Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)

Von Stefan Malfèr

Die Jahreswende 1862/63 war für Krone, Regierung und Parlament in Österreich in besonderer Weise ein Anlaß, Rückschau zu halten. Am 18. Dezember 1862 wurde die erste Session des Reichsrates feierlich geschlossen. Viele Gesetze traten im November und im Dezember in Kraft, die Ernte der verfassungsmäßigen legislatorischen Tätigkeit von eineinhalb Jahren. Die finanzielle Situation hatte sich seit dem kriegsbedingten Tiefpunkt von 1859/60 wesentlich gebessert. Die zweite Landtagssession stand bevor. Ohne Zweifel konnte man von einer Konsolidierung der innenpolitischen Lage sprechen, obwohl ein überaus wichtiger Komplex – die ungarische Frage mit all ihren Folgerungen bis hin zur Kompetenz des Reichsrates (engerer oder Gesamtreichsrat) und zum Auszug der Föderalisten bei der Behandlung aller Finanzfragen im Abgeordnetenhaus – ungelöst geblieben war, was das anderweitig Erreichte relativierte. Gewiß hätte im Dezember 1862 niemand begründet prophezeien können, daß die Monarchie gerade den halben Weg zwischen zwei Kriegen und zwei Niederlagen und eine ähnliche Wegstrecke zwischen der Gewährung der Verfassung und ihrer Sistierung zurückgelegt hatte. Nimmt man noch den um die Jahreswende 1862/63 begonnenen Ausgleichsversuch mit Ungarn hinzu, dann kann || S. 10 PDF || man die mathematische Zufälligkeit der „Halbzeit“ auch anders interpretieren, nämlich als den von zwei Krisen entferntesten Punkt.

Schluß der ersten Session des Reichsrates - Die Thronrede - Retrodigitalisat (PDF)

Der Reichsrat wurde im Zeremoniensaal der Hofburg, wo er auch am 1. Mai 1861 eröffnet worden war1, mit der vom Kaiser verlesenen Thronrede geschlossen. Die Rede vermittelte den Eindruck von Zufriedenheit und Erfüllung. Hier einige Ausschnitte:

„In dem gegenwärtigen Augenblicke, in welchem Ich die erste Session des Reichsrates schließe, spreche Ich es mit Befriedigung aus, die Erwartung, der Ich in jener Stunde [bei der Eröffnung] Ausdruck verliehen, ist nicht getäuscht, Meine Zuversicht auf das Gedeihen des mit gemeinsamer Kraft unternommenen Werkes befestiget worden.

Ungetrübt sind uns die Segnungen des Friedens erhalten geblieben, und wir können hoffen, daß wir uns dieses kostbaren Gutes noch ferner erfreuen.

Groß und schwierig war die Aufgabe, die Meinem Reichsrate gestellt war. Mit entschlossenem Ernste und mit richtigem Verständnisse sind Sie an die Lösung gegangen.

Schon ist auf verfassungsmäßigem Wege eine Reihe wichtiger Gesetze zustande gekommen.

Die Ordnung des Staatshaushaltes nach allen Richtungen hin hat Ihre besondere Sorgfalt in Anspruch genommen.

Begleitet von erfreulichen Wahrnehmungen des Fortschreitens zum Besseren kehren Sie in Ihre Heimat zurück, in welcher Sie einer neuen Tätigkeit entgegengehen2.“

Zwei Ministerratsprotokolle des vorliegenden Bandes gewähren uns Einblick in die Entstehung der Thronrede. Die Differenzen, die dabei zum Vorschein kamen, geben uns aber auch Einblick, wie verschiedene Regierungsmitglieder die Bilanz der Session sahen oder sehen wollten3.

Den Entwurf der Rede legte Staatsminister Schmerling im Ministerrat vor. Die Minister waren mehrheitlich einverstanden, Rechberg aber, Schmerlings konservativer Widerpart im Kabinett, fand die Rede zu sehr ins Detail gehend. Es entspann sich eine lebhafte, stellenweise hart geführte Diskussion. Rechberg schwebte eine kurze und ganz allgemein gehaltene Rede vor, während die konkreten Einzelheiten über || S. 11 PDF || die abgelaufene Session, vor allem die Aufzählung der zustandegekommenen Gesetze, anschließend vom Staatsminister vorzutragen seien. Dies schien ihm der Würde des Thrones angemessener und insofern geboten, als die Rede ein wichtiger Präzedenzfall sei. Dieser Vorgangsweise, die dem englischen Vorbild entsprach, stimmten auch Forgách und Esterházy zu. Lasser machte auf den verfassungsmäßigen Unterschied zwischen Österreich und Großbritannien aufmerksam, „wo der Souverän eigentlich nicht Regent, sondern nur Träger der Krone ist … In Österreich aber ist das Verhältnis ein wesentlich verschiedenes, und es fehlt somit an einem Grunde, sich hier die englische Form anzueignen.“ Schmerling beharrte darauf, daß die Thronrede eine gewisse Feierlichkeit haben müsse, und geschickt legte er auch „größten Wert darauf, daß die Reichsratssession mit der Thronrede gänzlich geschlossen und der Kaiser gleichsam das allerletzte Wort habe“. Die Rede hatte in seinen Augen hauptsächlich den Zweck, „die Tätigkeit und Wirksamkeit dieser ersten Reichsratssession anschaulich zu machen und vom Ah. Throne aus dessen zu gedenken, was bereits unter Mitwirkung dieses Körpers sowohl für die geistige als materielle Wohlfahrt des Reiches geschehen ist“. Sie sollte also die erfolgreiche Arbeit des nach dem Schmerlingschen Februarpatent gestalteten Reichsrates anerkennen und damit indirekt die Regierung selbst stärken, die im Zeichen der Verwirklichung dieses Patentes angetreten war. Dagegen opponierten Rechberg, Forgách und Esterházy. Das Lob für Schmerling sollte nicht allzu groß sein, der Kaiser sollte „ganz allgemein und bündig“ zu Wort kommen und offenbar nicht als Sprecher einer Partei auftreten. Sogar Kriegsminister Degenfeld, der für Schmerling stimmte, fand den Entwurf zu „salbungsvoll und homiletisch“.

Die Mehrheit stimmte aber dem Entwurf zu, und man schritt zur Teilberatung. Umso überraschender mußte es sein, als Franz Joseph selbst einige Tage später mitteilte, daß er den Entwurf als nicht ganz entsprechend befunden habe. Es war ein nochmaliges posthumes Lob für den Verfasser der Thronrede vom 1. Mai 1861, den inzwischen verstorbenen Sektionsrat Perthaler, daß der Kaiser meinte, jene Rede sei vortrefflich verfaßt gewesen und habe seine innerste Überzeugung ausgesprochen4. Nicht ebenso der Entwurf der Schlußrede. Deshalb hatte er, Schmerling übergehend, einen zweiten Entwurf ausarbeiten lassen, der allerdings mehr eine Korrektur des ersten Entwurfes als ein neuer Text war5. Vergleicht man den Entwurf Schmerlings mit dem endgültigen Text, so sind keine gravierenden Unterschiede festzustellen. Der Tonfall ist aber doch ein anderer, weniger propagandistisch im Sinne der Regierung, obwohl die Aufzählung der Gesetze beibehalten wurde. Hier ein Vergleich einer Textstelle, an der der Positionsstreit zwischen den liberalen und den konservativen Kräften besonders deutlich sichtbar wird. Die Stelle betrifft drei wichtige liberale Gesetze der ersten Session, das Immunitätsgesetz, das Pressegesetz und das Gesetz über die persönliche Freiheit. Die Genugtuung über diese Gesetze und die Verbeugung vor der Presse sind bei Schmerling deutlich zu spüren; der endgültige Text ist trocken und kurz:

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Die allzu liberalen Wendungen wurden also beseitigt: „berechtigte Ideen der Zeit“ wurde gestrichen, „geänderte Zeitverhältnisse“ durfte bleiben. Ebenso wurden jene Stellen entschärft, die nach der Meinung des ungarischen Hofkanzlers in Ungarn beunruhigen würden. Besonders lange diskutierte der Ministerrat, ob die Rede ein neuerliches Gelöbnis der Verfassung enthalten sollte. Rechberg und die ungarischen Minister, die davon abrieten, konnten sich durchsetzen. Franz Joseph entschied, diese Wiederholung sei nicht nur überflüssig, „sondern sie schwächt selbst die Kraft des ersten Gelöbnisses ab, weil man ein ernstgemeintes Versprechen nicht stets zu wiederholen braucht“. Die Diskussion über diese Stelle war ein Vorbote der großen Debatte über die ungarische Frage im März 1863, die weiter unten behandelt wird.

Die gesetzgeberische Tätigkeit in der Session 1861/62 - Retrodigitalisat (PDF)

Die Regierung hatte im Verlauf der Sitzungsperiode 28 Gesetzentwürfe eingebracht, von denen 24 verabschiedet wurden. Von den Abgeordneten selbst wurden 15 Entwürfe eingebracht, von denen vier Gesetzeskraft erlangten. Insgesamt sind 43 Entwürfe eingebracht und 28 verabschiedet worden. Drei davon traten schon 1861 in Kraft, weitere sieben bis zum Sommer 1862, alle übrigen in der letzen Phase der Session. Dies entsprach einerseits dem natürlichen Arbeitsablauf, war aber auch von der || S. 13 PDF || Regierung beabsichtigt unter Hinweis auf andere konstitutionelle Staaten und wohl auch analog zur älteren Praxis der Landtagsabschiede6. So sanktionierte der Kaiser z. B. allein am 17. Dezember 1862, einen Tag vor dem Schluß, sieben Gesetze.

Hier ist nicht der Ort für eine Besprechung aller Gesetze der ersten Session7, wohl aber dürfte der folgende Überblick nützlich sein für die Beurteilung der legislatorischen Tätigkeit des ersten Parlaments in Österreich, das tatsächlich Gesetze zu verabschieden in der Lage war.

Folgende Gesetze sind aus den Beratungen der ersten Session 1861/62 hervorgegangen und sanktioniert worden.

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|| S. 14 PDF || Versucht man, diese Gesetze inhaltlich zu gruppieren, so ergibt sich folgendes Bild: Die ersten drei betrafen den Reichsrat selbst. Sieben Gesetze gehören zum Komplex Verfassung, Verwaltung und Justiz (persönliche Freiheit, Hausrecht, Pressegesetz mit den zwei Nebengesetzen, Zuständigkeit der Gerichte bei Übertretungen und Gemeindegesetz). Die anderen 18 Gesetze, somit rund zwei Drittel, sind Finanz-, Steuer- und Wirtschaftsgesetze. Als bedeutendste Gesetze der ersten Session dürfen bezeichnet werden: das Reichsgemeindegesetz, das Presssegesetz, das Handelsgesetzbuch, die Finanzgesetze für 1862 und 1863 sowie die Bankakte.

Dieser Erfolgs- oder Tätigkeitsausweis würde ein einseitiges und unvollständiges Bild vermitteln, würde ihm nicht ein Verzeichnis der nicht zustandegekommenen Gesetze gegenübergestellt werden.

Folgende Gesetze wurden in der ersten Session eingebracht, aber nicht verabschiedet.

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Der inhaltliche Unterschied fällt sofort auf. Während nur ein Wirtschafts- und drei Steuergesetze auf der Strecke blieben, konnten fünf Gesetze aus dem Justizbereich und fünf aus dem Bereich Grundrechte und Verfassung nicht erledigt werden.

Es wäre verfehlt, aus dem quantitativen Übergewicht der Regierung im Vergleich der beiden Übersichten politische Schlüsse zu ziehen. Die Vorlage von Gesetzentwürfen gehört ja zu den wichtigsten Aufgaben jeder Regierung, sie verfügt auch über die personellen und informativen Grundlagen. Das Pressegesetz wiederum war zwar Regierungsvorlage, aber eindeutig vom Reichsrat erzwungen. Maßstab für den Erfolg oder Mißerfolg eines Faktors der Gesetzgebung muß primär der Inhalt der verabschiedeten Gesetze sein. Ganz klar ersichtlich ist aber aus der obigen Zusammenstellung, daß die Weiterentwicklung der Verfassung, der Ausbau der Grundrechte und die Reform der Justizorganisation viel langsamer voranschritten, als es die Abgeordneten wünschten. Immerhin blieben zehn Entwürfe dieses Sektors unerledigt. Es ist dies jener Bereich, wo die Regierung „zwischen Kaiser und Reichsrat“ stand, wo sie im Parlament den (ablehnenden) Willen des Monarchen, ihm gegenüber die Wünsche des Parlaments in vermittelnder Weise vertreten mußte8. Manche dieser Gesetze scheiterten, wie die Ministerratsprotokolle klar zeigen, am offenen Widerstand der Krone, z. B. das Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit9 oder das interkonfessionelle Gesetz10. Aber auch der komplizierte Mechanismus – Ausschuß, Unterhaus, Oberhaus, eventuell gemischte Kommission – oder andere Gründe konnten die Verabschiedung verhindern.

Vorrangig wurden offensichtlich die Wirtschafts- und Finanzgesetze behandelt. Bei den Steuergesetzen wiederum ist der Widerstand der Abgeordneten deutlich sichtbar. Die Erhöhung der Zuckersteuer und der Gebühren wurde genehmigt, jene des Salzpreises kategorisch, die der direkten Steuern sowie die Reform des stabilen Katasters vorläufig abgelehnt.

Zu den wichtigsten Materien der Session zählten sicher die Prüfung des Staatsvoranschlags und die sogenannte Bankakte. Das Budget für das Verwaltungsjahr 1862 war überhaupt das erste, das in Österreich von einem gewählten Parlament geprüft wurde. Demgegenüber verblaßt der Umstand, daß das Finanzgesetz 1862, mit dem || S. 16 PDF || das Budget beschlossen wurde, erst nach Ablauf des Verwaltungsjahres selbst in Kraft trat. Zeitgerecht wurde das Budget für 1863 verabschiedet11. Kurz darauf – formell zu Jahresbeginn 1863 – konnte auch das überaus wichtige Übereinkommen der Finanzverwaltung mit der Oesterreichischen Nationalbank endlich unterzeichnet werden.

Finanzfragen - Retrodigitalisat (PDF)

a) Abschluß der Bankakte

Über die Vorgeschichte der sogenannten Bankakte, über ihren Zusammenhang mit dem Ausgleich des Staatshaushaltes und über die Entwicklung bis zum Sommer 1862 ist bereits in einem vorhergehenden Band geschrieben worden12. Es handelte sich, um mit Adolf Wagner zu sprechen, um „den hervorragendsten Gegenstand der Beratung der ersten Session des Reichsrates“13, oder wenn wir nicht nur das parlamentarische Gremium selbst, sondern die österreichische Gesamtsituation als Bezugsfeld ansprechen, um „die andere Seite des österreichischen Staats- und Reichsproblems“, und zwar „Wiederherstellung des öffentlichen Kredits im Interesse einer gesunden Volkswirtschaft und damit letztlich auch der Erhaltung der Machtstellung Österreichs“14. Hier soll die letzte Phase kurz behandelt werden. Die Dramatik im Ablauf hielt bis zum Schluß an, fast bis zum letzten Tag des Jahres.

Zunächst war, nachdem die dritte Sektion des Finanzausschusses des Abgeordnetenhauses und der Plenarausschuß ihre Arbeiten beendet hatten, das Haus selbst an der Reihe. Dies war die Stunde der Öffentlichkeit. Die Plenardebatte im Abgeordnetenhaus nahm elf Sitzungen in Anspruch und dauerte vom 24. Oktober bis zum 10. November 1862. Sie fand in den großen Zeitungen des Landes ausführlichen Widerhall. Die Befürworter der vollständigen Bankfreiheit und somit Gegner der Bankakte kamen ebenso zu Wort wie die Vertreter der Reformpartei und der Regierung, während der Standpunkt der Föderalisten, die für privilegierte Landesbanken eintraten, sich aber an der Debatte nicht beteiligten, sowie die Interessen der sogenannten Bankpartei aus den Reden der Abgeordneten indirekt ersichtlich werden. Der liberale Nationalökonom Hasner bot eine, wie er selbst sagte, „Dogmengeschichte“ des Problems und meinte zur langen Dauer der Verhandlungen: „Wo so viele materielle Interessen einander gegenüberstehen, wo an jede einzelne praktische Frage die kardinalsten Gegensätze der Theorie sich anknüpfen, da ist eine Verständigung niemals leicht15.“

Die ganze Debatte war nicht nur finanz- und banktechnischer Art, sondern nationalökonomisch ausgerichtet. Insbesondere wurde auch vor der Geldverknappung || S. 17 PDF || und einer darauffolgenden Krise des Handels und der Industrie gewarnt16. Die Tatsache, daß es in den folgenden Jahren parallel zur Verringerung des Geldumlaufs zu einer allgemeinen Wirtschaftskrise gekommen ist, hat bald zur Ansicht geführt, daß zwischen beiden ein ursächlicher Zusammenhang bestand, und die Plenersche Deflationspolitik hat seither in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung keine Befürworter gefunden17. Eine neue und unvoreingenommene Untersuchung dieser Frage hat allerdings zu einem anderen Ergebnis geführt18. Zwischen gleichlaufenden Kurven muß kein Ursache-Wirkung-Verhältnis bestehen. Die vertiefte Analyse mehrerer Wirtschaftsdaten unter Berücksichtigung der einzelnen Wirtschaftszweige zeigt, daß es auch reale Ursachen für die Krise gegeben hat, „mithin Geldversorgung und wirtschaftliche Aktivität sich parallel zurückentwickelten, ohne ursächlich miteinander verknüpft zu sein“19. Solche reale, externe Ursachen waren die Baumwollknappheit infolge des amerikanischen Sezessionskrieges, die Krise der Eisenindustrie und des Eisenbahnbaues, weiters die Mißernten des Jahres 1863 und 1864. Daß der Finanzminister um die Gefahren der Geldknappheit wußte, geht gerade aus der Debatte im Abgeordnetenhaus im Oktober und November 1862 hervor. Es sei schwer, im voraus zu bestimmen, sagte er einmal, wie weit sich die Menge der Banknoten herabmindern lasse, ohne der Volkswirtschaft zu schaden20. Notenverminderung und Rückzahlung der Schulden waren für ihn jedenfalls zwei verschiedene Dinge, und er wußte sich in diesem Punkt im Einklang mit dem Finanzausschuß: „Enge, bestimmte Normen in dieser Beziehung lassen sich gar nicht aufstellen“, könnten vielmehr das ganze Werk der Regelung der Geldverhältnisse gefährden21.

Die politisch gesehen wichtigste Wortmeldung in dieser Debatte stammte zweifellos von Staatsminister Schmerling, der auf die gegenwärtigen und zukünftigen Mehrheitsverhältnisse aufmerksam machte. Bedingt durch den freiwilligen Auszug der tschechischen und polnischen Abgeordneten22 und durch die Weigerung der Ungarn, Kroaten und Italiener, den Reichsrat zu beschicken23, hatten die Zentralisten der Verfasssungspartei die Mehrheit. Er wolle zwar hoffen, meinte Schmerling mit einer rhetorischen Wendung, daß, wenn einst die 343 Abgeordneten versammelt seien, alle „der Gedanke an die Einheit des Reiches durchglühe“, doch wenn man die Sachen nähme, wie sie seien, dann besorge er das Gegenteil, nämlich daß „nicht || S. 18 PDF || in ihnen allen jener Geist für die Gesamtverfassung … walten werde, wie … zu dieser Stunde“24. Ein vollständiger Reichsrat würde vielleicht anders entscheiden, würde die zentrale Zettelbank zugunsten privilegierter Landesbanken ablehnen. Schmerling hat mit diesen Worten nicht so sehr das Haus unter Druck gesetzt, als einer bei den deutschzentralistischen Abgeordneten vorhandenen Überlegung Ausdruck verliehen.

Das Haus nahm die Bankakte, wenn auch mit Abänderungen, am 10. November 1862 an. Aber weniger diese Änderungen beschäftigten die Regierung, als die weitere Vorgangsweise. Plener wollte schon jetzt, um die Verhandlungen abzukürzen, die Nationalbank einschalten; Schmerling trat dafür ein, zuerst das Votum des Herrenhauses und die Verhandlung der gemischten Kommission beider Häuser, die angesichts der inhaltlichen Differenzen erforderlich war, abzuwarten. Auf diese „normale Behandlung der Sache“ einigte sich der Ministerrat25. Das Herrenhaus beriet die Bankakte am 9. und 10. Dezember 1862, die gemischte Kommission beider Häuser fand für die offenen Punkte in den nächsten Tagen den folgenden Kompromiß: 1. Verlängerung des Privilegiums auf nur zehn Jahre gemäß dem Beschluß des Abgeordnetenhauses; 2. Metalldeckung aller die Summe von 200 Millionen Gulden überschreitenden Banknoten gemäß dem Beschluß des Abgeordnetenhauses, jedoch die Möglichkeit für die Bank, diese Summe im verfassungsmäßigen Weg zu ihren Gunsten abändern zu lassen, wenn sich erweisen sollte, daß sie der Bank zu wenig Spielraum für ihre Geschäfte ließen; 3. das permanente Darlehen der Bank an den Staat von 80 Millionen Gulden – jenes „Entgelt für die Überlassung des Hoheitsrechtes des Staates26“ – sollte bedingungsweise je nach der Höhe der Dividende verzinst werden. Am 15. bzw. 16. Dezember genehmigten die beiden Häuser die Beschlüsse der gemischten Kommission.

Dramatisch verliefen die Weihnachtstage des Jahres 1862. Die Vertreter der Bank, mit denen Plener nun verhandeln mußte, weil das im März des Jahres punktierte Übereinkommen im Lauf des parlamentarischen Vorganges abgeändert worden war, wollten dem Modus der Verzinsung der 80 Millionen nicht zustimmen. Über die Schwierigkeiten, aber auch über den massiven Druck der Regierung berichtet das Ministerratsprotokoll vom 26. Dezember 1862. Eine letzte Kompromißformel in dieser nach Wagner „wahrlich unwichtigen Nebenfrage“ wurde gefunden27. Am 29. Dezember 1862 stimmte der Bankausschuß der Nationalbank zu. Am 3. Jänner 1863 wurde das Übereinkommen unterzeichnet.

|| S. 19 PDF || Tags darauf legte Plener das Übereinkommen und die neuen Statuten mit dem Reglement dem Kaiser zur Genehmigung vor. Das kurze Vortragskonzept des Ministerialrates Brentano hatte Plener eigenhändig um ein Vielfaches erweitert. „Ich kann bei diesem Anlasse nicht umhin“, begann er, „einen kurzen Rückblick auf die Verhandlung über die Bankakte zu werfen, die in der Tat durch eine Reihe der größten Schwierigkeiten bezeichnet ist, welche überwunden werden mußten.“ Nach einer ausführlichen Darlegung der Ereignisse seit 1861 schloß er mit verständlicher Genugtuung: „Ich glaube die Behauptung wagen zu dürfen, daß die nach Besiegung der größten Schwierigkeiten jeder Art bewirkte Zustandebringung der Bankakte stets einen hervorragenden Platz in der Finanzgeschichte Österreichs einnehmen wird28.“

Am 6. Jänner 1863 erteilte der Kaiser die Genehmigung, am 14. Jänner 1863 wurde die Bankakte publiziert; sie trat sofort in Kraft29. Finanzminister Plener konnte ihre Durchführung bis zum erklärten Ziel der Wiederaufnahme der Barzahlungen am 1. Jänner 1867 nur zweieinhalb Jahre lang selbst überwachen. Der Finanzbedarf durch den preußisch-österreichischen Krieg von 1866 und der erneute Zugriff des Staates auf die Notenpresse führte zum Bruch des Abkommens von 1862/63. Das letzte Ziel des Vertragswerkes konnte nicht erreicht werden. Nur so gesehen ist es gescheitert, nicht aber, wenn man es in den Gesamtzusammenhang der Finanz- und Wirtschaftspolitik stellt. Die Wiederherstellung des im neoabsolutistischen Jahrzehnt verlorengegangenen öffentlichen Kredits als Grundlage einer erfolgreichen Tätigkeit des Staates war nur durch ein Bündel von Maßnahmen zu erreichen. Inhaltlich gesehen: geordneter Staatshaushalt (durch Senkung der Ausgaben und Erhöhung der Einnahmen), Neuordnung der Staatsschuld und öffentliche Kontrolle beider. Formal gesehen: Einberufung des Reichsrates, Vorlage eines Sparbudgets, Steuerreformen30, Errichtung der Staatsschuldenkontrollkommission des Reichsrates, Erklärung über die Ministerverantwortlichkeit, Schuldentilgungsabkommen mit der Nationalbank, Garantie ihrer Unabhängigkeit und Konvertibilität der Währung. Die Bankakte waren ein überaus wichtiges Glied dieser Kette. Auch wenn der wirtschaftliche Aufschwung ausblieb und durch die Ereignisse von 1866 ein neuerlicher Bruch eintrat, so handelte es sich insgesamt doch um strukturelle Maßnahmen, die auf lange Frist nicht ohne positive Wirkung bleiben konnten. Der Gründerzeitaufschwung von 1867 bis 1873 fußte letztlich auf dieser in den 1860er Jahren umfassend eingeleiteten Strukturreform31.

b) Die nächsten Aufgaben der Finanzverwaltung

Am 3. Jänner 1863, am selben Tag, an dem die Bankakte unterzeichnet wurde, legte der Finanzminister dem Kaiser einen Vortrag vor, in dem er „die Finanzlage des Reiches und die nächsten Dienstesaufgaben der Finanzverwaltung“ erläuterte32. Obwohl der Vortrag allgemein gehalten ist, keine konkreten Anträge stellt und daher auch nicht im Ministerrat besprochen wurde, ist er als Arbeitsvorschau für den Wirkungsbereich Pleners für lange Zeit hinaus von Bedeutung. Der Zeitpunkt ist kein Zufall. Das Budget 1863 und das Übereinkommen mit der Bank waren erledigt. Plener konnte allgemein feststellen, daß „ein entscheidender Fortschritt zum Besseren nicht zu verkennen sei“, und er sah „die Hoffnung auf Erreichung vollständig beruhigender Resultate“ für berechtigt an. Der Vortrag begann mit einer Übersicht über das Budgetdefizit und entwarf einen langfristigen Finanzierungsplan zum dauernden Ausgleich des Staatshaushaltes, der sich zwar, gemessen an der Realität, als zu optimistisch erwies, dennoch Beachtung verdient. Es war gelungen, von einem budgetierten Defizit des Jahres 1862 von 94 Millionen Gulden – de facto betrug es dann nur 75 Millionen – im Budget 1863 auf ein Defizit von 62,5 Millionen herabzukommen. Für die weitere Zukunft besprach Plener folgende Maßnahmen:

1. Die größte Position, die Ausgaben für die Staatsschuld, konnten mittelfristig nicht verändert werden. Für die Zeit nach der Abtragung der Schuld an die Bank dachte er an eine große Umschuldungsaktion33.

2. Weitere Reduktion der Ausgaben für die Armee um 12,8 Millionen Gulden, das bedeutete ein Normalbudget von 100 Millionen (94,3 aus dem Budget, 5,7 aus Eigeneinnahmen).

3. Reduktion des Marinebudgets um 2,3 Millionen Gulden.

4. Entfall von Forderungen der Eisenbahngesellschaften in der Höhe von 2,1 Millionen Gulden.

5. Entfall der Rubrik „Münzverlust“ nach Wiederherstellung der Währung in der Höhe von 7,1 Millionen Gulden.

6. Einsparung bei der Zivilverwaltung in der Höhe von 1 Million Gulden.

7. Vermehrung der Einnahmen, im wesentlichen aus der Steuerreform, um 27 Millionen Gulden.

Die Summe der Einsparungen betrug 25,3 Millionen Gulden; zusammen mit der Vermehrung der Einnahmen ergab dies eine Reduktion des Defizits um 52,3 Millionen. Der verbleibende Rest von rund 10 Millionen, immer verglichen mit dem Budget 1863, sollte durch eine variable allgemeine Einkommensteuer hereingebracht werden. Plener nannte sie eine „besondere Klassensteuer mit mobiler, je nach den Jahresstaatsbedürfnissen wechselnder Wandelskala“. Soweit die Pläne des Finanzministers. Allerdings handelt es sich hierbei um die ordentlichen Ausgaben. Daß außerordentliche Ausgaben durch Kredite finanziert werden sollten, hatte Plener mehrfach ausgesprochen34.

|| S. 21 PDF || Als nächste Aufgaben der Finanzverwaltung wurden im Vortrag bezeichnet: 1. Reform des Staatsvoranschlages und Übergang auf das Solarjahr35, 2. Reform der direkten Steuern36, 3. Reorganisierung der Verwaltung des Staatseigentums, 4. Reform der Finanzbehörden (Aufhebung der Steuerdirektionen), 5. Reform der Finanzwache und 6. Vereinfachung des Kassen- und Rechnungsdienstes. Der Vortrag enthielt ein im Detail unbestimmtes Programm, das aber in der Folge schrittweise in Angriff genommen wurde. Franz Joseph resolvierte den Vortrag am 10. Februar 1863: „Ich nehme den Inhalt dieses Vortrages vorläufig zur Kenntnis und sehe den Anträgen über die in Verhandlung genommenen Gegenstände entgegen37.“

c) Lotterieanleihe

Ein weiterer finanzpolitischer Erfolg nach dem Abschluß der Bankakte, der in den Protokollen dieses Bandes seinen Niederschlag findet, war die Plazierung der dritten Emission der 1860er Lotterieanleihe im Mai 186338. Sie brachte dem Staat eine Kreditsumme von 40 Millionen Gulden, die planmäßig für die Bedeckung des Budgetdefizits 1863 verwendet wurde. Die finanzielle Situation Österreichs war zu diesem Zeitpunkt nach dem erfolgreichen Abschluß der ersten Reichsratssession und der Bankakte und vor der beginnenden Krise durch die Mißernte des Jahres 1863 so günstig, daß es sich die Regierung erstmals leisten konnte, den Weg der Offertausschreibung einzuschlagen. Dem meistbietenden Bankenkonsortium – es war das Haus Rothschild – wurde der Zuschlag erteilt. Die Regierung war nicht mehr Bittsteller, sondern Anbieter.

Die zweite Landtagssession - Retrodigitalisat (PDF)

Die Verfassung bestimmte, daß sich die Landtage „in der Regel jährlich einmal“ zu versammeln hatten39. Die erste Session im April 1861 war von kurzer Dauer gewesen und hatte nahezu ausschließlich der Konstituierung der Landtage und der Wahl der Abgeordneten zum Reichsrat in Wien gedient40. Umso dringender war die Einberufung für 1862, die aber durch die lange Dauer der Reichsratssession verhindert wurde – beide Gremien konnten ja nicht gleichzeitig tagen. Schon im Juli 1862 sagte Minister Lasser in Hinblick auf das parlamentarische Arbeitsprogramm, „das Haus sei in voller Kenntnis, daß im November die Landtage zusammenkommen müssen“41. Am 31. Oktober beantragte der Staatsminister die Einberufung auf Montag, || S. 22 PDF || den 10. Dezember42. Dies sei der letzte Termin, wenn man eine Einberufung im Jahre 1862 haben wolle. Die Einberufung sollte auch dazu dienen, auf das Abgeordnetenhaus Druck auszuüben: „Zudem habe man bei der Kombinierung dieses Tages auch im Auge gehabt, daß auf diese Art die gegenwärtige Session endlich anständig geschlossen werden kann.“ Nötigenfalls konnte der Termin verschoben werden, aber die Einberufung war einmal auszusprechen.

Mit kaiserlichem Patent vom 4. November 1862 wurden die Landtage auf den 10. Dezember einberufen. Es zeichnete sich aber ab, daß der Reichsrat seine Arbeiten nicht zeitgerecht beenden konnte. Deshalb wurde Ende November die Eröffnung der Landtage auf den 8. Jänner 1863, für Dalmatien, Galizien und die Bukowina auf den 12. Jänner verschoben43.

Die zweite Landtagssession dauerte vom 8. Jänner bis zum 31. März 1863. Der böhmische Landtag wurde auf seinen Antrag hin erst am 18. April geschlossen44. Der galizische Landtag wurde wegen des Aufstandes in Russisch-Polen nach neun Sitzungen Anfang Februar vertagt und dann gemeinsam mit den anderen geschlossen45. Ein Landtag für das lombardisch-venezianische Königreich konnte nicht einberufen werden, da für dieses Kronland noch kein Landesstatut existierte. Zwar war im Jahre 1861 den alten Kongregationen die Aufgabe übertragen worden, die Abgeordneten in den Reichsrat zu wählen, sie hatten aber die Mitwirkung abgelehnt, und als die Statthalterei auf der Grundlage der Gemeindewahlen von sich aus 19 Abgeordnete nominierte, lehnten diese es ab, nach Wien zu gehen46. Gespräche über eine Landesverfassung für Lombardo-Venetien, die die Regierung mit italienischen Politikern von Mitte Februar bis Anfang April 1863 in Wien führte, blieben ohne Ergebnis47.

Besondere Verhältnisse herrschten auch in der reichsunmittelbaren Stadt Triest. Dem Stadtrat kamen zugleich die Befugnisse eines Landtages zu48. Am 21. August 1862 war der Stadtrat auf Antrag Schmerlings wegen seiner „feindseligen Haltung“ und „gefährlichen Renitenz“ aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben worden49. Sie brachten aber keine wesentlich geänderte Zusammensetzung. So wählte er z. B. zweimal hintereinander Bürgermeister, denen in Wien die Bestätigung verweigert wurde, und erst bei der dritten Wahl, am 22. Mai 1863, erhielt ein der Regierung genehmer Podestà die Mehrheit50.

Im Ministerrat kamen oft Angelegenheiten der Landtagssession zur Sprache, u. a. die Dauer der Session (Einberufung, Eröffnung, Vertagung und Schluß), die Ernennung von Landeshauptleuten, die Regierungsvorlagen für Gesetzentwürfe, verschiedene || S. 23 PDF || Anliegen und Anträge der Landtage selbst und überhaupt die Beziehung der Landtage zur Regierung und ihren Vertretern. Sowohl nach der Anzahl der Tagesordnungspunkte als auch nach ihrem Umfang waren es die Entwürfe zu Landesgesetzen, die den Ministerrat am häufigsten beschäftigten. Gesetzesvorschläge in Landesangelegenheiten hatten nach der Verfassung als Regierungsvorlagen an den Landtag zu gelangen, aber auch der Landtag selbst besaß das Vorschlagsrecht. Ausführlich beschäftigte sich der Ministerrat mit der Vorbereitung mehrerer Gesetzeskomplexe zur Regelung des Gemeindewesens, nämlich der Gemeindeordnungen, der Gesetze über die Gutsgebiete und über die Bezirksvertretungen, und der sogenannten Konkurrenzgesetze.

a) Gemeindeordnungen

Um die Bedeutung der im Ministerrat diskutierten Landesgemeindeordnungen zu erkennen, ist ein kurzer Rückblick notwendig. Die freie Gemeinde im freien Staat war eines der liberalen Schlagworte der Revolution von 1848, mit dem die Forderung nach einer tiefgreifenden Reform der vormärzlichen Gemeindeverfassung und eine grundlegende Änderung der lokalen Verwaltung gemeint war. Freie Wahl der Vertreter, Öffentlichkeit der Sitzungen, Selbstverwaltung anstelle gutsherrlicher oder staatlicher Bevormundung, Trennung der Justiz von der Administration, Gleichberechtigung der ländlichen mit der städtischen Gemeinde: das waren die wichtigsten Forderungen an das System der Zukunft. Rund zwei Jahrzehnte nahm der Prozeß der Ausgestaltung des lokalen Selfgovernment in Anspruch51.

Am Anfang stand das spontane, erst im nachhinein legalisierte Handeln in der Revolutionszeit. Parallel setzten die Bemühungen um eine gesetzliche Grundlage ein. Ab 1849 kam es zur Errichtung der Ortsgemeinden und 1850 zur Wahl und Konstituierung der Gemeindevertretungen nach dem inzwischen oktroyierten Stadionschen Provisorischen Gemeindegesetz vom 17. März 1849 52. Dieses Gesetz unterschied zwischen dem natürlichen, autonomen und dem übertragenen, gesamtstaatlichen Wirkungskreis der Gemeinde. Dieses dualistische, in Österreich bis heute gültige Prinzip trug den neuen Vorstellungen Rechnung, während sein Dreiklassen-Zensuswahlrecht einen sozialen Kompromiß zwischen dem grundbesitzenden Adel und dem aufstrebenden Bürgertum darstellte. In der Praxis der Durchführung gewann freilich im neoabsolutistischen Jahrzehnt der 1850er Jahre die staatliche Verwaltung völlig die Oberhand. Die „Grundsätze für organische Einrichtungen“ des sogenannten || S. 24 PDF || Silvesterpatents, die sich in den Absätzen 7–16 ausführlich mit den Gemeinden befaßten, nahmen die in den Jahren 1848–1852 erreichten Positionen entweder ganz zurück oder höhlten sie dort aus, wo sie dem Wortlaut nach beibehalten wurden, z. B. bei der Wahl der Gemeindevorstände oder beim Wirkungskreis der Gemeinden53.

Ein Gemeindegesetz, das die Grundsätze des Silvesterpatents ausführen und den De-facto-Zustand der 1850er Jahre festschreiben sollte, wurde unter der Leitung des Innenministers Bach vorbereitet, aber erst am 24. April 1859 erlassen54. Es ist nur zum Teil in Kraft getreten. Bald darauf wurde Bach durch Gołuchowski abgelöst. In der kurzen Ära Gołuchowski (August 1859–Dezember 1860) kam es zwar zu Vorarbeiten für eine Reform der Gemeindeverfassung, die wichtigste Maßnahme wurde aber erst im November 1860, kurz vor der Ablöse Gołuchowskis durch Schmerling, getroffen: Die Verordnung vom 26. November 1860 schrieb Gemeindewahlen nach dem Stadionschen Provisorischen Gemeindegesetz aus und hob einige Beschränkungen des Silvesterpatents auf55.

Im Frühjahr 1861 wurden die Wahlen durchgeführt. Dies bedeutete eine Rückkehr zur Entwicklung von 1848 bis 1851. „Aus den Rathäusern verschwanden die aus der Ära Bach diskreditierten Gemeindefunktionäre, und an die Spitze der Gemeinden traten häufig wieder die aus dem parlamentarischen und kommunalen Leben des Jahres 1848 bekannten Politiker56.“ Wie in der revolutionären und in der neoabsolutistischen Zeit hinkte auch jetzt die Legislative der Praxis nach. Die Regierung Schmerling wählte für die gesetzliche Regelung des Gemeindewesens aus Opportunitätsgründen den folgenden Weg: Ein für alle deutsch-slawischen Kronländer gültiges Rahmengesetz sollte die Grundzüge festlegen, während die Einzelbestimmungen und die lokalen Unterschiede durch Landesgesetze von den Landtagen zu regeln waren. Am 24. Mai und am 7. Juni 1861 wurde der Entwurf des Rahmengesetzes im Ministerrat besprochen57. Tragendes Prinzip war wieder die von Stadion eingeführte Doppelgleisigkeit von autonomer und staatlicher Verwaltung. Der Reichsrat veränderte das Gesetz erheblich, vor allem stärkte er die Autonomie der Gemeinde noch weiter und verhinderte gleichzeitig, daß die Gemeinden durch Aufgaben aus der staatlichen Verwaltung überfordert werden konnten. Das Gesetz wurde im Februar 1862 beschlossen und am 5. März, als viertes konstitutionelles Gesetz, sanktioniert. Nachdem die ersten drei Gesetze der ersten Session allein den Reichsrat betrafen, kann man sagen, daß das Reichsgemeindegesetz vom 5. März 1862, RGBL. Nr. 18/1862, das erste verfassungsmäßig zustandegekommene österreichische Gesetz von allgemeiner Bedeutung ist.

Die Regierung begann sofort mit den Vorarbeiten zu den vom Gesetz vorgesehenen Landesgemeindegesetzen. Alle Länderstellen wurden beauftragt, im Einvernehmen mit den Landesausschüssen Beratungen abzuhalten. Aus ihren Gutachten wurde im || S. 25 PDF || Ministerium ein einheitlicher Entwurf erstellt. Erklärtes Ziel Schmerlings war die möglichst gleichförmige Gestaltung der Gesetze. Am 18. September 1862 lag dem Ministerrat der Entwurf einer Gemeindeordnung und einer Gemeindewahlordnung für Niederösterreich vor58; die Entwürfe für die übrigen Kronländer wurden nach diesem Modell gestaltet. Der Ministerrat diskutierte alle Abweichungen, worüber die Protokolle des vierten und des vorliegenden fünften Bandes Aufschluß geben. Als Regierungsvorlage gelangten die Entwürfe vor die Landtage. Aus der Session 1863 gingen allerdings nur die Gesetze für Istrien, die Bukowina und Schlesien hervor. Die meisten wurden im Zuge der Session des Jahres 1864, jene für Dalmatien, Krain, Tirol und Galizien erst später sanktioniert59.

Damit war die Gemeindeselbstverwaltung in ganz Österreich auf eine dauerhafte gesetzliche Grundlage gestellt. Sie blieb bis zum Ende der Monarchie und in den Nachfolgestaaten noch darüber hinaus in Geltung. Eingehende Reformdiskussionen brachten nur in bescheidenem Maß Veränderungen. Es war gelungen, zwischen lokal-autonomen und zentral-staatlichen Interessen ebenso wie zwischen den Zielen der bedeutendsten sozialen Schichten, dem Adel und dem Bürgertum, auf der Ebene der Gemeinden einen tragfähigen Ausgleich zu finden: „Die definitive Gestalt der Ortsverwaltung des bürgerlich-liberalen Österreich ergab sich als Produkt eines allmählichen Kräfteausgleichs derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die am Aufbau des konstitutionellen Regimes in den sechziger Jahren teilnahmen. Dadurch war die relative Stabilität und langdauernde Lebensfähigkeit der Institutionen der österreichischen Ortsverwaltung selbst bis in die Zeit nach dem Untergang der Monarchie begründet60.“

b) Gutsgebiete, Bezirks- und Kreisvertretung

Eng verknüpft mit den Gemeindeordnungen waren zwei andere Gruppen von Entwürfen: die Landesgesetze über die Gutsgebiete und jene über die Bezirks- oder Kreisvertretungen.

Die ersten betrafen die wichtigste Forderung des Adels und zugleich die größte Streitfrage der Gemeindegesetzgebung: die Ausscheidung der Gutsgebiete aus dem Gemeindeverband. Die großen zusammenhängenden Grundherrschaften waren im Zuge der Durchführung des Provisorischen Gemeindegesetzes im Jahre 1850 jeweils einer oder mehreren Ortsgemeinden eingegliedert worden61. Dies brachte dem grundbesitzenden Adel empfindliche Nachteile in materieller, administrativer und prestigemäßiger Hinsicht – „Der Adelige in der Gemeinde wurde dem bäuerlichen Gemeindevorsteher untergeordnet, dessen Obrigkeit er gestern noch war62.“ Das Silversterpatent || S. 26 PDF || versprach Abhilfe. Eine gesetzliche Abhilfe erfolgte nicht, de facto machten sich die Großgrundbesitzer wieder unabhängig.

Schmerling verzichtete in dieser Frage darauf, den reinen bürgerlich-zentralistischen Standpunkt durchzusetzen. Der Entwurf des Gemeindegeseatzes verwies den Streit an die Landtage. Sie sollten bestimmen, „ob und unter welchen Bedingungen“ der große Grundbesitz anders als die Gemeinden behandelt werden sollte. Damit war den Landtagen freilich auch die Möglichkeit eingeräumt, die Sonderregelung ganz abzulehnen. Vergebens verlangte Rechberg, der sich, obwohl selbst Gegner der Trennung, zum Sprecher des Adels gemacht hatte, im Ministerrat die Beseitigung des Wörtchens „ob“63. Auch im Reichsrat setzten sich die Regierung und die Verfassungspartei durch. Die Ausscheidung wurde nicht als ein unbedingtes Recht des Großgrundbesitzers, sondern als eine von den Landtagen zu ordnende Möglichkeit festgesetzt64.

Für die Regierung erhob sich nun die Frage, ob und in welchen Kronländern sie die Initiative ergreifen sollte. Schmerling legte dem Ministerrat Regierungsentwürfe für zwei Ländergruppen vor, nämlich für Galizien und die Bukowina, dann für Böhmen und Mähren. Überraschend ist die Argumentation für Galizien. Durch die Aufrechterhaltung der Trennung zwischen Gutsgebiet und Ortsgemeinde sollten „die schlechten politischen Elemente“, d. h. der polnische Adel, „von dem Bauernstande möglichst fern[ge]halten“ werden65. Bei der böhmischen Ländergruppe beabsichtigte der Regierungsentwurf, daß die Trennung „im Interesse der Gemeinden möglichst beschränkt … werden soll“66. Im böhmischen Landtag wurde aber die Sonderung überhaupt abgelehnt, in Mähren durch einen Kompromiß im Rahmen der Gemeindeordnung geregelt, nur in Galizien und in der Bukowina sind die Gesetze zustande gekommen und haben die dort ohnehin bestehende Trennung aufrechterhalten. In keinem anderen Landtag ist ein solches Gesetz verabschiedet worden. Der Adel mußte sich mit der Entwicklung abfinden. Das Dreiklassenwahlrecht und die Zugestehung von Virilstimmen in den Gemeindeausschüssen in manchen Kronländern waren ausreichende Zugeständnisse.

Eine andere offene Frage war, ob es zwischen der Ortsgemeinde und dem Landtag eine weitere autonome „Gemeinde höherer Ordnung“, ein „autonomes Mittelorgan“ mit dem Namen Bezirks-, Gau- oder Kreisvertretung geben sollte, parallel zu den Bezirks- und Kreisämtern im Bereich der Verwaltung. Hier ging es nicht wie bei den Gutsgebieten direkt und ausschließlich um die Interessen einer sozialen Schicht, sondern um verschiedene Vorstellungen vom Aufbau der Verwaltung und des Staates. Dezentralisierung und Föderalismus verlangten solche Organe, zentralistisches Denken lehnte sie ab, hielt sie für entbehrlich und bemühte sich um Verringerung der Ebenen. Bemerkenswert ist, daß mit Ausnahme des Bachschen Gemeindegesetzes von 1859 alle Programme und Gesetze zur Lokalverwaltung mit einer Ebene zwischen der Ortsgemeinde und dem Landtag rechneten: Stadion 1849, das Silvesterpatent, || S. 27 PDF || die Pläne Gołuchowskis und das Reichsgemeindegesetz von 1862, welches ihre Errichtung wieder den Landtagen überließ67. Der Schluß liegt nahe, daß nicht die bloße Existenz, sondern die kompetenzmäßige Ausstattung entscheidend war.

Im Herbst 1862 diskutierte die Regierung so wie bei den Gutsgebieten, ob und in welchen Kronländern sie die Initiative ergreifen sollte. Schmerling lehnte einen Antrag des dalmatinischen Landesausschusses ab, legte aber Landesgesetzentwürfe über eine Kreisvertretung in Tirol und über Bezirksvertretungen in Böhmen, Mähren und Schlesien vor und begründete sie mit den Wünschen dieser Länder, mit der administrativen Notwendigkeit und mit der Opportunität einer Regierungsinitiative68. Der Staatsratspräsident Freiherr v. Lichtenfels wandte sich dagegen. Diese Organe würden nur die nationale Agitation fördern. Der Ministerrat folgte Schmerling. Das Gesetz über die Kreisvertretung in Tirol wurde 1868 verabschiedet, ist aber nicht verwirklicht worden. Gesetze über Bezirksvertretungen wurden in Böhmen, Schlesien, später auch in Tirol, Galizien, in der Bukowina und in der Steiermark erlassen, verwirklicht wurden sie aber nur in Böhmen, Galizien und in der Steiermark69.

Die bisher genannten Gesetze zur Lokalverwaltung waren häufig Gesprächsgegenstand im Ministerrat in der Zeit vor der Landtagssession 1863. Die folgende Übersicht soll den Zugang zu der verwirrenden, sich oft überkreuzenden Debatte im Ministerrat erleichtern.

c) Konkurrenzgesetze

Zu den wichtigsten Aufgaben der örtlichen Gemeinwesen gehörte die Pflege der Straßen als Voraussetzung der Kommunikation, die Erhaltung der Schulen und die Sorge für die Einrichtungen des gemeinsamen Kultes, also Kirchen und Pfarrhöfe. Die materiellen und personellen Aufwendungen dafür überstiegen die Kraft des einzelnen, daher hatte jeder beizutragen, zu „konkurrieren“ (lat. concurrere = zusammenlaufen, beitragen). Im Vormärz fielen diese Agenden in den Verantwortungsbereich der Grundherrschaften und Patrone, die für die finanzielle Last aufkamen, während die Untertanen ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen mußten. Die Aufhebung der Grundherrschaft erforderte eine Neuregelung, die Verantwortung sollte auf die Gemeinden übergehen.

Es handelte sich dabei um diffizile Bereiche, die die materiellen Interessen vieler, vor allem der alten Grundherren, unmittelbar berührten und durch zahlreiche Partikularvorschriften geregelt waren. Zugleich ging es um praktische, sehr handgreifliche Dinge, etwa die Bereitstellung von „Hand- und Zugrobot“ oder die Lieferung von Brennholz für die Schulen, die keinen Aufschub litten. So ist es nicht verwunderlich, daß die Neuregelung und die Legislative der Alltagspraxis nachhinkten.

|| S. 28 PDF || Die Entwürfe zu den Landesgesetzen über die Lokalverwaltung im Ministerrat an Landtagssession 1863

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|| S. 29 PDF ||

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|| S. 30 PDF || Das Reichsgemeindegesetz vom 5. März 1862 bestimmte im Artikel XV – ohne die Bereiche namentlich anzuführen –: „Die Art, in welcher, und das Maß, nach welchem die einzelnen Gemeindemitglieder zu den Auslagen der Gemeinde konkurrieren sollen, bestimmt die Gemeinde innerhalb der durch ein Landesgesetz festzusetzenden Grenzen.“ Die Regierung bereitete demgemäß Entwürfe zu Landesgesetzen vor, deren Titel zwar umständlich ist, aber exakt den Inhalt angibt:

– Gesetz betreffend die Bestreitung der Kosten der Herstellung und Erhaltung der katholischen Kirchen- und Pfründengebäude, dann der Beischaffung der Kirchenparamente, Einrichtung und Erfordernisse.

– Gesetze betreffend das Schulpatronat und die Kostenbestreitung für die Lokalitäten der Volksschulen.

– Gesetz betreffend die Herstellung und Erhaltung der nichtärarial-öffentlichen Straßen und Wege.

Beim Kirchen- und beim Schulkonkurrenzgesetz bezweifelten einige Staatsräte – alle Gesetze wurden vom Staatsrat begutachtet – die Kompetenz der Landtage und befürworteten Reichsgesetze. Die Regierung entschied sich einstimmig für die Landeskompetenz. Die Entwürfe wurden von der Regierung in den Landtagen eingebracht. Die meisten Geseatze wurden beschlossen, einige kamen erst später zustande, manche gar nicht, viele wurden später novelliert. Dennoch kann man sagen, daß mit der Landtagssession von 1863 weitgehend die legistischen Konsequenzen der Revolution von 1848 für Bau und Erhaltung von lokalen Straßen, Schulen und Kirchen gezogen wurden70.

d) Die Regierung und die Landtage

Die bisher behandelten Gesetzentwürfe wurden vor dem Zusammentreten der Landtage im Ministerrat besprochen. Im Laufe der Session von Jänner bis März 1863 kamen noch mehrere Gesetze im Ministerrat zur Sprache, sowohl Regierungsvorlagen als auch Landtagsentwürfe, die meist nur ein Kronland betrafen, wie die Bauordnung für Linz, die steiermärkische Winzerordnung, Angelegenheiten der Landesvermögen usw. Ebenso wurde über verschiedene Anträge und Anliegen einzelner Landtage beraten, wie über den Wunsch aus Kärnten nach Verringerung des dortigen Infanterieregiments, eine Interpellation aus Oberösterreich über die Einführung der Geschworenengerichte, die Änderung der Landesordnung in Schlesien usw. Schließlich gab es formale und Verfahrensfragen zu klären, wie die Anwesenheit der Regierungskommissäre bei den Ausschußsitzungen, die Behandlung der Landtagsbeschlüsse, die Kundmachung der Landesgesetze, die Bewilligung von Landesumlagen usw.

Den Regierungsvertretern wurde distanzierte Vorsicht aufgetragen. Auf eine diesbezügliche Frage des Kaisers berichtete Schmerling, er habe die Statthalter „von einem unzeitigen Hervortreten gewarnt und ihnen bemerkbar gemacht, daß sie nicht in || S. 31 PDF || einem Parlamente stehen, mithin in vielen Fällen, statt sich sogleich auszusprechen, die Sache ad referendum nehmen können“71. Allerdings spricht das Schmerling nahestehende Blatt „Der Botschafter“ sehr wohl von „Landesparlamenten“, und in einem abschließenden Bericht heißt es: „Der Verkehr der Regierungsvertreter mit den Landtagen war ein entgegenkommender, und das freundliche Einverständnis derselben wurde durch keinen ernsten Mißklang, keinen herben Gegensatz gestört72.“ Das föderalistische Blatt „Neueste Nachrichten“ bestätigte dies: „Dieser Seite muß man es zum Lobe nachsagen, daß sie diesmal – mit geringen Ausnahmen – sich fernhielt von dem schon so oft in seiner ganzen Verderblichkeit zutagegetretenen System der allzu ängstlichen Bevormundung. Die Regierungsvertreter vermieden es mit Takt, Konflikte hervorzurufen, und wo solche gleichwohl entstanden, da stellten sie denselben nicht den hinter Paragraphen verschanzten offenen Widerstand entgegen, vielmehr gingen sie von dem Grundsatze aus, daß sich durch Kompromisse weit mehr erzielen lasse73.“ Vom oberösterreichischen Landtag heißt es in einem Ministerprotokoll, daß er „durch seine bisherige Haltung es nicht verdient habe, die fragliche Interpellation mit besonderer Bereitwilligkeit beantwortet zu sehen. Erst nach wiederholter Anfrage dürfte daher eine Antwort… erteilt werden“74. Trotz dieser Kritik war der Ministerrat der Meinung, daß die Interpellation berechtigt war und beantwortet werden müsse.

Obwohl also die Landtagssession in verschiedenster Weise in den Protokollen des Ministerrates präsent ist, muß darauf hingewiesen werden, daß es sich dabei um einen spezifischen Widerschein handelt und daß aus den Protokollen kein vollständiger Einblick gewonnen werden kann. Die zum Teil erregten Debatten in den Landtagen, die besondere Stimmung in den Landtagsorten, die Vervielfachung des – trotz des eingeschränkten Wahlrechtes – parlamentarischen Lebens sind kein ausdrückliches Thema. Ebensowenig ist in den Protokollen etwas über die vielen Angelegenheiten zu finden, die im Wirkungsbereich der Landtage und allenfalls der Statthaltereien lagen und die einen guten Teil der „Verhandlungen“ in Anspruch nahmen, ohne der Regierung einen Anlaß zur Intervention zu bieten. Aber auch reichspolitisch bedeutende Debatten, wie etwa jene, die durch Palackýs Antrag wegen Änderung der Landesordnung (Wahlreform) im böhmischen Landtag ausgelöst wurde75, fanden im Ministerrat keinen Niederschlag76.

|| S. 32 PDF || Das Presseecho nach Schluß der Session war einhellig positiv. Die Föderalisten lobten die verfassungsmäßig korrekte und für die Länder fruchtbare Arbeit ebenso wie „das Ankämpfen gegen die zentralisierende Verwaltungsidee“77. Die Zentralisten empfanden die Session als eine Stärkung der Verfassung.

Die „ungarische Hauptfrage“: Stagnation und Machtkampf - Retrodigitalisat (PDF)

Während im Reichsrat, in den cisleithanischen Landtagen und im Hinblick auf die Staatsfinanzen Ende 1862 und in den ersten Monaten des Jahres 1863 eine Zeit reicher Ernte war und Dinge erledigt werden konnten, ist derselbe Zeitraum in der ungarischen Frage, also auf der Ebene des „Staats- und Reichsproblems“ im Sinne von Josef Redlich, durch Stagnation und Machtkämpfe gekennzeichnet. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Untätigkeit. Redlich hat der Schmerlingschen Politik u. a. „Langsamkeit, Energielosigkeit, politische Passivität“ vorgeworfen78. Der Ausspruch „Wir können warten“ ist zum geflügelten Wort geworden. Aber auch Deák hat nach der Auflösung des Landtags von 1861 die Devise vom passiven Widerstand ausgegeben, freilich aus der Position des zunächst Schwächeren.

In Wirklichkeit handelte es sich auf beiden Seiten um ein entschlossenes Festhalten an der einmal eingenommenen Position, um einen zähen Machtkampf der von Schmerling geführten deutschen Zentralisten mit den politischen Repräsentanten der magyarischen Nation um die Gestaltung des Verhältnisses der beiden Reichshälften zueinander und zur Krone. Es ist Schmerling in den vier Jahren, die ihm zur Verfügung standen, nicht gelungen, jene Lösung der ungarischen Frage herbeizuführen, die ihm vorschwebte und der zuzustimmen er den Kaiser – zum Teil mühsam genug – bewegen konnte. Er hat die Kräfteverhältnisse und nicht zuletzt auch Franz Joseph falsch eingeschätzt. Seine These von der Rechtsverwirkung durch die Revolution ist der Deákschen These von der Rechtskontinuität unterlegen79.

Die Protokolle des vorliegenden Bandes geben vielfachen Aufschluß über die Aktivitäten und Rückzüge, über das Tun und Verweigern, über Erfolg und Mißerfolg sowohl der Regierung wie der Ungarn, aber auch der Serben, der Rumänen und der Slowaken in Ungarn und in seinen Nebenländern in diesen Monaten.

a) Die Nationalitäten

Im Ministerrat vom 3. November ging es um die Bitten der Serben in der Woiwodina und im Banat80. Die serbischen Siedlungsgebiete innerhalb des Königreiches Ungarn waren von 1849 bis 1860 in einem von Ungarn völlig unabhängigen Territorium zusammengefaßt, der „Serbischen Woiwodschaft mit dem Temescher Banat“. In Durchführung des Oktoberdiploms war das Gebiet im Dezember 1860 wieder zu Ungarn gekommen, gleichzeitig hatte der Kaiser und König den Serben die alten Privilegien und den Schutz ihrer Nationalität und Sprache zugesichert81. Ein Nationalkongreß der Serben hatte im April 1861 eine Reihe von Wünschen und Bitten formuliert. Zentrales Anliegen war die administrative Unabhängigkeit durch die Errichtung eines eigenen Distriktes im Rahmen des Königreiches Ungarn.

Die Krone hatte darauf noch nicht geantwortet. Im Dezember 1861 beantragte Schmerling erstmals die Errichtung eines eigenen Distriktes82. Forgách, erst seit kurzem ungarischer Hofkanzler, bat um Vertagung, da er noch nicht eingearbeitet war. Im August 1862 verlangte Schmerling wieder eine Entscheidung in dieser Frage83. Für eine neuerliche Vertagung angesichts der im Juni ausgebrochenen Unruhen in Serbien plädierten Rechberg, Forgách, Mecséry und Esterházy. Schmerling dagegen meinte, „man müsse sich hüten, darüber in Untätigkeit zu verfallen und, während man den opportunsten Augenblick abzuwarten vermeint, den rechten Moment unwiederbringlich zu versäumen – wie dies auch in Österreich vor 1848 geschah. Niemand könne sagen, wann und wie die orientalische Frage – von der die serbische nur einen Bruchteil bildet – gelöst werden wird … Soll man also die Regulierung der Verhältnisse der Woiwodschaft noch länger aufschieben? Durch die hie und da sich manifestierenden Wünsche, aus Österreich zu scheiden und sich mit dem Fürstentum zu verschmelzen, dürfe man sich nicht irremachen lassen. Österreich ist stark genug, solche Gelüste zu unterdrücken, und dieselben werden sich dann am wenigsten geltend zu machen vermögen, wenn man jetzt die billigen Wünsche der Nation erfüllt und getreu der gegebenen Versprechungen jedem das Seinige gibt.“

Trotz dieser drängenden Worte des Staatsministers wurde die Entscheidung vertagt. Der wahre Grund kam im Ministerrat vom 3. November 1862 zum Vorschein. Die Mehrheit der Minister sprach sich für die Anträge Schmerlings und für eine rasche Entscheidung aus. Forgách lehnte einen eigenen Distrikt aus administrativen Gründen und prinzipiell ab, weil damit niemand zufriedengestellt werde, weder die Serben noch die Ungarn und die Deutschen in diesem Landesteil. Noch weiter gingen Mecséry, Rechberg und Esterházy, die offen die Verbindung zur ungarischen Frage herstellten: Die Maßnahme würde das Machtverhältnis der Nationalitäten in Ungarn verändern. Dazu sei die Zeit erst dann reif, wenn „eine gedeihliche Beziehung zwischen Ungarn und den übrigen Ländern“ – also der Ausgleich – mit der gegenwärtigen || S. 34 PDF || Machtverteilung nicht erreicht werden könne. Wenn eine Entscheidung über die Politik den Ungarn gegenüber gefallen sei, nämlich ob „die Pazifizierung Ungarns durch moralische Mittel oder durch Zwang“ herbeizuführen wäre, dann sei die serbische Frage leicht zu lösen.

Auf die „ungarische Hauptfrage“ (Esterházy) galt es also, eine Antwort zu finden. Da sich Franz Joseph hierin noch nicht entschieden hatte, traf er auch in der serbischen Frage vorerst keine Entscheidung84.

Den gleichen Ausgang nahm die Angelegenheit der Errichtung einer eigenen Metropolie für die orthodoxen Rumänen. Sie waren dem serbischen Patriarchen in Karlowitz unterstellt und betrieben seit langem die Emanzipation von den Serben. Als die Frage am 25. November 1862 im Ministerrat erörtert wurde, hatte es den Anschein, als ob die Meinungen der Teilnehmer nicht allzuweit auseinandergingen, sprachen sich doch alle prinzipiell für die Errichtung der Metropolie aus85. Nur über den Umfang konnte man sich nicht einigen. Unversehens aber geriet auch dieses Thema in den Sog der ungarischen Frage. Als der Kaiser am 15. Jänner 1863 die Frage noch einmal vor den Ministerrat brachte, begründete Nádasdy seinen Antrag nach sofortiger Errichtung der Metropolie bloß in Siebenbürgen offen damit, die Rumänen des Landes und ihren Bischof Schaguna zu gewinnen. Ohne sie zufriedenzustellen, sei ein für die Regierung günstiger Landtag in Siebenbürgen nicht möglich.

Forgách und Esterházy opponierten heftig dagegen, die Metropolie aus politischen Gründen nur in Siebenbürgen zu kreieren und damit die in Ungarn lebenden Rumänen zu enttäuschen. Esterházy warnte auch davor, die „Schismatiker“, wie er die Orthodoxen nannte, im Rang zu erhöhen, ohne auch die mit Rom Unierten zufriedenzustellen. Dies sei ein Widerspruch zur traditionellen Politik Österreichs als „uralte Stütze des Katholizismus“. Was Forgách und Esterházy nicht aussprachen, was aber dennoch klar im Raum stand, war die Tatsache, daß Nádasdys „politische Opportunität“ aus ungarischer Sicht eine politische Inopportunität war. Denn ein von den Rumänen dominierter siebenbürgischer Landtag würde natürlich gegen die Union Siebenbürgens mit Ungarn stimmen und damit die Wiederherstellung der territorialen Integrität des Landes verhindern, die aus ungarischer Sicht eine Conditio sine qua non für den Ausgleich war. Franz Joseph entschied noch in der Ministerratssitzung gegen den Antrag Nádasdys, damit indirekt auch gegen Schmerling.

Mehr Erfolg hatten die siebenbürgischen Rumänen mit einem anderen Anliegen, der Einberufung einer Nationalkonferenz, bei der sie ihre Haltung auf dem bevorstehenden Landtag beraten wollten86. Nádasdy, der Leiter der siebenbürgischen Hofkanzlei, befürwortete diese von den Bischöfen Sterka-Sulucz und Schaguna, den anerkannten Führern der Nation, erbetene Versammlung, während sich der ungarische Hofkanzler warnend dagegen aussprach, da „bei der gegenwärtigen Lage der Verhältnisse durch die Einvernehmung einzelner Nationalversammlungen die schwebenden Fragen gewiß nicht zu einer günstigen Lösung gebracht werden, vielmehr || S. 35 PDF || solche Maßregeln die Regierung nur erschweren dürften, und daß aber namentlich ein Spiel mit der Nationalität an der Grenze bei den gegenwärtigen orientalischen Verhältnissen … höchst gefährlich sei“.

Nádasdy replizierte, daß die Loyalität der beiden Oberhirten bekannt sei. Im übrigen träfen sich die Ungarn und Szekler fortwährend zu solchen Konferenzen, ohne die Regierung zu informieren. Schmerlings heftige Wortmeldung entsprach nicht dem Klischee vom Abwarten: „Ritter v. Schmerling erwähnte, daß, wenn man sich bei uns immer von der Furcht vor dem Auslande leiten ließe,… man wohl kaum den heutigen Standpunkt einnehmen würde. Vor kurzer Zeit habe man gewarnt, die serbische Frage zu lösen, … heute warne man wieder vor der rumänischen. Votant glaube aber, daß man unbeirrt festen Schrittes den geraden Weg gehen solle, zumal nach seiner Erfahrung das Zögern und Zuwarten noch zu keinem Heile geführt habe.“ Diesmal konnten sich die deutschliberalen Mitglieder des Kabinetts durchsetzen. Franz Joseph gestattete am 15. November die Versammlung, die Ende April in Hermannstadt abgehalten wurde87.

Gänzlich abschlägig wurden einige Beschwerden der Slowaken in Ungarn und ihr Wunsch nach Bildung eines eigenen Distriktes entschieden88. Weder Freiherr v. Lichtenfels namens des Staatsrates noch Schmerling traten für einen slowakischen Verwaltungsbezirk ein. Dies war inkonsequent im Vergleich zu ihren Ansichten über einen serbischen Distrikt oder eine Metropolie für die Rumänen. Das einzige, was den Slowaken versprochen wurde, war ihre Berücksichtigung im Rahmen eines künftigen ungarischen Nationalitätengesetzes. Ein solches hatte Lichtenfels im Ministerrat vom 9. Juli 1862 anläßlich einiger Beschwerden von Rumänen aus dem Komitat Arad gefordert89. Franz Joseph hatte am 27. Juli 1862 ein solches Gesetz als eine eventuelle Landtagsvorlage für den ungarischen Landtag in Auftrag gegeben.

Alle diese Protokolle – außer jenem über die Slowaken – sind sehr umfangreich und geben detailliert die Reden wieder. Die Minister debattierten wortreich, mit vielen Argumenten und nicht ohne Schärfe. Immer deutlicher war zu sehen, daß eine Entscheidung in der „ungarischen Hauptfrage“ unumgänglich wurde. Eineinhalb Jahre nach der abrupten Auflösung des Landtags, ein Jahr nach der Einführung des Provisoriums war man keinen Schritt weitergekommen. Mit Ausnahme der sogenannten altkonservativen Politiker lehnte die ungarische politische Führungsschicht den Ausweg aus der Sackgasse absolutistischen Regierens ab, den die Krone mit dem Oktoberdiplom und dem Februarpatent eingeschlagen hatte. Diese oktroyierten Verfassungsdokumente waren aus der Sicht der Rechtskontinuität inakzeptabel. Schmerling seinerseits war angesichts der Erfolge auf anderen Gebieten weniger denn je zu Kompromissen bereit.

b) Der Ausgleichsversuch im März 1863

Die Initiative zu neuen Gesprächen ging wahrscheinlich von Franz Joseph selbst aus. Um die Jahreswendes 1862/63 forderte er den ungarischen Hofkanzler auf, gemeinsam mit seinen ungarischen Gesprächspartnern einen Plan zur Lösung der Frage auszuarbeiten. Daraus entstand der Ausgleichsversuch vom März 1863, der im Ministerrat sein eigentliches Zentrum und dementsprechend in den Protokollen breitesten Niederschlag gefunden hat. Josef Redlich hat in seinem Standardwerk die betreffenden Protokolle verwendet und bekanntgemacht90. Auf seine Analyse und auf weitere Aspekte dieses Ausgleichsversuchs soll an anderer Stelle näher eingegangen werden91. Hier muß ein Überblick über die Entwicklung und über die Protokolle genügen.

Über die von Franz Joseph angeregten Gespräche der Altkonservativen existieren keine behördlichen Akten. Die Gerüchte, die an die Öffentlichkeit drangen, gipfelten Anfang Februar in den Spekulationen um die Berufung eines ungarischen Ministeriums unter der Führung des Judex Curiae, Georg Graf Apponyi. Schmerling mußte in diesen Gesprächen natürlich eine Gefahr für sich und seine Vorstellungen zur Lösung der ungarischen Frage sehen. Er benützte eine zufällig sich bietende Gelegenheit zum Gegenangriff. Eine Delegation des Klausenburger Landwirtschaftsvereins unter der Führung des Grafen Mikó wollte dem Kaiser aus Anlaß einer günstigen Entscheidung in der siebenbürgischen Eisenbahnfrage eine Dankadresse überbringen. Die Antwort, die der Kaiser der Delegation geben sollte, war von der siebenbürgischen Hofkanzlei, also von Nádasdy, vorzubereiten, der Schmerling treu ergeben war. Die Antwort wurde so konzipiert, daß sie eine unmißverständliche Aufforderung an den künftigen siebenbürgischen Landtag enthielt, das Februarpatent anzuerkennen und den Reichsrat zu beschicken. So wie Schmerling die Gespräche der Altkonservativen, so empfand Forgách diese Antwort als Provokation. Sie führte im Ministerrat vom 9. Februar 1863 sofort zu einer heftigen Auseinandersetzung, die am 13. Februar in Anwesenheit des Kaisers fortgesetzt wurde92. Zum erstenmal seit dem Sommer 1861 wurde wieder ganz offen, hart und direkt über die ungarische Frage und über die Bedingungen eines Ausgleichs geredet, und nicht nur verschleiert oder verflochten mit anderen Problemen. Franz Joseph sprach sich entschieden für die Einberufung des siebenbürgischen Landtags aus, mithin für den Antrag Nádasdys und Schmerlings: „Se. k. k. apost. Majestät geruhten Allerhöchstsich dahin auszusprechen, daß, nachdem die Abhaltung des siebenbürgischen Landtages als eine unerläßliche Bedingung erkannt wird, damit der Reichsrat seine finanziellen Aufgaben lösen könne, alle Mittel zu ergreifen seien, um das erfolgreiche Zusammentreten dieses Landtages rechtzeitig zu bewirken.“

Über den Zusammenhang zwischen dem siebenbürgischen Landtag und den finanziellen Aufgaben des Reiches, den Franz Joseph hier herstellt, ist folgendes in Erinnerung || S. 37 PDF || zu rufen. Der soeben geschlossene Reichsrat93 war nur der sogenannte engere gewesen, weil einerseits die Landtage Ungarns und Kroatiens die Entsendung ihrer Abgeordneten verweigert hatten, andererseits der siebenbürgische Landtag noch nicht einberufen worden war und damit keine Möglichkeit zur Wahl der Abgeordneten gehabt hatte. Der engere Reichsrat war für die Behandlung des Budgets nicht kompetent. Es stand zu befürchten, daß er, anders als in der Session 1861/62, nicht noch einmal auf die ausnahmsweise Befassung mit dem Staatsvoranschlag eingehen, sondern diese Vorgangsweise jetzt ablehnen würde, mit allen negativen Folgen für die Staatsfinanzen und den öffentlichen Kredit.

Schmerling hatte also, scheinbar den Angriff der Altkonservativen pariert, in Wirklichkeit hatte die Auseinandersetzung erst begonnen. Knapp einen Monat später legte Forgách im Ministerrat ein „Programm zur Ausgleichung der ungarischen Frage“ vor94. Er berief sich auf den Auftrag Franz Josephs und stellte sein Programm als Ergebnis der Gespräche mit Männern aus Ungarn vor. Damit begann eine drei Wochen dauernde Serie von Unterredungen, über die wir durch die Ministerratsprotokolle unterrichtet sind. Es gab vier sogenannte engere Konferenzen, an denen nur fünf bis acht Personen teilnahmen, eine Besprechung des Kaisers mit den zwei ungarischen Ministern und dem kroatisch-slawonischen Hofkanzler allein und eine allgemeine Ministerratssitzung mit allen ordentlichen und außerordentlichen Mitgliedern, also 15 Personen. An Dramatik und Schärfe lassen diese Protokolle nichts zu wünschen übrig. Der Klarheit halber sei hier ein schematischer Überblick über diese Sitzungen gegeben. (S. XXXVIII).

Von dem Programm, das Forgách am 11. März vorlegte, sagt Redlich, daß dieses bedeutende Operat ebensogut den Ausgangspunkt zur schnellen Lösung des Konfliktes mit dem ungarischen Landtag hätte bilden können wie drei Jahre später der berühmte Osterartikel Franz Deáks95. Dies mag dem Inhalt des Papiers nach stimmen, vom Zeitpunkt her gesehen ist es eine zu positive Interpretation. Schmerling verfaßte auf den Wunsch des Kaisers hin einen Gegenentwurf, in dem er anhand zahlreicher Aktenzitate, beginnend mit dem Oktoberdiplom, die Grundsätze der Ungarnpolitik der Regierung schlüssig darlegte. Das recht abfällige Urteil Redlichs, das Papier sei bloß ein Beweis für das starre, unfruchtbare Denken Schmerlings96, wird dem Gegenentwurf nicht ganz gerecht. Es ist doch eine klare Formulierung der seit 1860/61 eingehaltenen Linie.

Der Kaiser beauftragte nun die ungarischen Minister unter Beiziehung des kroatisch-slawonischen Hofkanzlers Mažuranić, einen Kompromißentwurf auszuarbeiten. Wie sehr sich Franz Joseph einen Ausgleich wünschte, geht aus den Protokollen ganz deutlich hervor. In der Konferenz am 23. März zeigte sich Schmerling der Form nach gesprächsbereit, indem er das Kompromißpapier, die „Punktation“, für annehmbar erklärte, freilich nur mit einigen Änderungen. In der Sache selbst, bei den konkreten Änderungen, blieb Schmerling hart: zuerst vorbehaltlose Anerkennung

|| S. 38 PDF || Die Ministerratsprotokolle über den Ausgleichsversuch im März 1863

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|| S. 39 PDF || der Reichsverfassung (Oktoberdiplom und Februarpatent) durch die Ungarn, dann erst Verhandlungen über allfällige Abänderungen. Der Kaiser beendete die im Kern fruchtlose Diskussion mit einer nochmaligen Aufforderung zum Kompromiß. Schmerling lehnte weitere Gespräche aber ab, entgegen dem ausdrücklichen kaiserlichen Auftrag. In den „Denkwürdigkeiten“ schreibt er: „Die nutzlose Aufgabe, mit den ungarischen Herren nochmals in Verhandlung zu treten, habe ich unterlassen, wußte ich ja, daß unsere Anschauungen diametral entgegengesetzt sind und daß eine Verständigung nicht möglich sei. Dies habe ich dem Erzherzog Rainer mitgeteilt mit der Bitte, Se. Majestät davon in Kenntnis zu setzen97.“

Damit war der Ausgleichsversuch im Grunde schon gescheitert. Franz Joseph war genötigt, selbst einen Ausweg zu finden. Er mußte sich entscheiden. Schon am 11. März hatten Nádasdy und Esterházy – inhaltlich Kontrahenten – übereinstimmend betont, es könne nur die eine oder die andere Richtung bestehen bleiben und hierin müsse sich vor allem Se. Majestät entscheiden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen, um einen „Schiedsspruch“ (Redlich) zu fällen. Am 30. März war es soweit. Ohne Widerspruch hatten ihn die Minister hinzunehmen: „Se. Majestät der Kaiser geruhen zu eröffnen, Allerhöchstdieselben hätten die beiderseitigen Ansichten über die Behandlung der ungarischen Frage entgegengenommen und nach reifer Erwägung die früher gehegte Ansicht festgehalten, daß bei der gegenwärtigen Lage Österreichs im Inneren, namentlich aber dem Auslande gegenüber eine Veränderung in der Zusammensetzung des k. k. Ministeriums jetzt von Nachteil wäre. Zur Behebung der vorhandenen Differenzen haben Se. Majestät die Ah. Willensmeinung zu Papier gebracht … und erwarten von der pflichtschuldigen Treue und Hingebung aller Mitglieder des Ministeriums, daß sie diese Ah. Bestimmungen ohne Widerrede hinnehmen.“

In der Sache hatte sich Schmerling durchgesetzt. Die „Bestimmungen“ sagten: Alle Programme waren zurückzuziehen – Oktoberdiplom und Februarpatent waren mithin die Basis der Politik auch in Ungarn. Apponyi als Personifizierung des Gegensatzes zu Schmerling wurde enthoben. In Siebenbürgen war der Landtag einzuberufen. Die offizielle und offiziöse Presse war streng in die Schranken zu weisen.

So ist der Ausgleichsversuch vom März 1863 ergebnislos abgebrochen worden. Ohne Zweifel war er der bedeutendste zwischen 1861 und 1865, „der einzige ernste Vorstoß gegen Schmerlings konstitutionelle zentralistische Konzeption“98. Am 1. April 1863 brachte der „Botschafter“, die offiziöse Zeitung des Staatsministers, die – möchte man sagen – offizielle Siegesnachricht: „Die Situation hat seit kurzem wieder festes Gepräge erhalten. Es ist volle Klarheit in die Verfolgung der nächsten Ziele und Zwecke gekommen, der Sieg der Verfassungsidee ist vollständig … das sprödeste Element scheidet aus der hervorragenden Stellung … Apponyi ist nicht mehr Judex Curiae. Die Einberufung des siebenbürgischen Landtags ist unmittelbar bevorstehend …“

c) Die Einberufung des siebenbürgischen Landtags

Die politische Entscheidung war also Ende März gefallen: „In Siebenbürgen wird der Landtag einzuberufen sein …“ Die Vorbereitungen dazu reichen weit zurück. Nádasdys Betrauung mit der Leitung der Hofkanzlei und Ludwig Graf Crennevilles Ernennung zum Präsidenten des Guberniums in Klausenburg im November 1861 hatten schon zum Ziel gehabt, ein solches politisches Klima herbeizuführen, in dem mit Erfolg ein Landtag abgehalten werden konnte. Erfolg hieß dabei Erweiterung des Landtags durch rumänische Abgeordnete, Anerkennung von Oktoberdiplom und Februarpatent und Beschickung des Reichsrates. Das geeignete Klima sollte durch gezielten Druck auf „politisch Renitente“, im Grunde auf die Ungarn, gleichzeitig durch Förderung der Sachsen und der Rumänen herbeigeführt werden.

Im Herbst 1862, knapp ein Jahr nach seiner Ernennung, hielt Nádasdy die Zeit reif für neue Initiativen. Am 25. September 1862 traten die sogenannten Komitatsausschüsse gemäß der von Nádasdy eingeführten provisorischen Munizipalverfassung Siebenbürgens erstmals zusammen99. Vereinzelt kam es dabei zu regierungskritischen Äußerungen. Am meisten Aufsehen erregte der Ausschuß des Inner-Szolnoker Komitats, der in einer Denkschrift an den Kaiser um die Aufhebung der oktroyierten provisorischen Munizipalverfassung bat. Nádasdy beantragte im Ministerrat, in der Antwort auf diese Denkschrift ausführlich den Regierungsstandpunkt zu erklären, was zu einer langen Debatte führte100. Die Mehrheit stimmte ihm zu, und die Antwort wurde in der Öffentlichkeit als „offizielle Erklärung“ und als „Programm des siebenbürgischen Hofkanzlers“ zur siebenbürgischen Landtagsfrage gewertet101. Im allgemeinen aber konnte Nádasdy die Session der Komitatsausschüsse als Erfolg für sich buchen.

Im Ministerrat vom 10. und 13. Oktober 1862 wurden die Antworten der Regierung auf zwei etwas weiter zurückliegende Eingaben der Rumänen und der Sachsen diskutiert102. In beiden Fällen handelte es sich um Wünsche und Bitten im Sinne der Schmerlingschen Politik, so daß in der Ah. Entschließung über diese Eingaben die „Loyalität, Treue und Hingebung an Mein Herrscherhaus“ lobend hervorgehoben werden konnten. Auch an die oben erwähnte Nationalkonferenz der Rumänen, die Franz Joseph am 15. Februar 1863 gestattete, ist in diesem Kontext noch einmal zu erinnern.

Am 20. Oktober 1862 legte Nádasdy einen Vortrag vor, in dem er den Antrag stellte, neue Vorschläge betreffend die Einberufung des Landtags ausarbeiten zu dürfen103. Dies war deshalb notwendig, weil einige Entschließungen aus dem Jahre 1861 über die Einberufung des Landtags nicht mit der geänderten Lage übereinstimmten und revidiert werden mußten; andererseits lagen einige Vorträge Keménys aus dem Jahr 1861 unerledigt beim Kaiser. Es handelte sich also um einen formalen || S. 41 PDF || Schritt, der durch die kaiserliche Resolution vom 2. November 1862 zum klaren und konkreten Auftrag führte, „Anträge über die Feststellung und Organisierung der angemessenen Vertretung des Landes behufs möglichst baldiger Abhaltung eines siebenbürgischen Landtages zu erstatten“. In Erfüllung dieses Auftrages wurde von der siebenbürgischen Hofkanzlei der Entwurf eines „Provisorischen Gesetzes über die Zusammensetzung und Wahlordnung für den bevorstehenden Landtag des Großfürstentums Siebenbürgen“ ausgearbeitet. Er erhielt dann den Titel „Provisorische Landtagsordnung für das Großfürstentum Siebenbürgen“ und war das Gegenstück zu den cisleithanischen Landesordnungen und Landtagswahlordnungen, die hier zu einem Text vereinigt waren. Am 17. März 1863 wurde der Entwurf vorgelegt, zuerst, wie alle Gesetzentwürfe, vom Staatsrat begutachtet, und am 7. April, rund eine Woche nach dem Ende des Ausgleichsversuchs, gelangte er in den Ministerrat104.

Forgách versuchte, obwohl sich der Kaiser ja schon entschieden hatte, noch einmal und ohne Erfolg Zeit zu gewinnen, indem er die Prüfung des Entwurfes durch Vertrauensmänner aus Siebenbürgen vorschlug.

Die Landtagsordnung wurde verabschiedet und mit dem ebenfalls von Nádasdy vorgelegten Einberufungsreskript sanktioniert. Beide Stücke wurden in der „Wiener Zeitung“ vom 9. Mai 1863 publiziert105. Es zeigt die enge Verklammerung der siebenbürgischen mit der Reichspolitik, daß am nächsten Tag in der „Wiener Zeitung“ vom 10. Mai das Einberufungspatent zur zweiten Reichsratssession publiziert wurde106. Im Juli wiederholte sich dieses zeitliche Zusammentreffen. Am 15. Juli wurde der siebenbürgische Landtag in Hermannstadt eröffnet, am 17. Juli legte Plener im Abgeordnetenhaus den Staatsvoranschlag für 1864 auf den Tisch und hielt die Budgetrede. Und noch eine Wiederholung gab es im Oktober: Am 20. Oktober 1863 erschienen die siebenbürgischen Abgeordneten im Reichsrat, der somit formal gesehen der Gesamtreichsrat war, und am 27. Oktober begann die Plenardebatte zum Budget 1864.

Nach diesem Vorgriff zurück zum April 1863. Die Ministerratsprotokolle zum Landtag selbst sind im nächsten Band enthalten. Der vorliegende reicht bis zur Verabschiedung des Einberufungsreskriptes und der Landtagsordnung. Hingewiesen sei aber noch auf das letzte Protokoll dieses Bandes mit dem Antrag Nádasdys auf Amnestie für jene Siebenbürger, die wegen politischer Straftaten verurteilt waren107. Diese vom Ministerrat befürwortete, vom Kaiser am 8. Mai gewährte Amnestie sollte, unmittelbar vor den Wahlen zum Landtag, zur Versöhnung der Gemüter führen, die Durchführung der Regierungsmaßregeln erleichtern und das Vertrauen der Bevölkerung in die Macht und Stärke der Regierung festigen.

Außenpolitische Ereignisse - Retrodigitalisat (PDF)

Im Zeitraum des vorliegenden Bandes waren zwei Ereignisse im Ausland von besonderer Bedeutung für Österreich: der Beginn der Ära Bismarck und der polnische Aufstand von 1863.

a) Bismarck

Am 23. September 1862 ernannte der preußische König Wilhelm I. seinen Gesandten in Paris, Otto v. Bismarck, zum preußischen Ministerpräsidenten, nachdem sich Bismarck verpflichtet hatte, die Heeresreform gegen die liberale Landtagsmehrheit durchzusetzen. Am 8. Oktober 1862 übernahm Bismarck auch die Leitung des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten. Damit begann eine politische Karriere, „in deren Verlauf sich das Gesicht Preußens, Deutschlands und Europas grundlegend wandelte“108, was freilich zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen war.

Bismarcks Vorgangsweise im Heeres- und Verfassungskonflikt, einfach ohne Budgetbewilligung Ausgaben zu tätigen, wurde im österreichischen Ministerrat, wo kurze Zeit später eine ernste Differenz mit dem Abgeordnetenhaus über das Budgetrecht diskutiert wurde, als abschreckendes Beispiel hingestellt. „Ein verfassungswidriges Budgetvakuum“, eine „preußische Krise“, „die jüngsten Berliner Vorgänge“ wollte die Mehrheit der Minister und schließlich auch Franz Joseph vermeiden109.

Den ersten Vorstoß in Richtung Österreich unternahm Bismarck im Dezember 1862. Anlaß war ein Projekt zur Reform des Deutschen Bundes. Er riet in Gesprächen mit dem österreichischen Gesandten in Berlin, Graf Károlyi, in einer gar nicht diplomatischen Sprache, Österreich solle sich aus Deutschland zurückziehen und verstärkt dem Osten und Südosten zuwenden, wofür er Unterstützung anbot. Er drohte sogar offen mit Krieg. Da er aber sehen mußte, daß die Rückendeckung für einen Waffengang mit Österreich noch fehlte, und da Wien weder auf die Drohung noch auf das Angebot der neuen Machtverteilung einging, lenkte er im Jänner 1863 wieder ein. In diesem Kontext ist das Ministerratsprotokoll vom 9. Jänner 1863 zu lesen, in dem zum erstenmal der Name Bismarck aufscheint110.

b) Der polnische Aufstand von 1863

Das zweite Ereignis, das vom Ausland her tief nach Österreich wirkte, war der Ausbruch des Jänneraufstandes im russischen Teilungsgebiet Polens. Zum vierten Mal nach 1830, 1846 und 1848 versuchte die polnische Nation, sich aus der „politischen Entmachtung, territorialen Zerstückelung und nationalen Unterdrückung“, in der sie || S. 43 PDF || sich seit der Teilung des Landes befand, zu erheben111. Die Hoffnungen, die die vorsichtige Repolonisierungspolitik des Grafen Alexander Wielopolski im Königreich Polen seit 1861 weckte, hatten sich zu revolutionärem Stoff verdichtet. Allerdings war bei Ausbruch des Aufstandes am 22. Jänner 1863 nicht vorherzusehen, daß Rußland bis zur völligen Niederschlagung ein Jahr brauchen und daß es sich hier um einen der großen Aufstände – und um den letzten – handeln würde112.

Immerhin stand bereits der Ministerrat vom 26. Jänner 1863 im Zeichen der polnischen Ereignisse113. Der Kaiser sprach von bedenklichen Nachrichten über einen an vielen Orten zugleich ausgebrochenen blutigen Aufstand. Von da an beschäftigte das Thema sehr oft den Ministerrat. Die Ereignisse wurden in Galizien und besonders in Krakau mit fieberhafter Aufmerksamkeit und Sympathie verfolgt, ja viele nahmen als „Insurgenten“ aktiven Anteil. Im folgenden soll darauf sowie auf die Bedeutung des Aufstands und seines Scheiterns für Österreich kurz eingegangen werden, während die außenpolitischen Folgen und die entsprechenden Schritte der österreichischen Diplomatie in der Einleitung zum nachfolgenden Band V/6 beschrieben sind. Ebenso werden dort einige innenpolitische Aspekte, vor allem das rechtliche Vorgehen der österreichischen Behörden gegen die Aufständischen, behandelt.

Die internationale Bedeutung des Aufstands und die starke Betroffenheit Galiziens und Krakaus erforderten große Aufmerksamkeit seitens der Zentralregierung. Das ist der Grund, weshalb in Wiener Archiven trotz einiger Verluste und Aktenabtretungen noch viel Material zum Jänneraufstand vorhanden ist. Die Arbeiten von Wereszycki und Czastek114 schöpfen zwar daraus, aber vollständig ist es noch nicht gesammelt oder gar ausgewertet worden. Neben den Ministerratsprotokollen sind das Politische Archiv, die Administrative Registratur und das Informationsbüro im Haus-, Hof- und Staatsarchiv, dann das Kriegs-, das Finanz- und das Allgemeine Verwaltungsarchiv (Justiz- und Innenministerium) zu nennen.

Das erwähnte Protokoll vom 26. Jänner geht auch auf die außenpolitische Dimension des Aufstandes ein, insgesamt aber bieten die Protokolle mehr Information über die innenpolitische Seite und die Vorgangsweise der Regierung in Galizien und in Krakau. Die ersten Maßnahmen setzte freilich nicht die Zentralregierung, sondern sie mußten vor Ort getroffen werden. So wurden die Finanzämter sofort angewiesen, nicht benötigte Bargelder abzuführen und die Kassen und Ämter zu sichern115. Der Statthalter Graf Mensdorff erwies sich mit dem Präsidialerlaß vom 30. Jänner an die Kreis- und Bezirksvorsteher als souveräner und umsichtiger Organisator116. Er || S. 44 PDF || verfolgte zwei nicht leicht zu vereinbarende Ziele, nämlich unter dem Stichwort Ruhe und Ordnung die Auswirkungen auf Galizien möglichst gering zu halten und gleichzeitig die Sympathie der Polen für die österreichische Verwaltung nicht zu verscherzen, indem er den Flüchtlingen hilfreich entgegenkam.

So ordnete er einerseits Patrouillen an, die aus der Gendarmerie und der Finanzwache unter Mithilfe der Gemeindevorsteher zu organisieren waren und die die Grenze ständig abgehen und Grenzüberläufer, vor allem bewaffnete Insurgenten, zurückweisen sollten. Bewaffnete einzelne oder Banden waren sofort zu entwaffnen. Zugleich deklarierte er eine offene Flüchtlingspolitik. „Anständigen Personen und Familien“, die, vor den Unruhen Schutz suchend, als Flüchtlinge auf österreichisches Staatsgebiet kamen, sollte, auch wenn sie keine Papiere besaßen, die Aufenthaltsbewilligung erteilt werden. Auch sollte ihnen, falls sie mittellos waren, gegen seinerzeitigen Ersatzanspruch an die russische Regierung, der Unterhalt gewährt werden. Die Zollwache hatte besonders auf Waffentransporte zu achten. Unterstützung durch das Militär wollte Mensdorff möglichst vermeiden. Er schärfte den Kreis- und Bezirksvorstehern ein: „Ein ruhiges, besonnenes und umsichtiges Vorgehen sichert stets den Erfolg. Darauf baue ich bei den politischen Exekutivorganen. Deshalb erwarte ich auch zuversichtlich, daß ein unzeitiges und unbegründetes Requirieren militärischer Unterstützung nicht vorkommen werde.“

Alle diese Themen – Übertritt und Behandlung der Aufständischen, Flüchtlinge, Waffentransporte – kehren im Ministerrat wieder. Eine andere wichtige Maßnahme, die politische Situation in Galizien stillzuhalten, war die Vertagung des Landtags. Wie in allen cisleithanischen Kronländern waren auch in Lemberg die Abgeordneten Anfang Jänner zur zweiten Session zusammengetreten. Nach Ausbruch des Aufstands in Russisch-Polen wurde die Sitzung zunächst vertagt, dann der Landtag unauffällig, nämlich gemeinsam mit allen anderen, geschlossen117.

Mit besonderer Erregung wurde der Aufstand in Krakau verfolgt – die Stadt gewann sogar operative Bedeutung für die Insurgenten. Mitte März eskalierten die Ereignisse dort aus der Sicht der Regierung. Es war zwischen dem Militärkommandanten für Westgalizien, FML. Bamberg, und dem Leiter der Statthaltereiabteilung in Krakau, Hofrat Merkl, zu heftigen Differenzen gekommen. Bamberg trat dafür ein, gegen die ins Krakauer Gebiet übergetretenen Aufständischen rigoros vorzugehen und die Unterstützung zu unterbinden, die sie durch die Zivilbevölkerung erhielten. Merkl wollte offenbar so wenig wie möglich eingreifen, sei es aus Schwäche, sei es aus Überzeugung. Im Grunde war es der schon in den Anweisungen Mensdorffs aufgetretene Zwiespalt in der österreichischen Politik zwischen Sympathie und Unterbindung. Am 12. März erreichte den Kriegsminister die Abschrift eines Schreibens Bambergs an Merkl, in dem der in Wien sehr angesehene General die Lage so beschrieb: „Der Einwurf dagegen, daß der Verkehr gehemmt, die Paßvorschriften, das Hausrecht verletzt würden, ist unhaltbar einer Stadtbevölkerung gegenüber, die seit zwei Jahren Revolution spielt, unter deren Augen öffentlich Werbebüros für den Aufstand bestanden und noch bestehen (25 Falschwerber sind arretiert || S. 45 PDF || im Kastell), die durch großartige Begräbnisfeierlichkeiten bei jedem an den bei Miechow erhaltenen Wunden hingeschiedenen obskuren Menschen demonstriert, die ins Insurgentenlager pilgert, in den Kirchen für den Sieg des Aufstandes betet, von deren Militärpflichtigen 355 unbefugt abwesend, größtenteils bei den Insurgenten sind, die für die Insurgenten Waffen, Munition sammelt, Proviant, Schuhe, Wäsche, Kleidung vorbereitet, und dieses alles jetzt nur zufällig nicht gegen uns richtet … Die Aufstandsunterstützungen jeder Art, welche so großartig und unter unseren Augen betrieben und von einem geheimen Komitee geleitet werden, das mit Geld und Terror, vielleicht bald auch durch Mord seine Zwecke verfolgt, die studierende Jugend gänzlich verführt und ins Elend geschickt hat, sind Verbrechen gegen die Sicherheit des Staats118.“

Daß diese Zustände die Meinung förderten, Österreich sympathisiere offen mit dem Aufstand, ist wenig verwunderlich, und offiziöse Zeitungsartikel gegen die Insurgenten waren angesichts der Tatsachen nicht mehr glaubwürdig. Der Ministerrat sah sich veranlaßt, wirkungsvollere Mittel zu ergreifen119. Es wurde sogar das Wort Ausnahmezustand in die Debatte geworfen. Schmerling schlug daraufhin vor, den in Lemberg residierenden Statthalter Graf Mensdorff nach Krakau zu senden, um nach dem Rechten zu sehen. Dieser Vorschlag wurde sofort aufgegriffen. Außerdem ordnete der Kaiser eine Kundmachung des Statthalters an, in der die weitverbreiteten falschen Ansichten berichtigt werden sollten. Vom 16. bis zum 18. März 1863 weilte Mensdorff in Krakau. Am 17. veröffentlichten die Zeitungen eine Kundmachung, in der die Flüchtlinge aus Polen und die Einheimischen eindringlich vor der Unterstützung des Aufstandes gewarnt wurden, allerdings ohne nachhaltigen Erfolg120. Dennoch war damit die Haltung der Regierung klargestellt.

Eine Woche später ereilte die Aufständischen eine schwere Niederlage, als das Korps des sogenannten Diktators Langiewicz durch eine Offensive russischer Truppen nach Galizien abgedrängt und zerstreut wurde. Langiewicz selbst flüchtete auf österreichisches Gebiet und stellte sich den Behörden. Am 23. März berichtete ein Krakauer Korrespondent der Lemberger Zeitung: „Seit dem 22. Früh beherbergt unsere Stadt auf dem Schlosse den Exdiktator Langiewicz … Die Aufregung war und ist in diesen Tagen eine ungeheure. Flüchtige Insurgenten sind mindestens tausend in Krakau in allen verfügbaren Räumen untergebracht, manche derselben kamen in einem erbarmungswürdigen Zustande an ..121.“

Langiewicz selbst wurde den internationalen Gepflogenheiten entsprechend interniert, und zwar in der Nähe von Brünn. Der Gedanke, ihn nach Preußen abzuschieben, weil er im preußischen Teilungsgebiet geboren war, wurde vom Ministerrat verworfen, um „das Odium der Auslieferung“ zu vermeiden122. Trotz der Niederlage des Langiewicz ging die Erhebung weiter, da die Aufständischen größere Ansammlungen und Niederlagen vermieden. Allerdings blieb ihnen die internationale Hilfe || S. 46 PDF || versagt. Rußland verstärkte seine Truppen und konnte bis gegen Ende des Jahres die vollständige Unterdrückung der Insurrektion erreichen.

Der Jänneraufstand war für die Habsburgermonarchie nicht nur durch die direkten Wirkungen auf Galizien und Krakau von Bedeutung, sondern, wie J. Radzyner herausgearbeitet hat, noch mehr durch die politischen Fernwirkungen123. Mit dem Scheitern dieses Versuchs datiert nämlich der Anfang der Phase eines pragmatischen Realismus, der sich unter dem Schlagwort von der „praca organiczna“, der „organischen Aufbauarbeit“, als Alternative zum bisherigen Unabhängigkeitskampf entwikkelte. Das neue politische Ziel der polnischen adeligen Führungsschicht in Galizien wurde die Landesautonomie. Die Loyalität zum habsburgischen Gesamtstaat sollte die möglichst freie Entfaltung des Landes und der nationalen Kultur ermöglichen. Dieser Weg war so erfolgreich, daß er später unter dem Schlagwort vom Triloyalismus auch in den anderen Teilungsgebieten versucht wurde, freilich mit weit geringerem Erfolg. Nicht nur für die polnische Nation wurde somit eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen, auch für die österreichische Innenpolitik wurde die konstruktive Mitarbeit des polnischen Adels unter konservativem Vorzeichen langfristig zu einem wesentlichen Element.

Veränderungen im Ministerium - Retrodigitalisat (PDF)

Am 18. Dezember 1862, am letzten Tag der Reichsratssession, wurde der Präsident des Abgeordnetenhauses, Dr. Franz Ritter v. Hein, zum Justizminister ernannt124. Damit endete die seit 23. Juli 1861 dauernde Vakanz, die durch Pratobeveras Erkrankung und Beurlaubung entstanden war. Mit der Führung der Geschäfte waren am 9. September 1861 die Sektionschefs im Justizministerium Dr. Theobald Rizy und Georg Ritter v. Mitis betraut worden, im Reichsrat hatte Minister Ritter v. Lasser das Justizressort vertreten125.

Hein, geboren 1808 in Olmütz, war seit 1847 Advokat im Troppau. Er war 1848/49 Mitglied des konstituierenden Reichstages und seines Verfassungsausschusses. 1860 wurde er in den verstärkten Reichsrat berufen. Als Präsident des Abgeordnetenhauses hatte er sich durch energische Leitung der Sitzungen ausgezeichnet126. Vom 31. Dezember 1862 an nahm er an den Ministerratssitzungen teil. Er bekleidete das Amt des Justizministers bis zum Rücktritt der Gesamtregierung am 27. Juli 1865.

Am 27. Dezember 1862 übernahm Friedrich Freiherr v. Burger die Leitung des Marineministeriums. Die Errichtung dieses Ministeriums hatte der Kaiser am 26. Jänner 1862 verfügt und den Handelsminister Graf Wickenburg mit der organisatorischen Vorbereitung und mit der interimistischen Leitung betraut127. Burger wurde am || S. 47 PDF || 30. August 1862 zum Minister ernannt, übernahm aber nur die organisatorische Vorbereitung128. Ab September wurde er in der An- und Abwesenheitsliste des Ministerrates geführt, war aber häufig abwesend. Am 27. Dezember 1862 trat die von Burger vorgelegte Organisation des Ministeriums endlich in Kraft, und mit der Amtsübernahme durch Burger endete auch die interimistische Tätigkeit Wickenburgs. Burger nahm von da an regelmäßig an den Sitzungen des Ministerrates teil. Als Ausgleich für die Abtretung der Handelsmarine an das neue Ministerium wurde die Leitung des Post- und Telegraphenwesens vom Finanzministerium an das Handelsministerium übergeben129. Burger leitete das Marineministerium bis zum Rücktritt der Gesamtregierung am 27. Juli 1865. Mit Handschreiben vom selben Tag wurde das Marineministerium wieder aufgelöst130.