Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)

Von Stefan Malfèr

Außenpolitik - Retrodigitalisat (PDF)

a) Schleswig-Holstein

Das außenpolitische Hauptereignis des Jahres 1864 war ohne Zweifel der Krieg um Schleswig-Holstein. Vordergründig war es ein Sukzessionskrieg, ausgelöst durch den Tod des dänischen Königs Friedrich VII. am 15. November 1863 und den darauffolgenden Sukzessionsstreit zwischen dem neuen dänischen König Christian IX. (Glücksburg) und dem Prinzen Friedrich aus dem Zweig Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg.

In zweiter Linie war es ein Krieg im Zeichen der nationalen Idee, ein nationaler „Erlösungs“- und Einigungskrieg. Die liberale deutsche Öffentlichkeit und mit ihr die meisten Fürsten und Regierungen der Klein- und Mittelstaaten des Deutschen Bundes wollten die Bestrebungen Dänemarks, sich das Herzogtum Schleswig einzuverleiben, nicht hinnehmen und unterstützten den liberalen Herzog Friedrich von Augustenburg als Thronanwärter. An dieser schon seit längerem schwelenden Frage entzündete sich das Nationalgefühl in Deutschland. Eine zeitgenössische zusammenfassende Darstellung über das Jahr 1864 mag die Stimmung veranschaulichen1: „Der Beginn des Jahres 1864 fand die deutsche Nation von einer so allgemeinen und so heftigen Bewegung ergriffen, wie man es eben noch für ganz und gar unmöglich gehalten hätte … Hunderte von Vereinen und Versammlungen wuchsen an allen Ecken und Enden von Deutschland wie aus dem Boden empor und gaben dem zum festen, nachhaltigen Entschlusse gereiften Willen der Nation Ausdruck, daß den Herzogtümern nunmehr endlich ihr Recht werden müsse und daß sie … endgültig und für immer von Dänemark befreit und losgelöst werden müßten.“ Der Grund für die nationale Aufwallung war der Umstand, daß – wie die Darstellung fortfährt – die deutsche Nationalbewegung es schon längst „nur widerstrebend ertragen [hatte], daß das kleine Volk der Dänen unter || S. 10 PDF || dem Schutz der europäischen Verhältnisse2 die deutsche Nationalität der nordalbingischen Herzogtümer in jeder Weise zu unterdrücken bemüht war, um der dänischen Minorität im Herzogtum Schleswig das Übergewicht zu verhelfen und das Land Schritt für Schritt dem eigentlichen Dänemark einzuverleiben …“

Noch im Dezember 1863 besetzten sächsisch-hannoveranische Truppen im Auftrag des Deutschen Bundes die südlichen, zum Deutschen Bund gehörigen Herzogtümer Holstein und Lauenburg. Den beiden Großmächten im Deutschen Bund, Preußen und Österreich, gefiel diese Entwicklung wenig. Preußen wollte nicht einen neuen unabhängigen deutschen Staat vor seiner Tür und damit eine Stärkung des Bundes begünstigen, sondern die eigene Macht vergrößern. Österreich wollte gerade dies verhindern, aber ebensowenig die Nationalbewegung fördern. So führte die Interessenlage der beiden ansonsten um die Vorherrschaft in Deutschland rivalisierenden Mächte zu einer etwas seltsamen, gegen das Dritte Deutschland gerichteten Allianz. Sie setzten den Krieg auf eigene Faust fort, unter Umgehung der anderen Bundesstaaten.

Damit wurde aus dem Nationalkrieg in einem dritten Entwicklungsschritt ein klassischer Kabinettskrieg. Dem militärischen Potential der beiden Alliierten hatte Dänemark wenig entgegenzusetzen, es mußte kapitulieren und verlor nicht nur Holstein, sondern auch Schleswig3. Eine wichtige Voraussetzung dafür war, daß es den Regierungen in Berlin und Wien gelang, die anderen Großmächte aus dem Konflikt herauszuhalten. Das britische Kabinett brachte zwar eine Friedenskonferenz aller Unterzeichnerstaaten des Londoner Protokolls von 1852 zustande, doch hätte es einer militärischen Unterstützung Dänemarks bedurft, um den Gang der Ereignisse wesentlich abzuändern. Dazu war weder England noch Frankreich bereit. So diente die Konferenz letzten Endes nur dazu, die Unmöglichkeit einer Lösung auf dem diplomatischen Feld zu erweisen und die militärische Entscheidung zu legitimieren.

Das Ministerratsprotokoll vom 25. Mai 1864 bietet durch den Bericht Rechbergs eine Momentaufnahme über die Londoner Konferenz. Die dabei skizzierte Lösung – Berufung Friedrichs von Augustenburg als Herzog des neu zu bildenden Bundesstaates und Belassung Nordschlesiens bei Dänemark – war zwar bald überholt, doch treten die Motive der Außenpolitik Franz Josephs und Rechbergs klar hervor: die preußischen Annexionsbestrebungen zu durchkreuzen und die Anerkennung des Nationalitätenprinzips zu verhindern. Nach der politischen Debatte kam die finanzielle Seite zur Sprache. Die Kriegskosten sollten nicht von Dänemark erstattet werden, das ohnehin einen beträchtlichen Teil seines Territoriums verlieren würde, sondern von den Herzogtümern selbst. Die Begründung Rechbergs: der Aufwand sei im Interesse der Herzogtümer gemacht worden. Dies galt freilich nur, wenn man den Krieg als Befreiungskrieg ansah, der er längst nicht mehr war. In Wirklichkeit war er im Interesse Österreichs und || S. 11 PDF || Preußens geführt worden. Dieser Widerspruch wurde im Ministerrat von niemandem bemerkt, die Begründung von niemandem beanstandet. Man schritt zur genauen Feststellung der Kriegskosten. Für Österreich beliefen sie sich bis zum Ende des Krieges auf runde 18 Millionen Gulden. Die Kriegskostenvergütung sollte zur Deckung des Haushaltsdefizits im Jahr 1865 herangezogen werden. Dazu ist es nicht gekommen, da sich die Verhandlungen noch jahrelang hinzogen4.

Die Londoner Konferenz wurde am 25. Juni abgebrochen, der Krieg fortgesetzt. Am 12. Juli kapitulierte Dänemark. Am 2. August konnte Rechberg dem Ministerrat mitteilen, daß am Vortag ein Präliminarfrieden unterzeichnet worden war5. Am 28. Oktober wurde im Ministerrat lange über einen die Finanzen berührenden Punkt des Friedensvertrags gesprochen, nämlich den Anteil der Herzogtümer an der dänischen Staatsschuld und die Übernahme der Garantie seitens der künftigen neuen Souveräne Österreich und Preußen. Der Ministerrat billigte den betreffenden Vertragstext. Am 30. Oktober 1864 wurde der Friede von Wien unterzeichnet, in dem Dänemark die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an Österreich und Preußen abtrat.

b) Die Schönbrunner Konferenzen

Die politischen Verhandlungen, die bis dahin geführt worden waren, kamen im Ministerrat nicht zur Sprache. Das Treffen zwischen König Wilhelm und Bismarck mit Kaiser Franz Joseph und Rechberg in Karlsbad am 22. und 23. Juni wird im Ministerrat nur erwähnt6, und es fehlt jeder Hinweis auf das „Gipfeltreffen“, das vom 22. bis 24. August 1864 in Wien zwischen dem preußischen König und dem österreichischen Kaiser, wieder im Beisein der Außenminister Bismarck und Rechberg, stattfand.

Inhalt und Verlauf der im Schloß Schönbrunn geführten und daher als „Schönbrunner Konferenzen“ bezeichneten Gespräche blieben lange Zeit von dichten Geheimnisschleiern umhüllt, obwohl die Bedeutung des Augenblicks offenkundig war: trafen sich doch die langjährigen Konkurrenten als alliierte Sieger zu ausführlichen Gesprächen! Daß sie einander nur zwei Jahre danach auf dem Schlachtfeld begegneten, um die deutsche Frage zu entscheiden, machte die Schönbrunner Konferenzen aus späterer Sicht vielleicht noch bemerkenswerter. Im Lauf der Zeit wurden dann viele, zum Teil widersprüchliche Äußerungen Bismarcks, Rechbergs und anderer Zeitzeugen sowie diplomatische Dokumente bekannt, so daß es zu einander widersprechenden Interpretationen gekommen ist. Feststeht, daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der preußischösterreichischen Beziehungen im Hinblick auf die politische Gestaltung Deutschlands in aller Breite erörtert wurden.

Die Gespräche gipfelten in einem Vertragsentwurf über ein großartiges Kompensationsgeschäft: Österreich sollte der Annexion der Herzogtümer durch Preußen und der paritätischen Beherrschung des Deutschen Bundes zustimmen, im Gegenzug würde Preußen die Wiedereroberung der Lombardei durch Österreich und die Zerschlagung des Königreichs Italien garantieren. Der Entwurf wurde aber nicht unterzeichnet. Die deutsche und die österreichische Geschichtsschreibung waren fasziniert von der Vorstellung, || S. 12 PDF || eine solche Allianz hätte einen ganz anderen als den tatsächlichen Verlauf der gesamten deutschen und europäischen Geschichte einleiten können, und man hat daher mit Akribie die Frage zu beantworten versucht, wer eigentlich diesen Plan entworfen hat, Bismarck oder Rechberg, woran er gescheitert ist und ob er ernst gemeint war oder nur ein Täuschungsmanöver gewesen ist7. Man wird den Ereignissen sicher nicht mit den Begriffen eines diplomatischen Täuschungsmanövers gerecht, ebensowenig mit dem einer bloß konservativen, d. h. gegen die italienische Nationalbewegung und Napoleon III. gerichteten Illusion. Die prinzipielle Offenheit des historischen Augenblicks muß auch für die Gespräche im kaiserlichen Lustschloß gelten. Andererseits hat Gall zurecht hervorgehoben, daß neben den Absichten und Wünschen der handelnden Personen auch der Zwang der Umstände, der Geist der Zeit, die praktischen Interessen und Vorentscheidungen, kurz die Gebundenheit der Handelnden zu berücksichtigen ist8. So gesehen war das Ergebnis der Schönbrunner Konferenzen zwar die Bekräftigung und Fortsetzung der im Herbst 1863 begonnenen Allianz; der auf uns gekommene Vertragsentwurf aber war keine realistische Perspektive, zumindest nicht in der zugespitzten überlieferten Fassung.

c) Zollverhandlungen

Der hochpolitische Bereich der Schönbrunner Gespräche blieb also aus den Ministerberatungen völlig ausgeklammert. Dagegen ist der Themenkomplex der Zollverhandlungen mit Preußen so wie schon in den bisherigen Bänden ausführlich vertreten.

Die österreichisch-preußische Allianz war in Schleswig-Holstein erfolgreich, weil sich die beiderseitigen Interessen ein Stück weit deckten. Anders bei der Zollfrage. Während sich in Preußen die dem westlichen Freihandelssystem verpflichteten Wirtschaftskreise ganz entschieden gegen die Einbeziehung der Habsburgermonarchie in den Deutschen Zollverein stemmten, solange es dort Schutzzölle und staatlichen Wirtschaftsprotektionismus gab, wehrten sich österreichische Industrie- und Agrarkreise heftig gegen den Abbau des protektionistischen Systems. Aus der Tatsache, daß die wirtschaftliche Entwicklung in der Habsburgermonarchie im Vergleich zu den westlichen und auch zu den deutschen Staaten zurückgeblieben war, folgerten sie, daß Österreich des Zollschutzes bedürfe, um seine Industrie vor der ausländischen Konkurrenz und vor || S. 13 PDF || dem Ruin zu bewahren. Sie lehnten daher eine Änderung der Handelspolitik ab: „Die Handelspolitik des Landes bei einer so ungünstigen Lage verändern, hieße, zu dem bestehenden Übel ein neues großes Übel hinzufügen; denn die Begünstigungen, die man dem fremden Handel einräumt, müssen momentan abschwächend auf die Produktion wirken und der Finanzkapitalkraft des Landes Abbruch tun“, so der Abgeordnete Alfred Skene im Abgeordnetenhaus9. Erst wenn die Monarchie durch ein entsprechendes Verkehrsnetz, durch ausreichende Kapitalversorgung und durch die Konsolidierung im Inneren wettbewerbsfähig sei, könne man über die Senkung oder Aufhebung der Zölle reden.

Diese Ansichten und Forderungen der Wirtschaftstreibenden wurden von den politischen Programmen und Zielen überlagert, die in der Historiographie unter dem Titel „Kampf um die Vormachtstellung in Deutschland“ oft und breit dargestellt worden sind10. Die konträren Visionen waren a) ein großes mitteleuropäisches, vorwiegend deutsches Reich unter politischer Führung Österreichs, und b) ein geeintes, von Preußen geführtes Deutschland unter Ausschluß Österreichs. Die politische Realität war vielfältiger. Es gab eine Fülle von Klein- und Mittelstaaten, den Deutschen Bund, den Deutschen Zollverein, und innerhalb dieser Gebilde konkurrierende liberale, konservative und andere Interessen.

Auf der wirtschaftlichen Ebene hatte Preußen durch die Paraphierung des Handelsvertrags mit Frankreich am 29. März 1862 nicht nur die entschiedene Hinwendung zum Freihandel bekundet, sondern auch Überraschung ausgelöst und Bewegung in die Szene gebracht. Es folgten zwei Jahre heftigen Tauziehens und zahlloser Verhandlungen mit dem Ergebnis, daß bis zum 12. Oktober 1864 alle Staaten des Zollvereins die freihändlerische Richtung Preußens akzeptierten. Die Versuche Österreichs, diese Entscheidung zu verhindern und gemeinsam mit den süddeutschen Staaten einen protektionistischen Zollbund zu errichten, schlugen fehl11.

Diese Entwicklung wurde mit dem häufig zitierten Ausdruck Heinrich Benedikts als Österreichs „handelspolitisches Königgrätz“ bezeichnet. Der Ausdruck ist allerdings nur dann gerechtfertigt, wenn man das politische Ziel, Österreich müsse in Deutschland eine Machtposition behaupten, hervorhebt und wenn man die wirtschaftliche Entscheidung || S. 14 PDF || der deutschen Staaten zum Freihandel als ein Hinausdrängen Österreichs aus Deutschland und als einen Sieg Preußens interpretiert. Für die österreichischen Schutzzöllner dagegen stellte die Entwicklung des Jahres 1864 nicht einen Sieg Preußens, sondern eine verhinderte Niederlage Österreichs dar. „Österreich zuerst“ war ihre Devise12. Nicht die Vormachtstellung in Deutschland, sondern der Schutz der österreichischen Produktion war ihr Ziel. „Die bisher unter der Asche glimmende schutz-zöllnerische Strömung lohte zur Flamme auf“, beschrieb Ludwig Láng die Stimmung13. Der steirische Abgeordnete Waser hat es in einer Parlamentsdebatte so ausgedrückt: der Gedanke sei eine Zumutung, daß Österreich die Schutzzollpolitik nur deshalb aufgeben und materielle Opfer bringen solle, damit der „immer dünner werdende Faden, der uns noch mit Deutschland verknüpft, nicht zerreißt“14. Auch auf diese Seite hat Heinrich Benedikt hingewiesen und von einem „Sieg der österreichischen Industrie und des Zollschutzes“ gesprochen. Allerdings wurde diese Aussage viel seltener zitiert als das Bonmot vom „handelspolitischen Königgrätz“15.

Die Ministerratsprotokolle zeigen deutlich, daß die kaiserliche Regierung nicht nur in einem diplomatischen Tauziehen mit Preußen stand, sondern sich auch der schutzzöllnerischen Front im Inneren gegenübersah. Ein kurzer Rückblick macht dies deutlich. Unmittelbar nach Bekanntwerden des preußisch-französischen Handelsvertrags vom 29. März 1862 drängte Rechberg auf eine innerösterreichische Klärung. Es sei für ihn sehr notwendig, die Absichten der Regierung genau zu kennen, um zu wissen, „ob er darauf hinzuwirken habe, daß der Eintritt Österreichs in den Zollverein erwirkt werde oder nicht“16. Rechberg nannte also zwei Alternativen: Eintritt oder nicht. Eine Ministerialkommission sollte die Frage prüfen; am 23. April 1862 lag deren Elaborat dem Ministerrat vor17. Die einstimmige Antwort: der (politisch gesehen erwünschte) Eintritt in den Zollverein war der österreichischen Industrie nur dann zumutbar, wenn der Freihandelsvertrag verhindert und der Zollschutz aufrechterhalten werden konnte. Der Ministerrat erhob diese Ansicht zum Beschluß und entschied damit klar gegen die eigenen außenpolitischen Wünsche und für den wirtschaftlichen Standpunkt. Rechberg wies aber sofort und mit scharfem Blick darauf hin, daß es nur dann möglich sein werde, das Inkrafttreten des preußisch-französischen Handelsvertrags zu verhindern und Preußen zum Einlenken zu zwingen, wenn Österreich bereit sei, den deutschen Mittelstaaten ein entsprechendes finanzielles und handelspolitisches Angebot zu machen.

|| S. 15 PDF || Der Beschluß vom 23. April 1862 bedeutete nicht, daß die Minister selbst Anhänger des Zollschutzgedankens waren. Dies traf voll und ganz nur auf den Handelsminister Wickenburg, der dann im Oktober 1863 aus dem Amt schied, und auf den Justizminister Hein zu. Gemäßigte Schutzzöllner waren Lasser, Kalchberg, der Nachfolger Wickenburgs, und Mecséry. Die Mehrheit des Ministerrates war überzeugt, daß Österreich um eine Reform seines Zolltarifs, d. h. eine Senkung der Zollsätze und Annäherung an den Freihandel nicht herumkomme. Plener sagte offen, die Schwierigkeit liege bei der inneren Opposition18, er sprach verächtlich vom „Geschrei der Industriellen“19. Kalchberg befürwortete eine Annäherung an das Freihandelssystem20. Am 2. August 1864 erhob der Ministerrat fast einstimmig den Satz zum Beschluß: „Eine eingreifende Zollreform ist in Österreich auch abgesehen von Handelsverträgen zur Notwendigkeit geworden.“ Nur Hein lehnte dies ab und blieb bei der Meinung, Österreich solle, ohne Opfer zu bringen, sich sein eigenes Zollsystem „mit ausschließender Berücksichtigung seines Vorteils“ bilden21. Diese Position lehnte Plener heftig ab und warnte vor der handelspolitischen Isolierung. „Den allenthalben vorhandenen freihändlerischen Bestrebungen gegenüber könne Österreich nicht die Augen verschließen und sich mit einer chinesischen Mauer umgeben, die nur eine traurige Stagnation zur Folge hätte.“22

Rechberg brachte im Ministerrat vom 18. Oktober 1864, am Tag, an dem er sein Rücktrittsgesuch einreichte, die Entwicklung der vergangenen zwei Jahre auf den Punkt, wenn er sagte: „Begreiflich müssen alle Einigungsbestrebungen scheitern, solange in den beiderseitigen Zollsystemen prinzipielle Verschiedenheiten bestehen und man in Österreich zum Freihandelssystem nicht übergehen will oder kann.“23 Damit wies er zugleich die Schuld am Scheitern von sich. Aber, wie gesagt, es war ein Mißerfolg auf der politischen Ebene, ein Mißerfolg Franz Josephs, Rechbergs, einiger antipreußischer, auf ihre Selbständigkeit bedachter Politiker der deutschen Mittelstaaten; es war auch ein Mißerfolg Bismarcks, der gegen seine eigenen Wirtschaftspolitiker bis zuletzt Rechberg als österreichischen Garanten der Allianz mit Preußen unterstützt hat (es ging zuletzt um jene Vertragsklausel, die besagte, daß Österreich das Recht zum Eintritt in den Zollverein für die Zukunft gewahrt bleibe). Franz Joseph zog die Konsequenzen, wenn er am 31. Oktober im Ministerrat lapidar feststellte: „Übrigens ist die Zollfrage nicht sowohl als politischer Prüfstein der Allianz mit Preußen, sondern zum Zwecke || S. 16 PDF || der Erzielung materieller Vorteile zu behandeln“24. Das „handelspolitische Königgrätz“ sah also zwei Sieger: die Freihändler in Preußen und Deutschland und die Schutzzöllner in der Habsburgermonarchie25.

d) Die römische Frage

Ein weiteres außenpolitisches Ereignis fand seinen Niederschlag in den Ministerratsprotokollen, nämlich die sogenannte Septemberkonvention zwischen Frankreich und Italien vom 15. September 1864. Die ganz diplomatische Welt wurde durch dieses Abkommen Napoleons III. mit der italienischen Regierung Minghetti überrascht, in dem Italien den Bestand des Kirchenstaates garantierte, während Frankreich den Abzug seiner Truppen aus dem Kirchenstaat ankündigte. Die öffentliche Meinung wollte nicht so recht an die friedlichen Absichten der Vertragschließenden glauben und befürchtete, Italien werde sich den Kirchenstaat einverleiben. Die Konvention hielt aber, solange Napoleon III. an der Macht war. Rechberg erläuterte in einer engeren Ministerkonferenz am 18. Oktober 1864 die Vorgangsweise der österreichischen Diplomatie, die in vorsichtiger Zurückhaltung vor allem vermeiden wollte, in einen Konflikt hineingezogen zu werden26.

e) Rücktritt Rechbergs

Ein letztes, die äußere Politik der Monarchie betreffendes Ereignis ist zu erwähnen: der Rücktritt des Außenministers Rechberg. Überraschung bereitet die Lektüre des soeben zitierten Protokolls vom 18. Oktober 1864. Am selben Tag unterbreitete Rechberg sein Rücktrittsgesuch27. Doch tritt uns aus dem Protokoll ein selbstsicherer, umsichtiger, souveräner Rechberg entgegen, dessen diplomatische Schritte trotz spürbarer politischer Meinungsunterschiede voll gebilligt werden. Dasselbe gilt auch für die anderen Protokolle der Zeit vor dem Rücktritt. Soweit außenpolitische Entscheidungen überhaupt im Ministerrat vorbereitet und diskutiert worden sind, hat Rechberg stets die Zustimmung der Mehrheit gefunden28.

|| S. 17 PDF || Am 26. Oktober teilte Kaiser Franz Joseph dem preußischen König Wilhelm den Wechsel im Ministerium des Äußern mit. Er schrieb, daß es nur eine Personalveränderung, nicht aber eine Änderung der Politik sei. Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage wird durch das Ministerratsprotokoll vom 31. Oktober 1864 bestätigt. In einer Ansprache vor den Ministern erläuterte Franz Joseph sein außenpolitisches Programm. Es wich nicht von der bisherigen Politik ab und entsprach voll der Rechbergschen Linie. Nicht etwa Mißerfolge Rechbergs, die eine Änderung der Politik verlangt hätten, sondern die innenpolitische Situation war der Grund für den Wechsel. Schmerling, das inoffizielle Haupt der Regierung, geriet immer stärker unter Druck der Opposition in den eigenen Reihen, ohne die große ungarische Frage lösen zu können. Da war die Absetzung des unbeliebten, konservativen Rechberg, der mit dem ebenfalls konservativen Bismarck paktierte, ein Bauernopfer, ein Entlastungsversuch. Der sicher gut informierte preußische Gesandte in Wien, Freiherr v. Werther, dürfte den Sachverhalt richtig beschrieben haben, wenn er am 27. Oktober an Bismarck schrieb, „Haupturheber der Ministerkrisis und des eventuellen Rücktritts des Grafen Rechberg bleibe Minister v. Schmerling, der vor dem Reichsrat die Unpopularität des Grafen Rechberg nicht länger mittragen wolle und durch dessen Ausscheiden sein erschüttertes parlamentarisches Ansehen wieder zu gewinnen hoffe…. Wahrscheinlich aber habe Herr v. Schmerling dem Kaiser keine Wahl gelassen und sein weiteres Verbleiben im Ministerium von Graf Rechbergs Rücktritt abhängig gemacht … [es sei] kaum zu bezweifeln, daß das Ausscheiden des Grafen Rechberg nächstens eine vollendete Tatsache sein werde, weil Herr v. Schmerling im Augenblick als Hauptleiter der Verhältnisse, welche auf der Ausführung der Verfassungsinstitutionen beruhen, nicht entbehrt werden könne.“29

Schmerling hatte sich mit dem Rücktritt Rechbergs eines zähen Gegners entledigt. Allerdings kann man kaum von einem Erfolg des Staatsministers reden, da auch der neue Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern, Graf Mensdorff, ein Mann des Kaisers und nicht Schmerlings war. Im übrigen überlebte politisch Schmerling seinen Rivalen Rechberg nur um neun Monate30.

Rechberg hatte am 21. August 1859, acht Wochen nach der Niederlage bei Solferino und sechs Wochen nach dem Waffenstillstand von Villafranca (Verlust der Lombardei), das Amt des Ministerpräsidenten und zugleich des Ministers des kaiserlichen Hauses und des Äußern übernommen. Nachdem die Konsolidierung des Regimes durch das Oktoberdiplom von 1860 gescheitert war, wurde Schmerling als politisch führende Persönlichkeit ins Kabinett berufen. Den Vorsitz des Ministeriums übernahm am 4. Februar 1861 Erzherzog Rainer, Rechberg blieb aber Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern bis zum 27. Oktober 1864. Insgesamt bekleidete er also dieses Amt fünf Jahre und zwei Monate31.

Innenpolitik - Retrodigitalisat (PDF)

a) Die letzte Sitzungsperiode des siebenbürgischen Landtags in Hermannstadt

Vom 23. Mai bis zum 29. Oktober 1864 tagte die zweite – und letzte – Session des siebenbürgischen Landtags in Hermannstadt. Dieser sogenannte Hermannstädter Landtag war die politische Frucht der, wie sich später herausstellte, gescheiterten Politik Schmerlings. Als solcher hat er in der Historiographie nicht allzu viel Interesse gefunden, er ist Episode geblieben32. Immerhin verabschiedete er zwei bemerkenswerte Gesetze, nämlich jenes über die Inartikulation der rumänischen Nation, die damit als vierte Nation gleichberechtigt an die Seite der Ungarn, der Szekler und der Siebenbürger Sachsen trat, und das Sprachengesetz, das ebenfalls alle drei Sprachen gleich behandelte. Seine Wirkung war allerdings gering, da es erst am 5. Jänner 1865 sanktioniert wurde, kurz bevor sich der Kaiser von Schmerling, dem Befürworter der siebenbürgischen Sonderpolitik, ab- und Belcredi und der Aussöhnung mit Ungarn zuwandte.

Sowohl das Sprachengesetz als auch jenes über die Inartikulation der rumänischen Nation waren vom Landtag bereits in der ersten Session 1863 verabschiedet worden33. Aus der 1864er Session gingen nur vier Gesetze hervor, allesamt ohne Bedeutung für die Zukunft: das Gesetz über das Verfahren betreffend Sanktionierung und Kundmachung der Landesgesetze, eine Abänderung der Landtagsordnung betreffend die Diäten der Abgeordneten, das Gesetz über die Art und Weise der Wahl der Abgeordneten zum Reichsrat und das Gesetz über die Errichtung und Organisation eines Obersten Gerichtshofs. Wichtiger waren einige administrative, wirtschaftliche, rechtliche und sozialpolitische Themen, die ausführlich diskutiert wurden. Dazu gehört: administrative Neueinteilung des Landes, neue Gerichte erster Instanz, Angelegenheiten der Grundentlastung, darunter Waldnutzung und Aufteilung der Weide, die Errichtung einer Hypothekenbank, Eisenbahnbau und die Debatten über den Steuerdruck und über die Verkürzung der Militärdienstzeit.

Ein in sprachlicher Hinsicht bemerkenswertes Ergebnis dieser Epoche der siebenbürgischen Geschichte sind die Stenographischen Protokolle des Hermannstädter Landtags. Sie sind dreisprachig abgefaßt, aber nicht parallel mittels Übersetzungen, sondern abwechselnd. D. h. die ungarische, deutsche und rumänische Sprache wechseln einander ab, so wie die Abgeordneten eben sprachen. Gelegentlich gibt es Übersetzungen, aber sie sind ebenso spontan, wie die Abfolge der Redner. Parallel wurden die drei Sprachen || S. 19 PDF || nur bei den Gesetzentwürfen und Ausschußberichten verwendet. Diese Dokumente sind jeweils dreispaltig, die Protokolle selbst aber, im Umfang von 1972 großformatigen Seiten, sind fortlaufend gedruckt34.

Ähnlich wie bei den cisleithanischen Landtagen wird die Landtagssession im Ministerrat vorbereitet, wobei die formalen Aspekte interessanter sind als die inhaltlichen35, und es werden verschiedene Gesetzentwürfe diskutiert. Eine Besonderheit in Siebenbürgen war der Brauch, daß sich der Landtag einen Gesetzentwurf vom König zuerst bestätigen ließ, bevor er ihn in Verhandlung nahm, um anschließend die Ah. Sanktion zu erbitten36. Die Landtagssession wurde rechtzeitig vor Beginn der dritten Reichsratssession geschlossen37. Die Fortsetzung des Hermannstädter Landtags fiel dem österreichisch-ungarischen Ausgleich zum Opfer, Siebenbürgen wurde mit Ungarn vereinigt38.

b) Vorbereitung und Beginn der dritten Reichsratssession

Häufiger noch als mit dem siebenbürgischen Landtag beschäftigte sich der Ministerrat mit der Vorbereitung der dritten Reichsratssession. Der Kaiser selbst eröffnete die Gespräche darüber. Am 22. September übernahm er den Vorsitz im Ministerrat und stellte die Frage, „auf welchen Zeitpunkt die Eröffnung der neuen Reichsratssession anzuberaumen wäre und ob auch für Vorlagen gesorgt sei, die dem Reichsrate gleich nach seinem Zusammentreten hinlängliche Beschäftigung gewähren würden“39. Nachdem der Staatsminister den Anfang November als Sessionsbeginn und der Finanzminister den Staatsvoranschlag für 1865 sowie das Steuerreformpaket als vordringliche Themen bezeichnet hatten, brachte der Kaiser vier Gesetze bzw. Materien zur Sprache, bei denen er die Initiative des Abgeordnetenhauses erwartete und befürchtete. Die Minister beeilten sich, beruhigende Erklärungen abzugeben. Aus diesem Tagesordnungspunkt ist deutlich die Spannung herauszulesen, die zwischen der liberalen Mehrheit im Parlament, der Regierung und dem Kaiser herrschte40. Es handelte sich um die Ministerverantwortlichkeit, das Vereinsgesetz, die Heereser­gänzung und das Konkordat41. In allen diesen Punkten war Nachgiebigkeit zu vermeiden. Sorgfältig erwogen wurde die Frage, in welcher Form der Thronverzicht Erzherzog Ferdinand Maximilians, || S. 20 PDF || des nunmehrigen Kaisers von Mexiko, dem Reichsrat zur Kenntnis zu bringen sei42. Selbstverständlich wurde auch diesmal die Thronrede zur Eröffnung der Session im Ministerrat durchbesprochen43.

Ein besonderer und erstmals anfallender Gesprächspunkt war die Frage, ob der Reichsrat gemäß Oktoberdiplom und Februarpatent nur als Gesamt- oder weiterer Reichsrat (bestehend aus den Abgeordneten aller Reichsteile) oder auch gleichzeitig als engerer Reichsrat (bestehend aus den Abgeordneten der cisleithanischen Kronländer) einzuberufen sei. Bekanntlich war der Reichsrat erst im Lauf der zweiten Session durch den Eintritt der Abgeordneten aus Siebenbürgen zum weiteren oder Gesamtreichsrat geworden (wenigstens nach dem Buchstaben des Gesetzes, wenn auch nicht dem politischen Gewicht nach, fehlten doch weiterhin die Abgeordneten aus Ungarn und Kroatien)44. Der Kaiser trat dafür ein, daß die beiden Vertretungskörper nicht gleichzeitig, sondern nacheinander tagen sollten, erstens um zu verhindern, daß die liberalen Abgeordneten durch Junktimierung von Beratungsgegenständen aus verschiedenen Kompetenzbereichen einen Druck auf die Regierung ausüben konnten, zweitens um Besorgnisse ungarischerseits zu zerstreuen45. Es zeigte sich bei einer weiteren Besprechung über diese Frage, daß die meisten Minister auch für die Trennung der Beratungen waren. Nur der Staatsratspräsident und Minister Lasser waren aus arbeitstechnischen Gründen für die parallele Behandlung von Gegenständen des engeren und des weiteren Kompetenzbereichs46.

Der Reichsrat wurde schließlich auf den 12. November 1864 als Gesamtreichsrat „zur Ausübung der ihm durch § 10 des Grundgesetzes vom 26. Februar 1861 eingeräumten Wirksamkeit“ – das waren im wesentlichen die finanziellen Angelegenheiten – einberufen. In der Thronrede wurde die Einberufung des engeren Reichsrates in Aussicht gestellt: „Es ist Meine Absicht, sobald die Beendigung Ihrer Aufgaben den Schluß dieser Sitzungsperiode herbeigeführt haben wird, den engeren Reichsrat in seine Wirksamkeit treten zu lassen“47. Dazu ist es aber nicht mehr gekommen. Die dritte Session wurde am 27. Juli 1865 geschlossen, und es begann die sogenannte Sistierungsperiode48.

Die praktische Folge des Umstandes, daß in der dritten Reichsratssession 1864/65 nur der weitere Reichsrat versammelt war, nicht aber der engere (im Gegensatz zur ersten Session 1861/62 und zur zweiten Session 1863/64), war, daß in dieser Session keine Gesetzentwürfe aus dem Kompetenzbereich des engeren Reichsrates behandelt wurden. Dazu gehörten u. a. das Justizwesen, das Unterrichtswesen und die konfessionellen Angelegenheiten, alles Bereiche, in denen die liberalen Abgeordneten auf Reformen drängten49.

c) Stillstand in der ungarischen Frage

Nach dem Scheitern des Ausgleichsversuchs vom März 1863, als die ungarischen Altkonservativen nach dramatischem Ringen mit Schmerling unterlagen, indem der Kaiser die Zurückziehung aller Ausgleichspläne befahl und das Schmerlingsche Februarpatent als Grundlage der Politik bekräftigte, war in der ungarischen Frage eine weitere Zeit des Wartens angebrochen. Nur selten und indirekt taucht das Thema im Ministerrat auf.

Schmerling verfolgte sein Ziel, Ungarn zur Annahme des Februarpatents zu veranlassen, mit Zähigkeit und in kleinen Schritten. Der siebenbürgische Landtag wurde abgehalten, die rumänischen und sächsischen Abgeordneten erfüllten die Erwartungen und beschickten den Reichsrat. In Kroatien bemühte sich der Hofkanzler Mažuranić, eine regierungsfreundliche Mehrheit zu bilden, die das Februarpatent annehmen würde. Im Februar und März 1864 erwog der Ministerrat die Einberufung des Landtags, doch dürfte die Stimmung im Lande noch zu unsicher gewesen sein, um den Schritt zu wagen50.

In Ungarn selbst wurde im Frühjahr 1864 unter strikter Geheimhaltung die ungarische Widerstandsorganisation um Pál Almásy zerschlagen, ihre Mitglieder wurden vor die Militärgerichte gebracht. Der Ministerrat erwog in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten der Beeinflussung der Presse im Ausland und in Ungarn51.

In politischer Hinsicht versuchte Schmerling in Ungarn auf einem Nebenschauplatz voranzu­kommen, nämlich bei der Wiedereinführung der österreichischen Rechts- und Gerichtsordnung. Ein Vortrag Forgáchs zum Thema Justizgesetze diente als Anlaß, daß der Staatsrat und sein Präsident Lichtenfels unter dem Beifall Schmerlings „provisorische Regelungen“ beantragte. Der Zustand der Rechtspflege in Ungarn mache dies notwendig, und eine verfassungsmäßige Regelung werde noch geraume Zeit brauchen. Forgách setzte sich zur Wehr und nannte die Dinge beim Namen. Der Vorschlag überrasche ihn, provisorische Gesetzesregelungen „im Oktroyierungswege beraten zu lassen … Es sei nicht rätlich, in Ungarn alle Augenblicke das Bestehende in Frage zu stellen. Durch fortgesetzte Oktroyierungen beunruhigt man die Gemüter und schadet der guten Sache statt ihr zu dienen“52. Die Meinung Schmerlings blieb in diesem Punkt im Ministerrat in der Minderheit. Die Mehrheit teilte die Ansicht des Polizeiministers, daß es „andere, tiefergreifende Verfügungen“ brauche53. Diese Auseinandersetzung war ein Beispiel dafür, daß Forgách jedenfalls nicht der Mann war, von dem Schmerling Mithilfe bei der Durchführung seiner Politik gegenüber Ungarn erwarten konnte (obwohl Schmerling bei der Berufung Forgáchs zum ungarischen Hofkanzler im Jahr 1861 maßgeblich beteiligt gewesen war54). Schmerling arbeitete also auf die Ablöse Forgáchs hin. Am 22. April 1864 wurde Forgách, nachdem er schon seit dem 20. Februar krankheitshalber55 nicht mehr an den Ministerratssitzungen teilgenommen hatte56, auf sein Ansuchen || S. 22 PDF || hin in Gnaden seines Amtes enthoben und in den zeitlichen Ruhestand versetzt57. Zugleich wurde der Nachfolger ernannt, der Administrator des Eisenburger Komitates, Graf Hermann Zichy v. Vásonykeö, der bereit war, Schmerlings Politik zu unterstützen58.

Bereits einen Monat nach seiner Bestellung teilte Zichy dem Ministerrat seine Absicht mit, eine politische Disziplinierungsmaßnahme auszuführen, die schon längst beschlossen, aber von Forgách aufgeschoben worden war, nämlich die Amtsenthebung jener adeligen Obergespäne, die nach dem früheren System ihr Komitat nicht persönlich leiteten59.

Wenige Tage später, am 31. Mai 1864, legte er sein politisches Programm dem Ministerrat vor. Er hatte sich gemeinsam mit dem ebenfalls neu ernannten zweiten Hofkanzler Privitzer die Frage gestellt, „auf welchem Felde sie zunächst ihre größte Tätigkeit zur Verbesserung der dermaligen bedauerlichen Zustände“ in Ungarn entfalten sollten. Es gebe drei mögliche Richtungen: Bereinigung der staatsrechtlichen Verhältnisse, Verbesserung der Verwaltung oder Verbesserung im Justizwesen. Er habe sich für die Verbesserung im Justizwesen entschieden, wo „die Übelstände eine beinah unerträglich gewordene Höhe erreicht haben“60. Er griff also das von Lichtenfels und Schmerling betriebene Programm der Reform des ungarischen Justizwesens nach österreichischem Muster auf, dem Forgách Widerstand geleistet hatte. Übrigens gingen die Anträge Zichys dem streitbaren Staatspräsidenten immer noch nicht weit genug, was zu einer heftigen Diskussion führte. Der Ministerrat billigte im wesentlichen die Anträge Zichys, und am 8. Juni genehmigte der Kaiser die Grundzüge der provisorischen Gerichtsverfassung für Ungarn. In den folgenden Monaten wurden die Detailverhandlungen geführt, bei denen sich die Ansichten Lichtenfels’ weitgehend durchsetzten, und am 19. Dezember 1864 beschloß der Ministerrat die neue, im Wege der Oktroyierung durchzuführende Gerichtsordnung für Ungarn. In diesem Ministerrat faßte Hofkanzler Zichy den Stand der ungarischen Frage in folgendem bemerkenswerten Satz zusammen, der die ganze Verfahrenheit und Hilflosigkeit der Schmerlingschen ungarischen Politik aufzeigte: „So lange der Ausnahmszustand mit Militärgerichten in Ungarn bestehe und ein Preßgesetz nicht eingeführt sein wird, könne man an die Einberufung des Landtags nicht denken“61. Welchen Sinn also konnte es ergeben, das Provisorium durch eine oktroyierte Gerichtsverfassung zu ersetzen? Graf Esterházy hatte recht, wenn er meinte, er könne nicht begreifen, wie man sich von diesen Verfügungen einen gefügigeren Landtag erwarten könne62.

|| S. 23 PDF || Um diese Zeit aber begann sich das Blatt zu wenden. Die öffentliche Stimmung verlangte vehement Verhandlungen mit Ungarn, und um die Jahreswende 1864/65 begannen die geheimen Kontakte zwischen der Krone und Deák über den Ausgleich. Das Ende des seit April 1863 dauernden Stillstandes rückte näher. Im Ministerrat vom 5. Jänner 1865 wurde die Oktroyierung der Justizorganisation abgeblasen und die Einberufung des ungarischen Landtags auf die Tagesordnung gesetzt.

d) Errichtung einer Metropolie für die orthodoxen Rumänen

Ein großer Schritt wurde im Sommer 1864 auf dem Weg zur Wiedererrichtung einer eigenen Metropolie für die griechisch-orthodoxen Rumänen, anders gesagt zur Trennung der Rumänen von der serbischen Metropolie in Karlowitz getan. Dieses Anliegen wurde von den Rumänen, vor allem vom Bischof von Sibiu/Hermannstadt Schaguna schon lange betrieben. Der Kaiser hatte am 27. September 1860 ausgesprochen, daß er der Errichtung „nicht abgeneigt“ sei, hatte den Schritt aber vom Gutachten einer ordentlichen Synode abhängig gemacht63. Der Tod des serbischen Patriarchen Rajacsich im Dezember 1861, der ein unbedingter Gegner der Trennung war, brachte die Dinge in Fluß. Im Handschreiben vom 25. Juni 1863 an den Leiter der siebenbürgischen Hofkanzlei wurde die Voraussetzung der Zustimmung seitens der Synode der serbischorthodoxen Bischöfe von Karlowitz fallengelassen und positiv ausgesprochen: „… finde Ich zu erklären, es sei Meine Absicht, daß für die Romanen der griechisch-nichtunierten Kirche eine selbständige, der serbischen koordinierte Metropolie errichtet werde“64. Nur das Ausmaß der Kirchenprovinz blieb offen. Orthodoxe Rumänen gab es in Siebenbürgen, in Ungarn (Banat), in der Militärgrenze und in der Bukowina. Die Meinungen über den Umfang und über die Reihenfolge der Errichtung gingen auseinander65. Der orthodoxe Bischof in der Bukowina, Eugen Hackmann, dessen Diözesanen je zur Hälfte Slawen (Ruthenen) und Rumänen waren, war nicht bereit, sich einem rumänischen Metropoliten unterzuordnen, so daß die Diözese Czernowitz aus der Diskussion ausgenommen wurde66. Die Hauptfrage war somit, ob zuerst nur die Diözese Sibiu/Hermannstadt in Siebenbürgen zum Erzbistum erhoben werden, oder ob die Metropolie sofort auch die Rumänen in Ungarn umfassen sollte. Im Ministerrat vom 15. Jänner 1863 stimmten für die größere Lösung nur Forgách und Esterházy, während Nádasdy, Schmerling, Mecséry und Lichtenfels dafür eintraten, in Siebenbürgen den Anfang zu machen, und dies offen mit politischer Nützlichkeit begründeten. Die Frage war in das Umfeld der großen Auseinandersetzung vom Frühjahr 1863 zwischen den ungarischen Altkonservativen und den Deutsch-Zentralisten gerückt67. Franz Joseph wich der Entscheidung aus. In dem erwähnten Handschreiben vom 25. Juni 1863 blieb der Umfang, wie gesagt, offen. || S. 24 PDF || Gleichzeitig wurde Schaguna zu einem Gutachten aufgefordert. Der Bischof trat klar für die größere Lösung ein68. Im August 1864 wurde endlich die Vakanz des Karlowitzer Bistums durch die Wahlbestätigung des Samuel Maschirevics beendet69. Zugleich wurde eine Synode der orthodoxen Bischöfe einberufen, auf der die Errichtung der rumänischen Metropolie der wichtigste Verhandlungspunkt war70. In diesem Zusammenhang entschied sich der Kaiser auch endgültig in der Frage des Umfangs für die größere Lösung. Am 16. September 1864 unterzeichnete er eine „Nachtragsinstruktion“ an den kaiserlichen Kommissar auf der Synode, GM. Philippović, in der der Synode aufgetragen wurde, zu bezeichnen, welche Pfarrgemeinden in Ungarn und in der Militärgrenze den serbischen und den rumänischen Diözesen zufallen sollten. Damit war klar ausgesprochen, daß sich die rumänische Metropolie auf alle orthodoxen Rumänen in Österreich (mit der schon erwähnten Ausnahme der Bukowina) zu erstrecken hatte. Die Synode hatte auch die gemischten Pfarrgemeinden zu bezeichnen und sich über die Grundsätze der Behandlung dieser Gemeinden auszusprechen. Sie sollte über die Wahl der Bischofssitze, über die finanzielle Ausstattung der neuen Diözesen und über die Frage der zukünftigen Einheit aller orthodoxen Metropolien in Österreich Vorschläge unterbreiten71. Schon nach drei Monaten, am 9. Dezember 1864, konnte im Ministerrat über die Anträge der Synode beraten werden72, am 24. Dezember 1864 genehmigte Franz Joseph die Errichtung der Metropolie und ernannte Schaguna zum „Erzbischof und Metropoliten der griechisch-orientalischen Romanen in Siebenbürgen und Ungarn“73. Die Detailverhandlungen brauchten freilich noch Zeit. Die faktische Übergabe der Pfarreien, die tatsächliche Konstituierung und die gesetzliche Absicherung durch den ungarischen Landtag zogen sich bis ins Jahr 1869 hin74.

e) Milderung des Belagerungszustandes in Galizien

Nach wie vor beschäftigten den Ministerrat die Auswirkungen des Aufstandes in Russisch-Polen auf Galizien. Im Februar 1864, ein Jahr nach dem Ausbruch des Aufstandes im benachbarten Teilungsgebiet, hatte die Regierung auf Drängen des Statthalters Graf Mensdorff in Galizien den Belagerungszustand ausgerufen75. Die einschneidendsten Maßnahmen waren die Aufhebung der Gesetze zum Schutz der persönlichen Freiheit und zum Schutz des Hausrechtes, die Übertragung einer Reihe von Verbrechen, Vergehen und Übertretungen aus der Kompetenz der Zivil- in jene der Militärgerichte und die Erweiterung der Polizeibefugnisse des Kommandierenden Generals zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung.

|| S. 25 PDF || Die bevorstehende Reichsratssession veranlaßte die Regierung im November 1864, eine Milderung des Belagerungszustandes und eine Amnestie zu diskutieren76. Der Polizeiminister wies darauf hin, daß eine Stellungnahme der Abgeordneten im Rahmen der Adresse nach der Reichsratseröffnung zu erwarten sei. Die Regierung würde durch eine versöhnliche Geste einem allfälligen Druck des Reichsrates zuvorkommen. Außerdem würden solche Maßnahmen im Ausland vorteilhaft wirken. Staatsminister Schmerling trat vor allem für die Aufhebung der außerordentlichen Militärgerichtsbarkeit ein. Der Minister des Äußern Mensdorff, dessen Wort als ehemaliger Statthalter in Galizien in dieser Sache besonderes Gewicht hatte, lehnte die gänzliche Aufhebung ab. Hochverrat und Störung der öffentlichen Ruhe sollten weiterhin von den Militärgerichten abgehandelt werden. Immerhin beschloß die Regierung, alle übrigen Delikte wieder den Zivilgerichten zu übertragen. Zweifellos wurde dadurch der Druck vermindert. Z. B. wurden nun die Teilnahme an Geheimgesellschaften, die Herabwürdigung behördlicher Verfügungen, Geldsammlungen für bereits Verurteilte und andere strafbare Tatbestände nicht mehr von den härteren Militärgerichten geahndet. Gleichzeitig wurde auch eine mildere Behandlung der politischen Gefangenen beschlossen77. Am 7. November, wenige Tage vor der Eröffnung des Reichsrates, sanktionierte der Kaiser diese Beschlüsse. Dagegen wurde die Erlassung einer teilweisen Amnestie, die der Polizeiminister beantragte, vom Ministerrat nach längerer Debatte als verfrüht abgelehnt. „Es würde eine halbe Maßregel sein, die niemand befriedigen werde und die jedermann als durch die Scheu vor dem Reichsrat abgenötigt erkennen dürfte“, meinte z. B. der Justizminister78.

In einem anderen Zusammenhang kamen die Minister noch einmal auf den Belagerungszustand in Galizien zu sprechen. Man erwartete eine Diskussion im Abgeordnetenhaus über die Frage, ob er als eine legislative Notverordnung nach § 13 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung oder als eine rein administrative, in den Bereich der Exekutive gehörende Maßnahme verfügt worden sei. Damit war das verfassungsrechtliche Problem der Machtverteilung zwischen Regierung und Parlament angesprochen. Die Regierung vertrat natürlich entschieden die Meinung, daß die Verhängung des Ausnahmezustandes eine Sache der Exekutive zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung sei. Bemerkenswert ist die Äußerung Lassers, daß es notwendig sein dürfte, „ein eigenes Belagerungsgesetz im verfassungsmäßigen Wege zustande zu bringen, welches das Recht der Regierung festsetzt, in gewissen Fällen den Belagerungszustand ohneweiters eintreten zu lassen“79. Tatsächlich wurde für Cisleithanien fünf Jahre später ein solches Gesetz erlassen80.

Finanz und Steuerpolitik - Retrodigitalisat (PDF)

Finanzminister Plener hielt unverrückbar die beiden Ziele im Auge: durch die Tilgung der Schulden des Staates bei der Nationalbank sollte die freie Konvertierbarkeit der Währung und durch einen möglichst ausgeglichenen Staatshaushalt das Vertrauen in die Staatsfinanzen wiederhergestellt werden81. Eine Reihe von Maßnahmen, wie die Einberufung des Reichsrates, die Prüfung des Budgets durch denselben, die zähe Sparpolitik und der Abschluß der Bankakte, hatten beachtliche Erfolge auf diesem Weg gezeitigt82. Einen Rückschlag brachte die Mißernte des Jahres 1863 in Ungarn, die eine Verminderung der Steuereinnahmen und vermehrte Ausgaben zur Linderung der Not verursachte83. Gleichzeitig wurde die Möglichkeit der Kreditaufnahme auf den ausländischen Kapitalplätzen durch die schleswig-holsteinische Krise empfindlich beeinträchtigt, und die sogenannte Silberanleihe, die Plener im Mai 1864 bei einem Bankenkonsortium plazieren konnte, war wenig erfolgreich, nur ein schwaches Drittel der Anleihe wurde gezeichnet84.

Dennoch schien die Situation gegen Ende des Jahres 1864 zwar ernst, aber nicht dramatisch zu sein. Der Finanzminister eröffnete dem Ministerrat am 16. September in einer Vorschau auf das Budget für 1865, daß die bei ihm eingelaufenen Forderungen der Ministerien die präliminierten Einkünfte um 60 Millionen Gulden überstiegen. Wenn es gelänge, diese Mehransprüche durch Einsparungen um ein Drittel zu senken, dann hoffe er die restlichen 40 Millionen ohne eine neue Finanzoperation im Jahre 1865 aufzubringen. Plener erläuterte dann die Schwierigkeiten, auf dem ausländischen Kapitalmarkt Geld aufzubringen, und betonte, „es sei zur Erhaltung und Konsolidierung des österreichischen Staatskredits eine dringende Notwendigkeit, daß im Jahre 1865 keine neue Kreditoperation vorgenommen werde“85. Aber er hielt dies für machbar. Der Kriegs- und der Marineminister erklärten sich daraufhin mit einer Reduktion ihrer Forderungen einverstanden. Mit dem Budgetentwurf für 1865 hatte Plener sein beharrlich verfolgtes Ziel erstmals erreicht: Das ordentliche Budget war bis auf einen Restbetrag von 1,5 Millionen Gulden ausgeglichen, das außerordentliche Defizit sollte schließlich nur mehr 32 Millionen Gulden betragen. Freilich stand dies alles zunächst nur auf dem Papier86. In Wirklichkeit gestalteten sich die Aus- und Einnahmen anders, zum Teil aufgrund zu optimistischer Annahmen, etwa was die Steuereinnahmen betraf, zum Teil aber auch aufgrund externer Faktoren.

Ein großer Betrag, mit dem im Budget 1865 gerechnet wurde, war die Kriegskostenvergütung aus dem schleswig-holsteinischen Krieg. 18 Millionen Gulden hatte der Feldzug die Monarchie gekostet. Sie sollten gemäß dem Friedensvertrag wieder zurückfließen, doch zogen sich die Verhandlungen jahrelang hin87.

|| S. 27 PDF || Ein weiterer großer Posten, der sich für 1865 als uneinbringlich erwies, waren die Einnahmen aus dem Verkauf von Staatsgütern in der Höhe von 15 Millionen Gulden. Plener wußte, daß es sich bei der „Privatisierung von Staatseigentum“ – auch damals eine Möglichkeit zur Budgetfinanzierung – um eine begrenzte Möglichkeit handelte. „Der Verkauf von Staatseigentum ist nur ein Palliativ und kann nicht mehr lang fortgesetzt werden, nachdem der Staat sich gewisser Montanwerke, der Salinen und der großen Waldkomplexe aus höheren Rücksichten nicht entäußern darf.“88 Den Verkauf eines Teils der Staatsgüter bezeichnete er aber „als ein unabwendbares Gebot der Notwendigkeit“. Da der ausländische Geldmarkt für einen Kredit zu angespannt, die Rückzahlung der Schulden an die Nationalbank aber zwingend notwendig war, blieb, so Plener am 24. Oktober, nur dieses Mittel übrig, und es „sei auch zu einem so wichtigen Zweck [das ist die Währungssanierung] zu dienen wohl vollkommen berufen, und werde sich diese Verwendung reichlich lohnen“89. Obwohl der Ministerrat in dieser Frage geteilt war90, wurde der Posten in den Staatsvoranschlag eingestellt. Doch gestalteten sich die tatsächlichen Verkaufsverhandlungen schwierig, und vor allem verweigerte der Reichsrat aus finanziellen, aber auch aus politischen Gründen die rasche Verabschiedung des Finanzgesetzes für 1865, das Plener am 17. November 1864 eingebracht hatte, und damit auch die Zustimmung zum Verkauf.

Vor allem das monatelange Tauziehen zwischen Regierung und Reichsrat um das Budget für 1865 führte schließlich dazu, daß sich die Lage der Staatsfinanzen, die sich zum Zeitpunkt der Eröffnung der dritten Reichsratssession aus der Sicht des Finanzministers zwar ernst, aber hoffnungsvoll darstellte – Plener sprach von einer „Übergangsperiode“ bis 186791 – im Lauf des Jahres 1865 dramatisch verschlechtern sollte.

Einen finanzpolitischen Erfolg konnte Plener im Dezember 1864 erzielen. Die Umwandlung der mißglückten Silberanleihe vom Mai des Jahres in eine nur im Inland aufgelegte Steueranleihe in der Höhe von 25 Millionen Gulden zur Deckung des Defizits für das laufende Jahr wurde mehr als doppelt überzeichnet92.

Insgesamt waren die Reformansätze Pleners richtig und zukunftsweisend. Dies galt nicht nur für die Neugestaltung des Budgetaufbaus und der Budgetprinzipien und für die Trennung zwischen Staatsfinanzen und Nationalbank, sondern auch für die Steuerpolitik. Nachdem er das Steuerreformpaket von 1863 hatte zurückziehen müssen93, versuchte er zu Beginn der dritten Reichsratssession einen neuen Anlauf. Gegen beträchtlichen Widerstand im Ministerrat setzte er die Idee der allgemeinen Klassen- und Einkommensteuer durch94. Der Staatsratspräsident und mehrere Minister sahen darin eine unzulässige Doppelbesteuerung und befürworteten statt dessen die Zuschläge zu den bestehenden Steuern. Plener vertrat den Standpunkt, daß die geplante Steuer unbedingt notwendig und auch gerecht sei, indem jedermann eine nach Vermögensklassen gestaffelte, vergleichsweise || S. 28 PDF || mäßige Abgabe vom reinen Einkommen zu entrichten hatte, wobei ein Einkommen von 365 fl. steuerfrei blieb. Wie wichtig die allgemeine Einkommensteuer für Pleners langfristiges Sanierungsziel war, zeigen seine finanziellen Erwartungen: er rechnete mit einem Steueraufkommen von 20 Millionen Gulden jährlich95. Das Ministerratsprotokoll mit der ausführlich wiedergegebenen Diskussion zu diesem Thema gehört zu den interessantesten des vorliegenden Bandes96.

Wirtschaftspolitik - Retrodigitalisat (PDF)

Immer wieder werden in den Ministerratsprotokollen wirtschaftspolitische Ansichten und Grundsätze der Regierungsmitglieder festgehalten. Die Wirtschaftspolitik wird freilich nicht unter diesem Stichwort thematisiert, sondern verbirgt sich hinter anderen Tagesordnungspunkten, wie Konzession von Eisenbahnlinien oder Banken, Staatshaushalt, Staatsgüterverkauf, Zollpolitik, Handelsgesetze oder hinter Einzelfällen wie z. B. – im vorliegenden Band – hinter den Tagesordnungspunkten über die Wiener Porzellanmanufaktur oder den Staatsforst Montello in Venetien.

Auszugehen ist davon, daß die grundlegende Richtung der Minister der Wirtschaftsliberalismus war. Schon während der neoabsolutistischen 1850er Jahre hatte – im Gegensatz zum politischen Bereich – der Rückzug des Staates aus der direkten Wirtschaftstätigkeit eingesetzt. Die Regierung hatte begonnen, die Rahmenbedingungen für Handel und Industrie nach den überall vordringenden Vorstellungen des ökonomischen Liberalismus zu gestalten und abzuändern97. Diese Tendenz verstärkte sich in den 1860er Jahren, einerseits durch die Tätigkeit der liberalen Minister für Finanzen (Plener) und Handel (Wickenburg und Kalchberg) bei weitgehender Unterstützung seitens des gesamten Ministeriums, andererseits durch die Unterstützung, ja den Druck, der in dieser Hinsicht vom Abgeordnetenhaus ausging98. Der Staat wußte die Vorteile der „natürlichen Konkurrenz“99 zu schätzen und für sich auszunützen, ob es sich um verschiedene Bewerber für eine Eisenbahn, um den möglichst günstigen Verkauf von Staatsgütern100 oder um die Begebung einer Anleihe im Weg der Ausschreibung an den Bestbietenden handelte101. Die 1860er Jahre mündeten schließlich in die Periode des Hochliberalismus 1867–1873102.

Wenn also der Wirtschaftsliberalismus die grundlegende Richtung war, so kommen doch auch andere Meinungen vor, die einer konservativeren, mehr staatsinterventionistischen || S. 29 PDF || Richtung entsprangen. Gerade dadurch gewinnen aber die Protokolle an Farbe und Informationswert. Allseits geteilte, selbstverständliche Ansichten bleiben mitunter unausgesprochen, die kontroverse Meinung bietet Anlaß zur Formulierung der eigenen Position.

Z. B. führte der ganz unscheinbare Kompetenzstreit, ob das Staats- oder das Handelsministerium für die Bewilligung zur Ausübung eines Personenfuhrunternehmens zuständig sei103, im Ministerrat zu einer Debatte zwischen Kalchberg und Lasser. Der Handelsminister, der hier das staatliche Postregal verteidigen zu müssen glaubte, vertrat die Ansicht, es sei „das Recht der Staatspost, ihr Recht zur Personenbeförderung an Private vertragsmäßig zu überlassen“, wogegen der Verwaltungsminister einwandte, daß dies „ein überwundener Standpunkt“ sei, und bewies, daß eine Exklusivität der Post hier nicht mehr vorhanden sei.

Als Plener die Auflassung der defizitären k. k. Wiener Porzellanfabrik beantragte, erhob sich von seiten des Herrenhauses und des Staatsrates Widerstand dagegen. Die Fabrik sollte vielmehr in eine Lehr- und Musteranstalt umgewandelt werden. Der Finanzminister setzte sich schließlich mit seiner Ansicht durch, daß „das Heil der österreichischen Porzellanindustrie“ nicht von dieser „verlebten Anstalt“ ausgehen würde. Er vertraute also mehr der Privatindustrie selbst als einer staatlich geführten Musteranstalt104.

Ein weiteres Beispiel für aufschlußreiche Meinungsdifferenzen war die schon erwähnte Frage Freihandel oder Schutzzoll105.

Unterschiedlich waren die Ansichten auch beim Verkauf von Staatsgütern. Dabei wurde einerseits die Privatisierung als nützlicher und sinnvoller Weg angesehen. „Es sei eine anerkannte Tatsache, daß der Private besser wirtschaftet als das Ärar“, sagte Plener anläßlich der Debatte um den Verkauf des Kupferwerkes in Agordo (Venetien) und des Eisenwerkes in Primör/Primiero (Tirol), da sich der Private freier bewegen könne106. Für den Polizeiminister war die Vermehrung des Nationalreichtums das ausschlaggebende Argument, also die Frage, „ob sie [die Unternehmung] im Besitze von Privaten denselben oder noch einen größeren Ertrag liefern werde“107. Aber der Staat sei kein reiner Kapitalist, formulierte andererseits Schmerling den Gegenstandpunkt. Der Staatsminister führte ein Argument „polizeilicher Natur“ – in heutiger Sprache ein soziales – und ein politisches an. Ganze Gegenden leben oft von einer Unternehmung, und es könne für den Staat nicht gleichgültig sein, ob die Bevölkerung ihre Arbeit verliere und somit das Proletariat vermehrt werde. Zugleich habe der Staat als Unternehmer in einem solchen Fall größeren Einfluß auf die Bevölkerung, was besonders im lombardisch-venezianischen Königreich wichtig sei. Schmerling sprach damit die Loyalität der Bevölkerung zum Staat an. Esterházy und Zichy waren derselben Meinung: „Wenn z. B. Nagybánya zum Verkauf käme, könnte eine Bevölkerung von fünf- bis sechstausend Seelen brotlos werden.“ Beiden Argumenten wurde widersprochen. Plener beharrte darauf, daß das Werk in Agordo „in Privathänden viel mehr Arbeiter beschäftigen || S. 30 PDF || werde als in jenen des Ärars“, und der Kriegsminister erinnerte daran, „daß er im Jahre 1848 von dem FZM. Baron Weiden mit einer ganzen Kriegsexpedition in jene Gegend kommandiert worden sei, um die Domänenbeamten gegen die aufständische Bevölkerung zu schützen“, d. h. die Loyalität zum Staat hing nicht davon ab, ob er Arbeitgeber war oder nicht.

Soziale und politische Argumente wurden auch in anderem Zusammenhang geäußert. Als Plener Waldschutzmaßnahmen für den Forst Montello in Venetien im Interesse der Marine forderte, vertrat Lasser den sozialpolitischen Standpunkt. Unter Hinweis auf die zwölftausend Bewohner der umliegenden Dörfer, die vom Wald lebten, sagte er: „Man täte sehr unrecht, die Sache bloß einseitig vom Rechtsstandpunkte des Waldeigentumes und dem der Forstkultur zu beurteilen. Die Regierung muß auch den politischen Standpunkt, sie muß die gefährdete öffentliche Ruhe berücksichtigen. Zweihundert bis dreihundert Klafter Holz sind wohl kein sehr großes Objekt, mit Rücksicht auf die große Zahl von Armen in den vielen beteiligten Gemeinden.“108 Daß den Staat nicht allein finanzielle Gesichtspunkte leiten konnten, wußte natürlich auch der Liberale Plener. Ausdrücklich verzichtete er auf den Verkauf eines Waldes in Ungarn, da „wichtige nationalökonomische Rücksichten dafür streiten, diesen großartigen Waldbesitz nicht in Privathände übergehen zu lassen“109.

Die heftigste und aufschlußreichste Kontroverse wirtschaftspolitischer Natur löste der Antrag eines belgischen Bankiers auf Bewilligung einer Immobilienbank aus. Sie war nicht als eine Bodenkreditbank geplant, sondern sollte Güter aufkaufen und ganz oder parzelliert wiederverkaufen. Plener befürwortete eine solche Anstalt, weil er hoffte, auf diesem Weg den umfangreichen Staatsgüterverkauf abwickeln zu können, den er aus Gründen der Budgetsanierung plante110. Einige Mitglieder des Staatsrates und des Ministerrates opponierten heftigst. Sie sahen darin nur Spekulation und „Bodenzertrümmerung“, es handle sich um „Güterschlächter“, die der Landwirtschaft Schaden bringen, indem der Bauernstand und der Stand der Großgrundbesitzer ruiniert würden. Der Grundbesitz dürfe nicht zur Ware werden, überhaupt sollten Ausländer nicht ohne staatliche Bewilligung Grund erwerben dürfen. Lichtenfels brachte ein anschauliches Beispiel für das „Bauernlegen“. Ein Gut in Ungarn war um 550.000 fl. gekauft und um 960.000 fl. parzelliert an Bauern von zwölf Gemeinden wieder verkauft worden. Dabei seien alle möglichen Verführungskünste angewendet und die Unwissenheit der Leute ausgenützt worden111. Plener trat diesen Auffassungen entgegen, er könne „diese Furcht vor ausländischem Kapital und die Schwarzseherei wegen Schwächung des konservativen Elements … nicht teilen. Diese Ansichten erscheinen ihm nicht mehr haltbar und zeitgemäß, vor allem tue freie Bewegung not …“ Man könne nicht alle Grundbesitzer als unzurechnungsfähig hinstellen. Allerdings war auch ihm der Schutz des Bauernstandes ein Anliegen112.

|| S. 31 PDF || Eine weitere Spielart wirtschaftspolitischen Denkens ist in den Ministerratsprotokollen belegt: Maßnahmen im Interesse eines Industriezweigs, die eine Ausnahme von den Grundsätzen der Regierung darstellten, also Politik für eine Lobby. Die Zuckerfabrikanten forderten im Herbst 1864 eine Erhöhung der Steuerrückvergütung beim Zuckerexport, also eine Exportförderung, da die Industrie schon seit geraumer Zeit unter Druck sei. Die Ernte des Jahres 1864 habe außerdem ungewöhnlich wasserreiche Rüben mit geringem Zuckergehalt erbracht, was den Gestehungspreis des Rohzuckers erhöhte. Der Finanzminister wehrte sich heftig gegen diese Steuererleichterung113. Die Krise sei durch Überproduktion selbstverschuldet. „Warum aber soll der Staat in der Zuckerkrisis helfend einschreiten, da er es in den ungleich schwereren Baumwoll- und Eisenkrisen nicht getan.“ Der Handelsminister, der das Anliegen der Zuckerbarone vertrat, gab zwar das Prinzip zu, „daß vorübergehende Kalamitäten eines Industriezweiges keinen Anspruch auf Staatssubvention gewähren“, verteidigte aber dennoch die „exzeptionelle Maßregel“. Die Zuckerlobby sicherte sich die Mehrheit des Abgeordnetenhauses und der Regierung. Dem Finanzminister blieb nichts anderes übrig, als unter Wahrung seines Standpunktes, „daß eine derartige Begünstigung gewisser Industriezweige nicht von Nutzen, vielmehr gefährlich sei“, der Mehrheit des Ministerrates nachzugeben114.

Zum Aussagewert der Protokolle - Retrodigitalisat (PDF)

Schon einmal wurde an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß jede Quelle mehr enthält, als die Inhaltsangabe erwarten läßt und die editorische Bearbeitung aufzeigen kann115. Daran sei wieder anhand einiger Beispiele erinnert.

Daß das Verhältnis zwischen Regierung und Reichsrat von besonderer Art war, wurde mehrmals beschrieben116, und im letzten Jahr des Kabinetts Erzherzog Rainer/Schmerling wurde das Verhältnis zum Teil sehr gespannt. Doch fand der Reichsrat auch loyale Verteidiger. In diesem Sinn ist eine Äußerung des (vom Abgeordnetenhaus nicht mit Sympathiebezeugungen verwöhnten) Staatsratspräsidenten Lichtenfels bemerkenswert. Er wandte sich mit folgender Begründung gegen den Antrag der kroatisch-slawonischen Hofkanzlei, ihr vom Reichsrat gekürztes Budget unter Berufung des § 13 wieder zu erhöhen: „Ein solches Verfahren hieße mit der Verfassung Spiel treiben und könnte nur als eine Verspottung des Reichsrates angesehen werden“117. Dazu wollte er also nicht seine Hand bieten.

Eine Verteidigung ganz anderer Art löste eine Bemerkung des Kaisers über die Ausschreitungen der Presse aus118. Der Staatsminister bestätigte „das Prosperieren der schlechten Presse“, schob die Schuld aber „hauptsächlich dem Publikum – mit Einschluß der Gutdenkenden“ zu, weil die Oppositionspresse eben so viele Abonnenten || S. 32 PDF || fand. Der Polizeiminister setzte hinzu, „daß tatsächlich die Journale durch schlechte Artikel nur Abnehmer gewinnen und selbe durch gemäßigte regierungsfreundliche Artikel verliere“. Ob nicht vielleicht die Politik der Regierung oder des Kaisers die Zeitungen zu „schlechten Artikeln“ veranlaßte, wurde nicht in Erwägung gezogen.

Ambivalent war nicht nur das Verhältnis zur Presse, sondern auch das zu einer anderen Form der Beteiligung der Gesellschaft an der Politik: den Wahlen. Die Anregung der niederösterreichischen Landwirtschaftsgesellschaft, es sollten Ackerbaukammern als gewählte Interessenvertretungen (gleich den Handelskammern) eingerichtet werden, stieß bei den meisten Ministern auf Ablehnung. Wieder einmal war es der streitbare Staatsratspräsident, der seine Meinung am prägnantesten formulierte. Er meinte, die Regierung solle sich ihre Ratgeber lieber selbst auswählen, „als sich auf Wahlen zu verlassen, die bei jeder Art des Organismus von einer Menge unberechenbarer Zufälle abhängen. Zudem wird heutzutage bei uns bereits zu oft und zu viel gewählt!“119

Veränderungen im Ministerium - Retrodigitalisat (PDF)

Im Jahre 1864 wurden drei ständige Mitglieder des Ministerrates ausgetauscht. Am 19. Februar schied Kriegsminister Graf Degenfeld aus dem Amt. Zum Nachfolger wurde FML. Carl Ritter v. Franck ernannt120. Gleichzeitig gab es einen Wechsel in der Stellvertretung des Kriegsministers. FML. Carl Freiherr v. Mertens wurde Präsident des Obersten Militärgerichtssenates. Als Kriegsministerstellvertreter folgte ihm FML. Adolf Freiherr Schiller v. Herdern nach121.

Am 22. April 1864 wurde der Rücktritt des ungarischen Hofkanzlers Graf Forgách angenommen und der Obergespansadministrator Graf Hermann Zichy v. Vásonykeö zum ungarischen Hofkanzler ernannt122. Auch hier gab es einen gleichzeitigen Wechsel des Stellvertreters. Ladislaus v. Károlyi wurde in Disponibilität versetzt und Stephan v. Privitzer zum zweiten ungarischen Hofkanzler ernannt123. Außerdem wurde Koloman Beke v. Szabad-Szent-Király zum Hofvizekanzler ernannt124.

Schließlich schied am 27. Oktober 1864 der Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern Graf Rechberg aus dem Amt. Sein Nachfolger wurde der Statthalter in Galizien FML. Alexander Graf Mensdorff-Pouilly125. Mit Ah. Entschließung vom 30. Oktober 1864 wurde ihm „in Berücksichtigung der Stellung, die der Minister des kaiserlichen Hauses einzunehmen hat, der erste Platz unter den Mitgliedern des Ministerrates angewiesen“126.