlich verloren hatten, indem S. M. lange schon, während wir noch im Dienste waren, || S. 36 PDF || und ohne daß wir davon wußten, über die Neugestaltung mit Männern a.h. Seines Vertrauens Verhandlungen pflog.“90
Vom Zeitpunkt der Demission an hielt der Ministerrat keine Sitzungen mehr ab. Erzherzog Rainer war beurlaubt, Mensdorff zusammen mit Belcredi an der Erstellung der neuen Ministerliste beschäftigt. In dem eben zitierten Brief Pleners vom 5. Juli heißt es noch: „Wir erwarten täglich, fast stündlich, unsere Demission, nämlich die a.h. Handschreiben.“ Es vergingen aber noch drei Wochen. Am 11. Juli berief Mensdorff noch ein letztes Mal einige Minister zu einer Besprechung zusammen. Es wurde hauptsächlich die Frage beraten, wie sich die abtretende Regierung in der gemischten Kommission des Reichsrates zum Budget 1865 verhalten solle. Bitterkeit und Sarkasmus sind dabei spürbar91. Am 22. Juli wurde Erzherzog Rainer definitiv enthoben. Am 24. Juli wurde – ebenfalls überraschend – der Schluß der Reichsratssession verfügt. Ursprünglich war vorgesehen gewesen, daß auf die Session des Gesamtreichsrates jene des engeren Reichsrates folgen sollte. Davon wurde nun Abstand genommen. Viele vorbereitete Gesetze, die in die Kompetenz des engeren Reichsrates fielen, blieben liegen. Am 27. Juli 1865 fand die feierliche Schlußsitzung der dritten Reichsratssession statt. Am selben Tag unterzeichnete Kaiser Franz Joseph die Handschreiben, mit denen die Minister Schmerling, Lasser, Plener, Hein, Mecséry, Kalchberg und Burger und der siebenbürgische Hofvizekanzler Reichenstein enthoben und Belcredi, Larisch, Komers und Haller ernannt wurden. Zwei Tage später, am 29. Juli 1865 fand die erste Ministerratssitzung des neuen Kabinetts statt92.
Die Regierung Schmerling erzielte in den viereinhalb Jahren auf manchen Gebieten beachtliche Erfolge. Dazu zählt die Budget- und Währungspolitik, auf die schon oben eingegangen wurde. Liberale Reformen im Justiz- und im Wirtschaftsbereich schlugen sich in mehreren wichtigen Gesetzen nieder. Hervorzuheben sind z. B. das Allgemeine Handelsgesetzbuch von 1862, die Gesetze zum Schutz der persönlichen Freiheit und des Hausrechtes, die sogar in die Dezemberverfassung aufgenommen wurden, oder das Gemeindegesetz von 1862. Gemeinsam mit dem Reichsrat begründete das Kabinett Schmerling – wenn man von dem nur wenige Monate dauernden Versuch von 1848/49 absieht – die Tradition der Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament. Mißlungen ist dagegen die konstitutionelle Einbindung gewichtiger Reichsteile in die Februarverfassung. Vor allem durch das Scheitern der Ungarnpolitik verlor die Regierung das Vertrauen sowohl des Kaisers als auch ihrer deutschliberalen Parteigänger. So blieb ihr der große Durchbruch zur Ära des Konstitutionalismus im ganzen Reich, in dessen Zeichen sie angetreten war, versagt. Die „Zeit der Verfassungsexperimente“ war noch nicht zu Ende.