- Der Ministerrat – Ausführungsorgan des Kaisers oder eigenständige politische Zentralstelle des Reiches?
- Die Verfassungsfrage
- Der Sicherheitsausschuß
- Der Völkerfrühling oder die nationalen Aspekte der Revolution
- 1. Galizien
- 2. Böhmen
- Die finanzielle Lage des Reiches
- Ungarn und die Einheit des Reiches
- Die italienische Frage
- Die deutsche Frage
- Das Ende des Ministerrates
- Zum Kommentar
Der Ministerrat – Ausführungsorgan des Kaisers oder eigenständige politische Zentralstelle des Reiches? - Retrodigitalisat (PDF)
Mit der Errichtung eines Ministerrates erhielt der österreichische Kaiserstaat (d. h. die nichtungarische Reichshälfte; auf das Verhältnis zu Ungarn soll später noch eingegangen werden) erstmals eine funktionierende verantwortliche Zentralstelle. Das politische und verwaltungstechnische System während der Regierungszeit Ferdinand I. war bis dahin von einem eklatanten Mangel an Koordination gezeichnet1. Das absolutistische Prinzip hatte selbstverständlich keine Entscheidungsorgane zugelassen; Entscheidungen wurden ausschließlich auf Grundlage der kaiserlichen Willensbildung getroffen. Zur Erleichterung dieser kaiserlichen Willensbildung standen dem Monarchen Beratungsgremien zur Seite, hauptsächlich der Staatsrat und die Staatskonferenz. Soweit die Theorie. In der Praxis, zumal in der Person Ferdinand I. ein höchst ungeeigneter Willensträger an die Spitze des Staates gelangt war, wurden Entscheidungen allein durch die Vorlage von Vorschlägen bzw. deren Nichtvorlage weitgehend beeinflußt. Da der Staatsrat im Laufe der Zeit auf eine reine Begutachtertätigkeit beschränkt worden war, kam der Staatskonferenz die Bedeutung einer potentiellen Regierung im modernen Sinn des Wortes zu. Die fehlende strukturelle Ausformung der politischen Kompetenzen, die damit zusammenhängende diffuse Abgrenzung der Verwaltungsbereiche mit allen Konsequenzen, die sich daraus selbst für die dringend notwendigen systemimmanenten Reformen ergaben, und nicht zuletzt die kontraproduktive Rivalität zwischen Staatskanzler Fürst Metternich und Graf Franz Kolowrat relativierten aber die faktische Bedeutung der Staatskonferenz2. Dieses Nebeneinander || S. 10 PDF || von Entscheidungsabläufen, die im absolutistischen System wesentlich von den eingebrachten Entscheidungsvorschlägen abhängig waren, verminderte nicht nur erheblich die Effizienz der Staatslenkung, sondern führte zwangsläufig zu vermeidbaren Krisen; einer solchen Krise sah man sich Anfang 1848 gegenüber, als die Finanzen derart in Unordnung gerieten, daß sogar politische Reformen ins Auge gefaßt werden mußten3.
Der Ausbruch der Revolution in Österreich brachte dieses alte, durch innere Unzulänglichkeiten und akute Koordinierungsschwierigkeiten geschwächte System endgültig zum Einsturz. In dem unter dem Druck der Ereignisse erlassenen Patent vom 15. 3. 1848 wurde neben der Aufhebung der Zensur und der Errichtung der Nationalgarde die „Einberufung von Abgeordneten aller Provinzial-Stände und der Central-Congregationen des lombardisch-venezianischen Königreiches in der möglichst kürzesten Frist mit verstärkter Vertretung des Bürgerstandes und unter Berücksichtigung der bestehenden Provinzial-Verfassungen zum Behufe der von Uns beschlossenen Constitution des Vaterlandes“ zugestanden4. Die Staatskonferenz zog aus den geänderten politischen Bedingungen die Konsequenz und schlug in ihrer Sitzung am 17. 3. 1848 die Bildung eines verantwortlichen Ministerrates „zur Vollziehung und Durchführung der im Ah. Patente vom 15. März ausgesprochenen Grundsätze“ vor. Dieser Vorschlag wurde noch am selben Tag sanktioniert5. Drei Tage später wurden dann die einzelnen Ressortminister ernannt6. Dieser Ministerrat nahm schließlich am 1. 4. 1848 seine Funktion auf.
Von Anfang an sah der Ministerrat seine Rolle darin, als das ausführende politische Organ der Regierung seine Funktion auszuüben. Dabei war er sich der veränderten Bedingungen bewußt und versuchte diesen auch Rechnung zu tragen. Die einzelnen Minister waren verantwortlich, folglich auch der Ministerrat. Diese Verantwortlichkeit bestand nun darin, daß die Minister mittels der Notwendigkeit der Gegenzeichnung der Entscheidungen des ex lege unverantwortlichen Kaisers diesen indirekt an die bestehenden Gesetze banden. Die Minister waren also, da sie vom Monarchen zur Ausführung eines bestimmten Regierungsauftrags berufen wurden, in der Theorie einerseits das Ausführungsorgan des kaiserlichen Willens, andererseits auch zur Einhaltung der bestehenden Rechtsordnung verpflichtet. Bei allen Beteuerungen der Treue und Ergebenheit des Ministerrates dem Kaiser gegenüber muß immer in Betracht gezogen werden, daß die Bestimmungen der Verfassung und der kaiserliche Wille die Grundlangen für die Handlungen der Regierung bildeten. Jedes System, noch dazu wenn es sich im Stadium der Ausformung befindet, hängt auch von seinen Protagonisten ab. Zur Ergänzung der Rumplerschen Analyse7 soll daher auf die einzelnen Minister und auf ihre Motive eingegangen werden8. Damit werden auch die gesellschaftlichen || S. 11 PDF || und politische Kräfte sichtbar, die unter den wechselnden Konjunkturen Einfluß im Ministerrat gewannen.
„Es war vielleicht das erste Mal, daß sechs Männer sich in einem Cabinette vereinigt fanden, welche früher nie ihre Grundsätze ausgetauscht, sich nicht über ein politisches System vereinigt hatten, ihr Programm und den von ihnen zu verfolgenden Gang daher erst bei den einzelnen Regierungshandlungen feststellen mußten.“9 Mit diesen Worten charakterisierte Franz Xaver Freiherr v. Pillersdorf selbst die Ausgangsbasis des Ministerrates, der als ein sichtbares Zeichen für den Reformwillen der Krone, für den Anbruch einer neuen Epoche ins Leben gerufen worden war. Dieser Neuanfang wurde allerdings von der Staatskonferenz, dem Symbol der alten Ordnung organisiert. Diese war zunächst um eine gewisse Kontinuität in der Staatslenkung bemüht. Denn, noch bevor sie in ihrer Sitzung am 17. 3. 1848 mit der Errichtung eines verantwortlichen Ministerrates de facto ihre eigene Selbstliquidierung in die Wege leitete, hatte sie zur Besetzung des vakanten Postens des Außenministers in einer vorhergehenden Sitzung am selben Tag Karl Ludwig Graf Ficquelmont vorgeschlagen; und zwar unter ausdrücklicher Berufung darauf, daß dieser „bereits durch des höchst seligen Kaisers Franz Majestät zum Nachfolger des Fürsten Metternich ausersehen“ worden war10. Die Staatskonferenz suchte am 20. 3. 1848 auch die ihr geeignet erscheinenden Männer für die übrigen Ministerposten aus11. Den wichtigsten Posten, den Vorsitz des Ministerrates12, sollte Kolowrat bekleiden, das Innenressort Pillersdorf, als Justizminister sollte Ludwig Graf Taaffe und als Finanzminister Carl Friedrich Kübeck v. Kübau fungieren. Zur Führung des Kriegsministeriums wurde, da der Staatskonferenz außer Windischgrätz, dessen „gegenwärtige Stellung … dessen Ernennung“ nicht rätlich erscheinen ließ13, niemand einfiel, kein Vorschlag gemacht. Die hier genannten Männer hatten alle bereits im Vormärz hohe staatliche Funktionen inne. Kolowrats Ernennung legitimierte in den Augen der Öffentlichkeit kaum etwas mehr als seine bekannt schlechte Beziehung zu Metternich. Der Staats- und Konferenzminister war sich seiner Unzulänglichkeit, den Anforderungen der neuen Zeit zu entsprechen, offenbar auch wohl bewußt und nach nur zweimaliger Präsidentschaft im Ministerrat, die er überdies auf eigenes Ansuchen nur provisorisch führte, ließ er sich krankheitshalber beurlauben, um sich schließlich noch im April 1848 gänzlich von der ihm zugedachten Aufgabe entbinden zu lassen14. Der Präsident der Obersten Justizstelle, Graf Ludwig Taaffe, war noch ungeeigneter, den Übergang zu einem konstitutionellen System mitzutragen. Als steifer Bürokrat und überzeugter Vertreter des aristokratischen Prinzips bekannt, trat || S. 12 PDF || er höchstens für systemimmanente Reformen ein. Auch er reichte nach knapp einem Monat Dienstzeit seine Resignation ein15. Der zur Leitung der auswärtigen Angelegenheiten berufene Ficquelmont, wie Taaffe durch und durch Aristokrat, war ebenfalls weit davon entfernt, im Sinne einer Modernisierung der Gesellschaft zu wirken und faßte seine Aufgabe als „vertraute Schildwache am Eingang des Hoflagers“ auf16. Der vom Hofkammerpräsidenten zum Finanzminister mutierte Kübeck hatte zwar unter dem Druck der tristen finanziellen Lage des Reiches seit längerem Reformen verlangt, doch diese liefen lediglich auf eine vorsichtige Erweiterung des ständischen Mitspracherechts hinaus; im Grunde war und blieb er ein Befürworter autokratischer Ideen und ließ sich sofort von seinem Amt entbinden17. Verblieb als einzige Errungenschaft des 13. März bei der Zusammensetzung der neuen Regierung Pillersdorf. Auf ihm ruhten die liberalen Hoffnungen, er gab, wenn überhaupt, der Regierung einen fortschrittlichen Anstrich. Nachdem allerdings ein eigenes Unterrichtsressort für notwendig befunden worden war, wurde als dessen Leiter Franz Freiherr v. Sommaruga d. Ältere berufen. Dieser, eher der josephinischen Tradition verschriebene Jurist, war bis 1847 Präsident des von der vormärzlichen Obrigkeit mit Mißtrauen beobachteten juridisch-politischen Lesevereins gewesen und konnte dem reformfreudigen Teil der Bürokratie zugezählt werden18.
So sah das Ministerium aus, als es das erste Mal am 1. 4. 1848 zu einer Beratung zusammentraf. Die Zusammensetzung läßt erkennen, daß hier „Schadensbegrenzung“ betrieben wurde, daß die Ausführung der „übereilten“ Zugeständnisse in eine der Krone, d. h. der reaktionären Hofpartei, genehme Bahn gelenkt werden sollte. Die Krone ging noch einen Schritt weiter: In seinem Einberufungspatent vom 31. 3. 1848, in dem Ferdinand tägliche Ministerratssitzungen befahl, ordnete er auch die Beiziehung von „Ministern und Männern Meines Vertrauens“ zu diesen Sitzungen an19. Damit wurde aber eine Grenze erreicht, die der Ministerrat nicht überschreiten wollte. Es ist ein allgemeines Phänomen, daß jede Machtgruppierung zunächst auf die Absicherung der eigenen Machtsphäre bedacht ist. Nach dieser Maxime richtete sich auch der Ministerrat, ohne auf die ideologischen Differenzen innerhalb der Gruppe zu achten. Zudem bestand er aus Männern, die die Schwächen des untergegangenen Systems kannten und nicht zulassen wollten, daß dessen untaugliche Strukturen auch nur teilweise erhalten blieben. Nicht nur daß die kaiserliche Anordnung in der Folge nicht durchgeführt || S. 13 PDF || wurde, verlangte und erreichte der Ministerrat auch die Einstellung der Tätigkeit des Staatsrates; überdies formulierte er in einigen Grundlinien seine Vorstellungen über das eigene Statut20. Den wichtigsten Punkt darin bildete der Anspruch des Ministerrates, als „Zentralpunkt der Regierung“ die „Geschäfte aller Verwaltungszweige“ zu besorgen. Die neue Regierung wollte zwischen sich und dem Monarchen „kein Organ, dessen Einfluß selbständig oder maßgebend wirkt“ eingeschaltet wissen21. Dieses Bestreben ist durch das Erzherzog Franz Karl zugestandene Vidierungsrecht der Ministerratsprotokolle, das auch die Möglichkeit des Einspruchs in sich einschloß, wohl kaum beeinträchtigt worden, da der Erzherzog als präsumtiver Thronfolger der Sphäre der monarchischen Entscheidungsgewalt zugezählt werden kann22.
Die erste Phase der Tätigkeit des Ministerrates war demnach einerseits von der Absicht der Krone geprägt, den erzwungenen politischen Veränderungen durch wohlbedachte Personalpolitik entgegenzusteuern und darüber hinaus noch zur Rettung der alten Position korrektive strukturelle Maßnahmen zu setzen. Auf der anderen Seite entwikkelte der Ministerrat eine nicht vorgesehene Eigendynamik, um den eigenen Spielraum unter den geänderten gesellschaftspolitischen Verhältnissen nutzen zu können. Dem Druck, dem die Regierung seitens der Krone und der revolutionären Bewegung ausgesetzt war, versuchte sie durch Kodifizierung ihres Handlungsbereichs und durch Zugeständnisse, wie dies beispielsweise die Berufung des Bürgerlichen Zanini zum Kriegsministers war23, zu begegnen.
Das derart zusammengesetzte Ministerium erlebte im April durch die bereits erwähnten Demissionen Kolowrats, Kübecks und Taaffes, denen am 29. 4. 1848 auch Zanini folgte, eine schwere innere Krise. Das Justizministerium übernahm Sommaruga, der gleichzeitig das Unterrichtsministerium interimistisch bis Mitte Juli weiterführte. Als Finanzminister wurde der anerkannt tüchtige Bürokrat Philipp Freiherr v. Krauß berufen24. Die Nachbesetzung des Kriegsministerpostens durch den konservativen, mit Ficquelmont verwandten Latour wurde von der Öffentlichkeit als ein Schritt in Richtung Reaktion gedeutet und rief heftige Proteste hervor. Die Krise erreichte ihren Höhepunkt, als sich der provisorische Ministerpräsident durch gegen ihn gerichtete Ausschreitungen zum Rücktritt bewogen sah25. Der zu seinem Nachfolger – allerdings || S. 14 PDF || nur als Außenminister – berufene Wessenberg war zwar in seinen Grundsätzen ein Konservativer, verstand aber die Zeichen der Zeit und wollte den alten Ballast über Bord werfen und die Staats- und Sozialverfassung reformieren, um das monarchische Prinzip und „die Konsolidierung der monarchischen Elemente“ abzusichern26. Da zugleich die Notwendigkeit erkannt worden war, zwei neue Ministerien einzurichten (für öffentliche Arbeiten und des Handels), wurde die Regierungsmannschaft um die Minister für diese Ressorts verstärkt. Während Andreas Freiherr v. Baumgartner27, Enkel eines Leibeigenen, ein humanistisch gebildeter Naturwissenschaftler, der wegen seines organisatorischen Talents eine steile Karriere im Staatsdienst gemacht hatte, nicht an der Ordnung, der er diente, zweifelte, hatte Anton Freiherr v. Doblhoff-Dier durchaus konkrete Vorstellungen von gesellschaftlichen und politischen Reformen. Der Führer der niederösterreichischen ständischen Opposition war Mitglied des juridisch-politischen Lesevereins, in engem Kontakt mit Eduard v. Bauernfeld, und der Salon, den er unterhielt, war auf Weisung Erzherzog Ludwigs eine Zeitlang unter Polizeiaufsicht gestellt gewesen. Die Bedingungen, die er bei seinem Amtsantritt stellte, lassen einen unmittelbaren Schluß auf seine politischen Ziele zu: die Modernisierung des Staates im bürgerlichen, konservativ-liberalen Sinn28. Die Inkorporierung Doblhoffs bedeutete eine gewisse „Radikalisierung“ des Ministeriums; die wohlbedachte Absicht, durch diesen Schritt dem Ministerrat eine größere Autorität zu verschaffen, wurde durch die Ereignisse rund um die kurz darauf überreichte Sturmpetition zunichte gemacht. Die Flucht des kaiserlichen Hofes nach Innsbruck veranlaßte alle Minister bis auf Wessenberg ihr Amt zur Verfügung zu stellen, die Geschäfte aber bis zur Bestellung einer neuen Regierung weiterzuführen. Somit trat unter anderem der kuriose Fall ein, daß der seit der Demission Ficquelmonts den Vorsitz des Ministerrates provisorisch führende Pillersdorf nun provisorisch einer provisorischen Regierung vorstand. Mit der Gründung des Sicherheitsausschusses, dem weitgehende Exekutivgewalt eingeräumt worden war, wurde die Aktionsfreiheit des Ministerrates bei wichtigen Entscheidungen eingeengt. Obwohl die erpreßten, vorerst nur von der Regierung proklamierten Zugeständnisse vom Kaiser nachträglich sanktioniert worden waren, gab der Hof dem Ministerium ein gerütteltes Maß an Schuld an der Entwicklung. In dieser Phase wurde die politische Emanzipation des Ministerrates vom monarchischen Willen deutlich sichtbar gemacht. Denn er führte – wenn auch nur provisorisch – die Regierungsgeschäfte weiter. Zudem ergab sich zwangsläufig die Notwendigkeit, auf bestimmte Erfordernisse unmittelbar zu reagieren, ohne vorher die Entscheidung des Kaisers einzuholen29. Die zwecks || S. 15 PDF || besserer Kommunikation zwischen Regierung und Monarchen beschlossene Entsendung Doblhoffs nach Innsbruck, die der Ministerrat mit der „vollen Garantie zur Wahrung seiner Interessen und Ansichten“ begründete, spricht ebenfalls für die politische Verselbständigung dieses Gremiums30.
Dieses Regierungsprovisorium dauerte bis zum 18. 7. 1848, mit dem unter nun definitivem Vorsitz Wessenbergs eine neue Regierung gebildet wurde. Eigentlich war es nur ein Revirement des alten Ministeriums – Doblhoff übernahm das Ressort des Inneren und provisorisch das des öffentlichen Unterrichts, wobei er das Handelsministerium abgab, alle anderen Minister behielten bis auf Baumgartner und Sommaruga ihre Posten – und der Berufung dreier neuer Männer: Alexander Bachs zur Leitung der Justiz, Ernst v. Schwarzers zum Minister der öffentlichen Arbeiten und Theodor Ritter v. Hornbostels zum Handelsminister. Bei dieser Zusammensetzung konnte kaum von einer Parallelität der Interessen mit der erstarkenden Reaktion gesprochen werden. Der Protestant und Industrielle Hornbostel, der im Mai und Juni 1848 dem Wiener Bürgerausschuß vorstand, war dem selben politischen Lager wie Doblhoff zuzurechnen. Bach war zwar zum damaligen Zeitpunkt von seinen radikalen Ansichten, wie er sie zu Anfang der Revolution noch geäußert hatte, bereits abgerückt, galt aber dennoch in liberalen Kreisen als der große Hoffnungsträger31. Die Berufung des Journalisten Schwarzers war zweifellos ein taktischer Schachzug, um der radikalen Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn die von ihm gegründete „Allgemeine Oesterreichische Zeitung“ verfolgte zeitweise einen extrem liberalen Kurs und übte sich in scharfer Kritik am Ministerium Pillersdorf32. Seine Tätigkeit als Minister dauerte allerdings nicht lange; nach der sogenannten „Praterschlacht“, die aus Anlaß der von Schwarzer verfügten Lohnkürzungen für Arbeiter bei den öffentlichen Arbeiten stattgefunden hatte, trat er zurück und Hornbostel übernahm provisorisch sein Ressort. Der Ausbruch des Wiener Oktoberaufstands, bei dem Latour ermordet wurde, veranlaßte den bürgerlich-liberalen Flügel mit Doblhoff, Bach und Hornbostel, von ihren Ministerposten zu demissionieren. Nur Wessenberg und Krauß folgten dem kaiserlichen Hof nach Olmütz und führten bis zur Installierung des Kabinetts Schwarzenberg die Geschäfte der „Rumpfregierung“ weiter.
Es stellt sich nun die Frage, welchen Aufschluß die Protokolle des Ministerrates über die hier skizzierte Entwicklung des neugeschaffenen staatlichen Zentralorgans geben; wie sind sie überhaupt als Quelle für die historische Forschung einzuordnen33? Die Ministerratsprotokolle sind wie jede andere Quelle nur in Zusammenhang mit dem allgemeinen Geschichtsablauf und punktuell mit den unmittelbaren konkreten Ereignissen zu interpretieren. Auf die wichtigsten Probleme, die sich stellten, soll später noch eingegangen werden. || S. 16 PDF || Bei aller Inhogominität in den politischen Grundsätzen und bei Berücksichtigung der persönlichen Verantwortlichkeit der einzelnen Mitglieder verstand sich der Ministerrat als ein Gesamtministerium. In dem von ihm entworfenen eigenen Statut34 wurde die Teilnahme aller Minister an den Beratungen über Beschlüsse und Anträge festgelegt. Die gemeinsam gefaßten Anträge, heißt es darin weiter, würden vom Ministerpräsidenten dann zur Sanktion vorgelegt werden; sollte ein Minister mit den kollegialen Beschlüssen nicht einverstanden sein, stünde es ihm zwar offen, diese – sofern sie sein Ressort betrafen – zu sistieren, der Ministerrat müßte aber davon unterrichtet werden. Diese Tendenz zum geschlossenen Auftreten des Ministerrates schlug sich auch in der formalen Abfassung der Protokolle nieder. Dabei darf das Ziel, nämlich die Vorlage zur kaiserlichen Kenntnisnahme, nicht außer acht gelassen werden. Hier gingen zweifellos Informationen über den Verlauf der Diskussionen (Auseinandersetzungen) zu einzelnen Themen verloren, da es sich bei dem Endprodukt um eine „geglättete“ Fassung handelte. Die oft verwendete Formulierung „nach gepflogener Beratung“ verschleiert etwa auftretende Differenzen. So war beispielsweise die Freilassung der von Radetzky in Italien genommenen Geiseln laut Ministerrats-protokoll ohne Gegenstimme beschlossen worden. Tatsächlich dürfte Latour aber gegen diese Maßnahme gewesen sein35. Auch die kurzfristige Weigerung Latours, nach den Ereignissen des 26. Mai an den Sitzungen des Ministerrates teilzunehmen – an sich schon eine klare Distanzierung des Kriegsministers von der Regierungspolitik –, findet in dem bezüglichen Protokoll keine Erklärung36. Nur in Ausnahmefällen, wie etwa bei den schon erwähnten Bedingungen Doblhoffs für seinen Eintritt in das Ministerium, die sein politisches Programm transparent machten, und in Krisensituationen, die keine vorherigen Absprachen oder „Vorarbeiten“ zur Problemlösung zuließen, kam den Ministerratsprotokollen Authentizität im Sinne einer nicht „geglätteten“ historischen Quelle zu37.
Unter Berücksichtigung des vorher Gesagten bieten die Ministerratsprotokolle des Jahres 1848 eine wertvolle Hilfe für die wissenschaftliche Evaluierun der Revolutionszeit. Über die unmittelbare Auswirkung der neuen konstitutionellen Ära auf die verwaltungstechnische Neuordnung des Staates geben jene Protokolle Auskunft, die sich mit der zeitgemäßen Organisierung der Zentralstellen, der Ministerien und ihrer Kompetenzen beschäftigen38. Auf die Schwierigkeiten, die sich daraus für die Kommentierung || S. 17 PDF || der Ministerratsprotokolle ergaben, wird im Kapitel „Zum Kommentar“ noch eingegangen. Auch die Umsetzung liberaler Ideen, wie beispielsweise die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens in Strafsachen, die Schaffung von Geschworenengerichten – allerdings nur bei Preßprozessen – und die Installierung von landesfürstlichen Gerichten anstelle der Patrimonialgerichte fand Eingang in die Beratungen des Ministerrates39. Die Bemühungen der Regierung, das feudal-patriachalische System des Vormärz über Bord zu werfen und eine neue, den politischen Gegebenheiten angepaßte soziale Ordnung zu schaffen, dokumentieren ihre Beschlüsse, in verschiedenen Provinzen die Natural- und Urbarialleistungen aufzuheben, und zwar lange bevor der konstituierende Reichstag diese Angelegenheit in Angriff nahm40. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß das dann vom Parlament beschlossene diesbezügliche Gesetz, das allein in Zukunft gelten sollte, im Ministerrat kein einziges Mal beraten wurde.
Zur politischen Entwicklung, der Haltung der Regierung und ihren entsprechenden (Gegen) Maßnahmen bieten die Ministerratsprotokolle selbstverständlich eine erstklassige Quelle. An Hand der Arbeiterfrage, um nur ein Beispiel herauszugreifen, lassen sich die gesellschaftspolitischen Konjunkturen des Revolutionsjahres recht gut ablesen41. Von allem Anfang an spielte die Notwendigkeit, die Arbeiterschaft, die von der Regierung zu Recht als eines der revolutionärsten Elemente angesehen wurde, durch geeignete Maßnahmen unter Kontrolle zu halten. Zu diesem Zweck war sie aktiv am Arbeitsbeschaffungsprogramm der öffentlichen Hand, den sogenannten Notstandsarbeiten, beteiligt. Die Errichtung eines eigenen Ministeriums für öffentliche Arbeiten unterstrich zudem die Wichtigkeit dieses Problems. Aber auch die Beteiligung der Arbeiter am konstitutionellen Leben, die Frage des Arbeiterwahlrechts zum Reichstag, nahm den Ministerrat in Anspruch. Zwar mußte er in dieser Frage weitgehend nachgeben, doch im Verlauf des Sommers versuchte er, das anstehende Problem in den Griff zu bekommen. Um dem Chaos, das durch die unkoordinierte Ausführung der einzelnen Arbeitsprojekte entstanden war, zu begegnen, verfügte die Regierung eine Arbeiterordnung und griff direkt in die Aktivitäten des Komitees für die öffentlichen Arbeiten, eines Organs des Wiener Gemeindeausschusses, ein42. Nach der Rückkehr des Kaisers nach Wien, das als ein Zeichen der Konsolidierung der staatlichen Zentralgewalt galt, fühlte sich das Wiener Kabinett stark genug, nun mit restriktiven Maßnahmen dem Arbeiterproblem zu begegnen. Sie beschloß eine Lohnreduzierung für die bei öffentlichen Arbeiten Beschäftigten, was zu blutigen Auseinandersetzungen || S. 18 PDF || der Arbeiter mit der bewaffneten Macht führte43. Da bei den Kämpfen gegen die Arbeiter auch die Nationalgarde beteiligt war, und weder der Sicherheitssauschuß noch die Akademische Legion den Arbeitern geholfen hatten, ging die Regierung noch einen Schritt weiter. Sie organisierte einen neuen, nach ihrem Gutdünken zusammengesetzten Exekutivkörper für Arbeiterangelegenheiten und verstärkte den Druck auf die Arbeiter, indem sie Entlassungen forcierte, um diese zur Abreise von Wien zu veranlassen44. Die soziale Frage, die ja einen wesentlichen Bestandteil der revolutionären Bewegung von 1848 bildete, fließt in alle wichtigen Punkte ein, die im Ministerrat zur Sprache kamen, und wird somit durch die Ministerratsprotokolle über das hier Gesagte noch weiter – zumindest implizit – dokumentiert.
Die Verfassungsfrage - Retrodigitalisat (PDF)
Die wichtigste Errungenschaft der Märzrevolution war das Versprechen einer Konstitution45. In dem bekannten kaiserlichen Patent vom 15. 3. 1848 46 wurde bekanntgegeben: „Wegen der Einberufung von Abgeordneten aller Provinzial-Stände und der Zentral-Kongregationen des lombardisch-venezianischen Königreiches in der möglichst kürzesten Frist mit verstärkter Vertretung des Bürgerstandes und unter Berücksichtigung der bestehenden Provinzial-Verfassungen zum Behufe der von Uns beschlossenen Konstitution des Vaterlandes ist das Nötige verfügt.“ Daraus konnte man folgern, daß die Ausarbeitung der Verfassung den Provinzialständen, also einer, wenn auch nach dem ständischen Prinzip zusammengesetzten, Volksvertretung obliegen würde. Tatsächlich war bereits am 12. 3. 1848 die Entscheidung gefallen, die Landstände der österreichischen Reichshälfte zur Beratung der Verhältnisse nach Wien einzuberufen. Der auf dieser Grundlage gebildete ständische Zentralausschuß, in dem allerdings die Vertreter aus Böhmen und Galizien – und natürlich aus Lombardo-Venetien – fehlten, trat auch am 10. 4. 1848 zu seiner ersten Sitzung zusammen47. Doch die Regierung scheint die Möglichkeit, mit dieser Art Volksvertretung die Konstitution zu erarbeiten, von Anfang an nicht ernstlich erwogen zu haben. Als sie am 13. 4. 1848 mit den Vertretern des Zentralausschusses eine Konferenz abhielt, hatte sie bereits die Grundzüge der Verfassung ausgearbeitet; und die ständischen Änderungsvorschläge wurden nur zum Teil berücksichtigt. In der Folge wurde der Zentralausschuß über die weitere Entwicklung nicht einmal mehr informiert und die Verfassung im Wege einer kaiserliche Bewilligung vom 25. 4. 1848 oktroyiert48.
|| S. 19 PDF || Diese sogenannte Pillersdorfsche Verfassung war keine eigenständige Neuschöpfung, sie orientierte sich weitgehend am belgischen Grundgesetz von 183149. Sie definierte alle zum österreichischen Kaiserstaat gehörenden Länder als eine untrennbare konstitutionelle Monarchie, wobei allerdings Ungarn und das lombardisch-venezianische Königreich aus ihrem Geltungsbereich ausgenommen wurden. Die vollziehende Gewalt innerhalb dieses zentralistischen Einheitsstaates lag ausschließlich in der Hand der nicht verantwortlichen, „geheiligten und unverletzlichen“ Person des Kaisers. Dem Prinzip der Gewaltenteilung wurde dadurch Rechnung getragen, daß die Gesetzgebung gemeinsam vom Kaiser und dem Reichstag ausgeübt wurde. Zur Ausübung der vollziehenden Gewalt bediente sich der Monarch eines verantwortlichen Ministerrates, der alle Anordnungen gegenzeichnen mußte. In einer Art Grundrechtskatalog wurden liberal-bürgerliche Forderungen garantiert: die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, Freiheit des Glaubens, der Person, der Rede und der Presse und die Zusicherung des öffentlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens. Der Reichstag sollte aus zwei Kammern bestehen – aus dem Senat, besetzt mit Prinzen des kaiserlichen Hauses und vom Monarchen auf Lebensdauer ernannten Mitgliedern, und aus dem frei gewählten Abgeordnetenhaus. Dessen Wahl zum ersten Reichstag sollte durch ein provisorisches Wahlgesetz geregelt werden. In Hinblick auf die föderativständische Kontinuität enthielt die Verfassungsurkunde die Bestimmung, daß die einzelnen Provinzialstände weiterhin „zur Wahrnehmung der Provinzialinteressen und zur Besorgung der für diese Interessen sich ergebenden Erfordernisse“ bestehen bleiben sollten. Eine „zeitgemäße Änderung ihrer bisherigen Verfassungen“ hätte jedoch der Beratung des Reichstags unterzogen werden müssen.
Allein die Erstellung einer Konstitution stellte schon eine große Errungenschaft auf dem Weg zur Erfüllung der liberalen Forderungen und zur Umgestaltung des Staates im bürgerlichen Sinn dar. Dementsprechend groß hätte die Begeisterung über ihre Publizierung sein sollen. Doch die Freude war nicht ungetrübt. Der Umstand, auf welche Art und Weise – durch Oktroyierung – sie das Licht der Welt erblickt hatte, und die Bestimmung über das Zweikammersystem des Reichstags, die eine effektive Teilnahme der Volksvertreter an der Gesetzgebung stark einschränkte, gaben zur zunehmenden Kritik am Verfassungswerk Anlaß50. Als schließlich mit Patent vom 8. 5. 1848 die provisorische Wahlordnung veröffentlicht wurde, erreichte die öffentliche Unzufriedenheit bedrohliche Ausmaße51. Obwohl in der Wahlordnung die Zahl der Senatsmitglieder auf 200 limitiert wurde und das Wahlrecht für das Abgeordnetenhaus keine Zensusbeschränkung vorsah, wurden doch weite Teile der Arbeiterschaft und der unteren sozialen Schichtung ausgeschlossen. Insbesondere in der Nationalgarde und der Akademischen Legion artikulierten sich Befürchtungen über die erkennbaren reaktionären Tendenzen. Im Zentralkomitee der Nationalgarde kam die Abschaffung des Zweikammersystems und die Forderung nach Bestimmung des Reichstages als eines || S. 20 PDF || konstituierenden zur Sprache. Das Ministerium war freilich nicht gewillt, die Tätigkeit des Zentralausschusses, dem sie jedes politische Vertretungsrecht absprach, zu tolerieren. Ihr Beschluß, dieses aufzulösen, hatte allerdings verheerende Folgen52. Angeführt von den Studenten, drängten fortschrittliche und radikale Gruppierungen auf Zurücknahme dieses Beschlusses und auf Abänderung des Verfassungswerkes. Die von ihnen überreichte berühmt-berüchtigte Sturmpetition zwang die Regierung, auf allen Linien nachzugeben – und führte zur Flucht des Kaisers nach Innsbruck53.
Mit dem auf Anraten der Regierung am 16. 5. 1848 erlassenen Patent versprach der Kaiser, den vorgebrachten Änderungswünschen zu entsprechen. Eine neue, vom 30. 5. 1848 datierende Wahlordnung54 sah nur mehr eine allgemein gewählte Reichstagskammer und das Wahlrecht für Arbeiter mit Ausnahme von Dienstboten und von der öffentlichen Fürsorge Abhängigen vor. Überdies gestand die Regierung dem Parlament das Recht zu, die Verfassung vom 25. 4. 1848 einer Revision zu unterziehen. Mit diesen Zugeständnissen war die konservativ-liberale Tendenz der vorliegenden Konstitution, nämlich die Einschränkung der demokratischen Kontrolle der Bürger bei der Ausübung der Regierungsgewalt durch Hereinnahme ständisch-feudaler Elemente in die Verfassung, zunichte gemacht worden. Sie waren zudem ein klares Zeichen für die Radikalisierung der Revolutionsbewegung und die stärker in den Vordergrund tretende soziale Frage.
Der Sicherheitsausschuß - Retrodigitalisat (PDF)
Die Flucht des Kaisers hatte wie ein Schock auf die Wiener Bevölkerung gewirkt. Das war zweifellos teilweise auf die tief verwurzelte Loyalität zur Dynastie zurückzuführen. Die Flucht hatte aber auch eine politische Dimension. Sie zeigte deutlich, wie weit die Krone bei der Gewährung revolutionärer Forderungen zu gehen gewillt war. Unter diesen Umständen schien eine politische Ernüchterung eingetreten zu sein. Selbst der Zentralausschuß der Nationalgarde, einer der Anlässe für die Sturmpetition, stellte am 21. 5. 1848 seine Funktion ein55. Das Ministerium, das die Hauptschuld an den Ereignissen des 15. Mai den Studenten gab, sah eine günstige Gelegenheit, deren besondere Organisation innerhalb der Nationalgarde, die Akademische Legion, nun aufzulösen56. Wie sich herausstellte, hatte die Regierung völlig falsch eingeschätzt. Nach Bekanntgabe des Auflösungsbeschlusses kam der 26. Mai in Wien. Die Studenten fanden bei ihrem Widerstand aktive Unterstützung bei weiten Teilen der Nationalgarde und der Arbeiterschaft. Die Stadt geriet in Aufruhr, Barrikaden wurden gebaut und die Regierung mußte wiederum ihren Beschluß zurücknehmen57.
Neben den politischen und sozialen Implikationen der Maiunruhen war der Mangel an einer effizienten Exekutivgewalt zur Sicherung von Recht und Ordnung evident || S. 21 PDF || geworden. Die aus der Metternichschen Ära stammende Wiener Polizei, der diese Aufgabe zugestanden hatte, war völlig diskreditiert und aufgelöst worden. Um diese Lücke zu füllen, versuchte das Ministerium im Einvernehmen mit dem provisorischen Wiener Bürgerausschuß ein neues Sicherheitsorgan ins Leben zu rufen. Tatsächlich konstituierte sich am 20. 4. 1848 ein entsprechender „Sicherheitsausschuß der Stadt Wien“58. Doch dieser Ausschuß beendete just am 26. Mai seine Tätigkeit, da er sich mit der Auflösung des provisorischen Bürgerausschusses seiner Grundlage beraubt sah59. Über Auftrag des Ministeriums und mit der eigentümlich klingenden Begründung, wer für die Unruhen verantwortlich gewesen wäre, sollte nun auch für Ordnung sorgen60, wurde durch Vermittlung des neuen Gemeindeausschusses ein „Ausschuß der Bürger, Nationalgarden und Studenten für Aufrechterhaltung der Ruhe, Sicherheit und Ordnung und Wahrung der Rechte der Völker“ eingesetzt und von der Regierung auch bestätigt61. Das war ein folgenschwerer Schritt. Denn der Sicherheitsausschuß, wie er kurz genannt wurde, begann von Anfang an Aktivitäten zu entwickeln, die weit über die ihm zugedachten Kompetenzen hinausgingen. Konnte man die Inhaftierung des Oberkommandanten der Nationalgarde, Hoyos’, und Hyes, denen die Schuld an den Ereignissen des 26. Mai zur Last gelegt wurde62, mit viel gutem Willen als eine Maßnahme zur Beruhigung der aufgeregten Gemüter deuten, so tat der Sicherheitsausschuß in der Folge Aussagen und traf Entscheidungen, die direkt in aktuelle politische und soziale Fragen eingriffen.
Insbesondere machte es sich der Sicherheitsausschuß zur Aufgabe, die Lage der Arbeiter zu verbessern. Der Arbeitslohn, Kinderarbeit und öffentliche Einrichtungen, die den Arbeitern zugute kamen, waren nur einige der Angelegenheiten, die er auf seine Tagesordnung setzte63. Die Beschäftigung mit den sozialen Aspekten der Revolution ließen ihn zu einer allseits respektierten Art Volksanwaltschaft werden. Eine Vielzahl von Ansuchen, Beschwerden und Petitionen erreichten den Ausschuß. Solcherart in seinem Bewußtsein bestärkt, legitimes Organ des durch die Revolution befreiten Volkswillens zu sein, begann er auch in die Regierungstätigkeit einzugreifen. So suchte er beispielsweise die Rekrutierung Arbeitsloser für die Armee in Italien zu hintertreiben64 und die Bestrafung Leo Thuns, der nach den Wiener Maiwirren für die Errichtung einer provisorischen Regierung in Prag verantwortlich zeichnete, durchzusetzen65. Der Ministerrat sah es wegen der faktischen Machtstellung des Sicherheitsausschusses als notwendig an, mit diesem in enger Verbindung zu bleiben und mit ihm zu kooperieren. Damit anerkannte er aber seine Wichtigkeit, legitimierte sozusagen von sich aus eine || S. 22 PDF || Art Nebenregierung. Die Zusammenarbeit mit dem Ausschuß, der von Radikalen dominiert wurde, war allerdings nicht einfach. Denn dieser verfolgte vielfach ganz andere Ziele als die Regierung. Er nahm Einfluß auf die österreichischen Reichstagswahlen, indem er Propaganda für demokratische Kandidaten betrieb, und in der deutschen Frage trat er für einen Anschluß Österreichs ein66. Doch seine Wirksamkeit war von relativ kurzer Dauer. Mit dem Zusammentreten des konstituierenden Reichstages, dem verfassungsmäßigen Volksvertretungskörper, im Juli begann seine Bedeutung zu schwinden. Diesen Umstand machte sich das Wiener Kabinert zunutze, als es im August nach den von Minister Schwarzer verfügten Lohnkürzungen für die bei den öffentlichen Arbeiten Beschäftigten zu sozialen Unruhen kam, die in die sogenannte Praterschlacht vom 23. 8. 1848 mündeten. Am selben Tag beschloß der Ministerrat, da „der Sicherheitsausschuß wertlos in der Zusammensetzung sei“, eine eigene, ministerielle Kommission für Ordnung und Sicherheit aufzustellen, der Mitglieder des Sicherheitsausschusses und des Gemeinderates beigegeben werden sollten. Wäre der Ausschuß mit dieser Lösung nicht einverstanden, würde die Regierung die Angelegenheit vor den Reichstag bringen67. Der Ausschuß war nicht einverstanden und teilte am 24. 8. 1848 seine Selbstauflösung mit68.
Mit der Auflösung des Sicherheitsausschusses verlor die radikale Bewegung in Wien zwar ihre wirksamste organisatorische Plattform, die Ereignisse knapp eineinhalb Monate später sollten aber beweisen, daß sie auch ohne diese durchaus in der Lage war, die politische Entwicklung nachhaltig zu beeinflussen.
Der Völkerfrühling oder die nationalen Aspekte der Revolution - Retrodigitalisat (PDF)
1. Galizien
Die „polnische Frage“ gehörte zu den vielen ungelösten Problemen der vormärzlichen Ära. In Galizien, der größten und ärmsten Provinz der österreichischen Monarchie, hatte sich das wirtschaftliche und soziale Gefüge des feudalen Systems am ausgeprägtesten erhalten. Dem grundbesitzenden – polnischen – Adel stand eine arme, an Grund und Boden gebundene Bauernschaft gegenüber, die sich überdies zum größeren Teil aus der ruthenischen (ukrainischen) Bevölkerung zusammensetzte. Eine dünne bürgerliche Schicht hatte sich nur in den Städten gebildet69. Der überwiegend konservative Adel hatte zwar die Idee der Wiedererrichtung eines unabhängigen polnischen Staates nicht gänzlich aufgegeben, doch vorläufig – zumal nach dem gescheiterten polnischen Aufstand von 1831 – als unter den konkreten politischen Bedingungen in Europa für unrealistisch erklärt. Ein Teil dieses Adels versuchte mit dem allerdings schwach || S. 23 PDF || entwickelten Bürgertum statt dessen die nationale Frage mit sozialen Reformen zu verbinden, um so der Sache des Polentums zu dienen70. Wie richtig diese Überlegung war, bewiesen die blutigen Ereignisse während des Krakauer Aufstandes von 1846, als sich die polnische Bauernschaft gegen den polnischen Adel wandte71. Doch die wenigen zaghaften Versuche, das Los der Bauern zu verbessern, brachten nur magere Ergebnisse. Erst mit der Ernennung Franz Graf Stadions zum Statthalter von Galizien im Jahre 1847 nahmen diese Bestrebungen konkretere Formen an. Stadion war sich der sozialen Spannungen und der mangelhaften österreichischen Verwaltung durchaus bewußt und auch gewillt, um den Verlust der Provinz zu vermeiden, entsprechende Gegenmaßnahmen zu setzen.
Somit war – zumindest aus österreichischer Sicht – der richtige Mann zur rechten Zeit am richtigen Ort. Die Nachrichten über die Wiener Märzrevolution, die Lemberg am 18. 4. 1848 erreicht hatten, wirkten auf die polnische Nationalbewegung wie ein Lebenselixier. Noch am selben Tag wurde eine Adresse an den Kaiser verfaßt, die das national-liberale Programm der Polen in Galizien widerspiegelte: Unter anderem wurde eine selbständige Provinzialverwaltung, die Einführung der polnischen Sprache in Verwaltung und Justiz und die vollständige Aufhebung der Robot gefordert72. Eine Delegation, die die Adresse dem Kaiser überreichen sollte und zu der noch Abgesandte aus Krakau gestoßen waren, erschien Anfang April in Wien. Die begeisterte Aufnahme in der Residenzstadt und die vielversprechende Entwicklung in Posen veranlaßte sie, ihre Forderungen um die Wiederherstellung eines polnischen Staates zu erweitern73. Der Kaiser nahm die Adresse in einer Audienz am 6. 4. 1848 entgegen, ohne auf ihren Inhalt unmittelbar zu antworten, was bei seinen geistigen Fähigkeiten auch nicht zu erwarten war. Diese Aufgabe übernahm der Ministerrat. Der wollte jedoch auf die „mitunter überspannten Bitten und unangemessenen Ansprüche“, ohne die Meinung des galizischen Landesgouverneurs gehört zu haben, nicht eingehen74. So verblieb ein Teil der polnischen Deputation in Wien, um die Erledigung ihrer Wünsche abzuwarten. Doch die Antwort Stadions ließ auf sich warten. Erst mit Schreiben vom 3. 5. 1848 teilte er seine Beurteilung der polnischen Adresse dem Wiener Kabinett mit, wobei er die Verzögerung auf einen Übermittlungsfehler schob. Da, so Stadion, die Absicht des Ganzen auf die Trennung von Österreich hinzielte, könnte man die galizischen Forderungen auf keinen Fall akzeptieren. Die Regierung teilte offenbar die Meinung Stadions, beschloß aber, vor einer endgültigen Erledigung der Adresse mit der in Wien anwesenden polnischen Deputation in weitere Verhandlungen zu treten75. Nach den || S. 24 PDF || Turbulenzen des 15. Mai fiel dann doch die Entscheidung. Der Ministerrat schloß sich bei der Beantwortung der Adresse weitgehend der Argumentation Stadions an und lehnte die Forderungen mit der fadenscheinigen Beifügung ab, daß die meisten Wünsche ohnedies durch die erlassene Verfassungsurkunde erfüllt worden wären76.
Die Entwicklung in Galizien gab inzwischen Stadion Anlaß zur Besorgnis. Die polnische Nationalbewegung gewann zusehends Anhang und betrieb erfolgreich Propaganda, die den österreichischen Interessen diametral entgegen stand. Bereits am 21. 3. 1848 hatte sich in Lemberg die polnische Rada narodowa (Nationalrat) gebildet, die sich zum zentralen Organisationspunkt der nationalen Agitation entwickelte. Wie stark ihr Einfluß mittlerweilen geworden war, zeigte sich bei dem von Stadion auf den 26. 4. 1848 einberufenen galizischen ständischen Landtag. Zwar traten dessen Mitglieder zu einer vorberatenden Sitzung zusammen, erklärten aber zugleich, seine Funktion unter den gegebenen Umständen nicht mehr ausüben zu können und seinen Anschluß an den Nationalrat77. Dem versuchte der galizische Gouverneur gegenzusteuern. Dabei nutzte er geschickt die vorhandenen sozialen Gegensätze aus. So unterstützte er die Bildung von Nationalgarden auf dem Land, untersagte diese jedoch in den Städten, wo die national-polnische Bewegung ihren stärksten Rückhalt hatte78. Sein klügster Schachzug war aber zweifellos die Aufhebung der Robot in Galizien. Sie sollte aber, und das war der springende Punkt, nicht auf freiwilliger Basis erfolgen, wozu Teile des grundbesitzenden Adels ja bereit waren, sondern auf dem Weg einer kaiserlichen Verordnung geschehen. Denn damit, so kalkulierte Stadion, würde die galizische Bauernschaft enger an den Kaiser, also an Österreich, gebunden und gleichzeitig der national-polnischen Bewegung die breite Basis entzogen werden. Nachdem er eine sehr pessimistische Schilderung der gegenwärtigen politischen Situation in Galizien dem österreichischen Ministerrat übermittelt hatte, entschloß sich dieser, den Gouverneur prinzipiell zur Aufhebung aller untertänigen Leistungen in seiner Provinz zu ermächtigen79. Sofort nach Erhalt dieser Ermächtigung, ohne detaillierte Anweisungen abzuwarten, verkündete Stadion, daß die Robot mit 15. 5. 1848 aufgelassen würde. Inzwischen hatte aber die Regierung einen Entwurf ausgearbeitet, der eine stufenweise Aufhebung der Untertansleistungen in Galizien vorsah. Um den Landesgouverneur nicht zu desavouieren, sah sie sich gezwungen, diesen nach dem durch Stadion geschaffenen fait accompli abzuändern80.
Die polnischen nationalen Bestrebungen erfuhren aber nicht nur durch dieses Lehrstück der politischen Taktik einen Rückschlag. In Krakau hatte die national-revolutionäre Begeisterung derart hohe Wellen geschlagen und die Zivilverwaltung so völlig versagt, daß sich das Wiener Kabinett genötigt sah, die gesamte Administration der Militärgewalt zu übertragen81. Zudem war die Stadt zum Hauptanlaufspunkt der radikalen || S. 25 PDF || polnischen Emigration geworden. So war es nur eine Frage der Zeit, bis es zur einer ernsten Krise kam. Sie kam 26. 4. 1848. Ein Volksaufstand mündete in blutige Barrikadenkämfe. Doch das gut organisierte Militär konnte nach relativ kurzer Zeit den Aufruhr niederschlagen und die Aufständischen zur Kapitulation zwingen82. Dies war das erste Mal, daß die Staatsmacht in Österreich der Revolution anders als mit Zugeständnissen begegnete und hatte zweifellos weitreichende Bedeutung für spätere Entwicklungen.
Doch inzwischen setzte die Regierung auf eine politische Lösung der anstehenden Probleme. In Galizien begann die ruthenische Bevölkerung, wenn auch zaghaft, ihre Emanzipation einzufordern. In einer Adresse vom 19. 4. 1848 an Pillersdorf verlangte sie die Gleichstellung auf sozialem, nationalem und religiösem Gebiet. Diese von Stadion unterstützte Eingabe fand im Ministerrat eine wohlwollende Aufnahme83. Am 2. 5. 1848 konstituierte sich als Gegengewicht zur polnischen Rada narodowa die ruthenische Holovna rada ruska, wobei nicht ganz klar ist, ob dies mit direkter Unterstützung Stadions oder nur mit seiner Zustimmung geschehen war84. Feststand jedenfalls, daß der Gouverneur sofort den Nutzen der ruthenischen Intentionen für seine Politik erkannte. Denn eine eigenständige ruthenische Bewegung konnte nur den polnischen nationalen Zielen hinderlich sein, d. h. eine mögliche Abspaltung Galiziens vom österreichischen Kaiserstaat verhindern helfen. Um die sich ihm bietende neue Möglichkeit in die Praxis umzusetzen, griff er auf eine alte Idee zurück – die Trennung der Provinz in zwei administrative Teile. Waren früher für Stadion die verwaltungstechnischen Aspekte ausschlaggebend, so standen nun eindeutig national-politische Motive im Vordergrund, da er die Teilung an der Sprachengrenze festlegen wollte. Sein Vorschlag kam im Ministerrat wiederholt zur Sprache, und obwohl Stadion Anfang Juni die Leitung Galiziens abgab, um sich an das kaiserliche Hoflager in Innsbruck zu begeben, schloß sich die Regierung trotz mancher Bedenken letztlich doch seinen Absichten vollinhaltlich an. „Allein die Kraft des Landes, die bisher der Regierung feindlich war, zu brechen, ist hier wohl die entscheidendere Rücksicht“ war das ausschlaggebende Argument bei der faktischen Umsetzung des Stadionschen Teilungsvorschlags85. Mit der Beschickung des konstituierenden Reichstages schoben die Polen die Verwirklichung ihres Traums von Eigenstaatlichkeit vorläufig auf, da sie damit de facto die Einheit des Reiches anerkannten. Und die Konsolidierung der Reaktion in ganz Europa gegen Ende des Jahres 1848 rückte diesen Traum in noch weitere Ferne.
2. Böhmen
Die nationale „Wiedergeburt“, wie die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts beginnende Transformation der tschechischen Gesellschaft auch bezeichnet wird und die hauptsächlich || S. 26 PDF || von sich ausbildenden bürgerlichen Schichten getragen wurde, stand im Gegensatz zum bis dahin identitätsstiftenden böhmischen Landespatriotismus86. Die latente Sprengkraft dieser nationalen Bewegung kam nach den revolutionären Märzereignissen des Jahres 1848 zum Ausbruch.
Parallel zur Wiener Bewegung begann sich auch das liberal-nationale Tschechentum zu organisieren87. Die noch vor dem 13. 3. 1848 einberufene St. Wenzelsbadversammlung ging daran, eine Petition zu verfassen, in der sie ihre nationalen, staatsrechtlichen und sozialen Wünsche formulierte. Nach Erhalt der Nachrichten über die kaiserlichen Zusagen von bürgerlichen Freiheiten ging eine Deputation nach Wien ab, um diese Petition zu überreichen; sie wurde auch am 22. 3. 1848 von Ferdinand empfangen. Die am nächsten Tag erfolgte, in den Augen der Tschechen unbefriedigende Antwort führte dazu, daß das St. Wenzelsbadkomitee eine neue, viel weitergehende Petition ausarbeitete88. Die Forderungen betrafen die Sicherstellung der tschechischen Nationalität in allen Länder der böhmischen Krone, d. h. die Gleichstellung der tschechischen Sprache mit der deutschen auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens, die Errichtung einer Zentralbehörde für dieses Königreich, und die, wenngleich unter den gegebenen Umständen moderate Demokratisierung der Landesvertretung. Zugleich wurde darin das Verbleiben der böhmischen Länder im Verband der Gesamtmonarchie als Garantie für die Erfüllung dieser Wünsche bezeichnet. Die Anliegen dieser zweiten Prager Petition, die ebenfalls durch eine Abordnung nach Wien gelangte, wurden nach Beratungen im Ministerrat durch das kaiserliche Kabinettschreiben vom 8. 4. 1848 in den wichtigsten Punkten bewilligt89. Dieser Vorgang war von höchster Bedeutung für die künftige politische und nationale Entwicklung der Tschechen. Denn die bewilligten Forderungen stellten im Grunde ihr für Jahrzehnte gültiges politisches Programm, den Austroslawismus, dar.
Wurde die St. Wenzelsbadbewegung wegen ihrer allgemeinpolitischen Bestrebungen noch von einem Teil der Deutschböhmen mitgetragen, sollte es sich bald zeigen, daß die nationalen Gegensätze zwischen Deutschen und Tschechen diese gemeinsamen Interessen in den Hintergrund drängten. Deutlich wurde dies zunächst in dem berühmten Absagebrief Palackćys nach Frankfurt, in dem er die Teilnahme als Tscheche an einer deutschen Volksversammlung ablehnte90. Als schließlich die österreichische || S. 27 PDF || Regierung die Wahlen zum Frankfurter Parlament auch in Böhmen ausschrieb, wurde diese vom tschechischen Teil der Bevölkerung fast ausnahmslos boykottiert, was wiederum zu Spannungen mit ihren deutschen Kopatrioten führte91. Diese tschechischen nationalen Emanzipationsbestrebungen hatten auch einen großen Einfluß auf ihre zukünftige Stellung im konstituierenden Reichstag. Da die Tschechen ihr Heil nur in einem stabilen österreichischen Gesamtstaat sahen und die hauptsächlich deutsche Linke einen Anschluß an Deutschland forderte, schlossen sich die tschechischen Abgeordneten überwiegend rechten Fraktion des Wiener Parlaments an.
Doch zunächst stand eine andere Frage im Vordergrund – nämlich die der Einberufung des böhmischen Landtages. Der böhmische Gubernialpräsident Graf Leo Thun war bemüht, diesen Landtag so schnell wie möglich zusammentreten zu lassen, da er sich von ihm eine Konsolidierung der Verhältnisse versprach, und ließ bereits am 18. 5. 1848 die Wahlen zu ihm ausschreiben92. Doch die weiteren Ereignisse, die durch die Flucht des Kaisers nach Innsbruck ausgelöst worden waren, verzögerten vorläufig das Vorhaben und brachten es, nun wegen der Kollision mit dem inzwischen tagenden Wiener Reichstag – so zumindest die Begründung des österreichischen Kabinetts –, endgültig zum Scheitern. Der böhmische Landtag trat im Jahre 1848 nicht zusammen93. An der eingetretenen Verzögerung bei der Einberufung des Landtages war Thun in einem gewissen Sinne selbst Schuld. Denn nach den Wiener Maiereignissen entschloß sich der Gubernialpräsident, in dessen Augen sich die Wiener Regierung durch ihre nachgiebige Haltung völlig disqualifiziert hatte, einen entscheidenden Schritt zu setzen: er gründete in Prag eine provisorische Regierung, die ein Übergreifen der Revolution auf Böhmen verhindern sollte. Weiters begründete Thun sein Vorgehen mit der im kaiserlichen Kabinettschreiben vom 8. 4. 1848 zugesagten zentralen Behörde für Böhmen. Diese im Einvernehmen mit dem Oberkommandierenden Fürst Alfred Windischgrätz gesetzte Maßnahme rief beim österreichischen Ministerrat heftigen Widerstand hervor. Auf ihr Drängen wurde die Prager provisorische Regierung vom Kaiser nicht bestätigt und Thun zur Ordnung gerufen. Er verblieb aber vorläufig in seinem Amt als böhmischer Gubernialpräsident94. Diese Eigenmächtigkeit Thuns, vor allem das Betonen einer zentralen Stelle für Böhmen, konnte – und wurde auch teilweise – vom tschechischen nationalliberalen Bürgertum begrüßt, da es seinem Wunsch nach einer Sonderstellung innerhalb der Gesamtmonarchie vordergründig entgegenkam.
Zugleich wurde das tschechische Nationalbewußtsein darüber hinaus durch einen weiteren Umstand gestärkt. Am 2. 6. 1848 wurde der nach Prag einberufene Slawenkongreß eröffnet, dem die Absicht zugrunde lag, durch ein Bündnis in der neuen Ära den slawischen Völkern ein größeres politisches Gewicht zu verleihen95.
|| S. 28 PDF || Doch die Ereignisse begannen sich zu überstürzen. Schon das Eintreffen Windischgrätz‘ in Prag, das als eine Machtdemonstration der reaktionären Kräfte aufgefaßt wurde, rief unter den fortschrittlichen und radikalen Teilen der Bevölkerung eine negative Reaktion hervor. Zur Kritik an seiner Person gab der Fürst allerdings auch Anlaß. Denn er bereitete sich – für den Fall der Fälle – auf ein militärisches Eingreifen bei etwa ausbrechenden Unruhen vor. Und das in einer derart provokanten Weise, daß diese tatsächlich auch ausbrachen. Am 12. 6. 1848, dem Pfingstmontag, kam es zu Reibereien zwischen der Prager Bevölkerung und dem Militär, die zum Barrikadenbau und zur Geiselnahme Thuns führten. Das Wiener Kabinett entsandte bereits am nächsten Tag eine Regierungskommission, die die unklare Lage sondieren und, wenn möglich, vermittelnd eingreifen sollte96. Doch nachdem Thun seine Freiheit wiedererlangt hatte, begann Windischgrätz nach eigenem Gutdünken zu handeln: er gebrauchte seine überlegene Militärkraft und begann die Stadt mit Artillerie zu beschießen. Am 18. 6. 1848 kapitulierten die Aufständischen. Damit hatte Windischgrätz den Ministerrat, der eine gewaltlose Bereinigung der Situation angestrebt hatte, vor vollendete Tatsachen gestellt97. Die Niederschlagung des Prager Pfingstaufstandes bedeutete zugleich das Ende der tschechischen radikalen revolutionären Bewegung. Sie bedeutete zugleich aber auch, daß die Reaktion in Windischgrätz einen Mann gefunden hatte, der willens und auch fähig war, entschieden gegen die Revolution aufzutreten. Das bewies der Fürst, auch nachdem die akute Gefahr vorüber war. Im Gegensatz zur österreichischen Regierung, die nach der Resignation Pillersdorfs einen zusehends liberaleren Kurs steuerte und diesen auch in Böhmen zur Anwendung bringen wollte, war Windischgrätz bemüht, einmal erworbene Machtstellung zu behaupten, und fügte sich nur äußerst widerwillig den Anordnungen des Wiener Kabinetts98. Für die nationale Politik der Tschechen war das blutige Ende der Prager Volkserhebung überdies ein Grund mehr, ihre diesbezüglichen Anliegen im Wege des Einvernehmens mit der Staatsmacht zu suchen und die föderativ gesinnte Rechte des Wiener Reichstages zu unterstützen.
Die finanzielle Lage des Reiches - Retrodigitalisat (PDF)
Das neue Ministerium hatte zwangsläufig das finanzielle Erbe des alten Systems übernommen. Die finanzielle Situation des Vormärz war von dem Staatsbankrott des Jahres 1811 und den seit 1815 angelaufenen Bemühungen um die Sanierung der österreichischen Währung bestimmt. Seit dieser Zeit bestand das innige Verhältnis zwischen den Staatsfinanzen und der Oesterreichischen Nationalbank, die zum Zweck der Einlösung des während der napoleonischen Kriege in Umlauf gebrachten inflationären || S. 29 PDF || Papiergeldes gegründet worden war99. Obwohl die Stabilisierung der Währung einigermaßen gelang, wies das Staatsbudget stets ein beträchtliches Defizit auf, das nur durch Vorschüsse der Nationalbank und wiederholt aufgelegte Anleihen gedeckt werden konnte. Die Herstellung einer Parität zwischen den Ausgaben und Einnahmen des Staates und die Tilgung der Staatsschuld ist bis 1848 nicht erreicht worden100.
Kübeck, der seit 1841 die Allgemeine Hofkammer leitete, war bemüht, die staatliche Verschuldung bei der Nationalbank zumindest nicht weiter auszudehnen und die Bedeckung der laufenden Ausgaben über neue Anleihen hereinzubringen. Sein Konzept ging dahin, durch Reformem des Steuer- und Verwaltungswesens eine zumindest ausgeglichene budgetäre Situation zu schaffen und mit den – erhofften – Überschüssen die Forderungen der Nationalbank schrittweise abzubauen101. Diese Reformpolitik implizierte freilich in weiterer Folge eine, wenn auch vorsichtige und vom Staat gelenkte Öffnung des erstarrten politischen Systems, sie setzte sozusagen die Modernisierung der Gesellschaft im Habsburgerreich voraus.
Nach anfänglichen Erfolgen wurden die Grenzen der Machbarkeit dieser Kübeckschen Bemühungen unter dem vormärzlichen System aufgezeigt. Die Mißernten der letzten Jahre vor 1848, die eine allgemeine ökonomische Verschlechterung bedingten, wodurch auch das präliminierte Steueraufkommen nicht zustande kam, und die zunehmende politische Destabilisierung im In- und Ausland verringerten die Aussicht auf einen halbwegs stabilen Haushaltsplan. Der Hofkammerpräsident hatte auf Grundlage eines Vierjahresplanes, der ein Defizit von 90 Millionen fl. vorsah, für 1847 einen Abgang von 21 Millionen fl. eingesetzt und mit einem Wiener Bankenkonsortium, dem u.a. die Bankhäuser Rothschild und Sina angehörten, eine unter den gegebenen Umständen günstige Anleihe abgeschlossen, die dem Staat eine jährliche Zufuhr von 15,5 Millionen fl. garantierte. Sollte allerdings der Kurs der Metalliques unter 98 sinken, war das Konsortium berechtigt, das Abkommen zu kündigen102. Somit schien das laufende Budget abgesichert zu sein. Doch das geringere Steueraufkommen und die Mehrausgaben der Zivil- und Militärverwaltung bewirkten unter dem Strich ein nicht gedecktes Defizit für das Jahr 1847; der Staatsvoranschlag für 1848 wies ein Defizit von 27,4 Millionen fl. aus103.
Die europaweite Geldknappheit, die sich in den sinkenden Börsenkursen widerspiegelte, ließ befürchten, daß die Auflösungsklausel des Abkommens mit dem Bankenkonsortium || S. 30 PDF || jederzeit in Kraft treten könnte. Zwar gelang es Kübeck gegen Ende 1847 die Wiener Bankhäuser zu einer vorzeitigen Auszahlung von Barmitteln zu bewegen, doch reichten diese lediglich dazu aus, das nicht eingeplante Defizit kurzfristig zu decken. Zu dieser kontinuierlichen, durch wirtschaftliche Faktoren bedingten budgetären Krise kam nun ein weiterer Faktor hinzu, der seine Ursache in der auf die Erhaltung des Status quo bedachten reaktionären Politik des Vormärz hatte. Die außenpolitische Entwicklung – der Schweizer Sonderbundkrieg und die Bewegung in den italienischen Staaten – veranlaßten Radetzky, den Befehlshaber der österreichischen Südarmee, auf eine Erhöhung seiner Truppenstärke zu drängen. Radetzky verfügte Mitte 1847 über 50.000 Mann; unter der Prämisse, die österreichischen Interessen im Fall des Falles mit Erfolg verteidigen zu können, forderte er eine Truppenverstärkung auf 150.000 Mann. In zähen Verhandlungen, bei denen Kübeck auf die desolate finanzielle Lage der Monarchie hinwies und jedwede Truppenneuaufstellung strikt ablehnte, wurde dem Feldmarschall eine schrittweise Mannschaftsaufstockung auf 80.000 zugestanden104. Um die nötigen Geldmittel sicherzustellen, wandte sich Metternich – im Vertrauen auf die Solidarität der konservativen Mächte – an Rußland. Doch das Zarenreich bot, und das auch nur zögernd, bloß ein Darlehen von sechs Millionen Rubel an, eine Summe, die weit hinter den österreichischen Erwartungen blieb105.
Während die Verhandlungen über das russische Darlehen gepflogen wurden, nahm die Entwicklung an der Wiener Börse einen für die österreichische Regierung bedenklichen Lauf. Und nachdem die Nachricht von den Pariser Februarereignissen Wien erreicht hatte, unterschritt der Kurs für österreichische Metalliques Anfang März den ominösen Kurs von 98. Die Folge war die Kündigung des Darlehens durch das Wiener Bankenkonsortium. Dadurch sah sich Kübeck einer fast aussichtslosen Situation gegenüber106. Da er sowohl Steuererhöhungen als auch eine weitere Inanspruchnahme des Staatskredits als unrealistisch verwarf, entwickelte er unter dem Druck der finanziellen Notlage reformistische Ideen. „So wie die Umstände sich leider gestaltet haben,“ führte Kübeck seine grundsätzlichen Überlegungen aus, „können einige Finanzkünste vielleicht auf ein oder zwei Monate Auskunftsmittel darbieten, welche aber ohne Rücksicht auf die politische Stellung und Zukunft des Reiches nur die Verlegenheit auf kurze Zeit verschieben, die eigentliche Gefahr aber für den Thron und die Monarchie steigern müssen.“ Als einzigen Ausweg aus der finanziellen Krise sah er eine neue, von den Ständen garantierte Anleihe über 60 bis 70 Millionen fl.107; daß diese ständische || S. 31 PDF || Garantie politische Zugeständnisse bedingen mußte, war Kübeck durchaus bewußt, ja es war gerade das, vorauf es ihm ankam, denn dieses „innige Verständnis der Stände mit der Regierung“ würde seiner Meinung nach den Staatskredit wesentlich steigern. Kübecks Vorschläge stellten unter den konkreten Bedingungen eine scharfe Kritik am herrschenden politischen System dar, das gerade wegen des finanziellen Fiaskos modifiziert werden mußte. Brandt kommt in seiner Analyse des Geschehens zu dem Schluß, daß Kübeck nicht ohne Einvernehmen mit Metternich handelte108, der allerdings in der Verständigung mit der ständischen Opposition – sprich: einige moderate Zugeständnisse an diese – nur eine erzwungene taktische Maßnahme sah, nicht aber die grundsätzliche Aufgabe seiner bisherigen Politik. Tatsächliche wurde nach zähen Verhandlungen in der Staatskonferenz, bei denen vor allem Erzherzog Ludwig eine ablehnende Haltung einnahm, beschlossen, Vertreter der Landstände der „cisleithanischen“ Reichshälfte nach Wien einzuberufen, damit diese gemeinsam mit der Regierung Lösungen für die „Bedürfnisse des Augenblicks“ berieten109. Diese Maßnahme, mit Allerhöchstem Handschreiben von 12. 3. 1848 sanktioniert, kam zu spät. Die Ereignisse des nachfolgenden Tages, die Metternich zum Rücktritt zwangen und eine neue politische Ära einleiteten, machten eine Konsolidierung der Staatsfinanzen auf der ins Auge gefaßten Basis obsolet.
Die grundsätzlichen Probleme der vormärzlichen Finanzgebarung blieben jedoch. Das waren vor allem die hohen Kosten der Militärverwaltung, das zu enge Verhältnis zur Nationalbank und Defizitbeseitigung. Nachdem Kübeck unmittelbar nach seiner Berufung in das neue, verantwortliche Ministerium aus Gesundheitsrücksichten – so seine Begründung – wieder ausgetreten war, übernahm Freiherr Philipp v. Krauß das Finanzressort. Von einer langfristigen Konsolidierung des Staatshaushaltes konnte jetzt allerdings keine Rede mehr sein. Die vordringlichste Aufgabe lag nun in der Erhaltung der Liquidität. Da der Ausbruch der Revolution in Österreich nicht nur die russischen Kreditverhandlungen zum Scheitern brachte, sondern auch der Abfall Lombardo-Venetiens die österreichischen Finanzen ihrer wichtigsten Metallgeldquelle beraubt hatte, war eine der ersten Handlungen des neuen Finanzministers, ein generelles Gold- und Silbergeldausfuhrverbot zu erlassen110. Zur Auffüllung der leeren Staatskasse griff Krauß auf die bewährte Methode eine Anleihe bei der Nationalbank. Nach zähen Verhandlungen gelang es ihm, einen Kreditrahmen von 30 Millionen fl. zu erhalten. Die Mittel sollten durch die Herausgabe von Partialhypothekaranweisungen auf die Saline Gmunden aufgebracht werden, deren Emission die Nationalbank übernahm. In dem am 20. 4. 1848 geschlossenen Abkommen verpflichtete sich die Finanzverwaltung überdies den notwendigen Ankauf von Silber für die Bank durch staatliche Garantien zu sichern111. Für kurze Zeit hatte damit Krauß den akuten Geldmangel in Griff bekommen. Doch die politischen Ereignisse des Mai, die Sturmpetition und die Flucht des Kaisers nach || S. 32 PDF || Innsbruck, erschütterten das Vertrauen des Publikums in die im Umlauf befindlichen Banknoten derart, daß ein wahrer Ansturm zur Umwechslung in Silbergeld bei der Nationalbank einsetzte. Dies und die Inanspruchnahme des Staates ließen den Bestand der Nationalbank an Silber so weit schrumpfen, daß sich der Finanzminister gezwungen sah, einen festen Umwechslungskurs der Banknoten festzusetzen112. Diese Maßnahmen ermöglichten es der Regierung, zumindest bis zum Zusammentreten des Reichstages, eine halbwegs stabile Währungssituation zu schaffen und die Mittel für die notwendigen Staatsausgaben zu beschaffen.
Der finanzielle Bedarf während des Jahres 1848 beschränkte sich nicht nur auf die üblichen Ausgaben. Vor allem der Aufwand für das Militär brachte die Finanzen aus dem ohnehin schon labilen Gleichgewicht, da die Bezahlung der Truppen mit Papiergeld, wozu die Banknoten durch die Einführung des Zwangskurses de facto geworden waren, nicht ratsam erschien. Die Verstärkung der Armee in Italien wurde von der Regierung zunächst nicht in dem von Radetzky geforderten Ausmaß bewilligt. Dabei spielten neben politischen und militärischen Überlegungen auch finanzielle Gründe eine bedeutende Rolle. Die Idee, Lombardo-Venetien gegen eine finanzielle Entschädigung preiszugeben, gewann im Ministerrat immer festere Formen. Erst Ende Juni wurde diese Möglichkeit verworfen und beschlossen, das „italienische Problem“ mit militärischen Mitteln zu lösen, indem die geforderten Truppenverstärkungen zugesichert wurden113. Auch die Politik der Regierung, den antiungarischen Kurs Jellačić’ still zu unterstützen, verursachte einen weiteren Geldabfluß, da die unter dem Befehl des Banus stehenden Armeeteile weitgehend von Wien aus besoldet werden mußten114.
Neben den außerordentlichen Aufwendungen für das Militär wurde das Ärar auch durch die triste soziale Lage zunehmend in Anspruch genommen. Zur politischen Beruhigung der Masse von kleinen Gewerbetreibenden und der Arbeiter, die wegen des Einbruchs der Konjunktur nach dem Ausbruch der Revolution in eine schwierige Lage geraten waren, sah sich das Ministerium gezwungen, größere Geldbeträge zur Verfügung zu stellen115. Die allgemeine politische Entwicklung hatte noch weitere negative Auswirkungen auf den Staatshaushalt. So wurde aus gegebenem Anlaß beispielsweise der Salzpreis und die Verzehrsteuer herabgesetzt116. Und die in der Verfassungsurkunde garantierte Gleichstellung aller Staatsbürger brachte die Judensteuer in Galizien zum größten Teil zum Versiegen117. Die prekäre Liquiditätsfrage suchte Krauß durch gutes Einvernehmen mit dem zusammengetretenen Reichstag zu lösen, in der Hoffnung, dies würde den Staatskredit in der Öffentlichkeit heben. Es gelang ihm auch, den Reichstag dahin zu bewegen, einen Kreditrahmen von 20 Millionen fl. zu || S. 33 PDF || bewilligen. Obwohl damit die reichstägliche Bedingung verbunden war, nicht wieder die Nationalbank in Anspruch zu nehmen, mußte Krauß diesen Weg beschreiten118. Der Jahresabschluß für 1848 schloß mit einem Nettodefizit von nahezu 63 Millionen fl. Bei einer Gesamtausgabe von 187,8 Millionen fl. hatten die Aufwendungen für das Militär mit 82,4 Millionen fl. einen beträchtlichen Teil verschlungen. Die Finanzierung des Defizits war nur durch die starke Inanspruchnahme der Nationalbank möglich gewesen; die Gesamtschuld des Staates bei dem Bankinstitut war am Ende des Revolutionsjahres auf insgesamt 179,3 Millionen fl. gestiegen, was nahezu dem Finanzbedarf dieses Jahres entsprach119.
Ungarn und die Einheit des Reiches - Retrodigitalisat (PDF)
Die politische Entwicklung in der ungarischen Reichshälfte, die deren Stellung zur Gesamtmonarchie unmittelbar beeinflußte, nahm die österreichische Regierung zunehmend in Anspruch120. Der in den letzten Jahren immer stärker werdende Ruf nach gesellschaftspolitischen Reformen, der vom Bürgertum und hauptsächlich von den Vertretern des Kleinadels in Ungarn ausging, gipfelte in der berühmten Rede Kossuths am 3. 3. 1848 vor dem Preßburger Landtag. Kossuth verlangte im wesentlichen ein verantwortliches ungarisches Ministerium als „Garantie aller unserer Reformen“, die Gleichstellung aller, also auch der Aristokratie bei der Besteuerung und die Aufhebung der Urbariallasten. Unter dem Eindruck der Nachrichten über die ausgebrochene Revolutionsbewegung in Europa nahm der Landtag die Rede begeistert auf und beschloß, eine entsprechende Adresse an den Monarchen zu richten. Die Absendung der Adresse verzögerte sich, da sich wichtige Mitglieder der Oberen Tafel in Wien aufhielten. Nach ihrer Rückkehr wurde die Adresse am 14. 3. 1848 in einer gemeinsamen Sitzung beider Tafeln angenommen, wobei die schon bekannten Ereignisse des 13. März in Wien den anfänglichen Widerstand der Konservativen zusammenbrechen ließen. Eine von Palatin Erzherzog Stephan angeführte Deputation erreichte am 16. 3. 1848 von Ferdinand die grundsätzliche Zusage, die in der Adresse enthaltenen Forderung zu erfüllen121. Nach der Bildung einer provisorischen Regierung unter Graf Ludwig Batthyány wurden 31 Gesetzartikel ausgearbeitet und vom Preßburger Landtag || S. 34 PDF || angenommen. Mit der königlichen Sanktionierung der vorgelegten Gesetze, der „ungarischen Verfassung“, am 11. 4. 1848 122 war die Habsburgermonarchie de facto in zwei weitgehend unabhängige Teilstaaten aufgesplittert worden, deren einzige Verbindung – so die ungarische Sicht – in der Pragmatischen Sanktion, also in der Person des Herrschers bestand.
Tatsächlich war das Verhältnis Ungarns zum nicht ungarischen Teil der Monarchie in den Gesetzen nirgends genauer definiert123. Die österreichische Regierung hatte nicht das Recht, an der Eigenständigkeit Ungarns herumzudeuten. Doch die unklare Kompetenzabgrenzung brachte es mit sich, daß in Fragen, die den Gesamtstaat betrafen, sehr bald Differenzen zwischen den beiden Regierungen zutage traten. Am offenkundigsten wurde dies bei der Beanspruchung der Befehlsgewalt über die in Ungarn stationierten Militäreinheiten124. Aber auch andere Angelegenheiten, die im Vormärz durch Wiener Zentralstellen erledigt worden waren, bedurften der Entflechtung. Deshalb wandte sich der österreichische Ministerrat Anfang Mai an den ungarischen, um eine Kooperation in den anstehenden Fragen in Gang zu bringen. Das zu diesem Zweck verfaßte Memorandum ging allerdings noch einen Schritt weiter. „Es ist aber gewiß von größter Wichtigkeit“ hieß es darin, „daß die beiden konstitutionellen Ministerien in Pest und Wien sich gegenseitig unterstützen und kräftigen durch Mitteilung aller legislativen und organischen Maßregeln, welche eines derselben in Antrag oder Ausführung zu bringen gedenkt.“ Vor allem Angelegenheiten der gemeinsamen Finanzen, des Militärs und der Vertretung nach außen sollten „in Eintracht und in Berücksichtigung der gemeinsamen Interessen erwogen und beschlossen, gleichförmig und kräftig durchgeführt werden“125. Diese Vorschläge gingen über eine gegenseitige Konsultationspflicht hinaus; in ihnen wird das Bestreben des Wiener Kabinetts sichtbar, die Einheit des gesamten Reiches zu wahren. Das stand aber im Gegensatz zu der später deutlich ausgesprochenen ungarischen Absicht, die Gemeinsamkeit auf eine bloße Personalunion zu reduzieren. Dieser Gegensatz wurde zum bestimmenden Element in den Beziehungen der beiden Regierungen zueinander.
Bereits die Ernennung Jellačić“, der durch seine dynastietreu Agitation dem Hof aufgefallen war, zum Banus von Kroatien kann als ein Versuch gewertet werden, die Ferdinand abgerungene Eigenständigkeit der ungarischen Reichshälfte etwas zu relativieren. Der neue Banus entwickelte auch Aktivitäten, die darauf abzielten, die kroatischen Teile der Krone Ungarns nicht ausschließlich der Oberhoheit der Pester Regierung zu unterstellen126. In seiner Proklamation an die kroatisch-slawonische Nation vom 19. 4. 1848 forderte er die || S. 35 PDF || Neugestaltung des Verhältnisses zu Ungarn auf der Basis des neuen Zeitgeistes. Unterstützt wurde er dabei von der zusammengetretenen Banalkonferenz, die in ihrer Adresse an die Krone vom 11. 5. 1848 bis zur Klärung der Stellung Kroatiens um weitgehende Vollmachten für den Banus bat. Jellačić hatte überdies eigenmächtig den nächsten dalmatinisch-kroatisch-slawonischen Landtag auf den 5. 6. 1848 einberufen. Das stand im krassen Widerspruch zu dem auf ungarisches Drängen ergangenen kaiserlich-königlichen Befehl, den Anordnungen des ungarischen Ministeriums Folge zu leisten. Ferdinand befahl daraufhin dem Banus in harschem Ton, die Einberufung des Landtages zu sistieren und sich sofort nach Innsbruck zu begeben. Doch Jellačić ignorierten den Befehl und trat die Reise nach Innsbruck erst am 12. 6. 1848 an, nachdem er vom Landtag in seiner Würde als Ban bestätigt worden war. Inzwischen hatte der am kaiserlichen Hoflager weilende Batthyány erreicht, daß Jellačić mit kaiserlichen Manifest vom 10. 6. 1848 aller seiner Ämter enthoben worden war. Doch auch dieser Erlaß konnte den sich auf höhere Interessen der Monarchie berufenden Ban auf dem einmal eingeschlagenen Weg nicht beirren. Im Gegenteil, er ließ sich von dem Agramer Landtag am 29. 6. 1848 „die unumschränkte Gewalt und Vollmacht bezüglich aller Verfügungen, welche die Verwaltung und Verteidigung des Landes erheischen“ übertragen127. Damit war der endgültige Bruch mit der ungarischen Zentralgewalt besiegelt.
Auch die anderen Nationen des ungarischen Länderkomplexes hatten sich schon zuvor gegen die magyarische Vereinnahme abzugrenzen versucht und ihre nationalen Anliegen angemeldet. Während die Slowaken zunächst die Anerkennung als eigene Nation, mit den sich daraus ergebenden Rechten forderten, im wesentlichen aber ihre politische Verankerung im Rahmen Ungarns akzeptierten128, wollten die ungarländischen Serben zwar auch im Verband der ungarischen Krone verbleiben, aber eine politisch freie Nation bilden129. Die nach ihren Vorstellungen zu gründende serbische Woiwodschaft sollte eine politische Union mit dem ebenfalls weitgehend eigenständigen dalmatinisch-kroatisch-slawonischen dreieinigen Königreich eingehen. Diese am 13. 5. 1848 von der in Karlowitz zusammengetretenen Nationalversammlung der serbischen Nation gefaßten Beschlüsse stießen in Pest auf vehemente Ablehnung; in der Folge wurde auf ungarisches Drängen die k. k. Armee aufgeboten, um „Ruhe und Ordnung“ wiederherzustellen130. Der Erfolg war jedoch mäßig und die bewaffneten Auseinandersetzungen zogen sich den ganzen Sommer hindurch. Die in den Aprilgesetzen vorgesehene Union Siebenbürgens mit Ungarn rief die deutschsprachige und rumänische Bevölkerung des Großfürstentums ebenfalls auf den Plan. Die Rumänen beriefen für den 15. 5. || S. 36 PDF || eine Versammlung nach Blasendorf ein, wo sie neben gesellschaftspolitischen auch ihre nationalen Forderungen formulierten: die Anerkennung als politisch eigenständig handelnde Nation. Zudem sollte die Union mit Ungarn solange aufgeschoben werden, bis die Emanzipation der Rumänen Wirklichkeit geworden war. Die Siebenbürger Sachsen lehnten diese Union sogar glattweg ab131. Daß die Union schließlich am 30. 5. 1848 vom Siebenbürger Landtag in Klausenburg – allerdings unter höchst zweifelhaften Umständen – doch, einstimmig, angenommen wurde, änderte nichts am Widerstand der beiden nichtungarischen Nationen gegen sie132.
Es war vor allem die kroatische Frage, die das österreichische Ministerium zum Vorwand nahm, gegen die ungarischen Separationsbestrebungen aufzutreten. Zwar hatte das Wiener Kabinett versichert, sich nicht in die ungarisch-kroatischen Differenzen einzumischen, doch die wiederholten Geldzuweisungen aus Wien für die von den seitens der Ungarn abgeschnittenen Finanzquellen unter Jellačić’ Kommando stehenden Truppen straften diese Versicherung der Lüge133. Nachdem auch die Schritte, die der zur Vermittlung in dieser Angelegenheit bestellte Erzherzog Johann unternommen hatte, keine Einigung erwarten ließen, trat die österreichische Regierung von sich aus in Aktion. In ihrem Schreiben vom 29. 6. 1848 teilte sie der ungarischen Regierung mit, sie wäre zwar durch das „formelle Recht“ dazu bestimmt abzuwarten, daß der ungarische Reichstag auf der Basis der Pragmatischen Sanktion alle Unstimmigkeiten bereinigen würde; da sie jedoch in den „letzten, den Bürgerkrieg zwischen Kroatien und Ungarn entzündenden Vorfällen eine Gefahr erblicken“ müßte, die so weit ginge, daß „der Bestand des österreichischen Kaiserstaates ernstlich bedroht“ wäre, hielte sie „außerordentliche Maßnahmen bis zur Verleugnung einer vorgezeichneten Neutralität“ ihrerseits für durchaus denkbar und auch gerechtfertigt134. Damit erhob der österreichische Ministerrat den Anspruch, sich im Interesse der Gesamtmonarchie in die innerungarischen Angelegenheiten direkt einzumischen. Die ungarische Antwort vom 4. 7. 1848 fiel dementsprechend aus. Die „unbegreifliche Erklärung des österreichischen Ministeriums“ wurde scharf zurückgewiesen; jedwedes Recht auf Einmischung wurde der anderen Reichshälfte abgesprochen, da zwischen den beiden Teilen der Monarchie bloß „ein durch die Einheit des Monarchen bedingtes Bündnis“ bestünde. Gereizt forderte die ungarische Regierung eine zufriedenstellende Aufklärung über die österreichische Note vom 29. 6. 1848, und das umso mehr, als sie „den Schlüssel in jener Abneigung zu finden glaubt, welche dieses von Seiten der österreichischen Regierung in Hinsicht auf die selbständige Administration unseres Finanz- und Kriegswesens häufig zu erfahren bemüßigt ist“135.
|| S. 37 PDF || Diese letzte Bemerkung hatte durchaus ihre Richtigkeit. Denn die ungarische Regierung war nicht nur bestrebt, die Befehlsgewalt über die in ihrem Länderkomplex stehenden Armeeteile zu erlangen, sondern beschloß, unabhängig vom Wiener Kriegsministerium eigene Truppen auszuheben; und um ihre chronische Geldnot zu beheben, begann sie eigene Banknoten herauszugeben, wogegen die österreichische Regierung Protest erhob. Auch die Bestrebungen der Pester Regierung, ungarische Vertretungen im Ausland zu installieren, ließen keinen Zweifel daran, wie die Ungarn ihre zukünftige Stellung gestalten wollten. Das ging so weit, daß der seit Anfang Juli in Pest tagende ungarische Reichstag am 3. 8. 1848 beschloß, bei einem etwaigen Krieg, in den Österreich wegen seiner Verpflichtungen dem Deutschen Bund gegenüber hineingezogen werden könnte, neutral zu bleiben136. Inzwischen hatte sich aber die Situation wesentlich geändert. Der Sieg Radetzkys in Italien und der Abschluß eines Waffenstillstandes mit Karl Albert vergrößerten den österreichischen Handlungsspielraum. In seinem Vortrag vom 29. 8. 1848, dem eine Denkschrift über die grundsätzliche Stellung Ungarns zur Gesamtmonarchie beigeschlossen war, übte der österreichische Ministerrat scharfe Kritik an den Aprilgesetzen: sie wären der Grund für die unerfreulichen gegenwärtigen Zustände und überdies hätten sie die Pragmatische Sanktion untergraben. Um die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen, sollten nun gemeinsame Beratungen der beiden Regierungen unter Beteiligung Jellačić’ und aller involvierten Parteien aufgenommen werden. Die Verfügungsgewalt der ungarischen Regierung in Militär-, Finanz- und Handelsangelegenheiten sollte sich nur auf die Ungarn unmittelbar betreffenden Gegenstände beschränken. Zur Klärung dieser Angelegenheiten wären verantwortliche Staatssekretäre bei den österreichischen Ministerien zu ernennen. Und zur gesetzlichen Regelung wurde folgender Vorschlag gemacht: „Am geeignetsten dürfte es erscheinen, wenn aus den legislativen Körpern ein Reichsrat oder welchen Nahmen man geben will, zusammengesetzt würde, dem die Fragen, wo Konflikte zwischen den Gewalten Ungarns und jenen der österreichisch-deutschen Ländern, oder gemeinsamen Interessen zur Sprache kommen, zur Erörterung und Entscheidung zugewiesen wären.“137 Der Vortrag wurde am 31. 8. 1848 vom Kaiser in allen Punkten genehmigt und dem Palatin zur weiteren Ausführung übersandt. Damit hatte Ferdinand seinen Willen zur Revision der Aprilgesetze kundgetan.
Die Ereignisse nahmen nun einen dramatischen Verlauf. Nachdem Ferdinand am 22. 8. 1848 bereits dem Palatin die ihm früher erteilten Vollmachten, die sich auch auf die Bestätigung ungarischer Gesetze erstreckt hatten, aufgehoben hatte, reichte das ungarische Ministerium zwei Gesetze, betreffend der Aushebung neuer Rekruten und zur Emittierung von 61 Millionen Banknoten, zur königlichen Sanktion ein. Da sich die Sanktion, nicht zuletzt wegen des Widerstands des österreichischen Ministerrates, verzögerte, schritt Kossuth, nach Ermächtigung durch den Pester Reichstag, zur Ausführung der beiden Gesetze. Dies geschah während der ernsten Krise, in die das || S. 38 PDF || ungarische Ministerium geraten war: am 11. 9. 1848 trat die Regierung Batthyány zurück, eine neue, wiederum unter Batthyány wurde am nächsten Tag gebildet138. Zugleich hatte Jellačić, der am 4. 9. 1848 wieder in seine Ämter als Ban und Oberbefehlshaber von Kroatien eingesetzt worden war, mit seinen Truppen die Grenze zu Ungarn überschritten. Der Rücktritt des Palatins, die Ermordung des königlichen Bevollmächtigten in Ungarn, Graf Lamberg, der direkt mit den ungarischen Ereignissen zusammenhängende Ausbruch der Wiener Oktoberrevolution und der fast ein Jahr dauernde Krieg in Ungarn waren schließlich das Ergebnis der Differenzen um die „höheren Interessen des Gesamtstaates“.
Die italienische Frage - Retrodigitalisat (PDF)
Bereits in seiner ersten Sitzung am 1. 4. 1848 hatte der Ministerrat die italienische Frage, d. h. den Aufstand in Lombardo-Venetien und die „Kriegserklärung“ Sardiniens, auf die Tagesordnung gesetzt und beschlossen, einen Hofkommissär zur Befriedung des Landes abzusenden. In den folgenden Tagen wurde auch in der Person des Grafen Hartig die geeignete Person für diese Mission gefunden139. Allein dieser Umstand zeugt von der Wichtigkeit, die die österreichische Regierung dieser Angelegenheit beimaß.
Die Entwicklung in der reichsten Provinz der Habsburgermonarchie war nicht ganz überraschend gekommen. Ficquelmont hatte sich selbst, bevor er zum Hofkriegsratspräsident und schließlich zum Außenminister der neuen Regierung berufen wurde, in Mailand aufgehalten, um die Zustände dort zu studieren und Reformen, die die angespannte Situation entschärfen sollten, in die Wege zu leiten. In der Person Hartigs als Hofkommissär wurde ebenfalls ein Mann bestellt, der sich schon eingehend mit den Problemen dieser Provinz auseinandergesetzt hatte140. Die Instruktionen, die Hartig als Grundlage für seine Mission mitgegeben wurden, beinhalteten drei Lösungsmöglichkeiten: Die erste ging davon aus, daß Lombardo-Venetien im Verband des Kaiserstaates verbleiben würde, wobei die längst fälligen Reformen und die vollständige „Selbständigkeit und Nationalität in Hinsicht auf politische und Justizverwaltung“ verwirklicht werden sollten. Die zweite sah eine Selbständigkeit des Königreiches unter einem habsburgischen Herrscher mit einer starken Bindung an die Donaumonarchie in Form eines Militärbündnisses und Übernahme eines Teils der Staatsschuld vor. Die dritte Variante faßte eine fast vollständige Abtretung der Lombardei ins Auge; ein Handelsvertrag und ebenfalls die Übernahme eines Teils der Staatsschuld sollten dabei Österreich für den Verlust entschädigen. Welche der drei Möglichkeiten zum Tragen kommen würde, sollte Hartig nach Erkundung der Lage vor Ort selbst entscheiden141. || S. 39 PDF || Diese Instruktionen verdeutlichten zugleich die politischen Absichten der Regierung hinsichtlich Oberitaliens, wobei von Anfang an mit dem Verlust der Lombardei gerechnet wurde; bemerkenswert war auch die starke Betonung der finanziellen Interessen, bewies dieser Umstand doch, in welch zerrütteter Lage sich diesbezüglich Österreich befand.
Die Aufgabe Hartigs war nicht nur wegen der verworrenen Situation schwierig, sondern stieß auch auf die Ablehnung Radetzkys; ein Konflikt war geradezu schon vorprogrammiert. Eine Preisgabe Lombardo-Venetiens kam für den Feldmarschall nicht in Frage und er war bestrebt, den Erhalt dieser Provinzen mit militärischen Mitteln zu garantieren142. Unter diesen Umständen konnte von einer Zusammenarbeit mit Hartig keine Rede sein. Radetzky ignorierte ihn weitgehend und bedrängte die Regierung, seine militärische Schlagkraft zu erhöhen.
Doch der Ministerrat setzte auf eine politische Lösung des Konflikts. Dazu war es notwendig, die Haltung Frankreichs abzuklären. Als unmittelbarer Nachbar Italiens hatte es ein vitales Interesse an einer in seinem Sinn zufriedenstellenden Beilegung der Wirren. Die Gefahr eines militärischen Eingreifens Frankreichs, die die österreichische Regierung eine Zeitlang beunruhigt hatte, erwies sich als unbegründet143. Nach einlangenden Berichten aus Paris zielte die französische Politik dahin, die Lombardei völlig von Österreich zu trennen, wobei nach Meinung Frankreichs allerdings ein Anschluß an Sardinien nicht wünschenswert wäre, was weitgehend den Absichten der österreichischen Regierung entsprach144. Die zweite westliche Macht, die in dieser Angelegenheit ins Kalkül gezogen werden mußte, war England. Seine Haltung beurteilte das Wiener Kabinett als freundlich neutral und als an der Beendigung des Krieges mit Sardinien interessiert. Deshalb wurde der Hofrat Hummelauer Mitte Mai nach London entsandt, um England für entsprechende Vermittlungsdienste zu gewinnen145. Bei seinem ersten Zusammentreffen mit Palmerston am 23. 5. 1848 überreichte er ihm die österreichischen Vorschläge zur Pazifikation Lombardo-Venetiens, die bei Berücksichtigung der italienischen nationalen Forderungen eine große Selbständigkeit in der Verwaltung des Landes vorsahen, wobei – und das war der springende Punkt – das Königreich im Verband des Kaiserstaates zu verbleiben hätte. Nachdem Palmerston eine Verhandlung auf dieser Basis abgelehnt hatte, unterbreitete ihm Hummelauer am nächsten Tag einen viel weitergehenden Vorschlag: die Lombardei sollte die völlige Unabhängigkeit von Österreich erhalten, mit dem Recht, selbständig zu bleiben oder sich irgendeinem italienischen Staat anzuschließen, Venetien hingegen würde unter den Bedingungen des ersten Vorschlags bei Österreich verbleiben. Doch die englische Regierung weigerte sich, auch auf Grundlage dieses Angebots, mit dem Hinweis, daß || S. 40 PDF || Venetien ebenfalls die Selbständigkeit zugestanden werden müßte, eine Vermittlungsrolle zu spielen146.
Da inzwischen entmutigende Nachrichten vom Kriegsschauplatz und über die Pazifikationsmission Hartigs Wien erreicht hatten, entschloß sich die Regierung, direkte Verhandlungen mit der Mailänder provisorischen Regierung aufzunehmen. Mit dieser Aufgabe wurde der Legationsrat Philippsberg betraut, dem etwa die gleichen Verhandlungsgrundsätze wie Hummelauer auf den Weg mitgegeben wurden. Zu diesen Schritt sah sich die österreichische Regierung nicht nur wegen der vermeintlichen Aussichtslosigkeit anderer Wege veranlaßt, sondern auch durch die Aussicht, „daß diese Provinz zur Erlangung des Friedens und der Unabhägigkeit die größten Geldopfer bringen würde“147. Aber auch diesem Lösungsversuch war kein Erfolg beschieden148.
Obwohl noch keine Ergebnisse über die zwei erwähnten Verhandlungen bekannt waren, erlangte Außenminister Wessenberg am 12. 6. 1848 die kaiserliche Ermächtigung, Radetzky zur Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlung mit Sardinien anzuweisen149. Die Lage in Oberitalien hatte sich jedoch in der Zwischenzeit wesentlich verändert. Radetzky, der sich weder um die Hartigsche Pazifikationsmission noch um die Wiener Italienpolitik kümmerte, war es nach anfänglichen Mißerfolgen gelungen, seine Kräfte zu sammeln und bis auf Venedig den Aufstand in Venetien niederzuwerfen. Die Nachrichten von seinen Siegen und die Weisung zu Waffenstillstandsverhandlungen kreuzten sich. Und der Feldmarschall dachte jetzt erst recht nicht an eine Unterbrechung seiner militärischen Operationen. Statt dessen sandte er Fürst Felix Schwarzenberg, der sich in seinem Hauptquartier befand, zu Kaiser Ferdinand nach Innsbruck, um gegen den ihm erteilten Auftrag zu protestieren und um seinen Standpunkt darzulegen: kein Waffenstillstand bevor eine günstige militärische Lage dazu Anlaß gab. Schwarzenberg war genau der Mann, Radetzkys Ansichten, die sich mit seinen deckten, zu vertreten. Fast gleichzeitig mit ihm war auch Hummelauer in Innsbruck angekommen, um vom Scheitern seiner Bemühungen zu berichten. Wessenberg, der sich ebenfalls am kaiserlichen Hoflager befand, zögerte noch. Einerseits war er sich der Notwendigkeit bewußt, allein schon aus finanziellen Rücksichten die Beendigung des kostspieligen Krieges herbeizuführen, andererseits sah er die diplomatischen Möglichkeiten hiezu schwinden. Zudem hatte die provisorische Regierung in Mailand am 8. 6. 1848 ihre Vereinigung mit Sardinien proklamiert. Auch hatte er erfahren, daß die französische Regierung sich – im Gegensatz zu England – mit der bloßen Abtretung der Lombardei und dem Verbleib Venetiens bei Österreich einverstanden erklärt hatte150. Diese veränderte Lage gab ihm den Vorwand, die von ihm angeregten Waffenstillstandsverhandlungen vorderhand zu verschieben. Nachdem der Unterhändler Radetzkys und der Außenminister sich nach Wien begeben hatten, kam die Frage des Waffenstillstands und Friedens in Italien im Ministerrat zur Beratung. Als Grundlage dazu diente ein von Schwarzenberg verfaßtes Memorandum vom 24. 6. 1848. Darin || S. 41 PDF || bezeichnete er den Abschluß eines Waffenstillstands zum momentanen Zeitpunkt, d. h. bei der veränderten – günstigen – militärischen Situation, als „völlig unpassend“. Auch wäre ein Friede unter der Bedingung einer selbständigen Lombardei aber eines österreichischen Venetiens aus finanzieller Sicht abzulehnen, da die nationale Propaganda nur Unruhe schüren würde, der wiederum nur mit Waffengewalt, sprich mit einem neuen Krieg, begegnet werden könnte. Und geschickt verwies er schließlich auf die gemeinsamen Interessen Österreichs und Frankreichs – keine der beiden Mächte wünsche ein starkes, vereintes Italien, das „dermalen aber nur mit der sardinischen Dynastie möglich“ wäre, an ihren Grenzen. Die österreichische Italienarmee sollte deshalb ausreichende Verstärkung erhalten, um auf dem Schlachtfeld die Entscheidung herbeizuführen. Das Ministerium, in einer völligen Umkehrung seiner bisherigen Politik, schloß sich schließlich dieser Argumentation an; jegliche Verhandlungen wurden sistiert und Radetzky erhielt die ersehnten Truppenverstärkungen151.
Mit dieser Entscheidung hatte sich nicht nur Radetzky auf der ganzen Linie durchgesetzt, sondern es wurde hier zweifellos der Weg vorgezeichnet, den die Habsburgermonarchie in der weiteren Folge beschreiten sollte. Nicht die Politik, der Konsens, sondern militärische Mittel, die Gewalt, sollte zunehmend zur Lösung auftretender Probleme herangezogen werden.
Nachdem Hartig wegen seiner Differenzen mit Radetzky schon vor der prinzipiellen Entscheidung des Ministerrates vom 26. 6. 1848 von seiner Mission zurückgetreten war, wurde zu seinem Nachfolger der von Radetzky favorisierte Graf Albert Montecuccoli bestellt; als seine wichtigste Aufgabe wurde die Reorganisierung und Leitung der wiedereroberten Gebiete bezeichnet152. Die eintreffenden Truppenverstärkungen versetzten den Feldmarschall nach einer Reihe erfolgreicher Militäroperationen in die Lage, am 6. 8. 1848 in Mailand einzuziehen. Das sardinische Heer zog sich hinter die ursprüngliche Staatsgrenze zurück, Radetzky schloß am 9. 8. 1848 mit Karl Albert einen zunächst auf sechs Wochen begrenzten Waffenstillstand ab und Schwarzenberg wurde mit der Leitung der ins Auge gefaßten Friedensverhandlungen mit Sardinien betraut153. Nun war allerdings von einer Preisgabe der Lombardei keine Rede mehr; die Herstellung des Zustands vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten war das Ziel154.
Die deutsche Frage - Retrodigitalisat (PDF)
Schon vor dem Ausbruch der Revolution war der Gedanke einer national-liberalen oder sogar demokratischen Neuordnung Deutschlands von Bewegungen des linken politischen Spektrums ausgesprochen worden. Durch die eintreffenden Nachrichten ermutigt, beriefen diese Gruppierungen für den 5. 3. 1848 eine Versammlung nach Heidelberg ein, in der entsprechende Vorschläge ausgearbeitet werden sollten. Sie kamen || S. 42 PDF || allerdings nur überein, alle deutschen Regierungen aufzurufen, unverzüglich Wahlen zu einer deutschen Nationalvertretung auszuschreiben. Zugleich wurde aber beschlossen, Vertreter aller deutschen Stämme nach Frankfurt einzuberufen – dieses sogenannte Vorparlament sollte die Wahlen vorbereiten155. Der Deutsche Bundestag, der als Hort der Reaktion galt und nur den Status quo zu erhalten suchte, begann unter dem Druck der Ereignisse ungeahnte Aktivitäten zu entwickeln. So hatte er am 10. 3. 1848 auf Antrag des von ihm bereits am 29. 2. 1848 ins Leben gerufenen politischen Ausschusses die einzelstaatlichen Regierungen aufgefordert, „Männer des öffentlichen Vertrauens“ nach Frankfurt zu entsenden, um eine Reform des Bundes zu beraten. Weiters hatte der Bundestag die Preßfreiheit für seine Mitgliedstaaten erlaubt und den Reichsadler und die Farben Schwarz-Rot-Gold als Symbole wiedereingeführt156. Und schließlich ersuchte er mit Beschluß vom 30. 3. 1848 und 7. 4. 1848 die einzelnen Regierungen, Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung durchzuführen; die Wahlen waren allgemein, auf 50.000 Einwohner sollte ein Abgeordneter entfallen157.
Für das multinationale Österreich bedeutete das Aufkommen der deutschnationalen Einheitsbestrebungen eine Existenzfrage. Zwar hatten sich auf der im Grunde jeder Legitimität entbehrenden Heidelberger Versammlung nur zwei Vertreter Österreichs eingefunden, doch die Beschlüsse des Bundestages, der sich als das gesetzliche Organ der nationalen und politischen Einheit Deutschlands definiert hatte, konnten nicht ohne weiters negiert werden. Die österreichische Regierung war sich der politischen Sprengkraft der Entwicklung durchaus bewußt, dennoch sah sie sich gezwungen, diese Entwicklung mitzutragen, „da für Österreich jetzt nur im Anschlusse an Deutschland eine Rettung gegen die Separationsideen der Provinzen liege“158. Mit Unbehagen, und nur in Hinblick darauf, daß Preußen sich den Bundestagsbeschlüssen gebeugt hatte, ließ sie die Wahlen zum Frankfurter Parlament unter den gegebenen Bedingungen durchführen159. Die österreichische Regierung nahm dies zugleich zum Anlaß, seine grundsätzliche Haltung zu den deutschen Reformbestrebungen, zur „Wiedergeburt Deutschlands“, festzulegen. Zu der Kernfrage, ob nämlich Deutschland in Zukunft ein Bundesstaat oder ein Staatenbund sein sollte, erklärte es bestimmt, Österreich könnte nie „ein gänzliches Aufgeben der Sonderinteressen seiner verschiedenen, zum Deutschen Bund gehörigen Gebietsteile, eine unbedingte Unterordnung unter die Deutsche Bundesversammlung, einen Verzicht auf die Selbständigkeit der inneren Verwaltung mit seiner besonderen Stellung vereinbarlich finden, und muß sich die besondere Zustimmung zu jedem von der Bundesversammlung gefaßten Beschlusses unbedingt vorbehalten. In so ferne letzteres mit der Wesenheit eines Bundesstaates nicht vereinbarlich || S. 43 PDF || erkannt würde, wäre Österreich nicht in der Lage, einem solchen beizutreten.160“ Dieses Programm sollte in der Folge für alle österreichischen Regierungen des Jahres 1848 bezüglich ihrer Deutschlandpolitik die Grundlage bilden.
Die Eigendynamik, die die Reformbewegung in Frankfurt entwickelte, machte es indessen unmöglich, die offizielle österreichische Haltung in den Entscheidungsprozeß direkt einfließen zu lassen. Indirekt versuchte der Ministerrat durch die Bestellung der Vertrauensmänner und dann durch die Absicht, die Wahl der Abgeordneten zum Frankfurter Parlament in seinem Sinne zu beeinflussen, die Interessen des österreichischen Kaiserstaates zu wahren161. Eine weitere Gelegenheit bot sich mit der Wahl Erzherzog Johanns zum deutschen Reichsverweser. Obwohl der populäre kaiserliche Prinz mit der Stellvertretung Ferdinands in Wien und mit dem Auftrag, zwischen Ungarn und Kroaten zu vermitteln, mehr als ausgelastet war (beides auch ein Beweis dafür, wie dringend man ihm im Inland brauchte), empfahl die Regierung, die Wahl anzunehmen162.
Diese Empfehlung war eine logische Konsequenz der österreichischen Deutschlandpolitik. Denn noch bevor die deutsche Nationalversammlung Mitte Mai – obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle gewählten Abgeordneten in Frankfurt eingetroffen waren – ihre Beratungen aufnahm, hatte sich der Bundestag mit der Frage eines Bundesexekutivorgans beschäftigt und Ende April beschlossen, bis zur Ausarbeitung einer definitiven deutschen Verfassung ein dreiköpfiges Bundesdirektorium einzusetzen. Dieser Beschluß gelangte zwar nicht zur Ausführung, hatte aber in Wien für Unruhe gesorgt. Auch die Nationalversammlung trat zunächst in die Diskussion über die Schaffung einer vorläufigen deutschen Zentralgewalt ein und verabschiedete am 28. 6. 1848 ein entsprechendes Gesetz. Anstelle eines kollektiven Führungsorgans wurde nun die vollziehende Gewalt mit weitreichenden Befugnissen einem Reichsverweser übertragen163. Einen Tag später wählte das Frankfurter Parlament mit überwältigender Mehrheit Erzherzog Johann für dieses Amt. Dieser Akt stand ganz im Zeichen des Ausgleichs der Interessen der einzelnen Parlamentsfraktionen. Zwar hatte sich damit die Nationalversammlung über den Beschluß des Bundestages hinweggesetzt und somit für sich das Alleinvertretungsrecht für die deutsche Nation – noch dazu auf demokratischer Basis – in Anspruch genommen, andererseits war mit der Bestellung eines nicht verantwortlichen Reichsverwesers und überdies eines österreichischen Fürsten die großdeutsche Idee unterstützt und den radikaldemokratischen Tendenzen eine Absage erteilt worden. Bei der Machtfülle, mit der das Amt des Reichsverwesers ausgestattet worden war, konnte Erzherzog Johann einen entscheidenden Einfluß auf die weitere politische Entwicklung in Deutschland nehmen.
Für die künftige Gestaltung Deutschlands war die Ausarbeitung einer Verfassung von entscheidender Bedeutung. Der aus den von den Einzelregierungen entsandten Vertrauensmännern entstandene „Siebzehnerausschuß“ begann bereits vor dem Zusammentreten || S. 44 PDF || der Nationalversammlung mit den Beratungen über eine Reichsverfassung. Am 27. 4. 1848 legte er dann seinen Entwurf vor. Dieser ging vom großdeutschen Gedanken aus, wonach alle zum Deutschen Bund gehörenden Gebiete in einem Staat vereinigt werden sollten; darüber hinaus sollten aber auch Schleswig und die ostpreußischen Provinzen inkorporiert werden. Die Reichsgewalt sollte beim erblichen Reichsoberhaupt, dem Kaiser, und beim gewählten Reichstag liegen und die Kompetenzen einzelner Mitgliedstaaten hätten, soweit es für das Einheitsprinzip notwendig war, auf die Reichszentralgewalt überzugehen. Wenngleich dieser bundesstaatliche Entwurf nicht zur Ausführung kam, so bildete er doch die Grundlage für die Beratungen des später von der Nationalversammlung eingesetzten Verfassungsausschusses. Abgesehen von der umstrittenen Kompetenzabgabe war eine Vereinigung Deutschlands auf solch einer Grundlage für die österreichische Regierung völlig unannehmbar. Da die nicht zum Deutschen Bundesgebiet gehörenden Teile des österreichischen Kaiserstaates außerhalb des neuen deutschen Reiches hätten verbleiben müssen, hätte dies doch über kurz oder lang den Zerfall der Habsburgermonarchie bedeutet164. Es sollte sich jedoch herausstellen, daß die deutsche Verfassungsfrage wegen der politischen Differenzen innerhalb der Nationalversammlung nicht so schnell entschieden werden konnte. Das Frankfurter Parlament diskutierte diese Angelegenheit mehr als ein halbes Jahr165. Das konnte dem Wiener Kabinett nur recht sein. Denn solange keine Entscheidung fiel, war es auch nicht gezwungen, offiziell Stellung zu beziehen. Inzwischen betrieb es eine Politik des vorsichtigen Abwartens und Hinauszögerns. So brauchte die österreichische Regierung zwei Monate, um – als letzte der aufgeforderten Einzelstaatsregierungen des Bundes – einen Bevollmächtigten bei der neugeschaffenen Zentralgewalt in Frankfurt zu ernennen166. Auch ihre militärischen Verpflichtungen dem Deutschen Bund geenüber glaubte sie den österreichischen Interessen nachstellen zu können, als sie die Hälfte des für das Deutsche Bundeskontingent aufgestellten Truppen zur Verstärkung der Italienarmee umdirigierte167. Gegen Ende 1848 hatte sich die Lage Österreichs aber entschieden geändert. Mit der Niederwerfung des Wiener Oktoberaufstandes war der Revolution die Spitze gebrochen worden, und der Sieg Radetzkys in Italien verschaffte der Regierung auch einen größeren außenpolitischen Spielraum. Wie ernst es den gefestigten konservativen Kräften mit der Einheit des Habsburgerstaates war, bewies das gewaltsame Vorgehen gegen die ungarische „Rebellion“.
Das Ende des Ministerrates - Retrodigitalisat (PDF)
Die Ministerratsprotokolle der Regierungen des Revolutionsjahres von 1848, die in diesem Band erscheinen, enden mit dem 3. 10. 1848. Im vierten und vorletzten Punkt der Tagesordnung berichtet Latour über auf einer Versammlung des Demokratischen Vereins gegen ihn gerichtete Drohungen und stellt die Frage, ob solche Reden, die „zur Vernichtung eines Ministers auffordern“ ungestraft bleiben dürfen. Der Justizminister erbat sich „behufs der weiteren Amtshandlung“ nähere Informationen. Doch dazu kam es nicht.
Drei Tage später meuterten die in Wien stationierten Truppen gegen den Befehl, an die ungarische Grenze abzugehen. Der dadurch verursachte Aufruhr griff rasch um sich168. Im Verlauf des Tages wurde der Kriegsminister, der als Exponent der Reaktion in der Regierung galt, von der radikalisierten Menge gefaßt und gelyncht. Der Kaiser und sein Hof taten, was ihnen schon einmal – im Mai – geboten schien: sie flüchteten aus Wien, diesmal nach Olmütz. Der Reichstag, in dem allerdings die meisten gemäßigten und rechten Abgeordneten nicht mehr erschienen waren, erklärte sich in Permanenz. Und nachdem bis auf Krauß alle Minister Wien ebenfalls verlassen hatten und überdies Hornbostel (vermutlich) am 10. und Doblhoff mit Bach am 11. 10. 1848 von ihren Posten zurücktraten169, betraute der dezimierte Reichstag, in dem nun die radikale Linke eindeutig dominierte, einen Sicherheitsausschuß mit der Ausübung der Exekutivgewalt. Zwar bemühte sich Wessenberg, der dem Kaiser in sein Exil gefolgt war, um Vermittlung zwischen der Krone und den Wiener Aufständischen, doch die Würfel waren bereits gefallen. Windischgrätz, der bereits am 11. 10. 1848 seine Bereitschaft zur gewaltsamen Unterdrückung der Wiener Oktoberrevolution erklärt hatte, wurde der Oberbefehl über die loyalen österreichischen Truppen übertragen. Und der Fürst zögerte nicht lange. Nach der Verhängung des Belagerungszustandes über Wien und nach der Ablehnung seines Ultimatums seitens der Revolutionäre, setzte er am 26. 10. 1848 zum Sturm auf die Stadt an. Am 31. 10. 1848 war der Kampf vorüber. Windischgrätz hatte auf seinem Marsch gegen Wien in Olmütz, dem kaiserlichen Hoflager, Station gemacht. Dahin hatte ihn auch sein Schwager Fürst Felix Schwarzenberg begleitet. Dieser wurde, da das Versagen der bisherigen Regierung offensichtlich war und die Reaktion sich stark genug fühlte, eine in ihrem Sinne ausgerichtete Politik in die Tat umzusetzen, von Ferdinand provisorisch zum Ministerpräsidenten und Außenminister ernannt und mit der Bildung eines neuen Kabinetts beauftragt. Inzwischen aber, so der Wunsch Schwarzenbergs, sollten die beiden verbliebenen Minister, Wessenberg und Krauß, ihrer Amtsgeschäfte noch nicht offiziell enthoben werden170. Dieses Provisorium dauerte bis zum 21. 11. 1848, an dem die || S. 46 PDF || Regierung Schwarzenberg ernannt wurde. Krauß verblieb auf seinem alten Posten als Finanzminister, der fünfundsiebzigjährige Wessenberg zog sich von den Regierungsgeschäften zurück.
Die Publizierung der Ministerratsprotokolle des Revolutionsjahres 1848 bietet der breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit die Möglichkeit, wichtiges und mit weiteren Quellen- und Literaturhinweisen versehenes Grundlagenmaterial für die Bewertung dieser Epoche. Sie trägt aber auch zum besseren Verständnis der Ära des Neoabsolutismus bei, denn die Beratungen im Ministerrat verdeutlichen beispielhaft, welche gesellschaftspolitischen Ansprüche nach dem Zerfall des vormärzlichen Systems erhoben wurden; die Reaktion, die gegen Ende 1848 einsetzte und das nachfolgende Jahrzehnt prägen sollte, wäre ohne dieses Vorwissen nur bedingt verständlich.
Zum Kommentar - Retrodigitalisat (PDF)
Die durch die Revolution verursachten Änderungen des gesamten öffentlichen Lebens fanden naturgemäß auch ihre Auswirkungen auf die Organisationsstruktur der Staatsverwaltung. Die Auflösung der alten Zentralverwaltungskörper, der Hofstellen, und die Errichtung neuer, der Ministerien, und die damit zunächst verbundene teilweise Überschneidung in der Fortführung der laufenden Geschäfte, was sich in der Aufsplitterung der Archivquellen niederschlug, bedingte für den Kommentar der Ministerratsprotokolle des Jahres 1848 im Vergleich zu bereits publizierten Bänden dieser Reihe einen erheblichen Mehraufwand. Denn die Hinterlegung des Quellenbestandes über eine Materie erfolgte in verschiedenen Archivabteilungen, wobei nicht immer die Logik des Systems durchschaubar war. So war es bisweilen notwendig, für die Kommentierung eines einzelnen Gegenstandes, der in den Ministerratsprotokollen zur Sprache kam, mehrere Abteilungen in verschiedenen Archiven einzusehen.
Für die Erstellung des Kommentars wurden größtenteils jene Akten verwendet, die sich in den Beständen der Wiener Archive befinden. Im Haus-, Hof- und Staatsarchiv war es an erster Stelle das Material der Kabinettskanzlei, der „Registratur“ des neugeschaffenen Ministerrates, und jenes des Kabinettsarchivs, Staatskonferenzakten und der Minister Kolowrat Akten, die mit dem erstgenannten unmittelbar zusammenhängen. Dabei erwies es sich als notwendig, bei einzelnen Angelegenheiten auch auf die Separatbillettenprotokolle und die Akten des Obersthofmeisteramtes und des Oberstkämmereramtes zurückzugreifen. Obwohl das Ministerium des Äußeren als solches mit der Ernennung der neuen Regierung in Funktion trat, befinden sich dessen Akten für das Jahr 1848 überwiegend in der Abteilung Staatskanzlei. Hier waren es hauptsächlich die Untergruppen der Staatenabteilung, wie etwa Frankreich, England, Sardinien und Deutsche Akten neue Reihe, die für die Kommentierung der außenpolitischen Entwicklung eingesehen wurden, aber auch die Korrespondenz mit den anderen Hofstellen/Ministerien und der Bestand Provinzen. Im Letzteren findet sich ebenfalls reichhaltiges Material zur lombardo-venezianischen Frage. Das für die Dokumentation der innenpolitischen und sozialen Entwicklung nach den Wiener Maiereignissen wichtige und bisher wenig genutzte Quellenmaterial über die Tätigkeit des Sicherheitsausschusses wurde aus unerfindlichen Gründen den Reichstagsakten angeschlossen.
|| S. 47 PDF || Die Auswertung der Bestände des Kriegsministeriums (Hofkriegsrat, Kriegsministerium und Alte Feldakten) und des Handelsministeriums, die sich im Allgemeinen Verwaltungsarchiv befinden, stieß auf keine Schwierigkeiten. Problematisch war hingegen die Verwendung der ebenfalls hier gelagerten Akten des Innenministeriums, da sie beim Brand des Justizpalastes 1927 zum größten Teil vernichtet wurden. Dasselbe gilt auch für das Justizministerium. Um wenigstens den schematischen Ablauf der Ereignisse zu unterlegen, wurden für den Kommentar die Eintragungen des Einlaufprotokolls des letztgenannten Ministeriums angegeben, wenn der diesbezügliche Akt nicht mehr auffindbar war. Zur Ergänzung der Angelegenheiten, auf die das auch hier befindliche Material des Unterrichtsministeriums bezug nimmt, wurde das Universitätsarchiv, insbesondere die Konsistorialakten verwendet.
In Angelegenheiten der Finanzverwaltung wurden die Bestände des Hofkammerarchivs und des Finanzarchivs herangezogen. Als störend erwies sich dabei der Umstand, daß der erste Indexband des Finanzministeriums von 1848 fehlt. Eine Besonderheit stellt das Ministerium der öffentlichen Arbeiten dar, das nur während des Revolutionsjahres bestand. Seine Auflösung brachte es mit sich, daß dessen Akten anderen Zentralstellen zugeordnet wurden. So ist die Präsidialreihe im Finanzarchiv, Montanpräsidialakten zu finden, die Allgemeine Reihe im Verkehrsarchiv des Allgemeinen Verwaltungsarchivs. Weiters wurden in Wien noch das Niederösterreichische Landesarchiv, vor allem das Statthaltereipräsidium, und das Wiener Stadt- und Landesarchiv in Anspruch genommen, wobei hier neben den die Stadtverwaltung betreffenden Akten auch solche über die Wiener Nationalgarde zu finden sind.
Die Komplexität der in den Ministerratsprotokollen auftauchenden Probleme und die teilweise stark ausgeprägte Dezentralisierung bei Entscheidungen in wichtigen Fragen, legten es nahe, auch andere als die in Wien zugänglichen Quellen für den Kommentar heranzuziehen. Dies umso mehr als viele dieser Angelegenheiten durch das Innenministerium, teils weil es ohnedies in sein Ressort fiel, teils im Auftrag des Gesamtministeriums, abgehandelt worden waren. Zur näheren Ausleuchtung der Vorgänge in Galizien und des zwar nicht eigenmächtigen aber doch recht eigenwilligen Vorgehens des dortigen Landesgouverneurs wurde das Zentrale Ukrainische Historische Staatsarchiv in Lemberg (Zentral’nyj Deržavnyj Istoryčnyj Archiv Ukrajiny u L’vovi) aufgesucht, um hauptsächlich die Bestände des Guberniumspräsidiums einzusehen. In Prag waren es ebenfalls die Akten des Guberniums im Zentralen Staatsarchiv (Státní Ústřední Archiv), die benötigt wurden, um vor allem die Vorgänge rund um die Errichtung der provisorischen Regierung Ende Mai und um den Prager Pfingstaufstand ausreichend zu kommentieren. Außerdem wurden noch das Mährische Landesarchiv in Brünn (Moravský Zemský Archiv) und das Staatsarchiv in Krakau (Archiwum Państwowe w Krakowie) konsultiert, wobei sich das Letztere bezüglich des erhofften Materials für das Jahr 1848 als wenig ergiebig erwies. Das Gegenteil war der Fall beim Ungarischen Staatsarchiv in Budapest (Magyar Országos Levéltár), das wegen der umstrittenen Stellung Ungarns zur Gesamtmonarchie und den sich daraus ergebenden Folgen auf allen Gebieten – selbstverständlich – auch besucht wurde. Die Bestände der außerhalb Österreich liegenden Archive dienten also als wichtiger Ersatz, als eine teilweise Rekonstruktion, des in Verlust geratenen Materials des Innenministeriums. || S. 48 PDF || Für die Auffindung der Ministerratsprotokolle (und der in der Kabinettskanzlei einliegenden Aktenstücke) ist die fortlaufende Ministerratszahl (MRZ.) ausschlaggebend. Deshalb wurde sie im Kommentar für die diesbezüglichen Akten verwendet. Für die Schreibung von Personen- und Ortsnamen gilt, was darüber an anderer Stelle bereits gesagt wurde171.