- Der Staatsvoranschlag für 1863 - das erste Normalbudget
- Die Steuerfrage
- Die Gesetzgebung — zwischen Tradition und Aufbruch
- a) Das Gesetz zur Aufhebung des Lehensbandes
- b) Die Einführung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches
- c) Konkurs- und Ausgleichsverfahrensordnung
- d) Gewerbegesetz und Gewerbegenossenschaftswesen
- e) Das Pressegesetz
- f) Das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit und des Hausrechts
- g) Das Gesetz zum Schutz des Brief- und Schriftengeheimnisses
- Der Deutsche Zollverein
- Das Protestantenproblem in Ungarn
- Die siebenbürgische Eisenbahnfrage
- Schlußbetrachtung
Der Staatsvoranschlag für 1863 - das erste Normalbudget - Retrodigitalisat (PDF)
Hinsichtlich der Budgetverhandlungen befanden sich Regierung und Reichsrat im Jahre 1862 in arger Zeitnot. Wegen der erst im November 1861 vorderhand aufgegebenen Hoffnung auf eine Komplettierung des Reichsrates hatte man seitens der Regierung die Vorlage des Staatsvoranschlages für 1862 bis zum 17. Dezember 1861 hinausgezögert, als das neue Verwaltungsjahr bereits längst angebrochen war. Anfang Jänner nahm daraufhin das Abgeordnetenhaus seine Ausschußtätigkeit auf, und am 6. Mai 1862 gelangte das Budget erstmals in das Plenum, was — schon längst erwartet — in der Öffentlichkeit gebührende Beachtung fand, handelte es sich doch zugleich um den ersten Staatsvoranschlag in der Geschichte Österreichs, der einer parlamentarischen Kontrolle unterzogen werden würde. Dieser Umstand bedingte einerseits eine besonders sorgfältige Prüfung, andererseits aber auch einen völligen Mangel an Erfahrung im Umgang mit Budgetvorlagen, woraus erneut das Problem einer zeitgerechten Fertigstellung des Finanzgesetzes für das Jahr 1862 erwuchs. In dieser Situation hatte man sich, abweichend von der parlamentarischen Geschäftsordnung, dazu entschlossen, nicht erst den vollständigen Ausschußbericht abzuwarten, sondern das Plenum nach und nach mit den Berichten über die einzelnen Budgetkapitel zu befassen. Ebenso verfuhr man mit den dort sogleich in dritter Lesung angenommenen Abteilungen, die dann gestaffelt sofort an das Herrenhaus weitergeleitet wurden, sodaß der Budgetentwurf über weite Strecken || S. 10 PDF || der ersten Reichsratssession im Finanzausschuß, Abgeordneten- und Herrenhaus zugleich in Beratung stand. Trotz dieses „beschleunigten Verfahrens“ wurde das Finanzgesetz schließlich erst am 30. bzw. 31. Oktober von den beiden Häusern des Reichsrates endgültig verabschiedet und am 2. November 1862, zwei Tage nach Ablauf des Finanzjahres, vom Kaiser sanktioniert1.
Um mit dem Staatsvoranschlag für das Jahr 1863 nicht von vornherein wieder in Verzug zu geraten, hatte Finanzminister Edler v. Plener bereits im Jänner 1862 dem Ministerrat vorgeschlagen, diesen dem Reichsrat noch während der laufenden Budgetverhandlungen pro 1862 zur Prüfung vorzulegen, was seiner Ansicht nach umso leichter zu bewerkstelligen war, als man sich bei der Erfordernis- und Einnahmenzusammenstellung im wesentlichen auf die Ansätze des vorangegangenen Budgets stützen und bei den Abweichungen sonach auf bloße „Differenzausweise“ beschränken konnte. Von Schmerling zwar unterstützt, blieb dieser Antrag zunächst jedoch nicht ganz unwidersprochen. Namentlich Graf Esterházy äußerte seine bereits anläßlich der ersten Budgetvorlage gehegten Bedenken, die im Reichsrat nicht vertretenen Länder erneut „unter die Macht der Oktroyierung“ gestellt zu sehen. Die einzig auf der Grundlage eines in jeder Hinsicht normalen Budgets voranzutreibende Konsolidierung des Staatshaushaltes ließ solchen Überlegungen indessen keinen Raum, sodaß der Antrag Pleners schließlich mehrheitlich angenommen wurde2. Freilich mochte bei dieser Entscheidung auch der Gedanke mitgespielt haben, das langwierige und oft lästige Prüfungsverfahren künftig auf ein Mindestmaß zu reduzieren, wie das der Kaiser wenige Monate später in einer Forderung an den Ministerrat recht unumwunden formulierte3. Umso mehr mußte das erste verfassungsmäßig votierte Finanzgesetz auf diese Weise aber auch seinem normativ-richtungweisenden Charakter gerecht werden. Die eigentlichen Fragen über Aufbau, Einteilung, Inhalt und Vorlage des Staatsvoranschlages 1863 bildeten sonach den Beratungsgegenstand mehrerer Sitzungen des Ministerrates im Juni und Juli 18624. Wiederholt wurde dabei von den Ressortchefs auf die Schwierigkeiten verwiesen, die sich daraus ergaben, daß eine endgültige, alle Rubriken umfassende Einigung über den als Ausgangspunkt ihrer Berechnungen für das Budget 1863 dienenden 1862er Voranschlag noch ausständig war, woran sich allem Anschein nach auch vor dem Herbst nichts ändern würde. Auf Empfehlung Pleners einigte man sich daher, die Reduktionen, welche die Zustimmung der Regierung bereits gefunden hätten, im neuen Budget zu berücksichtigen, dagegen aber all jene Positionen, deren Verminderung oder Streichung bisher ohne Einverständnis erfolgt seien, mit ihrem ursprünglichen Ansatz wieder aufzunehmen. || S. 11 PDF || Einmal mehr entzündete sich daran die stets mit großer Leidenschaft diskutierte Grundsatzfrage, ob denn das Abgeordnetenhaus überhaupt zu Postenstreichungen berechtigt sei, vor allem dann, wenn es sich um gezielte Maßnahmen handelte, wie etwa bei den Funktionszulagen des ehemaligen Innenministers und nunmehrigen Gesandten in Rom, Dr. Alexander Freiherr v. Bach5. In der Tat besaß der Reichsrat auf dem Umweg über die Budgetbewilligung eine gewisse Ingerenz auf Angelegenheiten des politischen Lebens, die an und für sich nicht zu seinem Wirkungskreis zählten. In diesem Zusammenhang geeigneter als die letztlich von verständlichen Ressentiments geleiteten Anfechtungen gegen die Bezüge Bachs, sei etwa auf die prinzipiellen Bedenken verwiesen, die das Abgeordnetenhaus an der Institution des Staatsrates im Rahmen der Behandlung des diesbezüglichen Budgetpostens hatte laut werden lassen6. In dieselbe Richtung läuft auch die bei jeder Gelegenheit geübte Kritik an der Kriegsmarine, die das Abgeordnetenhaus mit ihren alljährlich wiederkehrenden und den Staatshaushalt in beträchtlichem Maße belastenden Nachtragsforderungen allerdings auch einer harten Geduldsprobe unterzog7.
Für einige Verwunderung sorgte Plener, als er sich am 10. Juli 1862 plötzlich für einen Aufschub der Budgetvorlage bis zum Herbst aussprach8, nachdem er noch wenige Tage zuvor im Interesse der Finanzpolitik auf eine unverzügliche Einbringung des bereits gedruckten Voranschlages gedrängt hatte9. Nun wollte er auf einmal den Abschluß der Bankakte und die Ermittlung des außerordentlichen Militäraufwandes abwarten. Dementsprechend brüsk war die Reaktion im Ministerrat. Vor allem Staatsminister Ritter v. Schmerling verwarf den Überraschungsantrag in einer angesichts des hohen Ansehens, das Plener im Kabinett genoß, ungewöhnlich scharfen Form. Es verblieb bei der ursprünglich getroffenen Entscheidung, dem Reichsrat das 1863er Budget noch vor Beginn seiner Sommerpause vorzulegen, wozu nunmehr endgültig der 17. Juli 1862 ins Auge gefaßt wurde10.
An der Zusammensetzung des Reichsrates hatte sich indessen bis zu diesem Zeitpunkt nichts geändert. Somit war zu befürchten, daß sich erneut die vor allem von der föderalistisch-konservativen Rechten des Abgeordnetenhauses hochgespielte Frage erheben würde, ob und inwieweit der nicht vollständig versammelte Reichsrat überhaupt befugt sei, ein für den Gesamtstaat gültiges Finanzgesetz zu votieren.
|| S. 12 PDF || Die aus diesem Grund verzögerte Vorlage des 1862er Voranschlages an den engeren Reichsrat war von der Regierung seinerzeit dahingehend gerechtfertigt worden, daß bezüglich der im Reichsrat nicht vertretenen — ungarischen — Länder aufgrund des § 13 der Verfassung, d. h. im Verordnungsweg, vorgegangen werde. Den engeren Reichsrat überhaupt an den Budgetberatungen teilnehmen zu lassen, war den Abgeordneten geschickt als Akt der Gnade und Selbsteinschränkung des Kaisers präsentiert worden11, was die Föderalisten nicht davon abhielt, die Finanzverhandlungen hinfort zu boykottieren. Freilich verbarg sich hinter dieser Regierungserklärung nicht aufrichtiges konstitutionelles Empfinden, sondern die bloße, allen voran von Plener zur Prämisse seines finanzpolitischen Handelns erhobene Einsicht, daß nur verfassungsmäßige Zustände die Grundlage für eine Konsolidierung des zerrütteten Staatshaushaltes bilden konnten.
Die schließlich von Schmerling am 17. Juli 1862 der eigentlichen Budgetvorlage vorausgeschickte Regierungsmitteilung deckte sich daher inhaltlich im wesentlichen mit der aus dem gleichen Anlaß am 17. Dezember des Vorjahres verlesenen Botschaft des Kaisers12. An den Umstand, daß der Übergang von den laufenden Budgetberatungen für 1862 zu den bevorstehenden für 1863 ein fließender war, konnte die Regierung dieses Mal zudem die Hoffnung knüpfen, daß die leidige Kompetenzfrage nicht Wiederaufflammen würde; darin hatte neben dem Zeitfaktor übrigens auch ein gewichtiges Argument für eine Budgetvorlage noch vor dem Beginn der Sommerpause des Reichsrates bestanden.
Laut der im Anschluß an die Regierungserklärung von Plener vorgetragenen Budgetrede lautete das ordentliche Gesamterfordernis für das Verwaltungsjahr 1863 auf 362,5 Millionen Gulden; dafür stand eine Bedeckung von 304,3 Millionen zu Verfügung, wonach sich das Defizit mit 58,2 Millionen beziffern ließ. Davon sollten präliminierte 33,6 Millionen aus dem Ertrag der bereits in Verhandlung stehenden Steuererhöhungen gedeckt werden, während für den somit verbleibenden Rest von 24,6 Millionen der Erlös aus dem Anlehen vom Jahre 1860 bestimmt sei. Nicht enthalten in diesen Berechnungen und von Plener vorerst nur in Aussicht gestellt war allerdings ein außerordentlicher Mehraufwand für Heer und Flotte in der Höhe von 35 Millionen, welche im Kreditweg beschafft werden sollten, was seiner Ansicht nach insofern völlig unbedenklich war, als im nächsten Jahr — abermals unter Voraussetzung des Zustandekommens einer Übereinkunft mit der Nationalbank — die Staatsschuld reell vermindert sein würde, wodurch beträchtliche Tilgungssummen in Ersparung kommen könnten13.
Damit, so hat es den Anschein, hatte Plener seine bereits anläßlich der ersten Vorlage entwickelten Grundsätze zur Budgetgestaltung verwirklicht, wonach für sämtliche || S. 13 PDF || ordentliche Staatsausgaben die Steuerleistung heranzuziehen wäre, wogegen die außerordentlichen Aufwendungen, die eben nur vorübergehende Belastungen darstellten, in Form von Kredittransaktionen gedeckt werden könnten. Da letztere in Österreich aber obligat waren, blieb auch die Staatsverschuldung ein konstantes Problem der Monarchie.
Im Reichsrat hatten sich unterdessen recht deutliche Ermüdungserscheinungen bemerkbar gemacht. In den Ausschüssen, wo sich die eigentliche Arbeit konzentrierte, war in jeder Hinsicht Enormes geleistet worden, gerade was die gewissenhafte Prüfung des Staatsvoranschlages betraf. Dennoch hatten die Erfahrungen des parlamentarischen Alltags dem einen oder anderen Abgeordneten die Illusionen über eine effiziente Mitgestaltung am politischen Leben geraubt. An die Stelle des Eifers der ersten Monate war mancherorts Ernüchterung und Resignation getreten. Angesichts der einerseits erfolgreich vollzogenen Budgetvorlage und der andererseits zusehends ins Stocken geratenen Verhandlungen über eine ganze Reihe wichtiger Fragen kam man im Ministerrat vom 29. Juli zu dem Schluß, einer Unterbrechung der Reichsratssession bis Mitte September schwer etwas entgegenstellen zu können14.
Einigen Aufschluß über die tatsächliche Bewertung der parlamentarischen Kontrollfunktion aus der Sicht der Regierung gewährt eine Diskussion im Ministerrat vom 7. August 1862 über die Frage, was mit dem für das kommende Jahr zu hoch veranschlagten Hofstaatsbudget bzw. der sich daraus ergebenden Differenzsumme zu geschehen habe. Plener sprach sich in diesem Zusammenhang für eine Bekanntgabe an das Abgeordnetenhaus aus, weil sich dadurch ein „guter Eindruck“ erzielen ließe und es außerdem, wie Außenminister Rechberg ergänzte, „für die Zukunft und bei der Färbung, die das Abgeordnetenhaus nehmen könnte, eine ungemein bedenkliche Sache [sei], wenn in das genaue Detail des Hofstaates eingegangen werde“. Weniger Rücksicht wollte dagegen Minister Graf Nádasdy walten lassen, wenn er entgegnete, daß, nachdem die Summe nun einmal begehrt worden sei, „es gegen die Würde der Krone und die Rechte Sr. Majestät verstoßen [würde], darum, weil Diffikultäten im Finanzausschuß erhoben werden wollen, eine Abminderung selbst vorzunehmen“. Man müsse vielmehr danach trachten, „diese Position à tout prix durchzusetzen“. Einigen Unterhaltungswert beginnen seine Ausführungen spätestens dann zu gewinnen, wenn er fortfährt, daß ein Grund für den Mehrbetrag „sich wohl finden lassen [werde]“, etwa die Kosten eines „allfälligen Fürstenkongresses, einer Krönung in Ungarn oder Böhmen usw. als solche bezeichnet werden [könnten]“. Darüber hinaus müsse man den Abgeordneten klarmachen, daß es „wenig loyal und schicksam erscheinen würde“, bei den Hofstaatsauslagen Streichungen vorzunehmen. Der Ministerrat entschied sich schließlich einstimmig für eine Beibehaltung der Position, nachdem Schmerling resümiert hatte, daß sich ohnehin alle Welt täusche, wenn sie die Ansätze des Budgets mit der wirklichen Gebarung für identisch halte15.
|| S. 14 PDF || Die Behandlung des Staatsvoranschlages 1863 nahm in der Folge vor allem die Monate Oktober und November in Anspruch, wobei sich bei der endgültigen Zusammenstellung des Gesamterfordernisses von 367 Millionen Gulden im Vergleich zum ursprünglichen Ansatz sogar ein Mehrbetrag von 4,5 Millionen ergab, während die Bedeckungssumme mit 304,6 Millionen nur geringfügig variierte. Dementsprechend erhöhte sich der Abgang um 4,3 Millionen, woraus sich ein ordentliches Budgetdefizit für 1863 von 62,5 Millionen abzeichnete16. Entgegen dem Plan des Finanzministers mußte rund ein Fünftel davon neuerlich im Kreditweg beschafft werden. Dessenungeachtet muß es als Erfolg Pleners gewertet werden, diesen Betrag in einer Weise reduziert zu haben, wie das seit dem Jahre 1847 nicht mehr möglich gewesen war17.
Das Finanzgesetz für das Verwaltungsjahr 1863 wurde schließlich in dritter Lesung vom Abgeordnetenhaus am 28. November, vom Herrenhaus am 15. Dezember angenommen. Vier Tage darauf, am 19. Dezember 1862, erhielt es die kaiserliche Sanktion18.
Wie schon beim vorangegangenen Budget hat es sich also neuerdings gezeigt, daß auf der regulären Ausgabenseite nennenswerte Einsparungen nicht möglich waren. Solche schienen für die Zukunft allenfalls bei den Extraordinarien denkbar, doch auch hier ließ die außenpolitische Lage, wie die Entwicklung zeigen sollte, keine übertriebenen Hoffnungen zu. Trotz allem war das Plenersche Sanierungsprogramm gegen Ende 1862 so weit gediehen, daß man dem Jahr 1863 mit einem bescheidenen Maß an Optimismus entgegenblicken konnte. Grund hiefür boten neben dem im Interesse der Währungsstabilisierung so hart erfochtenen Abschluß der sogenannten Bankakte19 in erster Linie die für einen Haushaltsausgleich unerläßlichen Steuererhöhungen.
Die Steuerfrage - Retrodigitalisat (PDF)
Von den mit einer Summe von 34 Millionen Gulden bezifferten Mehreinnahmen, die der Finanzminister im Februar und März 1862 in Form einer ganzen Reihe von Steuererhöhungsgesetzen beantragt hatte, war vom Abgeordnetenhaus zunächst überhaupt nur ein Drittel bewilligt und davon wiederum bloß ein Bruchteil für das laufende Verwaltungsjahr faktisch wirksam geworden, sodaß das Defizit für dieses Jahr abermals zur Gänze auf dem Weg über eine neuerliche Staatsverschuldung || S. 15 PDF || gedeckt werden mußte20. Dieser von der Warte einer soliden Finanzgebarung unhaltbare Zustand sollte für das kommende Jahr 1863 endgültig geändert werden.
Wie schon zu zeigen war, hatte Plener bereits in seiner zweiten Budgetrede am 17. Juli mit allem Nachdruck auf die Unabdingbarkeit der von ihm geforderten Steuererhöhungen hingewiesen, was das Abgeordnetenhaus damals nicht daran gehindert hatte, die zu diesem Zweck laufenden Verhandlungen durch Vertagung fürs erste zum Erliegen zu bringen, worauf die Regierung ihre Steuergesetzvorlagen Ende September zurückgezogen hatte, da am 31. Oktober das Verwaltungsjahr endete und die beantragten Maßregeln ohnedies nicht rückwirkend in Anwendung hätten gebracht werden können21.
Um vieles günstiger standen die Zeichen, als Plener — diesmal rechtzeitig — am 18. Oktober eine neuerliche Vorlage einbrachte22. So konnte er bereits auf das positive Finanzergebnis des Jahres 1862 hinweisen, das im Vergleich zum Voranschlag eine Mehreinnahme von 20 Millionen bei gleichzeitiger Einsparung von 5 Millionen beinhaltete. Nicht minder erfreulich war das mit der Währungssanierung zusammenhängende Absinken des als „Barometer der finanziellen Wetterlage“23geltenden Agios, der Kursdifferenz zwischen Papier- und Silbergeld. Wie sehr man mittlerweile auch im Abgeordnetenhaus zur Einsicht gelangt war, beweist schließlich der Antrag des Finanzausschusses, den Zuschlag zu den direkten Steuern zu verdoppeln, was sogar über die eigentlichen Forderungen der Regierung hinausging. Fraglos fiel es dem Reichsrat jetzt auch leichter, so unpopulären Maßnahmen wie Steuererhöhungen zuzustimmen, als zu Beginn seiner Tätigkeit, wo der Profilierungsdruck noch auf jedem einzelnen Abgeordneten gelastet hatte. Zudem hatte die für das 1862er Budget gerade vor dem Abschluß stehende parlamentarische Prüfung nachhaltig bewiesen, daß eine Ordnung des Staatshaushaltes in erster Linie auf der Einnahmenseite ansetzen mußte.
Entgegen der von der Regierung für die Durchführung einer (Grundsteuer-)Katasterrevision24 anberaumten Dreijahresfrist mußten die Zuschläge zu den direkten || S. 16 PDF || Steuern allerdings alljährlich vom Reichsrat aufs neue gewährt werden, was in den folgenden Jahren trotz der vom Kaiser persönlich im Ministerrat geäußerten Befürchtung vor stets „wiederkehrenden aufregenden Debatten über diesen Punkt“ keinem Anstand unterlag25.
Ebenso, wenn auch in modifizierter Weise, wurden nun die angetragenen Steigerungen im Bereich der indirekten Abgaben gebilligt. Konkret betraf dies die Gebühren-, Zucker- und Branntweinbesteuerung26, nachdem über die Tariferhöhungen bei Fleisch, Wein und Most bereits im Zuge des ersten Regierungsvorstoßes eine Einigung erzielt worden war27.
Ausdrücklich wurde vom Reichsrat auf den Übergangscharakter dieser Bestimmungen hingewiesen, was für den Finanzminister mit der Aufforderung verbunden war, in der nächsten Session einen umfassenden Reformentwurf zum System der direkten Besteuerung vorzulegen28.
Erwartungsgemäß trugen die für das Jahr 1863 somit endlich eingeführten Steuererhöhungen maßgeblich zur Sanierung des Staatshaushaltes bei.
Die Gesetzgebung — zwischen Tradition und Aufbruch - Retrodigitalisat (PDF)
Während des Jahrzehnts des Neoabsolutismus hatte eine auf den ersten Anschein widersprüchlich wirkende Parallelität zwischen ökonomischem Liberalismus und politischem Absolutismus geherrscht. Zu Recht wird dieses Phänomen geradezu als Charakteristikum der Gesetzgebungstätigkeit in der Bachschen Ära angesehen. Daß man darin keinen Gegensatz zu erblicken hat, erklärt sich aus der zuletzt durch die Erfahrungen der Revolution gewonnenen Erkenntnis, mit der Gewährung eines weitreichenden wirtschaftlichen Freiraumes das Bürgertum von der politischen Arena fernhalten bzw. es über den Verlust seiner politischen Rechte hinwegtrösten zu können, wie das ein hervorragender Kenner der Materie analog zum gängigen Erklärungsmodell für das kulturelle Biedermeier des Vormärz treffend ausgedrückt hat29. Angesichts dessen dürfte man nicht fehlen, von einem — wirtschaftlichen — Biedermeier des Neoabsolutismus zu sprechen. || S. 17 PDF || Während die Gesetzgebung im Bereich der politischen Rechte durch den aufkeimenden Konstitutionalismus am Beginn der 60er Jahre neue Impulse erhielt, begegnen wir auf dem wirtschaftspolitischen Sektor einer bis zum Jahr des Börsenkrachs 1873 im wesentlichen konstant gebliebenen Linie liberaler Gesetzgebung. In diesem Sinne war zunächst die Grundentlastung durchgeführt worden, gefolgt von Maßnahmen wie der Beseitigung letzter Grunderwerbsbeschränkungen, der Schaffung weitgehender Gewerbefreiheit, der restlosen Aufhebung inländischer Zollschranken und der teilweisen Reprivatisierung der Eisenbahnen, um die wichtigsten zu nennen. In dieselbe Richtung weisen die einschlägigen Gesetze der frühen 60er Jahre, die als solche häufig auf dem Tagesordnungsprogramm des Ministerrates standen und mit denen die Protokolle des vorliegenden Bandes somit zu einem beträchtlichen Teil befaßt sind. In diesem Zusammenhang sei etwa auf das Lehenallodialisierungsgesetz, die Einführung des deutschen Handelsgesetzbuches, die Novellierung der Bestimmungen im Ausgleichsverfahren, einige Maßnahmen im agrarischen Bereich sowie auf die vorderhand im ersten Anlauf steckengebliebene Aufhebung des Genossenschaftszwanges hingewiesen. Wenden wir uns zunächst dem vielleicht interessantesten Gesetz, jenem zur Aufhebung des Lehensbandes, zu.
a) Das Gesetz zur Aufhebung des Lehensbandes
Abgesehen von der Bedeutung dieses Gesetzes für die Rechtsentwicklung der Monarchie gewährt kaum ein Gegenstand einen so tiefen Einblick in die Kombination von liberalem Fortschrittsglauben und feudalem Konservatismus, wie sie in den beiden Häusern des Reichsrates repräsentiert waren. Das Lehenswesen stellte neben dem (Familien-)Fideikommiß und der bäuerlichen Leihe die wichtigste Form der aus dem ständischen Zeitalter stammenden Rechtsbindungen dar, denen Grund und Boden in der Regel unterworfen waren30. Der Vielzahl von Verfügungsbeschränkungen, wodurch alle drei Institutionen charakterisiert sind, lag der Gedanke eines Verbundenheits- bzw. Abhängigkeitsverhältnisses zugrunde. Mit der Herausbildung des neuzeitlichen Territorialstaates hatte dann vor allem das Lehenswesen seine ursprüngliche staatliche Funktion zunehmend eingebüßt und mehr und mehr rein privat- und vermögensrechtlichen Charakter angenommen, weshalb es auch so lange, gleichsam als Fossil, bestanden hat. Freilich wurde dieses zu allem Überfluß meist noch recht komplizierte und unüberschaubare System gerade in der Aufklärung als unzeitgemäß empfunden, was in Teilbereichen auch zu Modifikationen führte, im großen und ganzen jedoch nichts am Sonderstatus des Bodenrechts änderte.
Besonderen Anstoß erregte das Lehenswesen dagegen erst in der Epoche des Liberalismus. Den Proponenten dieser vorwiegend ökonomisch orientierten Geisteshaltung || S. 18 PDF || erschien eine wie auch immer geartete rechtliche Ausnahmestellung des Grund und Bodens nicht mehr gerechtfertigt, umso mehr, als mit zunehmender Industrialisierung die Bedeutung anderer Produktionsmittel gleichgezogen hatte31. Konkret richteten sich die Einwände gegen die durch die Existenz eines Lehensherrn und eines Lehensmannes bedingte Rechtssituation des „geteilten Eigentums“ und den vielfach daraus resultierenden wirtschaftlichen Nachteilen. Prinzipieller Natur war darüber hinaus die im Wesen liberaler Auffassung verwurzelte Aversion gegen jegliche Form von Sonderrecht als dem Streben nach einer allgemeingültigen und für jedermann gleichermaßen verbindlichen Rechtsordnung zuwiderlaufend. Gerade eine solche wurde aber als Grundvoraussetzung für den gedeihlichen Ablauf des Wirtschaftslebens angesehen, worin vor allem das liberale Bürgertum, wie gesagt, seine neue Domäne erblickte32.
Festzuhalten bleibt, daß sich die Gegner des Lehenswesens — anders als man aus heutiger Sicht zunächst anzunehmen geneigt ist — demnach ausschließlich von ihrer rein rationalen Geisteshaltung, wie sie den Liberalismus gemeinhin auszeichnet, und nicht etwa von ideellen, humanitären oder gar sozialen Motiven leiten ließen. Somit muß das Lehenallodialisierungsgesetz im Kontext mit der eingangs skizzierten, von der jeweiligen staatsrechtlichen Stellung Österreichs unabhängigen Periode liberaler Wirtschaftsgesetzgebung betrachtet werden.
Die Initiative zu einer gänzlichen Aufhebung des Lehensbandes war von der Regierung ausgegangen. Am 11. Mai 1861, gleich nach Eröffnung der ersten Reichsratssession, war Minister Lasser mit einem entsprechenden Gesetzentwurf vor das Abgeordnetenhaus getreten, worauf dieser Gegenstand am 13. Juli erstmals im Plenum zur Beratung stand33. Einmal mehr versuchte die nur bedingt für eine Allodialisierung eingenommene föderalistisch-konservative Rechte des Hauses den Gang der eigentlichen Beratungen durch die sogleich daran geknüpfte Kompetenzfrage zu hemmen. Unbestritten blieb aber der privatrechtliche Charakter, den das Lehenswesen entgegen seiner ursprünglichen Bestimmung, Kriegsdienst beizustellen, im Lauf der Jahrhunderte angenommen hatte34. Dessenungeachtet entspannen sich an der Lehensfrage tiefgreifende Auseinandersetzungen zwischen dem föderalistischen und dem zentralistischen Flügel35. Als der mährische Abgeordnete Dr. Giskra die Wenzelskrone im Zusammenhang mit der Diskussion um die böhmischen Kronlehen als eine „mystische Erfindung der Neuzeit“ bezeichnete, || S. 19 PDF || führte dies sogar zu einer wütenden Interpellation aus dem rechten Lager, deren Beantwortung durch Schmerling einen eigenen Tagesordnungspunkt im Ministerrat bildete36.
Während sich die Befürworter des Lehenswesens mit den vorwiegend aus Böhmen stammenden konservativen Föderalisten im Abgeordnetenhaus in der Minderheit befanden, stieß die imperative Aufhebung sämtlicher Lehen, wie sie der Regierungsentwurf vorsah, im Herrenhaus auf breite Ablehnung37, wodurch der seltene Fall eintrat, daß sich Regierung und Abgeordnetenhaus mehr oder minder einig in Opposition zum Herrenhaus befanden. Dort war es vor allem der ehemalige langjährige Kultus- und Unterrichtsminister Leo Graf Thun, der sich zum Wortführer der Lehenallodialisierungsgegner aufgeschwungen hatte. In mancher Hinsicht muten seine Mahnungen gegen den liberalen Geist erstaunlich „modern“ an, wenn er etwa den Hinweisen auf die mit einer Ablösung der Lehen nachweisbar verbundenen Vorteile für die Volkswirtschaft entgegenhält, daß Grund und Boden nicht zur „bloßen Ware“ und damit zum Gegenstand der Spekulation degradiert werden dürften. Der aktuelle Wert des in Frage stehenden Systems liege eben darin, daß es das letztlich irrationale Moment der Verbundenheit des Menschen mit dem Boden zum Ausdruck bringe. Abgesehen davon seien die durch die Jetztzeit geschaffenen Abhängigkeitsverhältnisse, beispielsweise Arbeiter — Fabrikanten, mitunter viel drückender als das Verhältnis Vasall — Lehensherr38. Zwischen einer solchen Betrachtungsweise, wie sie um die Mitte des 19. Jahrhunderts nur einer feudal-konservativen Geisteshaltung entspringen konnte, und der fortschrittlich-liberalen Denkungsart nach westeuropäischem Muster bestand in der Tat eine unüberwindbare Kluft. Trotz mehrfacher Regierungserklärungen39 beharrte das Herrenhaus auch weiterhin auf seiner ursprünglichen Position, einer imperativen Beseitigung aller Lehen nicht beitreten zu wollen. Statt dessen wartete man mit einer ganzen Reihe von Sonderanträgen auf, die allesamt nur bestimmte Gebiete oder Lehensformen von einer Aufhebung des Lehensbandes betroffen wissen wollen40.
|| S. 20 PDF || Nach einer fast eineinhalb Jahre währenden parlamentarischen Behandlung mußten Regierung und Abgeordnetenhaus schließlich einer Kompromißlösung zustimmen, die im Ministerrat noch wenige Monate zuvor einstimmig verworfen worden war41. Danach sollten sämtliche Lehen im Bereich des lombardo-venezianischen Königreiches sowie die sogenannten Rustikal- und Beutellehen beseitigt werden, während die Ritterlehen in den übrigen Teilen der Monarchie unangetastet bleiben bzw. ihre freiwillige Auflösung allenfalls gefördert werden sollte. Untersagt war ferner die Neuerrichtung jeglicher Form von Lehen. Am 17. Dezember 1862 erhielt das Gesetz über die — somit nur — teilweise Aufhebung des Lehensbandes die Sanktion des Kaisers42. Daran anknüpfend und unter Berufung auf den Artikel 7 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger erfolgte die endgültige Aufhebung aller Lehen schließlich erst in den Jahren 1867—186943.
b) Die Einführung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches
Den Gegenstand zahlreicher Beratungen im Ministerrat bildete die zur Mitte des Jahres 1861 aktuell gewordene Einführung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches. Verschiedene, im Endeffekt allerdings nie realisierte Projekte zur Schaffung eines bezogen auf das Staatsgebiet der Monarchie gemeinsamen Handelsrechtes waren bereits seit dem Beginn des Jahrhunderts immer wieder aufgetaucht. Erfolgreicher waren dagegen diesbezügliche Bestrebungen auf gesamtdeutscher Ebene, wo ein von der Frankfurter Nationalversammlung erstellter Entwurf („Frankfurter Entwurf“) vorerst zwar gescheitert war, der Plan zur Kodifizierung eines gemeinsamen deutschen Handelsrechtes jedoch im Jahre 1856 auf Antrag Bayerns von der Bundesversammlung des Deutschen Bundes wiederaufgenommen wurde. Unter Beteiligung nahezu aller deutschen Bundesstaaten nahm daraufhin 1857 eine aus Juristen und Wirtschaftstreibenden zusammengesetzte und aus Reverenz an den Initiator in Nürnberg tagende Kommission ihre Tätigkeit auf44. Als Grundlage für das zu erarbeitende Gesetzeswerk standen von seiten Österreichs zwei Entwürfe zur Verfügung. Aber auch Preußen, das zu diesem Zeitpunkt in der || S. 21 PDF || Bundesversammlung durch Otto v. Bismarck vertreten war, hatte unterdessen — nicht zuletzt dank dessen geschickter Obstruktion — Zeit gefunden, einen eigenen Entwurf präsentieren zu können, wozu sich Berlin in erster Linie natürlich aus rein politischen Motiven veranlaßt gesehen hat45. Sachlicher Natur war dagegen die schließlich von der Bundeskommission zugunsten des preußischen Entwurfs gefällte Entscheidung, da dieser den Anforderungen überregionaler Anwendbarkeit insofern mehr entsprach, als er zivilrechtliche Aspekte in weit größerem Umfang berücksichtigte als die österreichischen Modelle, wo man sich gegebenenfalls mit bloßen Verweisen auf das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch beholfen hatte, was einer Übernahme durch andere Staaten freilich hinderlich im Wege stand. Hinzu kam das im Gegensatz zur preußischen Fassung gänzliche Fehlen eines eigenen österreichischen Seerechts46.
Nach dreijähriger intensiver Arbeit, bei der Österreich in der Hauptsache durch den Präsidenten des Wiener Handelsgerichtes, Dr. Franz Ritter v. Raule, vertreten war, wurde der sogenannte „Nürnberger Entwurf“ fertiggestellt und im Jahre 1861 als „Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch“ von der Bundesversammlung in Frankfurt ratifiziert47. In der einschlägigen Literatur mitunter vernachlässigt, stellte es als das größte Werk der deutschen Bundesgesetzgebung den zugleich — von Preußen anfänglich mit gutem Grund scheel betrachteten — letzten Schritt des Bundestages auf dem Weg zur deutschen Einheit dar48. Gemäß der Empfehlung des deutschen Parlaments ging Österreich nun, ebenso wie die anderen deutschen Staaten, daran, den Bundesentwurf mittels eines Einführungsgesetzes in seine Landesgesetzordnung aufzunehmen.
Bevor die Regierung die ersten vier Bücher des deutschen Handelsgesetzes — das fünfte widmete sich ausschließlich dem Seerecht — zur parlamentarischen Behandlung gelangen ließ, war man im Ministerrat vom 17. Juni 1861 übereingekommen, daß der engere Reichsrat dazu insofern kompetent sei, als es sich dabei nicht um handelspolitische, sondern bloß privatrechtliche Bestimmungen handle, welche vorderhand ohnedies nicht über die Grenzen der gegenwärtig im Reichsrat vertretenen Länder ausgedehnt werden sollten. So sehr eine einheitliche Regelung des Handelsrechts auch für das gesamte Gebiet der Monarchie wünschenswert erscheine, so bleibe dies doch, wie der Staatsratspräsident Freiherr v. Lichtenfels bedauerte, zumindest in bezug auf Ungarn eine Utopie. Um dem magyarischen Partikularismus auf diese Weise keinen Vorschub zu leisten, einigte man sich darauf, jetzt zwar den engeren Reichsrat mit der Angelegenheit zu betrauen, die Einführung des Handelsgesetzbuches aber auch so bald als möglich in den Ländern der ungarischen || S. 22 PDF || Krone anstreben zu wollen49. Gegen Ende des Jahres 1861 war sodann ein vom Justizministerium ausgearbeiteter Entwurf zum Einführungsgesetz des Handelsgesetzbuches fertiggestellt. Folgende Richtlinien waren dabei maßgebend gewesen50:
1. Feststellung des Verhältnisses des Deutschen Handelsgesetzbuches zur bisherigen Gesetzeslage in Österreich.
2. Beseitigung allfälliger Hindernisse, welche einer Einführung des neuen Handelsgesetzes im Wege stehen.
3. Normierung ergänzender Bestimmungen, sofern besondere österreichische Verhältnisse dies erforderlich machen.
4. Vermittlung des Überganges von der bisherigen zur künftigen Gesetzgebung. Am 5. Februar 1862 erfolgte die Regierungsvorlage an den Reichsrat, der den Gesetzentwurf einem Ausschuß zuwies51. Dort war man sich der politischen Komponente einer Einführung des Deutschen Handelsgesetzbuches in Österreich sehr wohl bewußt. Die Gemeinsamkeit der Gesetzgebung für ganz Deutschland würde ein neuer Faktor zur Vereinigung Österreichs mit demselben sein, erklärte der Abgeordnete Dr. Ignaz Kaiser optimistisch, als er im September mit dem Ausschußbericht vor das Plenum des Abgeordnetenhauses trat52. Ungeachtet des an sich wertvollen Prinzips der heimischen Rechtskontinuität habe dies den Ausschuß dazu bewogen, sich nicht von spezifisch österreichischen Rechtsanschauungen leiten zu lassen, sondern bloß Lücken auszufüllen, wo das notwendig erschien. Angesichts dieser Perspektive gestaltete sich auch der Abschluß des parlamentarischen Verfahrens ziemlich reibungslos. Gewisse Schwierigkeiten ergaben sich allenfalls hinsichtlich der einen oder anderen Übergangsbestimmung, wie das beispielsweise aus einer Beratung des Ministerrates vom 18. September über die Frage einer Weiterführung der alten oder Anlegung von neuen Handelsregistern ersichtlich ist53.
|| S. 23 PDF || Am 20. September wurde das Einführungsgesetz schließlich in dritter Lesung vom Abgeordnetenhaus verabschiedet. Kurz zuvor hatte Skene noch den Antrag gestellt, das Handelsgesetz „Allgemeines Handelsgesetzbuch, gültig für das ganze Reich“ zu benennen, war damit aber nicht durchgekommen. Dagegen wurde in der endgültigen Fassung aus der Bezeichnung „Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch“ der offizielle Titel „Allgemeines Handelsgesetzbuch“, worin man eine gewisse Konzession in diese Richtung erblicken darf54. Am 31. Oktober beschloß der Ministerrat, das Gesetz wegen des bereits festgelegten Termins seines Inkrafttretens unverzüglich dem Kaiser zu unterbreiten, der dem „Allgemeinen Handelsgesetzbuch“ daraufhin am 17. Dezember 1862 die Ah. Sanktion erteilte55.
In dieser Form sollte es im wesentlichen bis zum Untergang der Monarchie seine Gültigkeit behalten. Zwar setzten tiefgreifende Revisionsbestrebungen, die eine abermalige Angleichung an das 1897 neu erschienene Deutsche Handelsgesetzbuch zum Ziel hatten, noch während des Ersten Weltkrieges ein, gelangten jedoch begreiflicherweise vor dem Kriegsende nicht mehr zum Abschluß56.
c) Konkurs- und Ausgleichsverfahrensordnung
Neben der Kodifikation eines einheitlichen Handelsrechtes bestand eine von der Wirtschaftswelt an die Regierung herangetragene Hauptforderung in der Revision der erst 1859 erlassenen Ausgleichsverfahrensordnung, die angesichts der ab dem Krisenjahr 1857 gehäuft aufgetretenen Insolvenzfälle in aller Eile zustande gekommen war.
Bis dahin waren sämtliche Kridaverfahren im Konkursweg bestritten worden, wofür vorwiegend noch aus dem 18. Jahrhundert stammende Bestimmungen maßgebend waren57. Die gerichtlichen Konkursabhandlungen gestalteten sich in der Regel langwierig und im Resultat für die Gläubiger meist unbefriedigend. Schwerwiegender noch als dieser Übelstand wog aber der in der Praxis deshalb häufig geübte Brauch einer außergerichtlichen gütlichen Einigung. Zwar handelte es sich dabei gewissermaßen um eine Vorwegnahme des gesetzlich verankerten Ausgleichsverfahrens, doch standen die durch Ausschaltung der behördlichen Aufsicht || S. 24 PDF || auf diese Weise verursachten Schäden in keinem Verhältnis zu den Vorteilen, die der Ausgleich im Bedarfsfall gegenüber dem Konkurs bot. Diesem Umstand in Form einer gesetzlichen Regelung gerecht zu werden bildete wohl den Ausgangspunkt so mancher Reformansätze58, eine vorläufige Lösung stellte dann allerdings erst die Einführung des Gesetzes über das gerichtliche Ausgleichsverfahren zur Konkursvermeidung dar. Von vornherein ließen dessen offenkundige Mängel jedoch massive Kritik laut werden, woran auch eine ganze Reihe von Nachtragsverordnungen nichts zu ändern vermochte. Das Gesetz vom 18. Mai 1859 war und blieb ein lückenhaftes Flickwerk59.
Daraufhin sah sich das Justizministerium bereits im folgenden Jahr dazu veranlaßt, mit Vertretern der Handelskammern und des Advokatenstandes neuerliche Beratungen aufzunehmen, als deren Ergebnis Minister Pratobevera im Mai 1861 dem Kabinett eine Neufassung des Gesetzes über das Ausgleichsverfahren vorlegen konnte60. Am 1. Juni in den Reichsrat gelangt, erfuhr die Regierungsvorlage im Zuge der parlamentarischen Behandlung so tiefgreifende Änderungen, daß man im Ministerrat vom 24. September übereinkam, den Gesetzentwurf kurzerhand zurückzuziehen61. Den eigentlichen Stein des Anstoßes hatte die Weigerung des Reichsrates gebildet, dem § 35 des Regierungsentwurfs zuzustimmen, wonach die Gläubiger gezwungen waren, ihre Forderungen bei Gericht anzumelden. Zur Vermeidung unnötiger Konkurse beruhte nun aber das gesamte Gesetz gerade eben auf dem Prinzip, daß ein Schuldner, der sich einem Ausgleichsverfahren unterzieht, von sämtlichen Verbindlichkeiten gegenüber allen seinen Gläubigern frei werde. Jede Einschränkung in dieser Hinsicht mußte dem Verfahrensmodell des Ausgleichs automatisch seinen Sinn und Zweck entziehen, sodaß die Entscheidung der Regierung als durchaus folgerichtig betrachtet werden muß.
|| S. 25 PDF || Ein neuerlicher Vorstoß im Zusammenhang mit dem Ausgleichsverfahren erfolgte sodann ein Jahr darauf vom Abgeordnetenhaus in Form eines Aufhebungsantrages bezüglich des Gesetzes vom 18. Mai 1859 mitsamt seiner Nachfolgeverordnungen62. Davon sichtlich überrumpelt zog der Ministerrat am 8. Oktober 1862 diese Angelegenheit sogleich in Beratung. Allseits verärgert über die Vorgangsweise des Abgeordnetenhauses sahen sich die Konferenzteilnehmer zunächst bloß vor die Alternative gestellt, entweder der ersatzlosen Beseitigung der bestehenden Ausgleichsverfahrensordnung beizutreten oder aber die Gesetzesvorlage des vergangenen Jahres unverändert, d. h. unter Beibehaltung des im § 35 zum Ausdruck kommenden Prinzips, zu reaktivieren. Ersteres erachtete man vor allem als prinzipiell unvereinbar mit der Stellung der Regierung. Ebensowenig kam eine neuerliche Einbringung des Gesetzentwurfes in Frage, zumal dies aufgrund der parlamentarischen Geschäftsordnung in der laufenden Session ohnedies nicht mehr möglich gewesen wäre. Einen Kompromiß erblickte man dagegen in der Vorlage einer Novelle zum geltenden Gesetz. Für den Fall, daß sich der Reichsrat nicht bereit zeige, darauf einzugehen, beschloß die Regierung, der beantragten Aufhebung des Gesetzes einfach die kaiserliche Sanktion zu verweigern63.
In jenen Punkten, wo seinerzeit mit dem Reichsrat eine Einigung erzielt worden war, hielt man sich hierauf bei der Abfassung der Novelle weitgehend an den ursprünglichen Gesetzentwurf. Abweichend davon war etwa die Bestimmung, daß zur Annahme eines Ausgleichs nunmehr nicht nur die Zustimmung der Majorität der angemeldeten Forderungen dem Betrage nach, sondern auch der Beitritt der Gläubigermehrheit nach Individuen gemessen maßgeblich war. Dies sollte künftig einer mißbräuchlichen Anwendung des Gesetzes, wie sie häufig vorgekommen war, einen Riegel vorschieben. Hinsichtlich des umstrittenen § 35 kam die Regierung den Vorstellungen des Reichsrates jetzt insofern recht weit entgegen, als durch die Novelle auch den nicht angemeldeten Gläubigern die Möglichkeit eingeräumt wurde, unter gewissen Bedingungen nachträglich eine zumindest teilweise Befriedigung ihrer Forderungen zu erlangen. Angesichts dessen war man sich auf Regierungsseite darüber im klaren, wie Lasser im Ministerrat bekannte, „daß die neuen Bestimmungen in Beziehung auf größere Konsequenz etwas zu wünschen übrig lassen“. Um diesem Entwurf aber gerecht zu werden, „müsse man erwägen, daß er das Ergebnis eines Kompromisses entgegengesetzter Meinungen ist“64.
Erwartungsgemäß konnte die Gesetzesnovelle daraufhin zwar noch in der ersten Reichsratssession zum Abschluß gebracht werden65, doch besaß sie von vornherein || S. 26 PDF || wieder nur den Charakter eines Provisoriums, sodaß eine längerfristig befriedigende Lösung des Problems erst recht aufgeschoben war. Obwohl das Justizministerium gemäß einer Aufforderung des Abgeordnetenhauses unverweilt umfassende Reformarbeiten zur Konkurs- und Ausgleichsverfahrensordnung in Angriff nahm und auch bereits vor Jahresende 1862 mit einem konkreten Ergebnis aufwarten konnte, wurde nach mehrjähriger Verzögerung erst durch das entsprechende Gesetz vom 25. Dezember 1868 ein Schlußstrich unter dieses Kapitel gezogen66.
d) Gewerbegesetz und Gewerbegenossenschaftswesen
Im Zusammenhang mit der Wirtschaftsgesetzgebung der frühen 60er Jahre soll die wichtige, wenn auch vorläufig offen gebliebene Frage der Aufhebung des gewerblichen Genossenschaftszwanges nicht unerwähnt bleiben67. Nach der bereits an anderer Stelle als Höhepunkt liberaler Wirtschaftspolitik im Neoabsolutismus genannten Gewerbeordnung von 1859 war die Mitgliedschaft in einer gewerblichen Genossenschaft, wie die offizielle Bezeichnung für die Innungen in Österreich lautete, automatisch mit dem Antritt eines Gewerbes verbunden68. So sehr dieses Gesetz auf dem Prinzip weitgehender Gewerbefreiheit basierte69, lag dieser Bestimmung doch der Gedanke einer gewissen Ordnungs- und Kontrollfunktion zugrunde. Zudem hatte nur wenige Monate nach dem Inkrafttreten der Gewerbeordnung ein Ministerialerlaß vom 18. April 1860 für eine Einschränkung des individuellen Selbstbestimmungsrechtes der Gewerbetreibenden zugunsten einer staatlichen Einflußnahme gesorgt70. Während das Gewerbegesetz dessenungeachtet von den einen als Wegbereiter zügelloser Gewerbefreiheit abgelehnt wurde, witterten andere darin wiederum eine Neuauflage des ständischen Zunftwesens.
Es war somit nicht weiter überraschend, als der Abgeordnete und Delegierte der Brünner Handels- und Gewerbekammer, Alfred Skene, am 27. Juni 1861 im Abgeordnetenhaus die Forderung stellte, daß es den Gewerbetreibenden freistehen || S. 27 PDF || sollte, „innerhalb der gesetzlichen Schranken zur Beförderung gewerblicher, wohltätiger und gemeinnütziger Zwecke Genossenschaften zu bilden“, wozu er die Aufhebung der diesbezüglichen §§ 102—129 der Gewerbeordnung beantragte71. Seitens der Regierung gedachte man zunächst, keine Position zu beziehen und die Angelegenheit der freien Erörterung des Abgeordnetenhauses anheimzustellen72. Erst als dieses Anstalten machte, eine Revision des Gewerbegesetzes gemäß dem Antrag Skenes zu beschließen73, trat die Regierung für eine Beibehaltung des Genossenschaftszwanges ein. Inwieweit dafür der vom Kaiser im Ministerrat vom 7. März 1862 persönlich geäußerte Wunsch verantwortlich ist, daß wenigstens die Auflösung der bestehenden Genossenschaften zu verhindern wäre74, ist fraglich. Man darf jedoch annehmen, daß die Grundstimmung im Kabinett trotz seiner liberalen Ausrichtung bereits von Anfang an eher für den Genossenschaftszwang gesprochen hatte, wie das in den Beratungen des Ministerrates immer deutlicher zum Ausdruck kam75.
Bevor das Abgeordnetenhaus die revidierte Fassung des Gewerbegesetzes endgültig angenommen hatte76, war vom Handelsminister Graf Wickenburg noch die Erklärung abgegeben worden, daß die Regierung mit dieser Vorgangsweise nicht einverstanden sei und daß diese Angelegenheit vielmehr noch den Gegenstand eingehender Absprachen und reiflicher Erwägungen zu bilden habe, wofür man sich freie Hand zu behalten gedenke77. Dieser Meinung schloß sich erwartungsgemäß auch die konservative Mehrheit des Herrenhauses an78.
Die nun bei den Handelskammern in Auftrag gegebenen Gutachten dienten vorrangig dazu, den Gang der Verhandlungen zu verzögern. Obwohl man sich im Ministerrat darüber einig war, daß eine zwangsweise Bildung von Genossenschaften für die Zukunft kaum aufrechtzuerhalten sein werde, entschied man sich für eine „tunliche Hinausschiebung“ der Frage, „weil man es oft erlebt habe“, wie Schmerling begründete, „daß Dingen, die eingeschlafen sind, durch die Prolongation eine ganz andere Seite abgewonnen werde“79. In der Tat gelangte der Gegenstand || S. 28 PDF || in diesem Jahr nicht mehr in den Reichsrat80. Die Verschleppungstaktik war indessen so erfolgreich, daß in dieser Angelegenheit auch während der folgenden Jahre nichts geschah, bis die Regierung 1868 selbst eine auf der Beseitigung der Zwangsgenossenschaften fußende neue Gewerbeordnung ankündigte. Das jähe Ende der liberalen Ära brachte den Reformvorstoß dann abermals zum Erliegen, sodaß die Gewerbeordnung schließlich erst 1883 eine Novellierung erfahren hat81.
Anders als in der Wirtschaftsgesetzgebung stellte die Umgestaltung Österreichs zum Verfassungsstaat am Beginn der 60er Jahre eine deutliche Zäsur im Bereich der politischen Rechtsentwicklung dar. Die geänderten staatsrechtlichen Verhältnisse erforderten eine analoge Liberalisierung in den privaten Lebensräumen der Menschen, welche ihrerseits erst auf diese Weise den Wandel vom Untertan zum Staatsbürger vollziehen konnten. In weit höherem Maß noch als in bezug auf die staatsrechtliche Seite hat man dies als langsamen, wie in Ausschnitten zu zeigen sein wird, oft mit Rückschlägen verbundenen Prozeß zu begreifen, der sein Ziel vielfach erst mit der verfassungsmäßigen Verankerung der allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Jahr 1867 erreichte. Das Pressegesetz und die Strafrechtsnovelle sowie die Gesetze zum Schutz der persönlichen Freiheit, des Hausrechts und des Brief- und Schriftengeheimnisses sind Stationen auf diesem Entwicklungsweg.
e) Das Pressegesetz
Die Aufhebung der Zensur und die Gewährung weitgehender Pressefreiheit im Zuge der Revolution 1848 hatten dem Zeitungswesen in Österreich bekanntlich eine ungeahnte Entfaltung beschert, die dann mit der Wiedereinführung des Absolutismus allerdings bald ein jähes Ende fand82. Die von einem dichten Netz von Präventivbestimmungen durchzogene Strafgesetzordnung von 185283 bedeutete faktisch eine Rückkehr zum vormärzlichen Zensursystem. Verstöße dagegen wurden nach der ein Jahr darauf erlassenen Strafprozeßordnung behandelt84, || S. 29 PDF || die das alte Muster des Inquisitionsprozesses wieder an die Stelle der Schwurgerichtsbarkeit hatte treten lassen, wobei letztere geradezu eine klassische Forderung liberaler Politik darstellte. Infolge dieser Repressivmaßnahmen führte das Pressewesen während der nächsten Jahre erneut ein Schattendasein unter der drückenden Aufsicht der polizeilichen Verwaltungsbehörden.
Angesichts der Bedeutung, die einer freien Presse spätestens seit den Märztagen 1848 für die Entwicklung eines rechtsstaatlich-konstitutionellen Systems beigemessen wurde, erscheint es nur zu verständlich, daß man unmittelbar nach der Gewährung der Verfassung an die Ausarbeitung eines neuen Pressegesetzes schritt.
Damit wurde im März 1861 der Jurist Dr. Georg Lienbacher beauftragt. Obwohl er als Staatsanwalt gerade für die verfahrensrechtlichen Aspekte prädestiniert gewesen wäre, wurde für den Entwurf einer entsprechenden Strafgesetznovelle der Universitätsprofessor Dr. Julius Glaser beigezogen85. Während sich die Regierungsfassung bezüglich des Pressegesetzes weitgehend an den bereits im August fertiggestellten Entwurf Lienbachers hielt, ergaben sich in bezug auf die Strafgesetznovelle von vornherein erhebliche Schwierigkeiten, sodaß hinsichtlich der Einbringung im Reichsrat eine mehrmonatige Verzögerung eintrat86. Durch den daraufhin am 2. Oktober 1861 vom Abgeordnetenhaus gefällten Beschluß, nun selbst mit einem entsprechenden Gesetzentwurf initiativ zu werden87, geriet die Regierung unter Zugzwang. Leicht alarmiert beschloß der Ministerrat noch am selben Tag, den gegenwärtigen Regierungsentwurf unverzüglich beim Abgeordnetenhaus einzubringen, damit er „vor oder doch gleichzeitig mit dessen eigenem Entwurfe“ in Beratung genommen werden könne88. Dies geschah zwei Tage später mit dem vielversprechenden Hinweis, daß bei dem vorliegenden Gesetz „von allen Präventivmaßregeln“, wie man die Zensur im juristischen Sprachgebrauch zu nennen pflegte, „ausnahmslos Umgang genommen wurde und nur das System der Repressivmaßregeln an demselben durchgeführt [worden] ist“89.
Tatsächlich bewertete der zuständige Ausschuß die Regierungsvorlage als „im Ganzen wohlgeordnet und erschöpfend“, sodaß er von einem eigenen Entwurf absah90.
|| S. 30 PDF || Folgenschwer war dagegen die Entscheidung, den verfahrensrechtlichen Teil, dem sich der vierte Abschnitt der Regierungsfassung widmete, auszuklammern und in einem eigenen Gesetz über das „Strafverfahren in Preßsachen“ zu regeln. Dementsprechend wurde dafür auch ein separater Ausschuß neben jenem für das Pressegesetz (Abschnitt 1—3 des Regierungsentwurfs) nominiert91. Als das solchermaßen vom Abgeordnetenhaus gespaltene Pressegesetz sodann zum Beginn des Jahres 1862 an die zuständige Kommission des Herrenhauses gelangte, erklärte diese, zunächst noch ohne auf die näheren Details einzugehen, daß dessen Annahme prinzipiell erst dann erfolgen könne, wenn auch bezüglich des Verfahrens in Preßsachen und der damit eng verbundenen Strafgesetznovelle eine Vereinbarung getroffen sein wird92. Die Zustimmung zu einem Gesetz vom Zustandekommen eines anderen abhängig zu machen, erschien wiederum dem Abgeordnetenhaus verfassungswidrig zu sein, worauf es sich beharrlich weigerte, seinerseits weiter auf das Pressegesetz einzugehen93. Daran vermochte vorderhand auch das Argument nichts zu ändern, daß der ursprüngliche Regierungsentwurf sinnvollerweise eben eine Einheit gebildet hätte und die Teilung in zwei formal voneinander unabhängige Gesetze ja erst auf eigenes Bestreben hin erfolgt wäre. Somit war die Angelegenheit im Frühjahr 1862 so weit in verfahrensrechtlichen Auseinandersetzungen festgefahren, daß es zunächst nicht den Anschein hatte, als ob das Pressegesetz noch in der ersten Reichsratssession zu einem Abschluß gelangen könnte. Erstaunlicherweise befaßte sich der Ministerrat in der ersten Jahreshälfte 1862 kein einziges Mal mit dieser Situation94.
Endlich entschied sich das Herrenhaus Mitte Juli mit einer formellen Rücknahme seines Ausschußantrages für ein Einlenken95. Zur Bereinigung der Differenzen wurde eine gemischte Kommission aus jeweils sechs Mitgliedern der beiden Häuser gebildet, wobei das Abgeordnetenhaus demonstrativ je drei Abgeordnete aus den für das Pressegesetz und die Strafgesetznovelle bestehenden Ausschüssen entsandte96, um damit seinen Standpunkt zu unterstreichen. In diesem Gremium konnte letztendlich eine Einigung erzielt werden, sodaß das Abgeordnetenhaus schließlich am 22. Oktober das Pressegesetz, das Gesetz über das Verfahren in Pressesachen und die Strafgesetznovelle annahm97.
Eine heftige Debatte, an der das Gesetzeswerk unmittelbar vor seinem Abschluß erneut fast gescheitert wäre, hatte es allerdings in bezug auf den Artikel V der Strafgesetznovelle || S. 31 PDF || gegeben, in welchem das Bestreben der Regierung zum Ausdruck kam, Ehrenbeleidigungen gegen Reichsratsmitglieder, Beamte, öffentliche Funktionäre und Seelsorger nicht als Privatdelikte, sondern von Amts wegen als „Vergehen gegen die öffentliche Ordnung“ verfolgt zu wissen. Dieses an sich relativ unbedeutende, vom Abgeordnetenhaus jedoch enorm hochgespielte Problem war auch die Ursache dafür, daß sich der Ministerrat veranlaßt gesehen hatte, das Pressegesetz und die Strafgesetznovelle nach einem halben Jahr wieder auf sein Tagesordnungsprogramm zu setzen98. Namentlich in der Beratung vom 15. Oktober war des langen und breiten über den Artikel V die Rede, wobei es hauptsächlich darum ging, durch welche Konzessionen man „ein Geschäft“ mit dem Abgeordnetenhaus machen könnte, ohne den prinzipiellen Regierungsstandpunkt aufgeben zu müssen99. Verzichten wollte man in diesem Zusammenhang bloß auf den Schutz der Amtsdiener vor Ehrenbeleidigungen, da die Regierung seinerzeit bei der Wahl des Ausdrucks „öffentliche Funktionäre“ ohnedies nicht an diese gedacht hatte. Festzuhalten beschloß man dagegen an dem Grundsatz, daß es den Beleidigten nicht freistehen sollte, während eines gerichtlichen Verfahrens von ihrer Klage zurückzutreten, da dies mögliche Bestechungsversuche nach sich ziehen könnte. Außerdem würden die Klagen ja im öffentlichen Interesse geführt werden, wie man bei früherer Gelegenheit im Ministerrat übereingekommen war100.
Obwohl man später auf Regierungsseite der Meinung war, im Zusammenhang mit dem Pressegesetz äußerst konzessionsbereit gewesen zu sein101, wurde eine Äußerung Schmerlings am Schluß der Debatte geradezu sprichwörtlich für die unnachgiebige Haltung der Regierung gegenüber dem Abgeordnetenhaus: Wenn der Artikel V vom Hause nicht angenommen wird: „Wir können warten!“102
Nach dem zeitgenössischen Urteil Lienbachers war es in erster Linie dem vermittelnden und mäßigenden Einfluß des Abgeordneten Dr. Eugen v. Mühlfeld zu verdanken, daß die Gesetze zu guter Letzt doch noch zustande kamen103, während etwa Dr. Eduard Herbst dem Begehren der Zeitungen, das Parlament möge im Interesse der Pressefreiheit Besonnenheit und Nachgiebigkeit zeigen, entgegnete, „daß es der Würde der Presse nicht entspreche, wie ein Bettler an die Schwelle des Abgeordnetenhauses zu treten und zu sagen: habt Mitleid mit uns, schaut, daß wir das Preßgesetz bekommen und laßt dann alle anderen Rücksichten aus dem Auge“104. Einen Tag nach dem Abgeordnetenhaus nahm auch das während des ganzen langwierigen Verfahrens auf Seite der Regierung stehende Herrenhaus die Gesetze || S. 32 PDF || an105. Als die Materie am 31. Oktober ein letztes Mal als Beratungsgegenstand im Ministerrat war, beschloß man, mit der Ah. Sanktionierung hingegen so lange zu warten, bis einige wichtige, allerdings in völlig anderem Kontext stehende Finanzfragen vom Abgeordnetenhaus positiv erledigt wären, was am 17. Dezember 1862 schließlich der Fall war106. Der Versuch, das Pressegesetz solchermaßen zu einem Druckmittel umzufunktionieren, wirft freilich ein bezeichnendes Licht auf das konstitutionelle Verständnis dieser Regierung.
Ungeteilten Beifall fanden die neuen Regelungen des Pressewesens, welche am 9. März 1863 in Kraft traten, indessen nicht. „Halb auf Prävention, halb auf Repression in wunderlicher Verquickung gebaut“107, wie ein Zeitgenosse kritisch bemerkte, war das Pressegesetz in mehreren Punkten unbefriedigend108: Zu nennen ist hier etwa das unbedingte Kolportageverbot, das den Vertrieb von periodischen Druckschriften auf offener Straße und durch Hausieren untersagte. Als besonders /?/drükkend wurde die Beibehaltung des sogenannten „objektiven Verfahrens“ empfunden, welches den Behörden nach wie vor ermöglichte, Pressedelikte lediglich nach dem Inhalt, ohne Anhörung der Betroffenen und unter Ausschluß der Öffentlichkeit durch einen Senat von Berufsrichtern behandeln zu lassen. Ziemlich subjektiv interpretierbar waren ferner die Möglichkeiten der Regierung, die Pressefreiheit gegebenenfalls aufzuheben. Andererseits zur Gänze weggefallen war das berüchtigte Konzessions- und Verwarnungssystem, das einen Hauptbestandteil des staatlichen Zensurwesens gebildet hatte. Die früher auf alle Zeitungsherausgeber entfallende Kautionspflicht blieb nur mehr infolge einer rechtskräftigen Verurteilung aufrecht. Die wahre Bedeutung der Presseordnung von 1862 im Rahmen der rechtsstaatlichen Entwicklung bestand aber zweifellos in der Tatsache, daß das Pressewesen der direkten Macht- und Einflußsphäre der politischen Verwaltungsbehörden zugunsten der Zuständigkeit unabhängiger Gerichte entzogen war.
In weiterer Folge machte das in Artikel 13 des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 verankerte Grundrecht auf freie Meinungsäußerung109 das vorliegende Pressegesetz faktisch gegenstandslos.
f) Das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit und des Hausrechts
Ähnlich verhielt es sich mit den gewissermaßen als Einheit zu betrachtenden Gesetzen zum Schutz der persönlichen Freiheit, des Hausrechts und — wiewohl zunächst zwar gescheitert — des Brief- und Schriftengeheimnisses. Am Beginn des || S. 33 PDF || Verfassungslebens im Jahr 1862 zustande gekommen, fanden ihre Bestimmungen erst 1867 Eingang in den Katalog über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger.
Im Abgeordnetenhaus standen das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit ab dem 20. November, jenes zum Schutz des Hausrechts ab dem 27. November 1861 zur Debatte110. Ohne grundsätzliche Einwände gegen die beiden geplanten Gesetze hatte der Ministerrat zuvor über die Textierung einzelner Paragraphen beraten, wobei namentlich die jeweils im § 1 gewählte Formulierung „... ist gegen Übergriffe der öffentlichen Gewalt unter den Schutz des Gesetzes gestellt“ als beleidigend für die Regierung zurückgewiesen wurde. Außerdem wünschten die Konferenzteilnehmer gewisse Beschränkungen der hinfort gesetzlich zugestandenen Freiheiten für Militärpersonen und in Finanzangelegenheiten111. Nachdem die Gesetzentwürfe im Zuge der parlamentarischen Behandlung mehrmals zwischen den beiden Häusern des Reichsrats hin und her gegangen waren, wurden sie schließlich am 17. Juli 1862 vom Abgeordnetenhaus in einer vom Herrenhaus leicht modifizierten Form verabschiedet112 und im Ministerrat vom 18. September zu Ah. Vorlage bestimmt, wobei sich eine Diskussion bloß darüber ergab, welche Ministerien von dem neuen Gesetz direkt betroffen waren113. Am 27. Oktober 1862 erhielten dann beide die kaiserliche Sanktion114.
Gemeinsam stellten sie einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg von der absolutistischen Vergangenheit zum modernen Rechtsstaat dar. So wie beim Pressegesetz liegt die tiefere Bedeutung der Gesetze zum Schutz der persönlichen Freiheit und des Hausrechts in der vom Grundsatz her verwirklichten Idee der Gewaltenteilung115.
g) Das Gesetz zum Schutz des Brief- und Schriftengeheimnisses
Weniger problemlos gestaltete sich der parlamentarische Werdegang des Gesetzes zum Schutz des Brief- und Schriftengeheimnisses bis zu seinem letztlichen Scheitern || S. 34 PDF || im Herbst 1862. Etwa gleichzeitig mit den beiden vorangegangenen Gesetzen war es ein Jahr zuvor vom Reichsrat in Beratung genommen worden116. Aus diesem Anlaß hatte Kaiser Franz Joseph schon vorher im Ministerrat erklärt, daß eine Annahme dieses Gesetzes durch den Reichsrat bedenklich wäre, „indem vorauszusehen ist, daß das Wohl des Staates noch in vielen Fällen die Eröffnung von Briefen gebieterisch erheischen wird und Se. Majestät ein Gesetz nicht Ah. sanktionieren könnten, welches von den Regierungsorganen notwendigerweise übertreten werden müßte“117. Dieselbe Stimmung herrschte im Kabinett, wo man sich im Falle einer gesetzlichen Verankerung des Briefgeheimnisses eines wichtigen Überwachungsmittels beraubt sah. Selbst wenn sich nachher noch Beamte zum Öffnen der Post fänden, befürchtete man, daß diese die Staatsführung kompromittieren könnten118.
Verständlicherweise konzentrierten sich daher die Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Herrenhaus einerseits und dem Abgeordnetenhaus andererseits um die Frage, welche Ausnahmefälle im Gesetz statuiert werden sollten. Während der Regierung gemäß dem Beschluß des Herrenhauses eine Handhabe zur Brieföffnung „in Fällen drohender Gefahr eines Krieges oder innerer Unruhen“ (§ 2) eingeräumt wurde119, wollte das Abgeordnetenhaus eine Suspensionsmöglichkeit nur „im Falle eines wirklich ausgebrochenen oder unmittelbar bevorstehenden Krieges, sowie im Falle innerer Unruhen“ bewilligt wissen120. Bei der Festlegung der Regierungsposition im Ministerrat vom 22. Juli 1862 war man sich naturgemäß einig, auf der weiter gefaßten Version des Herrenhauses zu beharren121, deren Anwendung im Bedarfsfall eine reine Frage der Auslegung war, wodurch die Regierung weitgehenden Spielraum genossen hätte.
Mittlerweile waren die Fronten zwischen den beiden Häusern des Reichsrats so weit verhärtet, daß trotz reger parlamentarischer Tätigkeit in der laufenden Session keine Einigung mehr erzielt werden konnte122. Wie sooft bedeutete dies einen von der Regierung in solchen Fällen gern || S. 35 PDF || gesehenen Aufschub auf Jahre, sodaß ein eigenes Gesetz zum Schutz des Brief- und Schriftengeheimnisses schließlich erst 1870 zustande kam123.
Der Deutsche Zollverein - Retrodigitalisat (PDF)
Im Jahre 1862 war die Frage eines Beitritts Österreichs zum Deutschen Zollverein in ein entscheidendes Stadium getreten124. Entsprechend den Bestimmungen des Zoll- und Handelsvertrages vom 19. Februar 1853 hatte Österreich 1859 Anspruch auf die Aufnahme konkreter Verhandlungen über eine Zolleinigung mit den deutschen Staaten erhoben125. Eine tarifpolitische Öffnung der Monarchie und eine engere Verflechtung mit dem Zollverein war bereits ein Hauptanliegen des Freiherrn v. Bruck gewesen, dessen letztendlich zum Scheitern verurteilte Handelspolitik im Neoabsolutismus damit einen wesentlichen Bestandteil der allgemein von Schwarzenberg verfolgten Konzeption eines Großösterreich als Führungsmacht im Deutschen Bund bildete. Dieser Anspruch stand jedoch in krassem Gegensatz zu den tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten. Während Deutschland, und hier namentlich die zum Königreich Preußen zählenden Gebiete seit den 50er Jahren, von einem ungeheuren Wirtschaftsaufschwung erfaßt worden waren, hatte Österreich dagegen mit dieser Entwicklung in keiner Weise Schritt zu halten vermocht126. Die Schuld daran trugen neben den natürlichen Defekten der österreichischen Wirtschaft — Rohstoffmangel, ungünstige Verkehrslage und weitgehendes Fehlen natürlicher Wasserstraßen — vor allem auch die aus einer unvollständigen Überwindung des Feudalwesens „historisch gewordenen Defekte“ — geringe Kaufkraft des österreichischen Marktes, ständige Wechselkursschwankungen und mangelnde Industrialisierung127. Nach dem Krieg mit Italien und der dadurch weiter beschleunigten wirtschaftlichen Talfahrt, auf der sich die Donaumonarchie seit dem Krisenjahr 1857 befand, waren die Voraussetzungen für eine Annäherung Österreichs an den Zollverein schlechter denn je. Dies entsprach wiederum völlig || S. 36 PDF || den politisch-kleindeutschen Intentionen Berlins, das keine Gelegenheit versäumte, Österreich aus dem Deutschen Bund zu verdrängen. Dieselbe Haltung hatte es ja bereits im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte des Deutschen Handelsgesetzbuches eingenommen.
Während also zu Beginn der 60er Jahre die politische Entscheidung im Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland noch ausständig war, hatte Preußen auf wirtschaftlichem Gebiet längst den Sieg davongetragen. Für die österreichische Regierung, die auch nach der Abkehr vom Absolutismus und dem tragischen Tod Brucks an dessen handelspolitischer Ausrichtung festhielt, gesellten sich zu den Schwierigkeiten von außen auch noch Probleme im Inneren dazu. Diese bestanden in der traditionell schutzzöllnerischen Haltung großer Teile der österreichischen Unternehmerschaft, die „ein beschauliches Dasein hinter den chinesischen Mauern des österreichischen Zolltarifs“, wie das ein namhafter Wirtschaftshistoriker treffend ausgedrückt hat128, dem Konkurrenzkampf auf dem westeuropäischen Freihandelsmarkt vorzogen. Zu allem Überfluß hatte die Misere der vergangenen Jahre das ihre dazu beigetragen, das Selbstvertrauen der österreichischen Wirtschaft weiter schrumpfen und das fatale Sicherheitsdenken nachhaltig die Oberhand gewinnen zu lassen.
Den Auftakt zur westeuropäischen Freihandelspolitik hatte der Anfang 1860 zwischen England und Frankreich abgeschlossene Cobdenvertrag gebildet. Unmittelbar darauf war Frankreich mit dem Angebot eines ähnlichen Handelsabkommens an Preußen herangetreten, welches natürlich nicht zögerte, die Chance auf einen handelspolitischen Anschluß an Westeuropa mit einem entscheidenden Schlag gegen Österreich verbinden zu können. Zügig vorangetriebene Geheimverhandlungen mündeten somit am 29. März 1862 in den Abschluß eines gemeinsamen Handelsvertrages. Später zu Recht als „handelspolitisches Königgrätz“129bezeichnet, drohte dieser Vertrag Österreich in eine wirtschaftliche Isolation zu treiben. Unmittelbare Folgen für den Exporthandel befürchtete man durch das Wegfallen der Österreich seinerzeit vertraglich eingeräumten Meistbegünstigung im Verkehr mit dem Zollverein130.
Vor ein Fait accompli gestellt sah man sich indessen nicht nur in Wien, sondern auch in den deutschen Zollvereinsstaaten. Obwohl für letztere ein Eintritt in das Abkommen mit Frankreich ausdrücklich vorgesehen war, stieß das eigenmächtige Vorgehen Preußens vor allem bei den Regierungen der deutschen Mittelstaaten auf Empörung und Ablehnung. Zu den solchermaßen mit Österreich Verbündeten zählten namentlich Bayern, Württemberg und Hessen-Darmstadt sowie bedingt auch Kurhessen, Hannover, Nassau, Braunschweig und Frankfurt, während die norddeutschen Staaten und in erster Linie das wirtschaftlich bedeutende Sachsen auf die Seite Preußens getreten waren. Diese Situation bildete den Ausgangspunkt einer ganzen Reihe || S. 37 PDF || von Anstrengungen und Versuchen, die von seiten Österreichs im Laufe des Jahres 1862 unternommen wurden, um ein geschlossenes Einschwenken Deutschlands auf den vom preußischen Widersacher eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Weg in den Westen zu verhindern.
Nachdem sich die Kunde vom Abschluß eines französisch-preußischen Handelsvertrages in Österreich wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, nahm der Ministerrat vom 11. April 1862 eine Note aus Berlin, worin der österreichischen Regierung das Abkommen mit Frankreich äußerst geschickt darzulegen versucht wurde131, erstmals zum Anlaß, um die Frage aufzuwerfen, ob man den Anschluß an den Zollverein weiterverfolgen solle oder nicht bzw. ob der Februarvertrag 1853 einfach verlängert, modifiziert oder ganz aufgegeben werden solle. Die Konferenzteilnehmer — mit der Materie sichtlich wenig vertraut — beschlossen, zunächst das Beratungsergebnis der ministeriellen Zollkommission abzuwarten132. Angesichts der Tatsache, daß man in Wien bereits spätestens seit dem Sommer 1860 von Verhandlungen zwischen Frankreich und Preußen unterrichtet war133, erscheint die zunächst unvorbereitete Haltung der Regierung hingegen nahezu unverständlich. Am 18. April fand die entscheidende Sitzung der Ministerialkommission unter dem Vorsitz des Zollexperten und Sektionschefs im Finanzministerium, Carl Freiherr v. Hock, statt134. Dabei wurde ein Eintritt Österreichs in den Zollverein grundsätzlich von der Bedingung abhängig gemacht, daß der französisch-preußische Handelsvertrag von demselben nicht zur Annahme gelange. Andernfalls sei von einem Beitritt unbedingt abzuraten, da die durch jenen Vertrag vorgezeichneten und zur Annahme in den allgemeinen vereinsländischen Tarif bestimmten Zollsätze, welche somit auch für Österreich im Falle seines Anschlusses an den Zollverein verbindlich wären, gleichermaßen verderbliche Konsequenzen für die Industrie wie für die Finanzen besäßen und das gesamte österreichische Zollsystem in eine bedrohliche Abhängigkeit von Frankreich bringen würden; dasselbe galt natürlich auch für die Frage einer Fortsetzung des Februarvertrages 1853.
Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse widmete sich der Ministerrat vom 23. April sodann der von Österreich künftig zu verfolgenden Strategie, wonach es eine Einigung mit möglichst vielen Zollvereinsstaaten anzustreben gelte, die ihrerseits dazu || S. 38 PDF || gebracht werden müßten, dem Handelsvertrag fernzubleiben. Daran, so meinte man, ließe sich auch die Hoffnung auf ein Nachgeben Preußens knüpfen. Eine Separatlösung mit den beiden verläßlichsten Partnern im Kampf gegen Preußen, Bayern und Württemberg, schien allenfalls dann aussichtsreich, wenn zumindestens die beiden Hessen und Nassau dem Zollverein entrissen werden könnten. Konkret dazu ersuchte Außenminister Rechberg um die Zustimmung des Ministerrates, den Zollvereinsstaaten eine Zolleinigung mit Österreich in Aussicht stellen und ihnen zugleich versichern zu dürfen, daß niemandem ein materieller Nachteil aus einem Anschluß an Österreich erwachse. Einwände dagegen erhob naturgemäß der Finanzminister, der zu bedenken gab, daß die Ausmaße der damit unter Umständen für das Ärar verbundenen finanziellen Aufwendungen zur Zeit noch gar nicht abschätzbar seien und zudem auch einer parlamentarischen Bewilligung bedürften. Man könne sich daher „höchstens im allgemeinen über die Geneigtheit der Regierung zur Behandlung der Angelegenheit [in] der vom Herrn Minister des Äußern angedeuteten Weise aussprechen“. Vor größeren, sprich konkreten Zusagen hätte man sich dagegen zu hüten. Nachdem Rechberg die übrigen Konferenzteilnehmer dahingehend beschwichtigt hatte, daß es sich ja nicht um eine „förmliche Garantie“, sondern bloß um eine „Verheißung“ handle und Schmerling dann vor allem noch auf die politischen Dimensionen der Angelegenheit verwies, schloß sich der Ministerrat einstimmig dem Antrag des Außenministers an135.
Am 10. Juli 1862 erging daraufhin an sämtliche deutsche Regierungen ein Rundschreiben, das einen Präliminarvertrag über eine Zolleinigung zwischen Österreich und dem Zollverein enthielt, zu dessen Ausarbeitung Freiherr v. Hock bestimmt worden war136. Demnach war gewissermaßen als Konkurrenzunternehmen zum französisch-preußischen Handelsvertrag ab dem 1. Jänner 1865 im Anschluß an das Auslaufen des bestehenden Zollvertrages eine gemeinsame österreichisch-deutsche Zollunion auf der Basis einer Teilung der Zolleinnahmen vorgesehen. Die Details sollten kommissionellen Beratungen untereinander vorbehalten bleiben. Preußen, das im Sinne eines letzten Ausgleichsversuchs von Wien ebenfalls zur Teilnahme aufgefordert worden war, erklärte, die österreichischen Vorschläge mit seinen vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Frankreich nicht vereinbaren zu können, worauf es sein Handelsabkommen mit dem westlichen Nachbarn am 2. August 1862 endgültig unterzeichnete. Unterdessen hatte schon eine ganze Reihe hauptsächlich norddeutscher Staaten in Berlin die Absicht deponiert, diesem ebenfalls beitreten zu wollen. Die von Österreich im Gegenzug dazu tatkräftig forcierte Alternative eines eigenen mitteleuropäischen Zollbündnisses schien dagegen wenig attraktiv zu sein, wie die zurückhaltenden Reaktionen aus Deutschland zeigten. Ein gewisses Maß an Optimismus ließ allenfalls die ungebrochene Haltung Bayerns zu.
|| S. 39 PDF || Eine vorübergehende Entlastung ihrer Politik erfuhr die österreichische Regierung hingegen im Inland. Selbst in den zur erbittertsten Gegnerschaft einer Zollunion mit Deutschland zählenden österreichischen Unternehmerkreisen hatte der handelspolitische Schachzug Preußens mittlerweile lebhafte Beunruhigung hervorgerufen. Die Interessen des Unternehmertums waren wiederum durch die ansonsten regierungstreuen Zentralisten („Regierungspartei“) mehrheitlich im Abgeordnetenhaus vertreten, welches somit erfahrungsgemäß gegen einen Anschluß Österreichs an den Zollverein eingestellt war. Als nun am 2. Mai 1862 aus den Reihen dieses Hauses eine besorgte parlamentarische Anfrage an den Außenminister gerichtet wurde, was man angesichts des jüngst zustandegekommenen Handelsvertrages zwischen Frankreich und Preußen zu unternehmen gedenke, bot dies der Regierung willkommene Gelegenheit, ihrer Genugtuung über den Gesinnungswandel der Industriellen Ausdruck zu verleihen137. Bestätigt wurde dieser Eindruck durch die wenige Tage zuvor erfolgte Konstituierung eines „Vereins der österreichischen Industriellen“, der Vertreter nach Süddeutschland entsandte, um im Sinne der Regierung die Ressentiments gegen das französisch-preußische Handelsabkommen wachzuhalten und die Möglichkeiten eines eigenen mitteldeutschen Zollvereins zu erörtern138. Zugleich traf man im Ministerrat vom 6. Mai die Entscheidung, alle diesbezüglichen von der Regierung unternommenen Schritte so weit als möglich zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelangen zu lassen, wovon man sich eine Kalmierung im Inneren als auch eine Stärkung der eigenen Position im deutschen Ausland versprach139.
Alle Hoffnungen konzentrierten sich in der Folge auf die für Oktober nach München einberufene Generalversammlung des Zollvereins im Rahmen des zweiten Deutschen Handelstages. Die aktive Teilnahme einer österreichischen Regierungsdelegation war dort zwar nicht vorgesehen, sehr wohl war man aber an einer massiven Beteiligung aus dem großdeutschen Lager interessiert. Zur Einstimmung auf dieses mit Spannung erwartete Ereignis dürfte Schmerling offensichtlich eine zweite Interpellation des Reichsrates lanciert haben, worin auf das vertraglich festgelegte Anrecht Österreichs hingewiesen wurde, sich mit dem Zollverein zu einem handelspolitischen Ganzen zu verbinden. Dies, so hieß es weiter, hätte segensreiche Folgen für beide Seiten; für das Zustandekommen einer Einigung müßten allerdings auch Opfer gebracht werden. Abgesehen von einigen Alibifragen an das Gesamtministerium, die im Anschluß daran folgten, besaß diese Interpellation tatsächlich eher den Charakter einer Regierungserklärung140. Wie geschickt diese || S. 40 PDF || Manipulation geplant worden war, beweist die überraschend positive Aufnahme, die der Beantwortung durch Rechberg im Reichsrat zuteil wurde. Demnach verkündete der Außenminister die Bereitschaft der Regierung, nach Ablauf der gegenwärtigen Zollvertragsperiode in den Zollverein einzutreten, wovon die betroffenen Staaten auch schon in Kenntnis gesetzt worden wären. Von der Mitteilung, daß diese bereits konkrete Vertragsentwürfe aus Wien erhalten hätten, hatte man sich kurz zuvor im Ministerrat vom 9. Juli zu Recht einen besonders günstigen Eindruck versprochen. Erneut benützte man natürlich die Gelegenheit, um die neugewonnene „vom Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit“ geleitete Einsicht der österreichischen Industriellen hervorzuheben141.
Umso bitterer war dann angesichts dieser Vorschußlorbeeren die Enttäuschung über das Ergebnis der vom 9. bis 11. Oktober unmittelbar vor der Eröffnung des Deutschen Handelstages abgehaltenen Generalversammlung des „Vereins der österreichischen Industriellen“. Offenbar aus plötzlicher Angst vor der eigenen Courage hatte sich eine knappe Mehrheit der Delegierten wieder hinter den schützenden Wall des wirtschaftlichen Protektionismus verschanzt und sich infolgedessen gegen eine Zolleinigung Österreichs mit dem Zollverein ausgesprochen142. Zugleich sorgte der Verein für eine dementsprechende publizistische Propaganda, womit sich der Ministerrat vom 15. Oktober 1862 auseinanderzusetzen hatte. Eine halbwegs erfolgversprechende Gegenmaßnahme in dieser Hinsicht erblickte man darin, selbst eine Artikelserie für den Anschluß Österreichs an den Zollverein in der regierungsnahen Presse erscheinen zu lassen, wogegen die Konferenzteilnehmer eine weitere „prorogierte“ Interpellation des Reichsrates als nur wenig sinnvoll erachteten. Auch die Feststellung, daß die Opposition immer nur von den Textilfabrikanten und „den stets unzufriedenen und stets mit den Lieferungen zurückbleibenden großen Eisenindustriellen“ ausgehe, änderte nichts an der grundsätzlichen Situation143.
Erst recht enttäuschend waren sodann die Beschlüsse des Münchner Handelstages144, nachdem das Verhalten der österreichischen Industriellen allen Beteiligten gerade wieder einmal demonstrativ die innere Zerrissenheit der Donaumonarchie vor Augen geführt hatte. So sollte der umstrittene französisch-preußische Handelsvertrag zwar in einigen Punkten abgeändert, prinzipiell jedoch nicht in Frage gestellt werden, weshalb den Zollvereinsstaaten laut Mehrheitsbeschluß auch ein rasches Nachziehen in der von Preußen angebahnten Vertragspolitik nahegelegt wurde. Das Problem einer österreichischen Beteiligung hatte Preußen || S. 41 PDF || hingegen geschickt aus den Verhandlungen auszuklammern verstanden; darüber sollte zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen einer eigenen Konferenz entschieden werden, wodurch für das erste wieder — ganz im kleindeutschen Sinn — ein klarer Trennungsstrich zwischen Österreich und dem Rest des Deutschen Bundes gezogen worden war. Auf jeden Fall hatte Preußen in München vorerst alles erreicht, was es realistischerweise erwarten durfte. In Anbetracht ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit von Preußen hatten vor allem die Regierungen der kleineren mittel- und norddeutschen Staaten eingesehen, daß sie sich auf Dauer dem neuen handelspolitischen Kurs nicht entziehen konnten, selbst wenn die politischen Bedenken gegen das Diktat Berlins auch noch präsent waren und mancherorts Unbehagen hinsichtlich der eigenen Souveränität hervorriefen. Hinzu kam die Einsicht, daß ein Anschluß an das westeuropäische Freihandelssystem in der öffentlichen Meinung Deutschlands und in weiten Kreisen der Industrie und Wirtschaft auf breite Zustimmung stieß145.
Nach wie vor ungebrochen war indessen nur der Widerstand Bayerns, woran sich nun alle Hoffnungen Österreichs klammerten, doch noch zu einer befriedigenden Zolleinigung zu gelangen. Dessenungeachtet trat 1863 keine wesentliche Änderung der Situation ein, wenn auch eine an der polnischen Frage vorübergehend entstandene Trübung des französisch-preußischen Verhältnisses zu Beginn des Jahres kurzfristig neue Perspektiven zu eröffnen schien146. Um mit der süddeutschen Opposition endlich in konkrete Zolltarifsverhandlungen treten zu können, fehlte es allerdings auch weiterhin an den dafür notwendigen Richtsätzen aus Wien.
Seine letzten Chancen in Deutschland verspielte Österreich schließlich durch die politisch-militärische Kooperation mit Preußen vor dem Hintergrund der schleswig-holsteinischen Krise 1864, ohne tatsächlichen wirtschaftspolitischen Nutzen daraus gezogen zu haben. Die Österreich in diesem Zusammenhang zugestandenen Konzessionen erwiesen sich als Farce, und der am 11. April 1865 schließlich abgeschlossene Handelsvertrag mit dem Zollverein beschränkte sich nur mehr auf einen „phrasenhaften Rest“147.
Unter diesen Voraussetzungen verlieren die Ereignisse des Jahres 1866 einiges von der Tragik schicksalhafter Wendung, wie sie ihnen vor allem von der älteren Literatur zugewiesen worden ist. Dagegen scheint die Niederlage Österreichs auf den böhmischen Schlachtfeldern vielmehr als logischer Schlußpunkt am Ende einer langen Entwicklung zu stehen.
Das Protestantenproblem in Ungarn - Retrodigitalisat (PDF)
Auf den ersten Anschein mögen die wiederholten Gesuche und Beschwerden des protestantischen Superintendenten in Ungarn, Karl Kuzmány, zu den unbedeutenderen Gegenständen zählen, mit denen sich der Ministerrat ebenfalls immer wieder zu beschäftigen hatte. Allein, die Ausführlichkeit, mit der dieses Thema behandelt wurde, zeigt, daß hier ein brisantes Problem der Monarchie berührt wurde — die Stellung der protestantischen Kirche in Ungarn148.
Zum besseren Verständnis erscheint ein kurzer Rückblick auf deren Entwicklung in den Jahren seit der Revolution angebracht, wie er ja auch zur Information der Konferenzteilnehmer — in den Protokollen allerdings nicht ausgeführt — im Ministerrat vom ungarischen Hofkanzler, Graf Forgách, einleitend vorgetragen wurde149.
Im Zuge der Restauration nach 1848/49 war auch die Kirchenpolitik in den Sog straffer Zentralisierungsmaßnahmen geraten, die nach den Erfahrungen der Revolution als Voraussetzung für einen Fortbestand des Gesamtstaates angesehen wurden. Ein besonderes Problem stellten dabei von vornherein die Protestanten dar, weil sie, in Teilkirchen zerspaltet und mit verschiedenen länderweisen Sonderrechten ausgestattet, über die gesamte Monarchie verstreut waren. Weitgehende Autonomie genossen die Protestanten seit jeher in Ungarn, wo sie auch zahlenmäßig am stärksten vertreten waren. Nachdem sie in den Sturmjahren zum Kristallisationspunkt politisch-nationaler Bestrebungen geworden waren, trafen sie die Schläge der Gegenrevolution in voller Härte150. „In den österreichischen Erbländern ist der Protestantismus durchaus nicht gefährlich“, soll der nicht umsonst vor allem in Ungarn berüchtigte Innenminister Bach zu Beginn der 50er Jahre geäußert haben, „dort können wir getrost den Bischöfen überlassen, ihn auf den Aussterbeetat zu setzen ... Anders ist es in Ungarn: dort ist der Protestantismus eine Macht, ja eine geborene Opposition. Hier genügt daher das Gegengewicht des römischen und griechischen Katholizismus durchaus nicht, der Staat selbst muß dort eingreifen ...“151 Diese Aufgabe besorgte zunächst eine Verordnung Haynaus vom 10. Februar 1850, die die innerkirchlichen Verhältnisse der Protestanten nach streng absolutistischem Muster regelte und der Selbstverwaltung ein Ende bereitete152. Daran änderte vorerst auch die Aufhebung des Belagerungszustandes am 4. April 1854 nichts.
|| S. 43 PDF || Während die restriktiven Bestimmungen bei der überwiegenden Mehrheit der ungarischen Protestanten auf Empörung stießen, erblickten die ethnischen Minderheiten des Landes, und hier namentlich die Slowaken, darin zurecht eine Chance, sich gegen den übermächtigen Magyarismus behaupten zu können. Als deren Wortführer und Vertrauensmann des Kultusministers Graf Thun hatte Karl Kuzmány maßgeblichen Anteil an der Gestaltung der staatlichen Kirchenpolitik. Nachdem er sich während der Revolution als „treu ergebener Staatsbürger“ bewährt hatte, war er noch 1849 als Ordinarius an die Evangelisch-theologische Fakultät der Universität Wien berufen worden153. So trug denn auch ein Gesetzentwurf aus dem Jahre 1856 „Über die Vertretung und Verwaltung der Kirchenangelegenheiten der Evangelischen beider Bekenntnisse im Königreiche Ungarn, in der serbischen Woiwodschaft und dem Temescher Banat“ die Handschrift Kuzmánys154. Obwohl dieser Entwurf wegen seines staatskirchlichen Charakters bei den zuständigen Kirchenbehörden in Ungarn von vornherein negative Aufnahme gefunden hatte, basierte darauf schließlich das sogenannte Protestantenpatent vom 1. September 1859 155, als dessen „Vater“ Kuzmány Eingang in die Literatur gefunden hat. Auf dieser Grundlage und gleichfalls im Verordnungsweg erschien bereits tags darauf eine provisorische Kirchenordnung156.
Neben einer Vereinheitlichung der protestantischen Kirchenorganisation unter der zentralstaatlichen Aufsicht des neugeschaffenen „k.k. Oberkirchenrates“ verfolgten die „Septembergesetze“ zweifellos noch zwei weitere Zielsetzungen:
Diese bestanden erstens in der weitgehenden Zurückdrängung des in Ungarn traditionellerweise tief verankerten Laienelements, d. h. des Mitspracherechts der magyarischen Aristokratie in den kirchlichen Verwaltungsgremien, was seinerzeit die Hauptursache für eine wienfeindliche Verpolitisierung der Kirche gebildet hatte. Zweites betraf dies die Umgestaltung bzw. Vermehrung der Kirchendistrikte mit der Absicht, den nationalen Minderheiten Ungarns gegenüber der magyarischen Vormacht nach dem bewährten Grundsatz „Divide et Impera“ die nötige Geltung zu verschaffen. Während die protestantischen Kirchengemeinden beider Bekenntnisse bisher nämlich durch je vier Oberbehörden, die Superintendenzen, vertreten gewesen waren, kamen nun jeweils zwei neue hinzu, indem die slowakischen || S. 44 PDF || Gemeinden im Norden und die deutschen Gemeinden im Süden zu eigenen Superintendenzen zusammengefaßt wurden. Im Unterschied zu den alten Kirchendistrikten schlossen sich die beiden neuen — Preßburger und Neu-Verbaser — Superintendenzen Augsburger Konfession auch sogleich dem Patent an, wobei in weiterer Folge nur die erstere standhaft bleiben und infolgedessen bedeutsam werden sollte157.
Von der Masse der ungarischen Protestanten wurden die neuen Gesetze sowohl von der Form als auch vom Inhalt her als krasser Verstoß gegen die eigene Autonomie und als Provokation aus Wien empfunden. An letzterem dürfte der Regierung angesichts der allgemeinen politischen Lage im Herbst 1859 hingegen kaum gelegen gewesen sein, so daß man wohl eher von Unkenntnis und einer völligen Fehleinschätzung der Lage ausgehen müssen wird. Dementsprechend hilflos sah man sich zunächst auch mit der offenen Auflehnung gegen das Patent konfrontiert. Als man daraufhin zu Beginn des Jahres 1860 von den rebellierenden Gemeinden ultimativ ihre „patentmäßige Koordinierung“ forderte158, hatten die Auseinandersetzungen zwischen den sogenannten „Autonomisten“ und „Patentisten“ bereits Dimensionen eines regelrechten Kirchenkampfes angenommen159. Im Grunde handelte es sich dabei ausschließlich um einen Nationalitätenkonflikt, dem der kirchenrechtliche Grundsatzstreit — Einführung des Konsistorialsystems oder Beibehaltung des presbyterial-synodalen Systems — allenfalls als Vorwand diente. Machtlos mußte man in Wien mitansehen, wie die Widerstände in der transleithanischen Reichshälfte immer bedrohlichere Formen annahmen.
Diese ausweglose Situation veranlaßte den Kaiser schließlich am 15. Mai 1860 zu verkünden, daß es den Gemeinden künftig freistehe, sich patentmäßig einzurichten oder nicht160, was letzten Endes einer nachträglichen Legitimierung tatsächlich waltender Zustände gleichkam, nachdem die Staatsführung hatte einsehen müssen, daß die von ihr erlassenen Gesetze praktisch nicht exekutierbar waren161. Zugleich bedeutete dies aber auch eine faktische Zurücknahme des Patents vom 1. September, was in Ungarn verständlicherweise als Sieg über den Wiener Absolutismus stürmisch gefeiert wurde. In der Tat vermag nichts besser zu vermitteln, wie sehr sich die innenpolitischen Verhältnisse seit den Tagen von Világos gewandelt hatten.
Anläßlich der Fakultativstellung des Patents war ausdrücklich erklärt worden, daß Gemeinden, die einen Anschluß an dieses entweder schon vollzogen hätten oder erst in Absicht darauf stünden, in dieser Entscheidung in keiner Weise behindert || S. 45 PDF || werden dürften. In erster Linie hatte man dabei den Schutz der neugeschaffenen slowakischen Preßburger Superintendenz Augsburger Konfession im Auge gehabt. Trotzdem gab es wiederholt Anlaß zur Klage über Repressalien, denen die Gemeinden dieses Kirchendistrikts seitens der Magyaren ausgesetzt waren.
Im Ministerrat kam dieses Problem hingegen erst relativ spät, am 16. August 1862 162, zur Sprache, als sich bereits ein Großteil der solchermaßen unter Druck gesetzten Gemeinden wieder vom Patent abgewandt hatte163 und der Fortbestand der koordinierten Preßburger Superintendenz somit ernstlich in Frage gestellt war. Diese hatte unterdessen schon im Juni 1860 den geistigen Vater des Patents, Karl Kuzmány, zu ihrem Superintendenten gewählt164. Seine Entscheidung, den Amtssitz in die nicht koordinierte und zu allem Überfluß außerhalb seines Sprengels liegenden Ortschaft Neusohl zu verlegen, wo er offenbar dank seines langjährigen Wirkens als Gemeindepfarrer auf persönliche Sympathien zu stoßen vermeinte, erwies sich bald als folgenschwerer Fehler. Bedrohliche Ausschreitungen gegen ihn zwangen Kuzmány schließlich, Ungarn schon im Februar 1861 wieder zu verlassen und darum anzusuchen, seine Superintendenz von Wien aus leiten zu dürfen165.
Die ungarische Hofkanzlei verhielt sich in dieser Angelegenheit zunächst abwartend, bis Graf Forgách am 3. Oktober 1862 damit vor den Ministerrat trat166. Ausgehend von den Gesuchen Kuzmánys widmete sich die Konferenz nun in aller Ausführlichkeit dem Protestantenproblem in Ungarn, wobei die Grundsatzfrage — autonome Stellung oder staatliche Unterordnung der Kirche — selbst das Kabinett in zwei Lager spaltete. Forgách verhehlte dabei nicht, daß er — in prinzipieller Übereinstimmung mit der ungarischen Statthalterei — im Grunde für eine Auflösung der Preßburger Superintendenz als „Quelle unaufhörlichen Haders“ eingestellt war. Deshalb hielt er es auch für das beste, Kuzmány seines Amtes zu entheben, zumal sich dieser mittlerweile ohnedies nur mehr auf etwa fünf koordinierte Gemeinden in seinem Sprengel stützen könne. Das Patent vom 1. September sei nun einmal eine verlorene Sache, und die Regierung solle nicht versuchen, das Unhaltbare zu halten; vielmehr sei es ihre Aufgabe, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, ohne sich in Interna der Kirche einzumischen. Soweit die persönliche Meinung des ungarischen Hofkanzlers, der jedoch realistisch genug war, seine definitiven Anträge dahingehend abzumildern, daß erstens Kuzmány seinen Amtssitz binnen vier Wochen innerhalb des Preßburger Sprengels aufzuschlagen habe, widrigenfalls er zu entheben und eine Neuwahl anzuordnen wäre. Zweitens sollte der Grundsatz beibehalten werden, daß die Befugnisse eines Superintendenten nicht über die || S. 46 PDF || Grenzen seines Sprengels ausgedehnt werden dürften, was auch im konkreten Fall der Gesuche des Pfarrers der Pester slawischen Gemeinde, Josef Podhradský, um Zuweisung an Kuzmány Anwendung finden sollte167. Drittens wäre die Preßburger Superintendenz zu beauftragen, ein Verzeichnis der — noch — koordinierten Gemeinden vorzunehmen. Der vierte Punkt betraf die Anzeigepflicht bei allfälligen Übertritten „autonomer“ Gemeinden zur patentmäßigen Koordinierung. Fünftens forderte Forgách schließlich, daß die Regierung künftig jede aktive Beteiligung an innerkirchlichen Problemen unterlasse. Während der Staatsrat mit diesen Punkten, abgesehen von einigen geringfügigen Änderungen, im wesentlichen einverstanden war168, vertrat Minister Graf Nádasdy dagegen die Ansicht, daß die Regierung in dieser Angelegenheit sehr wohl als Anwalt der slowakischen Lutheraner gegen die offenkundigen magyarischen Unifizierungsbestrebungen zu fungieren habe, weshalb der Fortbestand der Preßburger Superintendenz gewissermaßen als Sammelbecken für sämtliche patentmäßig koordinierten Gemeinden Ungarns unter allen Umständen zu gewährleisten sei. Im Detail, das dem Protokoll zu entnehmen ist, konnte Nádasdy allerdings davon überzeugt werden, daß seine entsprechenden Anträge teilweise zumindest schon in die Tat umgesetzt worden waren. Eine längere Diskussion ergab sich hingegen wegen der Frage, wann und wo königliche Kommissäre zur Überwachung von Koordinierungsbeschlüssen eingesetzt werden sollten, um Manipulationen vorzubeugen, die in der Vergangenheit häufig Anlaß zu Beschwerden gegeben hatten169.
Zur Beschlußfassung gelangte der Ministerrat schließlich erst in seiner Sitzung vom 6. Oktober:
Danach hatte Kuzmány seinen Wohnsitz unverzüglich in seinem Sprengel aufzuschlagen. Die Ausdehung der Jurisdiktion eines Superintendenten auch über die Grenzen seines Sprengels hinaus wurde prinzipiell anerkannt, wodurch zwar für sämtliche koordinierte Gemeinden Ungarns die Möglichkeit bestand, sich Kuzmány unterstellen zu können, was allerdings vom Kaiser von Fall zu Fall gesondert verfügt werden mußte, um Kuzmány nicht als Superintendenten für ganz Ungarn erscheinen zu lassen. Bezüglich der königlichen Kommissäre folgte die Mehrheit der Konferenzteilnehmer dem Antrag Nádasdys, wonach bei allen protestantischen Gemeinden Ungarns nach und nach Kontrollen durchgeführt werden sollten. Abschließend kam man überein, von jeglicher Einmischung seitens der Regierung in rein kirchliche Fragen Abstand nehmen zu wollen170.
Mit dem Tod Kuzmánys im August 1866 sollte letzten Endes auch das Schicksal der Preßburger Superintendenz endgültig besiegelt sein. Bald nach ihrer Auflösung erfolgte am || S. 47 PDF || 15. Mai 1867 die formelle Aufhebung des Protestantenpatents von 1859, wodurch das letzte Hindernis auf dem Weg zu einer Neuordnung der ungarischen Protestantenfrage beseitigt war171.
Die siebenbürgische Eisenbahnfrage - Retrodigitalisat (PDF)
Allein die Häufigkeit, mit der sich der Ministerrat im Laufe des Jahres 1862 dieses Themas annahm, berechtigt, in diesem Rahmen darauf näher einzugehen, wenn auch die Beratungen, wie zu zeigen sein wird, vorderhand ohne konkretes Ergebnis blieben.
Die ersten Anregungen zum Bau einer siebenbürgischen Eisenbahn stammen aus dem Jahre 1848. Sie bildeten den Ausgangspunkt einer zwei Jahrzehnte währenden Planungsphase, die mehr als jedes andere Kapitel des österreichischen Eisenbahnbaues von finanziellen Schwierigkeiten und nationalen Differenzen geprägt war172. Schon bald nach der Überwindung der Revolution wurde auf Anordnung der Regierung mit ersten Vorstudien zu einer möglichen Streckenführung begonnen. Als die Regierung 1854 eine Karte des von ihr projektierten Eisenbahnnetzes für die gesamte Monarchie veröffentlichte, fanden sich darauf bereits die beiden zur Diskussion stehenden Linien einer künftigen Siebenbürger Eisenbahn173. Die eine führte von Temesvár über Arad und Hermannstadt zur walachischen Grenze, die andere von Kronstadt über Hermannstadt, Karlsburg und Klausenburg nach Großwardein, wo sie an das ungarische Bahnnetz Anschluß fand. Im Zuge der weitgehenden Privatisierung der Eisenbahnen während der 50er Jahre174 legte man das siebenbürgische Eisenbahnprojekt in die Hände privater Unternehmer. Als solche traten dann 1856 vorübergehend die Brüder Rothschild auf. Nachdem sie als Konzessionsbewerber aber schon bald wieder zurücktraten und andere Interessenten, nicht zuletzt wegen der mittlerweile bereits voll in Gang geratenen Diskussion über die Streckenführung, vorderhand nicht in Aussicht standen, entsandte die Regierung neuerdings Ingenieure zur Trassenwahl nach Siebenbürgen. Unter ihnen befand sich auch der durch den Bau der Semmeringbahn berühmt gewordene Karl Ritter v. Ghega, der in seinem Gutachten einer Linienführung von Großwardein über Klausenburg und Kronstadt mit einem Anschluß an die walachische Eisenbahn am Bodzapaß als den Zwecken einer Siebenbürger Bahn am meisten entsprechend den Vorzug gab175.
|| S. 48 PDF || Unterdessen hatte die katastrophale Wirtschaftslage der Monarchie im Gefolge des Krieges mit Italien ihre Schatten auch auf den Eisenbahnbau geworfen, der folglich in der ersten Hälfte der 60er Jahre praktisch zum Stillstand kam176. Dadurch rückte das ohnedies schon mit Schwierigkeiten aller Art gesegnete siebenbürgische Eisenbahnprojekt wieder in weite Ferne. Zusätzlich sorgte eine wahre Flut von höchst polemischen Denkschriften für ein emotionsgeladenes Verhandlungsklima177. Den Reibungspunkt für die unterschiedlichen ökonomischen, nationalen und militärischen Betrachtungsweisen stellte stets die Frage nach der Streckenführung dar, wofür jede Partei ihr Gutachten fand oder nötigenfalls eben erfand. Eigene, zum Zwecke des Bahnbaues gebildete Vereine und Komitees, in denen diese Interessenvielfalt zum Ausdruck kam, scheiterten durchwegs an den erforderlichen Geldmitteln. Nicht anders war es zuletzt 1861 auch dem „Kronstädter Bergbau- und Hüttenaktien-Verein“178 ergangen. Kapitalkräftige Unternehmer hielt dagegen meist die nach wie vor ungeklärte Strecken- und Anschlußfrage von einer ernsthaften Bewerbung ab.
Eine entsprechende Anfrage des Bankiers Salomon Brandeis-Weikersheim veranlaßte den Ministerrat am 29. März 1862, sich dieser Angelegenheit anzunehmen. Angesichts der beiden inzwischen hauptsächlich zur Diskussion stehenden Linien, Großwardein—Klausenburg—Kronstadt—Bodzapaß und Arad—Hermannstadt—Rotenturmpaß, ließen die Konferenzteilnehmer zwar eine Präferenz für erstere erkennen179 — namentlich Rechberg meinte, man müsse das nur einmal deutlich zum Ausdruck bringen, „um dem Humbug der Spekulanten zu steuern“ —, wirklich festlegen wollte man sich jedoch noch nicht. Nádasdy, der in seiner Eigenschaft als Leiter der siebenbürgischen Hofkanzlei in erster Linie die Interessen des Landes im Auge haben mußte, hielt diese Frage gar „noch nicht für spruchreif“180.
|| S. 49 PDF || Dementsprechend unverändert zeigte sich daher auch die Verhandlungsbilanz bezüglich eines Anschlusses des österreichischen Eisenbahnnetzes an jenes der Moldowalachen im Ministerrat vom 2. Mai. Immerhin mahnte Rechberg diesmal zu einer baldigen Entscheidung, da sich die Donaufürstentümer andernfalls zu einer Umgehung österreichischen Territoriums entschließen könnten, was eine bedenkliche Isolierung vom Orienthandel zur Folge hätte181.
Als im Sommer 1862 ein Konzessionsansuchen für eine lokale Kohlenbahn zwischen der Walachei und Österreich in den Ministerrat gelangte182, sah man sich erneut in unliebsamer Weise aus dem Dornröschenschlaf gerüttelt, bestand doch die Gefahr, daß sich die als kleine Transportbahn konzipierte Strecke zu einer Weltverkehrslinie umgestalten könnte, bevor man sich österreichischerseits noch über eine siebenbürgische Eisenbahn geeinigt habe. Kurzerhand entschloß man sich daraufhin, das Gesuch einfach abzulehnen. Einmal mehr wurde in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeit einer Entscheidungsfindung in bezug auf die Streckenführung hingewiesen, wie sie sich aus der Verschiedenheit der einzelnen Gutachten ergebe183. Warum man in dieser Situation nicht zum Allheilmittel der Bürokratie gegriffen hat und einfach neue Gutachten über die vorliegenden Gutachten erstellen ließ, die dann ihrerseits zahlreichen Kommissionen und Subkommissionen zur Begutachtung hätten vorgelegt werden können, zählt zweifellos zu den Wundern, die die Geschichte von den exakten Wissenschaften trennen.
Indessen dürfte die Geduld des Kaisers erschöpft gewesen sein. Im Ministerrat vom 1. Juli 1862 forderte er Graf Wickenburg persönlich auf, die Angelegenheit rasch in Gang zu bringen und darüber in Kürze Vortrag zu erstatten184. Daraufhin brachte der Handelsminister die Frage der siebenbürgischen Eisenbahn schon in der nächsten Sitzung wieder zur Debatte, um das Votum des Ministerrates einzuholen, für welche Streckenvariante man nun endgültig mit der walachischen Regierung in Verhandlung zu treten habe185. Zusammenfassend ergab sich dabei folgendes:
Sowohl vom Standpunkt der siebenbürgischen Landesinteressen als auch aus militärischer Sicht war die Linie von Großwardein über Kronstadt mit dem Grenzübergang am Bodzapaß bisher übereinstimmend immer als am günstigsten erkannt worden. Im Vergleich dazu würde Siebenbürgen von einer Linie Arad—Hermannstadt mit Übergang am Rotenturmpaß in weit geringerem Umfang erfaßt werden, so daß diesem Projekt im Falle einer Realisierung eher der Charakter einer bloßen Durchzugsbahn zukäme; zudem existierten militärischerseits Bedenken gegen einen Schienenweg über den Rotenturmpaß186. Anders präsentierte sich der Sachverhalt freilich von der Warte eines privaten Eisenbahnunternehmens: Hier bot die Arader Linie im Gegensatz zu jener von Großwardein aus den Vorteil, daß sie || S. 50 PDF || kürzer, technisch leichter durchführbar und deshalb wesentlich kostengünstiger war. Dementsprechend groß war das Interesse daran, während für das Großwardeiner Projekt kaum Aussicht auf privates Kapital bestand, wie das die vergangenen zehn Jahre nachhaltig bewiesen hatten. Um aus dieser Situation einen Ausweg zu finden, war bereits im vorangegangenen Ministerrat eine Kompromißlösung angeklungen, wonach einfach jene Bahnstrecke zu bewilligen sei, deren Finanzierung gesichert erscheine187. Für den absehbaren Fall, daß dies eine Entscheidung zugunsten der Linie Arad—Rotenturmpaß zur Folge hätte, wären die betreffenden Konzessionäre jedoch zu verpflichten, Zweigbahnen nach Kronstadt und Klausenburg herzustellen, für deren Betrieb der Staat allenfalls entsprechende Garantieleistungen übernehmen könnte. Damit war selbst die Zustimmung Nádasdys gewonnen. Ebenso einverstanden zeigte sich Kriegsminister Graf Degenfeld, der eine Baugenehmigung bloß mit der Auflage zur Errichtung von Befestigungsanlagen am Rotenturmpaß versehen wissen wollte. Für eine bedingungslose Konzessionsvergabe im Interesse des „Welthandels“ sprachen sich dagegen, streng liberalen Grundsätzen folgend, Plener und Schmerling aus. Auf alle Fälle, so lautete der Beschluß des Ministerrates, sollte man in erster Linie von der Route Arad—Hermannstadt—Rotenturmpaß ausgehend mit der walachischen Regierung über eine Eisenbahnverbindung in konkrete Verhandlungen treten188. Auf der Grundlage der sonach am 14. Juli 1862 ergangenen Ah. Entschließung, wonach eine Fortsetzung der Theißbahn von Arad oder Großwardein aus durch Siebenbürgen bis an die walachische Grenze sowohl über Hermannstadt als auch über Kronstadt grundsätzlich genehmigt wurde189, konnte das Handelsministerium nun wieder Bewerbungen entgegennehmen. Vom Kaiser bereits ein Monat später auf „die in dieser Angelegenheit etwa neuerlich eingetretenen Konjunkturen“ angesprochen, konnte Wickenburg zwar noch von keiner grundlegenden Änderung der Sachlage, aber immerhin doch schon von ersten Kontakten berichten190.
Trotz einer ganzen Reihe von Konzessionsbewerbern191 gerieten die Verhandlungen über die Siebenbürger Eisenbahn dann im nächsten Jahr erneut ins Stocken, worauf sich die Regierung 1864 genötigt sah, den Bau einer Linie von Arad nach Karlsburg auf Staatskosten vorerst selbst in Angriff zu nehmen. Zugleich hatte der österreichische Eisenbahnbau in diesem Jahr seinen absoluten Tiefststand erreicht192, so daß nach drei Jahren gerade die Erdarbeiten für den Schienenunterbau fertiggestellt waren. Parallel dazu hatte man 1865 ein Gesetz geschaffen, das es der Regierung ermöglichte, den Bau direkt einem privaten Unternehmen zu übertragen und den dafür notwendigen finanziellen Aufwand im Kreditweg zu organisieren193. Daraufhin konstituierte sich aus ehemaligen Mitgliedern des „Kronstädter || S. 51 PDF || Bergbau- und Hüttenaktien-Vereins“ die „k. k. priv. Erste Siebenbürger Eisenbahngesellschaft“, welche am 18. August 1866 eine Konzession für die Errichtung einer Bahnanlage von Arad nach Karlsburg erhielt194.
Die feierliche Eröffnung, mit der diese Linie schließlich am 22. Dezember 1868 dem Verkehr übergeben werden konnte195, markiert sowohl den Abschluß einer zwanzigjährigen Entstehungsgeschichte als auch den Auftakt zu einer regen Bautätigkeit, die sich nun während der folgenden Jahre im Zuge des Aufschwunges im österreichischen Eisenbahnbau nach 1867 auch im äußersten Osten der Monarchie entfaltete196.
Schlußbetrachtung - Retrodigitalisat (PDF)
Die Februarverfassung, der neu eröffnete Reichsrat und das finanzpolitische Erbe des Neoabsolutismus — das waren die beherrschenden Fragen am Beginn der 60er Jahre. In dieser Reihenfolge prägen sie folglich auch den Inhalt der ersten drei bisher erschienenen Bände der Abteilung V: „Die Ministerien Erzherzog Rainer und Mensdorff“.
Im Laufe des Jahres 1862 trat dagegen eine gewisse Konsolidierung der innenpolitischen Verhältnisse ein, was sich in erster Linie in den Protokollen des Ministerrates widerspiegelt. Der vorliegende vierte Band findet seinen natürlichen Abschluß mit der Vorlage größerer Gesetzesmaterien zur kaiserlichen Sanktion und mit dem Einberufungspatent für die Landtage vom 4. November 1862 197.
Personelle Veränderungen im Ministerrat, wie sie in den vorangegangenen Bänden jeweils in einem eigenen Kapitel der Einleitung ausgewiesen sind, haben, abgesehen von der Nominierung des Freiherrn v. Burger zum Marineminister im August198, während des hier behandelten Zeitraumes nicht stattgefunden.
Bezüglich der Quellen, die für den Kommentar und die Einleitung zu den Ministerratsprotokollen dieses Bandes herangezogen wurden, gelten im wesentlichen die entsprechenden Ausführungen in den bisher erschienenen Bänden dieser Abteilung199.