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Nr. 10 Ministerrat, Wien, 17. September 1865 - Retrodigitalisat (PDF)

  • ℹ️ anwesend:
  • RS.; P. Meyer; VS. Kaiser; BdE. und anw. Esterházy, Franck, Mailáth, Larisch, Komers, Mažuranić, Haller; außerdem anw. Belcredi; abw. Mensdorff.

MRZ. 9 – KZ. 2790 –

Protokoll des zu Wien am 17. September 1865 abgehaltenen Ministerrates unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers.

I. Sistierung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung

Se. k. k. apost. Majestät eröffnete die Sitzung mit der Bemerkung, daß eine der wichtigsten Fragen zur Beratung vorliege, die Frage nämlich, ob zum Zwecke der Ein- und Durchführung einer auf alle Teile des Reiches passenden, die Rechte und Interessen aller Völker desselben gleichmäßig sichernden, somit lebensvollen Gesamtverfassung, die fernere Aufrechterhaltung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung noch möglich sei, und richtete an den Staatsminister Grafen Belcredi die Aufforderung, sich hierüber auszusprechen und seine Anträge zu stellen.

Der Staatsminister begann hierauf mit der Bemerkung, daß die Unausführbarkeit des Patents vom 26. Februar 1861, womit das Grundgesetz über die Reichsvertretung kundgemacht wurde, als eine unanfechtbare Tatsache hingestellt werden könne. Ebenso liege es auf der Hand, daß ohne die höchste Gefahr für die Interessen und den Bestand der Monarchie dieser Zustand nicht länger dauern könne. Um zu einem Abschlusse zu gelangen, stehen zwei Wege offen: Es könne im Wege des Zwanges das Grundgesetz über die Reichsvertretung den zur ungarischen Krone gehörigen Ländern aufgenötigt werden. Allein ein solcher Vorgang widerspreche nicht nur der Staatsklugheit, sondern auch dem sowohl in den kaiserlichen Handschreiben vom 20. Oktober 1860 als in Art. II des kaiserlichen Patents vom 26. Februar 1861 anerkannten Rechte dieser Länder1. Ein solcher Schritt wäre nur wieder der Anfang zu neuen Wirren der bedauerlichsten Art in den Verfassungszuständen des Reiches. Der zweite Weg liege in dem Versuche einer Verständigung mit den Vertretern in den östlichen Königreichen, ein Weg, der von der Regierung Sr. Majestät anzubahnen wäre, über dessen Resultate später auch die legalen Vertreter aller anderen Königreiche und Länder sich auszusprechen hätten und worüber in letzter allein maßgebender Instanz der Entscheid Sr. Majestät zustehe. Bevor man aber diesen Weg betrete, sei es unerläßlich, sich volle Klarheit über den hierorts einzunehmenden Standpunkt zu verschaffen.

Wenn, was wohl der erste Schritt in dem Verständigungswerke sei, das Diplom vom 20. Oktober 1860 und das Patent vom 26. Februar 1861 dem ungarischen || S. 63 PDF || und kroatischen Landtage zur Annahme vorgelegt werden, so sei es eine logische und rechtliche Unmöglichkeit, die Wirksamkeit des Grundgesetzes über die Reichsvertretung in den hierseitigen Ländern noch anzuerkennen und fortdauern zu lassen, weil man nicht einem Teile des Reiches ein Grundgesetz, das die Verfassungsverhältnisse für das Ganze zu regeln bestimmt ist, zur Beratung, d. h. Annahme oder Modifikation oder auch Verwerfung vorlegen könne, währenddessen fortdauernde, sogar endgültige Rechtskraft für den anderen Teil aner[kannt] und ausgesprochen werde.

Daher sei es notwendig, vorab die fernere Wirksamkeit des Grundgesetzes über die Reichsvertretung zu sistieren. Konsequent sollte eigentlich die Auflösung der Reichsvertretung ausgesprochen werden, weil schon in dem Faktum der Vorlage des Grundgesetzes an die Landtage in Ungarn und Kroatien der Ausspruch des rechtlichen Nichtbestandes dieser Reichsvertretung liege. Allein eine bloße Sistierung führe zum gleichen Ziele und sei der mildere, mit weniger Aufsehen verbundene Weg. Eine solche Sistierung könne ohne Verletzung der verfassungsmäßigen Zustände, und ohne daß ein Eintrag dem kaiserlichen Worte geschehe, ausgesprochen werden.

Das Grundgesetz über die Reichsvertretung bilde nicht allein die Gesamtverfassung des Reiches, sondern, wie der Art. VI des Februarpatents ausdrücklich ausspreche, der Inbegriff der vorausgegangenen, der neu ins Leben gerufenen und der neuen Grundgesetze bilde die Verfassung des Reiches. Der Art. I des Februarpatents müßte zur Beantwortung der Frage, was als die Gesamtverfassung des Reiches anzusehen sei, mit dem Art. VI zusammengehalten werden. Eine Sistierung oder auch Aufhebung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung sei also noch kein Sistieren oder Aufheben dessen, was nach dem Februarpatente als die Gesamtverfassung des Reiches bezeichnet werde, noch weniger aber eine Zurücknahme des kaiserlichen Wortes, welches auf die Verleihung einer Verfassung für das ganze Reich lautete.

Es könne nun aber die Frage entstehen, ob die Sistierung sich auch auf die Wirksamkeit des engeren Reichsrates zu beziehen habe! Diese Frage könne nur bejahend beantwortet werden. Das Grundgesetz über die Reichsvertretung kenne nur eine und nicht zwei Reichsvertretungen. Diese eine Reichsvertretung sei der Reichsrat. Alle Bestimmungen des Grundgesetzes über die Zusammensetzung, die Mitgliederzahl, die Scheidung in zwei Häuser, die zum Eintritte in dieselben berechtigten Mitglieder usw. gelten für den engeren wie den weiteren Reichsrat. Ein Unterschied liege nur darin, daß eine Anzahl Mitglieder zur Beratung gewisser Gegenstände keine Kompetenz haben.

Werde nun das ganze Gesetz den Landtagen in Ungarn und Kroatien zur Beratung vorgelegt, so könne niemand diese hindern, über das Ganze und dessen einzelne Teile die Beratung walten zu lassen, und es sei bei dem Zusammenhange aller Teile eine Unmöglichkeit, daß nicht allfällige Anträge auf Modifikation einzelner Bestimmungen hinsichtlich der Zusammensetzung oder der Kompetenz des weiteren Reichsrates die Zusammensetzung und die Kompetenz des engeren Reichsrates alterieren. Eine Sistierung der Wirksamkeit des engeren Reichsrates sei daher ebenfalls eine Konsequenz des ganzen Vorganges.

|| S. 64 PDF || Geleitet von diesen Anschauungen erlaube er sich daher allerehrerbietigst, den Entwurf eines kaiserlichen Patents vorzulegen, womit die Wirksamkeit des Grundgesetzes über die Reichsvertretung sistiert werden soll. Dieses Patent wäre bei der Wichtigkeit der Sache in Begleitung eines Manifests zu veröffentlichen, worin den Völkern des Reiches über die Ah., nur auf deren Wohlfahrt gerichteten Absichten die beruhigendsten Aufklärungen gegeben werden.

Manifest und Patent wurden hierauf von dem Staatsminister verlesen.

In der Umfrage, welche hierauf Se. Majestät an die Versammlung hielt, wurde von derselben nicht nur dem angeratenen Schritte, der Art und Weise der Durchführung, sondern auch dem offenen, klaren, eines kaiserlichen Wortes würdigen Inhalte des Manifests beigepflichtet.

Hiebei wurde jedoch von Seite des Justizministers das Bedenken geäußert, daß eine Sistierung auch der Wirksamkeit des engeren Reichsrates allzu großes Aufsehen erregen und Anlaß geben dürfte, von Verletzung der Verfassung zu sprechen. Er anerkenne allerdings, daß aus den jetzigen Verfassungskalamitäten ohne einen Machtspruch nicht herauszukommen sei, und soweit sich dieser auf die Sistierung der Wirksamkeit des weiteren Reichsrates beziehe, könne mit einem solchen ohne Bedenken vorgegangen werden. Allein, wenn diese Maßregel sich auch auf den engeren Reichsrat erstrecke, so liege außer Zweifel, daß die Bekämpfer der ganzen Maßregel auf diesen einen Punkt hauptsächlich sich werfen und versuchen werden, anschaulich zu machen, wie eine solche Maßregel sogar gegen das Grundgesetz sich verstoße, indem der ungarische und kroatische Landtag nur über jene Angelegenheiten sich auszusprechen haben, welche gemeinsame Reichsangelegenheiten sind, in allem aber, was der Kompetenz des engeren Reichsrates anheimfällt, dieselben außer dem Spiele bleiben sollen. Um über diese allgemeinen Reichsangelegenheiten zu beraten und Anträge zu stellen, bedürfe es daher keiner Aufhebung der Institution des engeren Reichsrates.

Im Grunde hätte die Vorlage, die an den ungarischen und kroatischen Landtag zu machen sei, sich auf die Frage zu beschränken, was sie als allen Teilen des Reiches gemeinschaftliche oder nicht gemeinschaftliche Angelegenheiten betrachten. Es scheine denn doch, daß ein Ausspruch hierüber möglich sei, ohne daß man den Zustand des engeren Reichsrates in Frage stelle. Er äußere diese Bedenken, weil er nur allzusehr fürchte, es möchte die Sistierung der Wirksamkeit des engeren Reichsrates sogar als eine Zurücknahme des kaiserlichen Wortes, das heilig und unverbrüchlich sein soll, gedeutet werden und weil er überzeugt sei, daß es viel zur öffentlichen Beruhigung beitragen würde, wenn während der Beratungen des ungarischen und kroatischen Landtages der engere Reichsrat in seiner gesetzlichen Wirksamkeit erhalten und anerkannt werde.

Der ungarische Hofkanzler bemerkte, daß auch er es vorziehen würde, wenn eine Möglichkeit vorhanden wäre, ohne Sistierung der Wirksamkeit des engeren Reichsrates vorzugehen.

Auf die vom Herrn Justizminister geäußerten Bedenken erwiderte der Staatsminister , daß er zur Widerlegung derselben sich eigentlich nur auf das bereits Gesagte beziehen könne, nicht genug aber neuerdings betonen müsse, daß die || S. 65 PDF || Belassung der Wirksamkeit des engeren Reichsrates mit der gleichzeitigen Aufhebung der Wirksamkeit des weiteren eine rechtliche Unmöglichkeit sei. Beide Institute haben die gleiche Grundlage, die gleiche Zusammensetzung, die gleiche Scheidung in ein Abgeordneten- und Herrenhaus, das eine gehe aus dem anderen hervor, und ist dieses tot oder wird als solches erklärt, so ist auch das andere zum leblosen Geschöpfe geworden. Nur durch eine Fiktion könnte nach der Todeserklärung des weiteren Reichsrates der engere noch als lebend angesehen werden. Man habe aber hinsichtlich der Verfassungsangelegenheiten des Reiches zu dessen Unheil leider nur zu lange schon in Fiktionen gelebt, und es sei gewiß nicht rätlich, abermals eine neue zu schaffen.

Er wisse wohl, daß man diese klare und einzig wahre Anschauung der Sache in den öffentlichen Blättern damit zu untergraben suche, daß man eine dieseitige und jenseitige Rechtskontinuität zur Sprache gebracht habe. Die Rechtskontinuität für die Länder diesseits der Leitha soll nun in der Erhaltung des engeren Reichsrates bestehen. Allein, wie könne denn von einer solchen Rechtskontinuität die Rede sein, da man die ganze Grundlage, auf welcher das Gebäude des engeren Reichsrates ruht, in Frage stellt und in Frage stellen muß, indem man das Grundgesetz den östlichen Landtagen zur Beratung, d. h. zur Annahme, zu Modifikationsanträgen oder auch zur Verwerfung vorlegt.

Man solle sich nur den ganzen Vorgang klar machen. Wenn das Grundgesetz über die Reichsvertretung den beiden Landtagen vorgelegt wird, so seien drei Eventualitäten möglich. Die eine offenbar ganz unwahrscheinliche sei die, daß Diplom und Februarpatent angenommen werden. Damit wäre alle und jede Frage über den Fortbestand des weiteren und engeren Reichsrates gelöst. Eine zweite bestehe darin, daß Anträge auf Modifikationen des Grundgesetzes gestellt werden, Anträge, die, mögen sie die Wahl, Zusammensetzung oder Kompetenz des Reichsrates berühren, auf den engeren so gut wie auf den weiteren Bezug haben. Diese Eventualität sei nun die einzige, welche zu einer Verständigung führen könnte. Sache der Regierung sei es dann, diese Anträge zu würdigen und hierüber auch die legalen Vertreter der übrigen Teile des Reiches zu vernehmen, unter welchen aber nicht der engere Reichsrat, sondern die Landtage zu verstehen seien. Der letzte Entscheid aber über die beiderseitigen Beratungsresultate könne und dürfe nur in der Hand Sr. Majestät liegen. Die letzte mögliche Eventualität sei die einer puren Negation, eines absoluten Nichteingehens auf die Vorlage. Trete dieser Fall ein, dann sei auch der Zeitpunkt gekommen, daß aus alleiniger kaiserlicher Machtvollkommenheit das Werk geschaffen werde, welches zur Rettung des Reiches eine Notwendigkeit geworden. Im Gebrauche dieser Machtvollkommenheit werde dann Se. Majestät, mit neuer Liebe umgeben von seinen Völkern, vorwurfslos vor Europa, vor Mit- und Nachwelt dastehen.

Die Belassung der Wirksamkeit des engeren Reichsrates habe übrigens auch noch ein politisches Bedenken. Es wäre nämlich dadurch der reinste Dualismus ausgesprochen, und er zweifle nicht, daß damit einer großen Partei in Ungarn sehr gedient sein dürfte.

Auf die Bemerkung Sr. Majestät , welche den Anschauungen des Staatsministers vollkommen beizustimmen geruhten, daß man ja im ungewissen sei, was || S. 66 PDF || der ungarische Landtag als zur Kompetenz der Reichsvertretung gehörig ansehen werde, daß es möglich, wenn auch höchst unwahrscheinlich sei, daß er auch die Justizgesetzgebung als dahin gehörig betrachte, wurde vom Staatsminister noch weiter darauf hingewiesen, wie man über die gegenseitige Kompetenz für den weiteren und den engeren Reichsrat in Handelssachen selbst im Schoße des Reichsrates uneinig war. So zeige es sich, daß nicht nur eine Beratung über die Zahl, Wahl, Art der Zusammensetzung des Reichsrates, sondern die meisten Fragen über dessen Kompetenz in das eigene innere Leben der beiden Institutionen des weiteren und engeren Reichsrates eingreifen.

Von Seite des Kriegsministers wurde darauf aufmerksam gemacht, daß selbst oppositionelle Blätter die Wahrheit der rechtlich bestehenden Tatsache anerkennen, daß nur ein Reichsrat verfassungsmäßig vorhanden sei.

Graf Esterházy wies darauf hin, wie durch die Pragmatische Sanktion zwei Teile, ein konstitutionell und ein absolut regierter zu einem unteilbaren Ganzen vereinigt wurden, wie demnach jede Änderung in dem einen Teile auch den anderen berührt. Ebenso wie die Zusammengehörigkeit habe aber die Pragmatische Sanktion auch eine gewisse Selbständigkeit der ungarischen Krone ausgesprochen. Es bleibe daher sicherlich kein anderer Weg als derjenige der Verständigung offen, der aber nur betreten werden könne, wenn man den Weg dazu offenhalte. Dabei äußerte derselbe noch das Bedenken, ob man denn Garantien besitze, daß der engere Reichsrat, wenn man ihn in seiner Wirksamkeit fortbelasse, inner den Grenzen seiner Kompetenz sich halten werde.

Nach diesen ausführlichen Erörterungen erklärten sämtliche Anwesende ihre Zustimmung zu den gestellten Anträgen, welchen ebenfalls Ihre Majestät beizutreten geruhten.

Es wurden hierauf Manifest und Patent nochmals verlesen und mit einigen, auf Bemerkungen Sr. Majestät gemachten Abänderungen in folgender Fassung angenommen (Manifest und Patent sind dem Protokolle beizuschließena ). Man einigte sich gleichzeitig, daß das Manifest auf dem gewöhnlichen Wege durch Abdruck im amtlichen Teile der Wiener Zeitung und durch gleichzeitige Mitteilung an andere Wiener Blätter sowie Versendung an die Länderchefs zur Veröffentlichung gelange, das Patent aber, wie bisher üblich, seine Veröffentlichung durch Aufnahme in die Wiener Zeitung finde2.

Auf die Anfrage Sr. Majestät wegen des Zeitpunktes der Einberufung des Landtages bemerkte der Staatsminister , daß, wenn Se. Majestät nicht anders zu verfügen geruhen, dieser Zeitpunkt auf den 23. November festgesetzt werden dürfte.

II. Einberufung des ungarischen Landtages

Der zweite Gegenstand der Beratung war die Einberufung des ungarischen Landtages. Der Hofkanzler verlas die Einberufungsschreiben für die Mitglieder des Landtages auf den 10. Dezember, welche zu keinen Bemerkungen Anlaß gaben3.

|| S. 67 PDF || Nachdem Se. Majestät noch das strengste Amtsgeheimnis über die hier gepflogenen Verhandlungen anbefohlen hatte, geruhten Sie die Sitzung aufzuheben.

A[h]. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Franz Joseph. Wien, den 19. September 1865.