Nr. 58 Ministerrat, Wien, 1. Juni 1848 - Retrodigitalisat (PDF)
- ℹ️ anwesend: Sommaruga, Krauß, Latour, Baumgartner, Lebzeltern interimistischer Leiter des Außenministeriums
- RS.Reinschrift; RdA. Pipitz; VS.Vorsitz Pillersdorf; anw.anwesend Sommaruga, Krauß, Latour, Baumgartner, Lebzeltern (interimistischer Leiter des Außenministeriums); BdE.Bestätigung der Einsicht Pillersdorf (2. 6.), Franz Karl (5. 6.).
MRZ. 967 – KZ. –
- I. Aufklärung des Sicherheitsausschusses über a) die provisorische Regierung in Prag, b) die Rückkehr des Kaisers nach Wien
- II. Aussenpolitisches Regierungsprogramm
- III. Stellung der nationalen italienischen Armee; italienischer Zollverein
- IV. Walachische Petition aus Siebenbürgen
- V. Maßmahmen zur Disziplinierung der Arbeiter
- VI. Leitung des Kriegsministeriums im Notfall durch Karl Bernhard Freiherr v. Hietzinger
- VII. Provisorische Regierung in Prag
Protokoll der Sitzung des Ministerrates am 1. Junius 1848 um 12 1/2 Uhr unter dem Vorsitze des interimistischen Ministerpräsidenten, zugleich Ministers des Inneren Freiherrn v. Pillersdorf.
I. Aufklärung des Sicherheitsausschusses über a) die provisorische Regierung in Prag, b) die Rückkehr des Kaisers nach Wien
Der Minister des Inneren eröffnete, es sei ihm von Seite des Wiener Sicherheitsausschusses eine schriftliche Mitteilung zugekommen1, worin derselbe bittet: a) es wollen demselben die vom Ah. Hoflager an den Ministerrat gelangten Nachrichten und b) der Inhalt der offiziellen Berichte über das Entstehen einer provisorischen Regierung in Prag2 baldmöglichst bekanntgegeben werden; c) wird ersucht um nähere Bezeichnung jener Garantien, welche zur Erwirkung der allgemein ersehnten Rückkehr Se. Majestät nach Wien geboten werden müßten.
Es wurde hierüber vom Ministerrat beschlossen, dem Sicherheitsausschusse die Mitteilung der zu a) und b) bezeichneten Nachrichten, sobald man in deren Besitz sein wird, zuzusichern und auf die Anfrage c) zu erwidern: die unerläßlichen Vorbedingungen, wodurch allein die Rückkehr Sr. Majestät möglich werden kann, bestünden: 1. in der völligen Herstellung und Aufrechthaltung der öffentlichen Ordnung, Ruhe und Sicherheit, 2. in der Wiedereinsetzung aller Behörden, namentlich der ordentlichen Gerichte, in ihren durch die neuesten Ereignisse gefährdeten Wirkungskreis und 3. in der sorgfältigen Vermeidung jedes ungesetzlichen Einschreitens namentlich durch Ausübung einer unbefugten strafgerichtlichen Jurisdiktion, wie sich der Sicherheitsausschuß schon wiederholt, ungeachtet bestimmter Einsprüche von Seite des Ministerrates3, erlaubt hat4.
II. Aussenpolitisches Regierungsprogramm
Der Staatsrat Baron Lebzeltern hat einer von Seite des interimistischen Ministerpräsidenten an ihn ergangenen Aufforderung zur Entwerfung einer ministeriellen Darstellung über die Stellung Österreichs gegen die auswärtigen Mächte durch ein von ihm verfaßtes Memoire entsprochen, welches im Ministerrate vorgelesen wurde5.
|| S. 358 PDF || Wenn nun gleich anerkannt wurde, daß die Veröffentlichung eines Programmes über die äußere Politik Österreichs in vielfacher Hinsicht wünschenswert wäre, und sich dasselbe ganz natürlich an das Programm über die innere Politik des Ministeriums anschließen und dasselbe gewissermaßen ergänzen würde6, so vereinigte man sich doch zu dem Beschlusse, daß es im gegenwärtigen Augenblicke, wo der von Sr. Majestät ernannte Minister des Auswärtigen, Baron Wessenberg, seine Funktionen noch nicht angetreten hat7, auch nicht an der Zeit sein dürfte, ein solches Programm erscheinen zu lassen, das vielleicht in einigen Punkten von den Ansichten des genannten Ministers abweichen und ihn nötigen würde, nach Übernahme des Portefeuilles mit einem anderen Programme aufzutreten.
Unter diesen Umständen übernahm es Baron Lebzeltern, dem Minister Baron Wessenberg seinen Entwurf mit dem Bemerken zu übermitteln, daß der Ministerrat die Veröffentlichung eines Programmes dieser Art für wünschenswert erkenne, daß er es aber zunächst der Beurteilung des Freiherrn v. Wessenberg anheimstellen müsse, ob die gegenwärtige politische Lage der Monarchie nach außen überhaupt eine solche Veröffentlichung rätlich mache, und was in dieselbe aufzunehmen wäre8.
III. Stellung der nationalen italienischen Armee; italienischer Zollverein
Der Minister des Inneren eröffnete, der Staats- und Konferenzminister Graf Hartig habe an ihn die Anfragen gestellt9, welche Zugeständnisse bei den Unterhandlungen wegen Pazifikation der italienischen Provinzen gemacht werden könnten: a) bezüglich der Stellung der nationalen italienischen Armee und b) bezüglich des Anschlusses der Lombardie und Venedigs an den italienischen Zollverein.
In erstere Beziehung wurde beschlossen, daß hinsichtlich der Stellung der italienischen Armee zu den dortigen Provinzen und zur Gesamtmonarchie im Frieden und im Kriege am füglichsten die Bestimmungen angenommen werden könnten, welche für die königlich italienische Armee unter Napoleon Geltung hatten10.
Was aber den Anschluß an die Lega doganale italiana11 betrifft, waren sämtliche Minister des Erachtens, dem Grafen Hartig zu eröffnen, daß, da dieser Zollverein noch gar nicht existiert, dessen Zustandekommen sehr zweifelhaft ist, und selbst im Falle seiner Bildung gegenwärtig über dessen Organismus noch nichts als vage Konjunkturen gemacht werden können, der Ministerrat außerstande sei, für die verschiedenen Eventualitäten bestimmte Instruktionen zu geben, und man sich überhaupt bei den Unterhandlungen erbötig zeigen solle, den lombardisch-venezianischen Provinzen den Anschluß an die Lega, soferne sie dieselbe wünschen würden, zu gestatten, mit dem Vorbehalte, daß auch die deutschen Provinzen der Monarchie sich nach Umständen zu diesem Zollverein in ein näheres Verhältnis setzen würden12.
IV. Walachische Petition aus Siebenbürgen
Der Minister des Inneren überreichte eine, ihm von den Deputierten der walachischen Nation in Siebenbürgen abschriftlich übergebene Petition an Se. Majestät, de dato Blasendorf 17. Mai 1848, mit welcher Adresse die Nation vor allem den Ausspruch ihrer loyalen Gesinnungen und ihrer unerschütterlichen Treue an das Ah. Kaiserhaus, ferner die dringende Bitte um fortdauernde Sonderung Siebenbürgens von Ungarn und endlich noch bezweckt, mehrere legislative, politische und administrative Bedürfnisse der siebenbürgischen Walachen zur Ah. Kenntnis zu bringen13.
Über die Bitte der Deputierten, diese Petition zu den Füßen des Ah. Thrones gelangen zu lassen, habe Baron Pillersdorf erwidert, daß er dies zwar auf sich nehmen wolle, ihnen jedoch bemerken müsse, daß er in seiner Stellung als Mitglied des Ministeriums für die deutschen und slawischen Provinzen sich nicht berufen halten könne, in dieser Angelegenheit eine entscheidende Meinung auszusprechen oder einen au. Antrag bei Sr. Majestät zu stellen.
Indem der Ministerrat dieser Ansicht beitrat, glaubten doch die Minister der Finanzen, der öffentlichen Arbeiten und des Krieges, welche hiebei besonders beteiligt sind, Sr. Majestät die Wichtigkeit dieses von der Mehrheit der Bevölkerung in Siebenbürgen ausgegangenen Schrittes – welcher seiner Tendenz nach mit jenem der sächsischen Nation völlig übereinstimmt und beinahe gleichzeitig erfolgt ist14 – au. gegenwärtig zu halten und in Ehrfurcht bemerken zu sollen, daß die Knüpfung eines engeren Verbandes zwischen den deutschen Provinzen und jenen Nationen dem Interesse der Gesamtmonarchie entsprechen dürfte, zumal die walachische Nation in Siebenbürgen vielleicht den Kern bilden könnte, an welchen sich die rumunischen Donaufürstentümer unter österreichischer Oberhoheit anschließen würden15.
V. Maßmahmen zur Disziplinierung der Arbeiter
Der Minister der öffentlichen Arbeiten äußerte, daß, nachdem die Zahl, Leitung, Moralität und Beaufsichtigung der Arbeiter in und nahe bei der Residenz unter den gegenwärtigen Konjunkturen ein Gegenstand der ernstesten Besorgnisse geworden ist, er sich mit der Aufsuchung von Mitteln beschäftigt habe, um den vorhandenen Übelständen mit Aussicht auf Erfolg entgegenzutreten. In erster Linie steht dabei die Maßregel, die nach Wien nicht zuständigen Arbeiter auszuscheiden, selbe bei entfernteren Bauobjekten zu verwenden und in der Folge nach ihrer Heimat abzusenden16.
|| S. 360 PDF || Der Nachlässigkeit und Trägheit im Arbeiten, welche derzeit allgemein bemerkt wird, soll durch größere Verteilung der Arbeiter in der Art, daß sie sich in der freien Bewegung nicht hemmen, durch Einführung von Akkordarbeit und endlich durch eine eigene Organisation begegnet werden. Zweihundert Arbeiter würden immer unter die Aufsicht eines Studierenden – vorzugsweise eines Technikers – mit einem Diurnum von 1 fl. gestellt, welcher sie zum Fleiß und zur Ordnung anzuhalten hätte, ein Streben, welches umso mehr erfolgreich wäre, da der Einfluß der Studierenden auf die Arbeiter ein sehr großer ist17. Diese Techniker etc. würden dann den bauleitenden Beamten untergeordnet. Gleichzeitig wäre eine eigentliche Polizei- und Moralitätsaufsicht über diese Volksmassen, die derer sehr notwendig bedürfen, im Wege des Sicherheitsausschusses zu organisieren.
Sämtliche Minister stimmten diesen sehr zweckmäßigen Anträgen bei18.
VI. Leitung des Kriegsministeriums im Notfall durch Karl Bernhard Freiherr v. Hietzinger
Der Kriegsminister erwähnte, er habe es für seine Pflicht gehalten, in der gegenwärtigen kritischen Periode alle möglichen Eventualitäten bezüglich der Stellung des Militärs in Wien in Überlegung zu nehmen, und er sei dabei auch auf den – freilich noch ganz unwahrscheinlichen – Fall gekommen, wo das gesamte Militär, die Generalität und der Kriegsminister mitbegriffen, Wien plötzlich verlassen müßte. In diesem Falle würde die Notwendigkeit eintreten, einen Zivilisten mit der Oberleitung der Administrationsgeschäfte des Kriegsministeriums zu betrauen. Graf Latour würde glauben, daß sich hiezu der Staatsrat Baron Hietzinger, seinen Kenntnissen und seiner Dienstesstellung nach, vorzugsweise eignen würde, und sämtliche Minister traten dieser Meinung bei amit dem Vorbehalte, daß in einem solchen Falle Baron Hietzinger in vollständiger Unterordnung unter dem Ministerrate stehen müßtea, 19.
VII. Provisorische Regierung in Prag
Am Schlusse der Sitzung langte das Blatt der Constitutionellen Prager Zeitung vom 31. Mai 1848 ein, welches die bestimmte Nachricht enthält, daß sich zu Prag – in der Voraussetzung, daß das verantwortliche Ministerium in Wien nicht die erforderliche Freiheit des Handelns besitzt – bereits am 30. v. M. eine provisorische Regierung unter dem Vorsitze des Gubernialpräsidenten gebildet hat20, zu dem angegeben doppelten Zwecke: a) diejenigen Angelegenheiten, welche den Wirkungskreis der || S. 361 PDF || Landesstelle überschreiten, zu schlichten, und b) den dem durchlauchtigsten Herr Erzherzoge Franz Joseph beizugebenden Statthaltereirat zu organisieren21.
Der Ministerrat beschloß sofort, in einem besondern au. Vortrage sich an Ah. Se. Majestät mit der au. Bitte zu wenden, daß dieser eigenmächtigen Maßregel, welche aus einer ganz falschen Ansicht über die Stellung des Ministeriums in Wien hervorgegangen ist, keine Folge gegeben werde22. Indem sich der Ministerrat ehrerbietigst auf den Inhalt dieses au. Vortrages bezieht, behält er sich vor, die entsprechenden Erlässe an die Provinzialbehörden zu richten23.
Wien, am 2. Junius 1848. Pillersdorf.
Ges. 5. Juni. Franz Karl. Vidi. Ah. E. Ich nehme den Inhalt dieses Protokolles zur Wissenschaft. Ferdinand. Innsbruck, den 7. Juni 1848.