Der Kübecksche Reichsrat - Retrodigitalisat (PDF)
„An die Seite der Krone und der vollziehenden Gewalt wird ein Reichsrat eingesetzt, dessen Bestimmung ein beratender Einfluß auf alle jene Angelegenheiten sein soll, worüber er von der vollziehenden Reichsgewalt um sein Gutachten angegangen wird.“ Mit diesen Worten des § 96 war der Reichsrat in der oktroyierten Verfassung vom 4. März 1849 verankert. Die nachfolgenden zwei Paragraphen bestimmten, daß das Ernennungsrecht für die Reichsratsmitglieder beim Kaiser lag und daß die verschiedenen Teile der Monarchie bei der Besetzung dieser Posten nach Möglichkeit zu berücksichtigt wären; ein eigenes Gesetz sollte dann die Einrichtung und den Wirkungskreis dieser Körperschaft regeln1.
Die Idee einer derartigen Institution war weder neu noch ein Spezifikum der Habsburgermonarchie; hier war sie bis 1848 durch den Älteren Staatsrat verkörpert2. Dieses Beratungsgremium wurde aber von dem neu geschaffenen Ministerrat als Relikt des alten politischen Systems für überholt, ja für höchst störend angesehen. So war es nicht verwunderlich, daß bereits im zweiten Tagesordnungspunkt der zweiten Sitzung des Ministerrates, nachdem tags zuvor nur die Umformung gefordert worden war, die Aufhebung des Staatsrates verlangt wurde3. Trotz des Widerstandes des Kaisers, d. h. der konservativen Kreise am Hof, wurde dann der Staatsrat aufgelöst. Es war weiters auch nicht verwunderlich, daß in der ersten, Pillersdorfschen, Verfassung vom 25. April 1848, die vom Gesamtministerium gutgeheißen worden war, von einer Einrichtung wie dem Staats- oder dem späteren Reichsrat keine Spur zu finden war. In der ungarischen Verfassung des Jahres 1848 – den ungarischen Gesetzartikeln des Jahres 1847/48 – hingegen|| S. 12 PDF || war ein Staatsrat, ein Organ „zur Beratung der öffentlichen Landesangelegenheiten“, vorgesehen4. Diese ungarische Verfassung hatte allerdings keine Geltung für die nichtungarischen Länder, und die Bestimmungen über den ungarischen Staatsrat wurden ohnehin niemals zur Ausführung gebracht.
Der Begriff Staats- bzw. Reichsrat tauchte während des Jahres 1848 auf der ministeriellen Ebene noch zweimal auf; das erste Mal im August während der Beratungen des Ministeriums Wessenberg über die ungarische Frage. Auf der Grundlage eines vom ehemaligen Staatsrat Joseph Ritter v. Pipitz vorgelegten Memoires über die Regelung des Verhältnisses zu den Ländern der Stephanskrone wurde ein aus den Legislativkörpern der beiden Reichsteile gebildeter „Reichsrat, oder welchen Namen man geben will,“ ins Auge gefaßt, „dem die Fragen, wo Konflikte zwischen den Gewalten Ungerns und jenen der österreichisch-deutschen Länder oder gemeinsame Interessen zur Sprache kommen, zur Erörterung und Entscheidung zuzuweisen wären“. Alle Minister sollten auch diesem Reichsrat verantwortlich sein5. Dieser Reichsrat sollte also ein gemeinsames Reichsorgan sein; die Absicht war die Wahrung der Reichseinheit, und die Idee zur Schaffung dieses Organs entsprang unmittelbar der damaligen politischen Krise. Das zweite Mal, bereits im Kabinett Schwarzenberg, brachte Finanzminister Philipp Freiherr v. Krauß anlässlich der Debatte über die Abschaffung der politischen und Kameralrepräsentanten, die freilich auf die Einführung der Staatsanwaltschaft hinauslief, den Vorschlag, statt der bisherigen Staatsrepräsentanten einen Staatsrat zu installieren, „dem nebst der Wahrung solcher öffentlicher Rücksichten und Schlichtung von Konflikten der öffentlichen Gewalten auch noch die Ausarbeitung der Gesetzentwürfe übertragen“ werden sollte. Von diesem doch weit gehenden Vorschlag ließ sich Krauß allerdings mit dem Hinweis auf die zu errichtenden Staatsanwaltschaften ziemlich leicht abbringen6.
Auch der konstituierende Reichstag hatte in seinem Verfassungsentwurf die Institution eines Reichsrates berücksichtigt. Dem aus seinem Plenum gebildeten Verfassungsausschuß lagen Anfang Jänner 1849 drei Verfassungsentwürfe vor – von Ferdinand Gobbi, Franz Palacký und Kajetan Mayer –, von denen aber nur die zwei letzteren in weitere Erwägung gezogen wurden. Beide beinhalteten einen Reichsrat; Palacký schwebte eine Art Ländervertretung vor, die, dem Ministerium beratend zur Seite stehend, eine Vermittlerrolle zwischen der Krone, d. h. der Regierung als ausführendem Organ der Exekutivgewalt, und dem Parlament spielen sollte. Auch die Konzeption des Mayerschen Entwurfs ging davon aus, daß der Reichsrat die Länderinteressen zu vertreten hätte, wobei ihm neben der Begutachtungsfunktion bei Gesetzen auch gewisse Kontrollaufgaben obliegen sollten. Bei der Diskussion des vom Verfassungsausschuss als Beratungsgrundlage angenommenen Mayerschen Entwurfes wurde dann die Institution des Reichsrates|| S. 13 PDF || zwar als prinzipiell wünschenswert anerkannt, aber „die Normierung seiner Wirksamkeit … einem besonderen Reichsgesetze vorbehalten“7. Der Verfassungsentwurf blieb ein Entwurf, da bekanntlich die Auflösung des konstituierenden Reichstages im Plenum auch nur die Diskussion über eine mögliche Verfassung verhinderte.
Die Entscheidung zur Auflösung des konstituierenden Reichtages war bereits in der Ministerratssitzung vom 20. Jänner 1849 gefallen. Die Minister hatten im sechsten Tagesordnungspunkt dieser Sitzung diesen Beschluß gefaßt und gleichzeitig die Oktroyierung einer eigenen, ministeriellen Verfassung, ein eigenes Urbarialentschädigungsgesetz und ein Gesetz über die Vereine und das Assoziationsrecht als begleitende Maßnahmen für notwendig erklärt. In einem weiteren Tagesordnungspunkt wurde auch die Zusammensetzung eines Reichsrates besprochen, der aus Vertrauensmännern aller Provinzen unter besonderer Berücksichtigung der „Volksstämme“ bestehen sollte. Ein Beschluß darüber kam wegen der Schwierigkeiten bei der Wahl und wegen der vermutlich zu großen Anzahl der Reichsräte nicht zustande8. Soviel stand aber von vorneherein fest, daß der Reichsrat und zwar als eine nach dem Prinzip des Länder- bzw. Nationalitätenproporzes zusammengesetzte Beratungsinstitution ins Leben gerufen werden sollte. Unter diesem Gesichtspunkt kam das Thema Reichsrat dann im Ministerrat vom 12. Februar 1849 wieder zur Sprache. Auf der Grundlage eines bereits besprochenen und revidierten Verfassungsentwurfes wurden die Bestimmungen über den einzurichtenden Reichsrat diskutiert. Vor allem der § 80 dieses Entwurfes, der die Vertretung aller Länder bei der Ernennung der Reichsratsmitglieder regelte, gab dem Finanzminister Anlaß zur Kritik – zu schematisch, zu kostspielig, zu umfangreich und ohne Qualitätsgarantie. Schließlich einigten sich die Minister auf die Formel, daß bei der Bestellung der Reichsratsmitglieder, die dem Kaiser zustand, „auf die verschiedenen Teile des Reiches möglichst Rücksicht zu nehmen“ sei. Der weitere Paragraph (81), der bestimmte, daß den Ministern das Recht zustand, die Gegenstände auszuwählen, die der Reichsrat dann zu begutachten hätte, wurde nicht in Diskussion gezogen9.
Nachdem der Ministerrat die Beratungen über den Verfassungsentwurf beendet hatte, wurde das vorläufige – überarbeitete – Operat Karl Friedrich Freiherrn Kübeck v. Kübau, dem ehemaligen Hofkammerpräsidenten, der auch jetzt noch eine wichtige politische Rolle spielte und als Vertrauensmann der Krone galt, am 18. Februar 1849 zur Begutachtung|| S. 14 PDF || vorgelegt. Kübeck war schon am Vortag von Krauß über die beabsichtigte Auflösung des Reichstages und die Oktroyierung der Verfassung unterrichtet worden. Am 19. Februar 1849 kamen dann die Minister Krauß, Stadion, Thinnfeld und Bach bei Kübeck zu einer ersten inoffiziellen Besprechung über den Verfassungsentwurf zusammen10. Und tags darauf gab Kübeck seine Stellungnahme zum Verfassungsentwurf im offiziellen Ministerrat ab. Hinsichtlich des Reichsrates monierte er eine „genetische Definition“; er machte den Vorschlag, neben der vollziehenden Reichsgewalt, der der Reichsrat zur Seite gestellt werden sollte, auch die Krone explizit zu nennen. Die Regierungsmitglieder fanden gegen diesen Zusatz nichts einzuwenden, ebenso wie gegen die Formulierung, daß bei der Ernennung der Reichsratsmitglieder „auf die verschiedenen Teile des Reiches alle mögliche Rücksicht genommen werden“ sollte11. Alles in allem fand der ehemalige Hofkammerpräsident die Beratungen über die oktroyierte Verfassung allerdings wenig „erbaulich“; er vermißte Tiefe und Ordnung und litt unter dem „Zeitverlust“ 12.
Von diesem Zeitpunkt an bis zur Publizierung der oktroyierten Verfassung findet sich weder in den Quellen noch in der Fachliteratur ein Hinweis auf eine weitere Behandlung des Themas Reichsrat im Kreise der Regierung. In der Verfassung vom 4. März 1849 wurde schließlich im XI. Abschnitt der Reichsrat postuliert, wobei man sich weitgehend an den Kübeckschen Textierungsvorschlag hielt mit dem Zusatz, daß ein besonderes Gesetz die Einrichtung und den Wirkungskreis des Reichsrates regeln werde13.
Die Regierung hatte es mit der Ausarbeitung dieses besonderen Gesetzes allerdings nicht eilig. Friedjung berichtet, daß bereits ein von Stadion ausgearbeiteter Statutenentwurf vorlag, der dem Reichsrat eine bloß beratende Funktion zubilligte, wobei nur jene Gegenstände von ihm zu beraten wären, die ihm „vom Gesamtministerium oder einem einzelnen Minister zugewiesen werden“. Diese Arbeit, so Friedjung weiter, soll im Jänner 1851 als Grundlage für den ministeriellen Statutenentwurf für den Reichsrat gedient haben14.
Zur gleichen Zeit wurden auch die „Bemerkungen zum Behufe der provisorischen Organisierung des Reichsrathes“ verfaßt15. Dieses Dokument beruft sich auf die oktroyierte Verfassung vom März 1849 und muß vor dem 16. März 1849 entstanden sein, da der Kriegsminister Franz Baron Cordon in einem Schreiben an Schwarzenberg mit diesem Datum seine Bemerkungen zu den „Bemerkungen“ übersandte, wobei er nur einige inhaltlich unbedeutende Korrekturen anbrachte und bat, die Angelegenheit des Reichsrates im Ministerrat zur Sprache zu bringen, da er, Cordon, dies wegen einer Erkrankung|| S. 15 PDF || nicht persönlich tun könne16. Der Verfasser des Operrats über die Organisierung des Reichsrates stellte sich zunächst zwei Fragen: erstens, kann der Reichsrat auch ohne Aufforderung die Initiative ergreifen, um Gegenstände, die er im Interesse der Krone oder des Staates für wichtig hält, zur Sprache bringen, und zweitens, ist bei Fragen, welche der Kaiser unmittelbar an den Reichsrat richtet, die Gegenzeichnung eines verantwortlichen Ministers erforderlich. Die erste Frage wurde bejaht, die zweite verneint. Nach einer Skizzierung der Organisation – es wurde zwischen aktiven und beratenden Reichsräten und Beisitzern unterschieden, deren Berufung teils nach fachlicher Kompetenz und teils nach den Kronländern geschehen sollte – stand der entscheidenden Satz: „Die Stellung des Reichsrates zur Krone ist die der Unter- und zum Ministerium jener der Nebenordnung.“ So empfängt der Reichsrat von der Krone Aufträge, vom Ministerium Einladungen. Überdies muß der Reichsratspräsident, wenn die Arbeiten des Reichsrates im Ministerrat beraten werden, diesen Beratungen beigezogen werden, ohne allerdings ein Stimmrecht zu haben. Damit sollte eine Institution geschaffen werden, die gleichberechtigt neben der Regierung zu agieren und die Position des Monarchen gegenüber seinen Ministern zu stärken hatte. Vieles spricht dafür, daß diese „Bemerkungen“ der Feder Kübecks entstammten.
Die Bitte Cordons verhallte ungehört, und die Institution des Reichsrates kam erst wieder in der Ministerratssitzung vom 20. Dezember 1849 zur Sprache, und zwar als Thun die „zeitraubenden kontensiosen Verhandlungen“ Kommissionen bei den Ministerien oder Referenten bei den Gerichtsbehörden überlassen wollte und die Minister des Inneren und der Finanzen diese Angelegenheiten dem zu errichtenden Reichsrat zuweisen wollten, ohne auf den Zeitpunkt der Errichtung näher einzugehen17. Und es sollten weitere neun Monate vergehen, ehe der Begriff Reichsrat in den Protokollen der Ministerberatungen wieder auftauchte: diesmal im Zusammenhang mit der Organisierung des Kabinettsarchivs, wobei der Finanzminister darauf hinwies, daß, da „die Errichtung des Reichsrates bevorsteht“, auf die Verteilung des untergeordneten Kanzleipersonals Rücksicht zu nehmen sei18.
Hatte Krauß hinsichtlich des Reichsrates Informationen, die seinen Ministerkollegen nicht zur Verfügung standen, oder hatte er nur so daher gesprochen? Fest steht jedenfalls, daß im Herbst 1850 die Dinge in Fluß gerieten. Nachdem Kübeck am 13. Oktober 1850 von seiner deutschen Mission nach Wien zurückgekehrt war, hatte er am 17. Oktober Schwarzenberg aufgesucht. Dabei teilte ihm der Fürst mit, der Kaiser wünschte ihn zu sehen, weil er ihn „über wichtige Dinge befragen wolle“19. Am nächsten Tag kehrte der Kaiser von seiner Vorarlberger Reise zurück, und Kübeck erhielt noch am selben Tag eine Einladung. Kübeck erschien am 19. Oktober 1850 um elf Uhr vormittags zur Audienz. Der Kaiser eröffnete ihm unvermittelt, „daß er von den Arbeiten erdrückt und dem|| S. 16 PDF || Ministerium allein gegenüber nicht mehr aufkommen könne und daher entschlossen sey, den in der Verfassungsurkunde bezeichneten Reichsrath in das Leben zu rufen“. Schwarzenberg, so der Kaiser weiter, habe ihm eine von Kübeck verfaßte Arbeit über den Reichsrat vorgelegt; nun wünsche der Monarch einen neuen, ausführlicheren Entwurf. Der überraschte Kübeck konnte sich dunkel erinnern, Schwarzenberg tatsächlich im März 1849 eine solche Arbeit übergeben zu haben, deren Inhalt ihm aber nicht mehr präsent war. Er bat daher um Überlassung dieses seines Operats20. Am folgenden Tag hatte er mit dem Ministerpräsidenten, der, wie er vermerkte, über seine Unterredung mit dem Kaiser, „die er ja vorbereitete“, bestens unterrichtet war, eine „sehr oberflächliche“ Besprechung über den Reichsrat. Kübeck gewann den Eindruck, daß Schwarzenberg und „die übrigen einflußreichen Minister“ einen Reichsrat wünschten, der dem Ministerium bloß als „relief“, völlig ohne Einfluß, nur zur Stärkung der ministeriellen Macht dienen sollte21. Tags darauf reiste Kübeck nach seinem mährischen Gut, um sich ungestört der Arbeit über die Gestaltung des Reichsrats widmen zu können. Drei Tage später war er damit fertig; er kehrte aber erst am 31. Oktober nach Wien zurück, da sich der Kaiser inzwischen nach Warschau begeben hatte, um mit dem Zaren über die deutschen Angelegenheiten zu konferieren22. Die in zehn Abschnitte gegliederten „Grundbestimmungen über die provisorische Einsetzung und Wirksamkeit des Reichsrates“, die Kübeck mit sich führte, behandelten in groben Zügen die Organisationsform des Reichsrates und bestimmten seine politische Stellung. So hätte dieses neue Gremium „einen beratenden Einfluß auf alle jene Angelegenheiten auszuüben, worüber er [der Reichsrat] von der vollziehenden Gewalt, d. i. der Krone und dem Ministerium um sein Gutachten angegangen wird“. Im Abschnitt VII wurde klar ausgesprochen, daß der Reichsrat „ausschließend und unmittelbar“ dem Kaiser untergeordnet ist, und: „Seine Stellung zum Ministerium ist jene der Nebenordnung“. In den angeschlossenen Erläuterungen schlug Kübeck vor, sich vorläufig nur auf jene Maßnahmen zu beschränken, „welche zur Einsetzung der Institution genügen, die weitere Entwicklung aber aus ihr selbst veranlassen“. Es sollten also nur allgemein gehaltene Grundlinien ausgesprochen und der Präsident und einige Mitglieder ernannt werden, denen es dann obliegen sollte, das endgültige Statut des Reichsrates auszuarbeiten. Da, wie Kübeck nochmals nachdrücklich betonte, der Reichsrat „ausschließend von der Krone ausgehend und von ihr allein abhängig“ sein sollte, liefen seine Vorschläge auf die Schaffung einer Institution hinaus, die weit über die rein beratende Funktion des Ministeriums – wie es offenbar Schwarzenberg zu jener Zeit vorschwebte – hinausging. Ein der Regierung gleichgestelltes, von ihr unabhängiges Organ hätte alle Voraussetzungen erfüllt, um ein Gegengewicht gegen sie bilden zu|| S. 17 PDF || können. Damit hatte Kübeck den Auftrag des Kaisers, der vermeinte, gegen das Ministerium „nicht mehr aufkommen zu können“, erfüllt23.
Einen Tag nach seiner Rückkehr nach Wien wurde Kübeck vom Kaiser, „freundlich, aber kühl“, empfangen, dem er seine Arbeit überreichte und, nach Aufforderung, gleich erläuterte. Zu seiner Überraschung eröffnete ihm der Monarch, daß er ihn zum Präsidenten des Reichsrates bestimmt hatte. Nach der Audienz beim Kaiser besuchte Kübeck noch Schwarzenberg, der um eine Abschrift seiner Arbeit ersuchte. Von seiner bevorstehenden Ernennung zum Reichsratspräsidenten hat Kübeck den Ministerpräsidenten offenbar nicht unterrichtet24. Denn als er tags darauf die gewünschte Abschrift übergab, muß es zwischen ihm und Schwarzenberg zu einigen Meinungsdifferenzen gekommen sein; Kübeck notierte in sein Tagebuch: „Die Schwierigkeiten der Personenwahl“25.
Danach trat ein Stillstand ein, der Kübeck zunehmend beunruhigte. Nachdem er eine Woche lang nichts über das Schicksal des projektierten Reichsrates, respektive über die Aufnahme seiner diesbezüglichen Arbeit gehört hatte, äußerte er den Verdacht, erneut zum Besten gehalten worden zu sein26. Diese Befürchtung Kübecks kam nicht von ungefähr; denn schon einmal, im Dezember 1848, als ihm das Amt des Finanzministers angeboten und dann das Angebot nicht verwirklicht wurde, hatte er erfahren müssen, was politische Zusagen zuweilen wert sind27. Durch Zufall, bei einer „Begegnung mit Minister Bach am Glacis“, wurde das Rätsel des Stillstandes geklärt. Bach eröffnete ihm, seine Arbeit über den Reichsrat befände sich in seinen Händen; und er bat Kübeck um eine Besprechung zu diesem Thema. Dabei überraschte der Innenminister Kübeck mit der Absicht, „den Reichsrat als Übergang zur Belebung der Verfassung zu benützen“28. Fünf Tage später erklärte ihm der Kaiser genau das Gegenteil: „Der Reichsrat soll die Verfassung beseitigen, gewissermaßen ersetzen“. Der präsumtive Reichsratspräsident wurde aus den Äußerungen nicht klug; jedenfalls erbat er sich die Zustimmung des Kaisers, mit Bach die Angelegenheit gesprächsweise zu klären29. Dies geschah am 21. November; Bach war mit dem „Plan über den Gang, […], der zum Ziele führen könnte“ einverstanden, und Kübeck bescheinigte dem Innenminister Flexibilität. Auch Schwarzenberg, mit dem Kübeck am nächsten Tag konferierte, war mit dem „Gang“ einverstanden30. Einige Tage später präzisierte Kübeck diesen Gang, indem er bei Schwarzenberg darauf drängte, den Präsidenten des Reichsrates gleich zu ernennen, wohl wissend, daß er diesen Posten bekleiden werde. Der ahnungslose Ministerpräsident erklärte sich einverstanden31. Kurz darauf stieß Kübeck beim Kaiser selbst nach – der Reichsrat sollte schnell eingesetzt werde, um dem Monarchen „einen legalen Ratgeber“ an die Hand zu|| S. 18 PDF || geben und um „eine mehr zusammenhängende, entschiedenere Haltung der ganzen Regierung“ zu erreichen. Franz Joseph versprach, diesem Ansinnen zu entsprechen, sobald Schwarzenberg von seinen Olmützer Verhandlungen zurückgekehrt sein würde32. Tatsächlich fand am 1. Dezember 1850 beim Kaiser eine Art erweiterte Ministerkonferenz statt, mit Schwarzenberg, Bach und Kübeck als Teilnehmer. Man beschloß öffentlich zu erklären, daß ein Reichsrat eingesetzt werde unter gleichzeitiger Ernennung des Präsidenten. Weiters sollte ein Auftrag an den Präsidenten ergehen, eine Kommission zur Ausarbeitung des Reichsratsstatuts einzusetzen, wobei sich dieser mit dem Ministerpräsidenten über die Wahl der Kommissionsmitglieder ins Einvernehmen zu setzen hätte, um dann die Genehmigung des Kaiser einzuholen33.
Bereits am nächsten Tag eröffnete Schwarzenberg seinen anderen Ministerkollegen den Inhalt dieser Beschlüsse. Bach assistierte ihm, indem er die Hoffnung aussprach, der Reichsrat werde „bei sorgfältiger Begrenzung seiner Wirksamkeit und Stellung zu dem Ministerium eine wesentliche Stütze des letzteren“ sein. Krauß und Bruck zeigten sich skeptisch. Besser wäre es, so deren Argumentation, wenn sich zunächst der Ministerrat „über die Grundsätze vereinigt, nach welchen die Zusammensetzung des Reichsrates und der Wirkungskreis desselben eingerichtet werden soll“, und ein Präsident nur für die Kommission zur Ausarbeitung der Reichsratsstatuten eingesetzt werde34. Die Einwände verhallten ungehört, und in der nächsten Ministerratssitzung, zwei Tage später, teilte der Ministerpräsident mit, „die Ah. Bestimmungen wegen Aktivierung des Reichsrates von Sr. Majestät mit Vorzeichnung des Ganges bereits erhalten zu haben“. Somit gab es keine Diskussion mehr. Kübeck war zum Reichsratspräsidenten ernannt, und der Auftrag zur Kommissionsbildung für das Reichsratsstatut offiziell erteilt worden35. Die Öffentlichkeit wurde von diesem Schritt durch die Wiener Zeitung unterrichtet36.
Nachdem die grundsätzliche Entscheidung gefallen und auch in die Tat umgesetzt worden war, ging es nun um ein wichtiges Detail – die Besetzung der Kommission zur Ausarbeitung der Reichsratsstatuten. Der kaiserliche Auftrag ging dahin, daß sich Kübeck mit dem Ministerpräsidenten darüber einigen sollte. An den diesbezüglichen Beratungen nahm auch Bach teil, was zu einer gewissen Diskrepanz führte. Es lag auf der Hand, daß die Zusammensetzung der Kommission schon die Weichen für die politische Stellung des zu errichtenden Reichsrates stellte. Bach wollte mit der Berufung von Leopold Neumann zumindest indirekt Einfluß auf das Geschehen gewinnen. Dies führte zu einer Irritation an höchster Stelle. Die Berufung Neumanns unterblieb auf kaiserlichen Befehl37.
Schließlich setzte sich Kübeck durch, seine Kandidaten wurden – auch mit Zustimmung des Ministerrates und ohne weitere Diskussion – ernannt: Franz Freiherr v. Buol-Bernburg,|| S. 19 PDF || Andreas Baumgartner, Altgraf Robert von Salm-Reifferscheidt, Adolf Freiherr von Pratobevera-Wiesborn, Johann Graf Cziráky de Dienesfalva und Hermann von Busán38.
Diese Hürde genommen, ließ Kübeck die neu ernannten Kommissionsmitglieder wissen, wie er sich den künftigen Reichsrat vorstellte. In den von ihm verfaßten „Andeutungen“ erklärte er, daß das nun zu erarbeitende Reichsratsstatut vor allem klar die Stellung dieses Organs zu definieren habe. Es sollte „vorzüglich an der Seite der Krone seine nützliche Tätigkeit bewähren und durch seine Arbeiten und seinen Rat dem Gange der Regierung Übereinstimmung und Festigkeit erhalten helfen“. Nach diesem Grundsatz habe sich alles andere zu richten – die Stellung des Reichsrates „gegenüber der Krone, dem Ministerium und dem Staate“. Kübeck schlug in diesen „Andeutungen“ auch noch vor, zwei Abteilungen aus je drei Mitgliedern zur Beratung des Statuts zu bilden39. Nachdem sich Kübeck noch mit Salm „über die Konstruierung des Reichsrats“ besprochen hatte40 wurde die erste Sitzung der Kommission für den 16. Dezember 1850 anberaumt. Dabei dienten die Kübeckschen „Andeutungen“ als Besprechungsgrundlage; „sämtliche Stimmführer“ traten den Propositionen bei und es wurden auch zwei Abteilungen gebildet – die eine bestehend aus Salm, Buol und Pratobevera, die zweite aus Baumgartner, Busán und Cziráky –, die separat je ein Reichsratstatut entwerfen sollten41. Drei Tage nach diesem ersten Zusammentreffen der Kommission meldete Kübeck das vorläufige Ergebnis dem Kaiser42.
Die beiden Subkommissionen machten sich offenbar sofort ans Werk, denn bereits am 23. Dezenter 1850 lag der Entwurf jener Gruppe mit Salm, Buol und Pratobevera ausgearbeitet vor. Der Entwurf ging von einer rein beratenden Funktion des Reichsrates aus, wobei der unmittelbare Auftraggeber der Ministerrat sein sollte, selbst wenn der Befehl zur Einschaltung des Reichsrates vom Kaiser ausginge. Weiters würde dem Reichsrat kein Initiativrecht zustehen und seine Gutachten für die Regierung nicht verbindlich sein. Allerdings müßte der Reichsrat bei allen Angelegenheiten, die die Reichs- und Landesgesetzgebung betrafen, und bei Gesetzeserläuterungen vernommen werden. Auch der Entwurf der anderen Gruppe, der höchstwahrscheinlich noch bis zum Ende Dezember fertiggestellt worden war, postulierte den beratenden Charakter des Reichsrates. Der Kaiser konnte sich freilich direkt, ohne Vermittlung des Ministerrates, an den Reichsrat wenden und dieser auch unmittelbar an den Monarchen berichten. Zudem sollte dem Reichsrat das Recht zugestanden werden, bei Angelegenheiten, die ihm zur Beratung übergeben worden waren, auf Mängel aufmerksam zu machen, eine Art Initiativrecht also43.
Nachdem Kübeck am 2. Jänner 1851 mit Salm und Baumgartner, den Vertretern der beiden Subkommissionen, noch Vorberatungen über das Reichsratstatut gepflogen hatte44,|| S. 20 PDF || trat am nächsten Tag die gesamte Kommission unter seinem Vorsitz zur Ausarbeitung der endgültigen Fassung dieses Statuts zusammen. Nun konnte Kübeck, der ja auf die bisherigen Beratungen der Statutenentwürfe keinen direkten Einfluß ausgeübt hatte, endlich den Reichsrat konstruieren, den er meinte. Denn die vorliegenden Entwürfe konnten seine Ambitionen nicht befriedigen. Nicht nur das, bei den Statutsberatungen am 3. und 4. Jänner 1851 zeigte es sich, daß – für Kübeck ganz wesentliche – Meinungsunterschiede vorhanden waren. Es ging vor allem um die Frage des direkten oder indirekten Kontaktes zwischen Reichsrat und Kaiser, um das Initiativrecht des zu schaffenden Gremiums und um die Zusammensetzung des Reichsrates, also um das Ernennungsrecht und die Stellung der einzelnen Reichsratsmitglieder. Buol und Pratobevera vertraten stets eine den Ministerrat begünstigende Meinung, der Rest der Kommission, die Mehrheit also, betonte die weitgehende Unabhängigkeit von und Gleichstellung mit der Regierung45. Beide Gruppierungen beriefen sich dabei auf die oktroyierte Verfassung von 1849, vor allem auf den § 96, in dem es hieß, der Reichsrat sei „ein zur Seite der Krone und der vollziehender Gewalt stehender beratender Körper“. Die explizite Nennung der Krone, womit dieser Paragraph erst unpräzise wurde, war ja von Kübeck hineinreklamiert worden. Trotz aller Unstimmigkeiten schien es Kübeck bereits am 4. Jänner 1851, daß, gedeckt durch die Mehrheit der Kommissionsmitglieder, seine Sicht der Dinge sich durchgesetzt habe, und er verkündete „Schluß der Kommissionsberatung“46. Das sollte sich als etwas voreilig erweisen. Die Diskussion ging weiter; Pratobevera brachte in einem an Kübeck gerichteten Memoire seine Meinung nochmals zum Ausdruck, was wiederum Salm veranlaßte, eine Erwiderung darauf zu verfassen47. Einen wesentlichen Einfluß auf die weitere Entwicklung dürften diese „Scharmützel“ kaum gehabt haben. Am 14. Jänner fand die abschließende Sitzung der Reichsratskommission statt, in der der in 39 Paragraphen gegliederte „Entwurf des Reichsratsstatutes nach der Auffassung der mehreren Stimmen der Kommission“ endgültig festgemacht wurde48. Diese Endfassung des Entwurfes beinhaltete alles, was sich Kübeck durchzusetzen vorgenommen hatte. Das war der direkte, ohne Vermittlung des Ministerrates bedingte Kontakt mit dem Kaiser, das Recht, bei allen Angelegenheiten, die die Reichs- und Landesgesetzgebung und Gesetzeserläuterungen betrafen, gehört zu werden, ja selbst bei Anordnungen, die der kaiserlichen Sanktion bedurften, Gutachten abzugeben, wobei die Gutachtertätigkeit des Reichsrates in allen Kundmachungen erwähnt werden mußte. Zwar war für den Reichsrat kein Initiativrecht vorgesehen, „sollten ihm jedoch in der bestehenden Gesetzgebung im weitesten Sinne Lücken, Mängel oder Bedürfnisse auffallen, so ist er berufen, dieselben ohne|| S. 21 PDF || Erstattung eines Vorschlages Seiner Majestät dem Kaiser wohlbegründet vorzustellen“. Der Ministerrat war nach diesem Entwurf an die Gutachten des Reichsrates nicht gebunden, mußte aber seine Beschlüsse mit Begründung, etwa in der Form von Protokollen, dem Reichsrat übermitteln. Auch einer allfälligen Erweiterung der „Attribute oder Funktionen“ des Reichsrates wurde gedacht49. Kübeck überreichte den Entwurf am 15. Jänner 1851 mit einem erläuternden Vortrag dem Kaiser. In diesem Vortrag verschwieg Kübeck nicht die Differenzen, die sich bei den Beratungen des Statutes ergeben hatten, beschrieb den Gang der Verhandlungen und „erläuterte“ sie, d. h. unterstrich nachhaltig seine eigenen Ansichten. Der Zweck des Reichsrates, erklärte er, könne kein anderer sein, als bei den Regierungsgeschäften „Übereinstimmung und Festigkeit“ zu erhalten helfen. Dazu sei das im Entwurf vorgesehene Ausmaß an Konsultationspflicht sowie ein gewisses Initiativrecht notwendig. Aus der Grundbestimmung des Reichsrates ergebe sich auch der unmittelbare Kontakt dieser neuen Institution mit dem Monarchen, für Kübeck eine conditio sine qua non – sollte dieses Prozedere nicht vom Kaiser gutgeheißen werden, wäre es besser, „die ganze Institution fallen zu lassen“. Bei dieser Gelegenheit, und obwohl er sich dauernd auf die oktroyierte Verfassung von 1849 berief, kam Kübecks antikonstitutionelle Grundhaltung klar zum Ausdruck; er entwickelte eine Theorie des Konstitutionalismus, in der die souveräne Macht des Herrschers als maßgebend betont wurde50.
Am selben Tag informierte der Präsident des Reichsrates den Präsidenten des Ministerrates vom Abschluß der Beratungen und übersandte ihm den fertigen Entwurf des Reichsratsstatutes mit etlichen weiteren Unterlagen, unter anderem auch die „Vota minora zu dem Schluß-Entwurf des Reichsrat-Statutes“51. Kübeck, der schon seit einiger Zeit wußte, daß „in den Ministerien des Inneren, der Justiz und der Finanzen große Aufregung gegen die Instituzion [des Reichsrates] herrsche, von welcher die jetzt allmächtigen Dii minorum gentium Anstände ihrer Gesetz-Fabrik fürchten“52, war sich zweifellos bewußt, daß der nach seinen Vorstellungen fertiggestellte Entwurf der Reichsratsstatuten keineswegs dazu geeignet war, diese Aufregung zu beschwichtigen. Er entschloß sich deswegen, eine – zumindest vordergründig wirkende – vertrauensbildende Maßnahme zu setzen. Einen Tag nach der offiziellen Überreichung des kommissionellen Entwurfes schickte er Schwarzenberg „zur gefälligen alleinigen Kenntnisnahme“ auch eine Abschrift seines erläuternden Vortrages53. Doch all das war nur schöner Schein, ein Teil der von Kübeck angewandten Verschleierungstaktik. Am 17. Jänner 1851 ersuchte der Reichsratspräsident den Kaiser, mündliche Erklärungen zu dem zwei Tage vorher überreichten Vortrag abgeben zu dürfen. Denn „in dem Vortrage, mit welchem ich das Elaborat der Kommission über das Statut des Reichsrates Eurer Majestät zu Füßen legte,“ begründete er sein Ansuchen „habe ich die tieferen Zwecke, welche ich bei der Leitung|| S. 22 PDF || der Beratung und Zustandebringung des Entwurfs im Auge hatte, nicht berührt, weil sie in dem allerengsten Geheimnisse ruhen“. Um „manche Bestimmungen und Auslassungen […] welche mit Rücksicht auf jene Zwecke ganz gerechtfertigt, ja notwendig sich darstellen“ ins rechte Licht zu setzen, wähle er nun diesen Weg54. Ein „allerengstes Geheimnis“? Sollte sich in dem trojanischen Pferd Reichsrat, dessen Installierung eindeutig auf die Brechung der ministeriellen Macht abzielte, noch ein weiteres trojanisches Pferd befinden, die Errichtung eines machtvollen Reichsrates nur eine taktische Maßnahme einer viel weiter gehenden Strategie sein? Alles deutet darauf hin. Es existiert nämlich ein Dokument, eine handschriftliche Aufzeichnung Kübecks ohne Datum, die diese These nachdrücklich unterstützt. Kübeck notierte darin offensichtlich jene Punkte, die er dem Kaiser mündlich vortragen wollte. Ganz oben: „Der Reichsrat soll die Volksversammlung, den Reichstag ersetzen.“ Deswegen müßten seine Stellung und seine Funktionen so festgelegt werden, „daß sie jenen Ersatz begründen und daran gewöhnen“. Das sei auch der Grund dafür, „daß in dem ganzen Entwurfe der Landtage und des Reichstages nicht erwähnt wird.“ Darin läge auch der tiefere Sinn der Bestimmungen, daß all jene Gesetze, welche der kaiserlichen Sanktion bedürfen, im Reichsrat beraten werden sollen, daß die Reichsratsberatungen in allen Kundmachungen namentlich zu erwähnen seien, daß nicht der Reichsrat, sondern der Ministerrat die ersten Gesetzesentwürfe vorlege, weil sonst die Abgrenzung zur Regierung verwischt würde und der Reichsrat so an Bedeutung verlieren würde, daß noch weitere Attribute – hier dachte Kübeck beispielsweise an die Entscheidungsfindung bei Kompetenzstreitigkeiten – dem Reichsrat vorbehalten würden. Auch müßten sich Reichs- und Ministerrat als gleichwertige Körperschaften gegenüberstehen und Kübeck notierte am Rande: „Der Rang der Reichsräte muß ein bedeutender sein.“ Schließlich ist aus diesem tieferen Grund auch der Vorsitz des Reichsrates dem Kaiser vorbehalten, „um ihn [den Reichsrat] mit mehr Autorität zu umgeben“55.
Kübeck hatte also schon im frühen Stadium der Entwicklung weitgehende Pläne, die mit der Eliminierung des Parlaments an die Substanz der gegebenen Verfassung gingen, und die sich durch die „Komplizenschaft“ mit dem Kaiser der Allerhöchsten Unterstützung erfreuen durften. Doch die Dinge lagen nicht so eindeutig, wie es den Anschein hatte. Kübeck bemerkte am 18. Jänner eine Veränderung in seiner Beziehung zum Monarchen. „Man hat die Eifersucht des Fürsten Schwarzenberg aufgeregt, der ohne Zweifel auf den Kaiser wirkte“ notierte er in sein Tagebuch56. Zwei Tage später hatte der Präsident des Reichsrates eine Unterredung mit jenem des Ministerrates und bemerkte an ihm „alle Zeichen der Bearbeitung“. Denn Schwarzenberg sah plötzlich im Reichsrat eine Gefahr für den Kaiser, also „für seine eigene Allmacht“, wie Kübeck folgerte. Er vermeinte nun allerdings klar zu sehen – „Kaiser voll des Vertrauens zu Schwarzenberg. Dieser von Dr. Bach abhängig, den er zu leiten glaubt, und Dr. Bach der Eiferer für die absolute Regierung, weil er darin für seine eigene Macht eifert“57.
|| S. 23 PDF || Wie weit der Widerstand der Regierung gegen die projektierte Machtfülle des Reichsrates zu diesem Zeitpunkt, also vor Beginn der offiziellen Beratungen im Ministerrat, wirklich ging, läßt sich nicht definitiv sagen. Friedjung berichtet, daß die Regierung noch im Jänner 1851 dem Kaiser einen eigenen Vorschlag über die Installierung und Stellung des Reichsrates vorgelegt hatte, wobei der Vorschlag auf dem Stadionschen Entwurf von Anfang 1849 basierte58. Tatsächlich findet sich im Nachlaß Bach ein Dokument, das diese Behauptung zu stützen scheint – ein weder paraphierter noch datierter Entwurf der Reichsratsstatuten. Dieser in 16 nicht nummerierten Paragraphen gegliederte Statutenentwurf wies dem Reichsrat eine rein beratende Funktion des Ministerrates zu. Der Ministerrat wäre dabei an das jeweils erstellte Gutachten nicht gebunden gewesen. Die Berufung der Reichsratsmitglieder sollte teils nach fachspezifischen Kriterien, teils nach Kronländern geschehen. Personalfragen und die Herstellung der inneren Struktur sollten durch den Ministerpräsidenten dem Kaiser zur Entscheidung vorgelegt werden, wobei dem Ministerpräsidenten noch weiter gehende Rechte gegenüber dem Reichsrat eingeräumt wurden. Den eigentlichen Statuten folgte eine Art Begründung, deren wichtigster Punkt lautete: „Wenngleich der § 96 der Reichsverfassung dahin lautet, daß der Reichsrat an die Seite der Krone und der vollziehenden Reichsgewalt eingesetzt werde, so hindert dies nicht den Ausspruch, daß diese Institution nicht in eine Unterordnung zu dem Gesamtministerium gestellt werde.“ Weiters wurde erklärt, daß der Reichsrat keinen Anspruch hätte, über alle Gesetzentwürfe vernommen zu werden, er nur für rein legislative Arbeiten zu benützen [sic!] wäre und allen seinen Beratungen ein Minister oder dessen Vertreter beizuwohnen hätte59. Ein nach diesen Kriterien aufgestellter Reichsrat wäre ein ausschließlich beratendes Gremium im Dienste der Regierung gewesen; diese Konstruktion hätte sogar die Stellung der Regierung gegenüber dem Kaiser noch gestärkt, war also das genaue Gegenstück des Kübeckschen Planes, den Einfluß des Ministerrates zurückzudrängen. Bei diesen divergierenden Ansichten war eine Konfrontation geradezu vorprogrammiert. Doch zunächst tat sich nichts. Zwar hatte Kübeck bei einem Treffen mit dem Kaiser am 21. Jänner, bei dem das Reichsratsstatut besprochen wurde, wobei der Kaiser „einige sehr scharfsinnige Bemerkungen vortrug“, zweifellos seinen Standpunkt mit den oben dargelegten Argumenten verteidigt, ein wesentlicher Fortschritt bei der Entscheidungsfindung war aber nicht festzustellen60. Nach einigen Tagen begann Kübeck ungeduldig zu werden61. Wußte er doch, daß sich hinter den Kulissen einiges in Bewegung gesetzt hatte. Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, daß Franz de Paula Graf v. Hartig, ein Mann von ausgesprochen konservativer Gesinnung, vom Entwurf des Reichsratsstatuts Kenntnis hatte, und daß Franz Baron Kulmer, Minister ohne Portefeuille und für die kroatischen Angelegenheiten zuständig, der im Ministerrat eine|| S. 24 PDF || eher unscheinbare Rolle spielte, eine Unterredung mit dem Kaiser über den Reichsrat gehabt hatte62.
Der Konflikt im Ministerrat - Retrodigitalisat (PDF)
Am 1. Februar war es dann endlich so weit, der Entwurf der Reichsratstatuten wurde im Ministerrat in Beratung gezogen63. Zu Beginn wurde gleich die Frage aufgeworfen, ob die im § 1 des vorgelegten Statutenentwurfes getroffene Unterscheidung zwischen der Krone und der vollziehenden Reichsgewalt, der Regierung also, hingenommen werden könnte. Bach, der dabei sofort auf das Prinzip der ausschließlichen Souveränität der Krone hinwies, erklärte in einer längeren Rede, daß dies – eben wegen der Beachtung dieses Prinzips – durchaus angemessen erschien, und der Ministerrat schloß sich seiner Argumentation an, billigte somit den Anspruch des Entwurfes, der Reichsrat könnte auch unter Umgehung des Ministerrates vom Monarchen direkt befragt werden. Auch die Definition des Reichsrates als beratendes, unterstützendes Organ wurde gutgeheißen, der Zusatz, „damit in der Gesetzgebung und Verwaltung gediegene Reife und Einheit der leitenden Grundsätze erzielt werde“, fand freilich allgemeine Ablehnung, da diese Aufgabe allein der Regierung zustehen würde und der Reichsrat zur Stütze und nicht zur Kontrolle der Regierung geschaffen werden sollte. Folgerichtig wurde auch das Ansinnen – einer der Angelpunkte im Plan zur Entmachtung des Ministerrates –, dem Reichsrat müßten alle Gesetze und Verordnungen vorgelegt werden, da sie ohne dessen Gutachten keine gesetzliche Geltung erlangen könnten, strikt abgelehnt, und zwar mit dem Argument, dies würde „eine Beschränkung der Krone“ bedeuten. Auch das vorgeschlagene Initiativrecht des Reichsrates, auf „Lücken, Mängel oder Bedürfnisse“ in der Gesetzgebung aufmerksam machen zu dürfen, ebenfalls einer der wichtigsten Punkte des Planes, wurde zurückgewiesen. Man kam bis zum § 12 des Entwurfes, dann wurde die Beratung abgebrochen. Am nächsten Tag erschien Kulmer bei Kübeck und berichtete von dem stattgefundenen Ministerrat und von den „Stimmungen der Minister über das Statut“, was den spiritus rector des Entwurfes dazu veranlaßte, in sein Tagebuch zu notieren: „Sie [die Minister] sind in merkwürdiger Art feindselig“64.
Die ministerielle Statutenberatung fand am 5. Februar 1851 ihre Fortsetzung65. Bei der Frage der Zusammensetzung des Reichsrates schlug Philipp Krauß vor, nach dem Vorbild des französischen Conseil d’état auch die Minister als Mitglieder der neuen Institution zu ernennen, um, wie er sich in weiser Voraussicht ausdrückte, möglichen Konflikten zu begegnen. Bach assistierte ihm, indem er die bloß beratende, begutachtende Rolle des Reichsrates, dem kein wie immer geartetes Initiativrecht zustehen könne, nochmals hervorhob und die dominierende Position der Regierung unterstrich. Selbst der durch und durch konservative Thun meinte, daß der zu bildende Reichsrat keine „kontrollierende und kritisierende Behörde“ sein könne. Karl Krauß widersprach seinem Bruder, indem|| S. 25 PDF || er meinte, daß eine unabhängige Begutachtungstätigkeit des Reichsrates nicht garantiert wäre, wenn Minister als dessen Mitglieder berufen würden; zugleich wollte aber auch er die bloß beratende und initiativlose Rolle des Reichsrates festgeschrieben wissen. Nach einer längeren Debatte über die Zusammensetzung des Reichsrates – hier wurden einige Modelle hinsichtlich der ordentlichen und außerordentlichen Mitglieder und deren Anzahl entworfen – und einigen weiteren Modifikationen, etwa der ausdrücklichen Feststellung, daß der Rang der Reichsräte nach denen der Minister anzusetzen wäre, wurde die Beratung auf die nächste Ministerratssitzung vertagt. Diese sollte am übernächsten Tag stattfinden. Am Freitag dem 7. Februar 1851 trafen sich die Minister erneut, um die Beratungen über den Statutenentwurf abzuschließen66. Diese betrafen hauptsächlich das Prozedere und die Zusammensetzung des Reichsrates, wobei die schon bisher vorherrschende Tendenz, die Vormachtstellung des Ministerrates hervorzuheben, weiter verfolgt wurde. Schließlich wurden Bach und Karl Krauß mit der „Redaktion des Textes des Reichsratsstatuts“ beauftragt, die sich an den gefaßten Beschlüssen der Minister orientieren sollte67.
Mittlerweile versuchte Kübeck, der um das Gelingen seines Planes immer größere Sorgen zu haben schien, Informationen über beziehungsweise Einfluß auf die Entwicklung zu gewinnen. Nachdem er am Donnerstag, dem 6. Februar, eine Unterredung mit Schwarzenberg über das Reichsratstatut gehabt hatte, wurden seine Sorgen nicht geringer, denn der Ministerpräsident war nach seiner Meinung schwankend „in seinen Ansichten und nicht fest genug“68. Als er am nächsten Tag zum Kaiser gerufen wurde, erschien ihm der Monarch „über den Gang der Ministerberathung über das Statut des Reichs-Rathes aufgeregt“. Dazu war auch ausreichend Grund vorhanden, befand Kübeck, denn „die Minister wollen die Sache in die Länge ziehen und Zeit gewinnen, um die Bevölkerung und den Kaiser abzukühlen und eine lästige und drohende Controlle abzuschütteln“69. Die Informationen, die den Reichsratspräsidenten erreichten – als Informant diente wiederum der unauffällige Kulmer – waren nicht dazu angetan, seine Befürchtungen zu zerstreuen, im Gegenteil, sie konnten sie nur verstärken. In Bach, den er für „falsch und intrigant“ hielt, vermeinte er seinen wichtigsten und stärksten Gegner zu erblicken. Dieser, so urteilte Kübeck, „huldiget scheinbar unbedingt dem Fürsten Schwarzenberg, den er offenbar leitet, und schmeichelt der vorzüglichen Schwäche des kaiserlichen Jünglings, der stark, kräftig und gefürchtet seyn will, indem er ihn glauben zu machen sucht, daß er es schon wirklich sey“. Kübeck, der im Streit um die politische Stellung des Reichsrates einen prinzipiellen Kampf um das Gute sah, notierte in seinem Tagebuch:|| S. 26 PDF || „Wir werden sehen, ob Mephistos oder Agathon siegen wird“70. Um dem Guten zum Sieg zu verhelfen, zögerte Kübeck nicht, den Kaiser „auf die Umtriebe und Verzögerungen“ aufmerksam zu machen, die vom Ministerrat ausgingen71. Eine Begegnung mit Schwarzenberg am 10. Februar, die bei ihm den Eindruck der Unzuverlässigkeit dieses Mannes nur verstärkte, veranlaßte Kübeck, den Kaiser schriftlich zu ersuchen, ihn vor einer allfälligen Entscheidung in der Reichsratsangelegenheit noch einmal anzuhören72. Inzwischen waren Bach und Karl Krauß – und offenbar auch Schwarzenberg – daran gegangen, die ihnen vom Ministerrat auferlegte Aufgabe zu erledigen. An zwei aufeinander folgenden Tagen, dem 10. und 11. Februar, kamen sie zusammen, um eine Redaktion des Reichsratsstatutes nach den gefaßten Beschlüssen des Ministerrates durchzuführen73. Was dabei herauskam, waren eigentlich größere Zugeständnisse, als man sie nach der herben Kritik im Ministerrat hätte erwarten können. Die Redaktion dieses „Minister Comités“ konzedierte den direkten Verkehr zwischen Reichsrat und Kaiser, bestätigte die „Nebenordnung“ zur Regierung, und machte bei anderen wichtigen Bestimmungen, die die Selbständigkeit und Kontrollfunktion des Reichsrates begründen sollten, einige Abstriche. So das Zugeständnis des Initiativrechtes ausschließlich bei Gegenständen, die ihm vom Ministerrat zugewiesen worden waren, so die minimale Definition des Aufgabekreises des Reichsrates74. Am 13. Februar erfuhr Kübeck vom Abschluß der Redaktion und wurde tags darauf zum Kaiser berufen, mit dem er die Arbeit durchlas. Kübeck hatte dennoch für das Operat nur Verachtung übrig, das er als „Machwerk“ bezeichnete, das nur darauf aus war, „die neue Institution herabzudrücken“. Gleich nach der Audienz beim Kaiser begab sich der Reichsratspräsident zu Schwarzenberg, um auch mit ihm die vorliegende Arbeit durchzugehen. Daß der Fürst dabei nur „nach Eingebung diskutierte“, quittierte Kübeck mit dem Ausruf: „Das ist eine Wirtschaft!“75 Die Teilnahme Schwarzenbergs an den Dresdener Konferenzen, er reiste am 15. Februar dorthin ab, verzögerte noch dazu die ganze Angelegenheit, da sich die übrigen Minister weigerten, während der Abwesenheit des Ministerpräsidenten den redigierten Entwurf des Reichsratsstatutes in Beratung zu ziehen76. Doch die von Kübeck geäußerte Befürchtung, daß während dieser Zeit „abermahls Nichts“ geschehen werde, sollte sich nicht bewahrheiten. Am 17. Februar erschien Bach bei ihm, um die beiden Entwürfe des Reichsratstatuts zu diskutieren. Das Ergebnis war bemerkenswert. Der „intrigante“ Bach fand plötzlich Gnade vor den Augen des Reichsratspräsidenten; „sehr flüssig und gescheit“ sei er, notierte er über den Innenminister, nachdem sich beide über „annehmbare Modifikazionen“ einig geworden|| S. 27 PDF || waren77. Bach verlor keine Zeit, und bereits am nächsten Tag überbrachte er Kübeck einen neuen, nach den vereinbarten Modifikationen „entworfenen Text“78.
Diese ganz im Sinne Kübecks gelegene Annäherung der Ansichten fand ihre Fortsetzung nach der Rückkehr Schwarzenbergs nach Wien. Am 26. Februar kamen der Fürst, der Reichsratspräsident und der Innenminister zusammen, um, wie sich Kübeck ausdrückte, über das „unglückliche Reichs-Rath-Statut“ zu konferieren. Sehr zur Zufriedenheit Kübecks, der beruhigt festhalten konnte: „Die Hauptsachen wenigstens sind gerettet worden.“79 Es waren wohl mehr als die Hauptsachen, denn was dabei herauskam, der „Entwurf des Reichsraths-Statutes nach der zwischen den Präsidien des Ministerrathes und des Reichsrathes getroffenen Vereinbarung“, war die vollinhaltliche Durchsetzung des Kübeckschen Konzeptes80. War der Entwurf des Ministerkomitees den Ambitionen Kübecks schon weit entgegengekommen, so ging der nunmehrige vereinbarte Entwurf noch einen Schritt weiter. Die Ausnahme, in Dringlichkeitsfällen den Reichsrat bei Gesetzeseinbringungen nicht konsultieren zu müssen, wurde fallengelassen, dafür die Bestimmung, eine allfällige Nichtberücksichtigung eines reichsrätlichen Gutachtens durch den Ministerrat begründen zu müssen, aufgenommen. Das Recht der Minister, bei den ihren Wirkungskreis betreffenden Beratungen des Reichsrates anwesend zu sein – oder sich vertreten zu lassen – wurde ebenfalls eliminiert.
Nachdem sich also die wichtigsten Protagonisten einig geworden waren, und auch der Kaiser informiert war81, schien der Rest nur eine reine Formsache zu sein. Doch als die präsidiale Vereinbarung über den neuen Entwurf am 28. Februar dann im Ministerrat zur Sprache kam, sollte es sich zeigen, daß die Mehrheit der Regierungsmitglieder nicht gewillt war, diese Vereinbarung unwidersprochen hinzunehmen82. Bei einer Kampfabstimmung über den § 7 – Anhörungspflicht des Reichsrates bei allen Fragen der Gesetzgebung – wurde keine der drei vorgeschlagenen Textierungen angenommen. Die Debatte darüber zog sich so in die Länge, daß die Sitzung „wegen vorgerückter Stunde“ vertagt werden mußte. Die nächste fand gleich am nächsten Tag statt, und der gordische Knoten des § 7 wurde gleich gelöst: „Der Hauptberuf des Reichsrates besteht in der Begutachtung der Gesetzentwürfe“ sollte es nun heißen; keine Rede mehr von allen Gesetzesentwürfen83. Im ähnlichen Geist ging es weiter. Das erwähnte Anwesenheitsrecht der Minister bei Beratungen über „ihre“ Angelegenheiten wurde hineinreklamiert, ebenso die frühzeitige gegenseitige Möglichkeit der Einfußnahme in den Entscheidungsprozessen. Durch die Zugestehung des Mitgliedstatus’ im Ministerrat für den Reichsratspräsidenten sollte auch eine gewisse Verzahnung der beiden Ratsgremien demonstriert werden, etwas, das Kübeck ja verhindern wollte.
|| S. 28 PDF || Die Nachrichten über diese Ministerratsberatungen, die Kübeck ereichten, waren für ihn in der Tat alarmierend. Die Minister würden versuchen, „alles Wesentliche herabzureißen“ notierte er besorgt84. Ähnliche Befürchtungen mußte auch der Kaiser gehabt haben. Früh morgens am 3. März ließ er Kübeck zu sich rufen. Die Entwicklung in der Reichsratsangelegenheit scheint den jungen Monarchen ziemlich aufgeregt zu haben. Nach dem Gespräch mit dem Reichsratspräsidenten ordnete er für zwei nachmittags einen „großen Ministerrat“ unter seinem Vorsitz an, zu dem auch Kübeck zugezogen wurde85. Einziger Tagesordnungspunkt: Statut des Reichsrates86. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, eröffnete der Kaiser die Sitzung mit der Mitteilung, daß er fest entschlossen sei, die zwischen den Präsidien des Minister- und des Reichsrates ausverhandelte Fassung des Reichsratsstatutes ins Leben treten zu lassen; nur ein paar Änderungen seien seiner Ansicht nach notwendig. Diese sogleich vorgebrachten Änderungswünsche, wie die Pflicht des Reichsrates, ihm aufgefallene Gesetzeslücken dem Kaiser anzuzeigen oder die Begründungspflicht der Ministerratsbeschlüsse gegenüber dem Reichsrat, stärkten nur die Position des Reichsrates. Nach einer Diskussion zwischen Thun und Kübeck über eine frühzeitige Konsultation der Minister- und Reichsräte und über Anwesenheit von Regierungsmitgliedern bei Beratungen von Gesetzestexten durch den Reichsrat, die der Kaiser zu Gunsten von Kübeck entschied, kam der wichtigste Einwand seitens der Regierung. Schwarzenberg, assistiert von den Brüdern Krauß, sprach sich gegen eine verpflichtende Begutachtung aller Fragen der Gesetzgebung durch den Reichsrat aus, da dadurch – das alte Argument – die Rechte der Krone eingeschränkt würden. Auch Bach schloß sich dieser Argumentation an. Nach einem vehementen Widerspruch Kübecks sprach der Kaiser ein Machtwort und „geruhten Sich für die unveränderte Beibehaltung des § 7 auszusprechen“. Nach der Aufforderung, ein in diesem Sinne aufgesetztes Patent „sofort“ zur kaiserlichen Sanktion vorzulegen, wurde die Sitzung geschlossen.
Damit schien die Entscheidung gefallen und die „verblüfften“ Minister in ihre politischen Schranken gewiesen worden zu sein. Kübeck, der diesen Vorgang in seinem Tagebuch launig kommentiert hatte, war dennoch vorsichtig, denn er befürchtete, „daß die Herren [Minister] noch Spuk zu machen versuchen werden“87. Seine Befürchtung war durchaus berechtigt. Als er am nächsten Morgen Schwarzenberg aufsuchte, schien ihm der Fürst „mit dem gestrigen Akte nicht ganz zufrieden“ zu sein. Um so mehr Anlaß für den Reichsratspräsidenten, bei der anschließenden Besprechung mit dem Kaiser, diesem für sein Auftreten zu „huldigen“. Der Monarch war offenbar der Meinung, die Auseinandersetzungen um den Reichsrat seien tatsächlich beendet, denn er ersuchte Kübeck, ihm Personalvorschläge für die neue Institution vorzulegen88. Doch hier irrte der junge Kaiser. Zwar einigten sich Kübeck und Schwarzenberg auf die Besetzungsliste für den Reichsrat, doch schien der Fürst Zeit gewinnen zu wollen, um „die Wirksamkeit des Statuts zu|| S. 29 PDF || verschieben“89. Es war nicht der Ministerpräsident allein, dessen Widerstand nun erstarkte. In der Ministerratssitzung am 5. März bezweifelte Philipp Krauß, der nur „aus schuldigem Gehorsam gegen die Ah. Befehle Sr. Majestät das Patent über den Reichsrat unterfertigt hat“, ob das Statut, da es in wesentlichen Punkten von dem ministeriellen Entwurf abweiche, auch von allen Ministern zu unterfertigen wäre. Sein Bruder, der Justizminister, legte noch nach und meinte, die Stellung des Ministerrates sei offenbar mit jener des Reichsrates verwechselt worden. Und Bruck war der Meinung, es bleibe nichts anderes übrig, als das Patent nur vom Ministerpräsidenten kontrasignieren zu lassen90. Kübeck, der durch Kulmer über diese Vorgänge genauestens informiert wurde, sah sich in seiner früher geäußerten Skepsis bestätigt91. Franz Joseph, bei dem sich der Reichsratspräsident am nächsten Tag einfand, durchschaute das „Intrigenspiel“ der Minister und zeigte Zeichen des Unmuts. Das Benehmen Schwarzenbergs, der Kübeck noch am selben Tag kontaktiert hatte, empfand der tief religiöse Reichsratspräsident als das eines „Versuchers“, eine höchst alarmierende Feststellung. Um etwaigen „Versuchungen“ des jungen Monarchen vorzubeugen, erstattete Kübeck diesem noch am Abend einen Vortrag über sein Gespräch mit Schwarzenberg92. Schwarzenberg, so der Reichsratspräsident, habe ihm über die Meinungsdifferenzen unter den Ministern berichtet; der Hauptstreitpunkt sei der § 7 des vorgelegten Statutenentwurfes, „nach welchem der Reichsrath in allen Fragen der Gesetzgebung gehört werden solle, der Kaiser also gebunden sei, ohne den berathenden Einfluß des Reichsrathes keine gesetzliche Verfügung treffen zu können“. Kübeck, der vorher noch erklärt hatte, sich nicht für berechtigt zu halten, die vom Kaiser bereits gefassten Beschlüsse zu diskutieren, schlug dennoch einige Änderungen der Textierung zur Beruhigung der Minister vor. Diese Vorschläge, wie die Ersetzung der Worte „in allen Frage“ durch „in den Fragen der Gesetzgebung“, blieben allerdings ohne irgendeine Folge.
Seine Agitation schien Früchte getragen zu haben, denn nach einer am nächsten Morgen stattgefundenen Unterredung mit dem Kaiser notierte Kübeck zufrieden: „Der Herr entwickelt große Festigkeit.“93 Diese Festigkeit Franz Josephs war aber offenbar auf eine neuerliche Probe gestellt worden. Am selben Tag erhielt nämlich Kübeck ein Schreiben Schwarzenbergs, in dem der Ministerpräsident von seiner gerade stattgefundenen Besprechung mit dem Kaiser berichtete. Nachdem er, Schwarzenberg, dem Kaiser seine Meinung dargelegt habe „daß eine Alternation des Ministeriums bei dieser Veranlassung um so ernstere Schwierigkeiten bereiten würde, als alle Opposition in der Institution des Reichsrathes und in dem ganz ungewohnten Modus der Erlassung des Statuts eine Schwächung der Regierungsgewalt begrüßen würde“, habe er gerade „Seine Majestät noch abhalten [können], Sich für das definitive Beharren bei der jetzigen Textierung auszusprechen“. Dabei gab sich der Ministerpräsident aber nicht der Illusion hin, den|| S. 30 PDF || Monarchen von seinen Ansichten überzeugt zu haben94. Kübeck deutete das Geschehen dahin, daß Schwarzenberg eingeschüchtert worden war, „um einen letzten Sturm auf den Kaiser zu versuchen“95. Wer für den Sturm letztlich verantwortlich war, stand nach einer weiteren Unterredung mit dem Ministerpräsidenten am nächsten Morgen für Kübeck eindeutig fest – es war Bach. Dieser sei die „still bewegende Kraft“, die hinter allem stecke. Kübeck verstieg sich zu der Behauptung, der Innenminister bediene sich zwecks Einwirkung auf den Ministerpräsidenten sogar der „Mittel seiner Polizei“96.
Der Aufschub, den Schwarzenberg erreicht hatte, wurde vom Kaiser dazu benutzt, am 8. März gemeinsam mit dem Reichsrats- und dem Ministerratspräsidenten eine Klärung der Situation herbeizuführen. Mit mäßigen Erfolg, wie sich zeigen sollte. Denn obwohl Franz Joseph, wie Kübeck bewundernd feststellte, „die vorgetragenen Darstellungen beleuchtete und widerlegte“ und bei seinem Entschluß blieb, die Kübecksche Variante der Reichsratstatuten anzunehmen, war sich der Reichsratspräsident seiner Sache nicht ganz sicher. „Wir wollen nun sehen, ob die für die Erhaltung der kaiserlichen Macht so ängstlich besorgten Minister unterschreiben, oder abdanken, oder doch einigen Sieg erringen werden“, notierte er in seinem Tagebuch und fügte tadelnd hinzu: „Fürst Schwarzenberg ist nicht verlässlich.“97
Eine Entscheidung war also nicht gefallen; es hing nach wie vor vom Ministerrat, von der Majorität dieses Gremiums, ab, welche Funktion – Machtstellung – der zukünftige Reichsrat erhalten sollte. Der nächste Ministerrat fand am übernächsten Tag, dem 10. März 1851, statt98. Gleich im ersten Tagesordnungspunkt kam das Reichsratstatut zur Sprache. Schwarzenberg referierte über die jüngste Entwicklung mit dem Fazit, daß der Kaiser fest an den Beschlüssen der Ministerratssitzung vom 3. März festhalte, und empfahl die unveränderte Annahme des Beschlossenen. Er versuchte seine Ministerkollegen damit zu ködern, nur den Vorbehalt in die Statuten einzubauen, daß die Regierung, sollte der Reichsrat „seine Stellung und Aufgabe verkennen“, den Antrag stellen könne, diesem Einhalt zu gebieten. Außerdem sollte in dem Einführungspatent statt „nach Anhörung Unseres Ministerrates“ „über Antrag Unseres Ministerrates“ stehen. Die Minister Thinnfeld, Kulmer und Csorich unterstützten ihren Präsidenten. Doch dessen mehr als dürftiger Beschwichtigungsversuch wurde von den übrigen Ministern mehr oder minder ignoriert. Als erster erklärte der Justizminister, bei Annahme des zwischen den Präsidien des Minister- und des Reichsrates ausgehandelten Statuts drohe der Rückfall ins vormärzliche System. Bruck assistierte ihm, indem er unbedingt die gegenwärtige Stellung der Regierung erhalten wissen wollte, was bei den Möglichkeiten, die das ausgehandelte Statut dem Reichsrat böte, nicht wahrscheinlich sein würde. Außerdem müßten die Verfassungsbestimmungen eingehalten werden. In dieselbe Kerbe schlug auch der Finanzminister; durch die direkte Kontaktnahme des Reichsrates mit dem Kaiser würde|| S. 31 PDF || die Verfassung verletzt. Bei solch divergierenden Ansichten konnte keine Einigung erzielt werden. Da inzwischen Bach zum Kaiser berufen worden war, wurde die Angelegenheit nicht entschieden, sondern, wie das Protokoll trocken vermerkt, vom Votum des Innenministers abhängig gemacht. Kübeck wurde noch am selben Abend vom Ergebnis, oder besser gesagt Nicht-Ergebnis der Ministerratssitzung unterrichtet. Und auch der Kaiser ließ es sich nicht nehmen, dem Reichsratspräsidenten gleich am nächsten Morgen darüber zu berichten99. Jeweils vier Minister hatten für und gegen den Vorschlag des Ministerpräsidenten gestimmt; es stand also unentschieden, das Votum des Innenministers mußte den Ausschlag geben. Bach ergriff auch, als die Frage des Reichsratsstatuts im Ministerrat vom 11. März zur Besprechung kam, sogleich das Wort100. Und er machte sofort klar, auf wessen Seite er stand. „Obgleich er“, führte der Innenminister aus, “in den früheren Beratungen einige Bedenken gegen die Fassung des Reichsratsstatutes gehegt, er doch nach nochmaliger reiflicher Prüfung dem vorliegenden Statute seinem vollen Gehalte nach beitrete und auf dessen Sanktion bei Sr. Majestät anzutragen sich bestimmt finde“. Dann folgte eine längere Begründung für seinen Sinneswandel, die darauf hinauslief, daß die Umsicht des Kaisers und der gute Wille der Reichsratsmitglieder die Garantie für das gedeihliche gleichberechtigte Nebeneinander von Reichs- und Ministerrat bieten würden. Er sah in dem umstrittenen § 7 nun keine Einschränkung der kaiserlichen Souveränität mehr und führte das „allgemein gefühlte Bedürfnis, einen solchen beratenden Körper zur Seite des Ministeriums zu instituieren“, da dadurch auch die Interessen der einzelnen Länder berücksichtigt würden. Diese Rechtfertigung für den Meinungsumschwung des Innenministers hatte den Charakter eines sorgfältig überlegten Referates und war als nachträgliche Korrektur Bachs in das offizielle Ministerratsprotokoll eingefügt worden101. Nach Bach ergriff keiner der übrigen Minister das Wort und das Protokoll vermerkt trocken, daß der Antrag des Ministerpräsidenten vom Vortag somit die Stimmenmehrheit erhalten hatte.
Damit waren die Würfel gefallen, und als am 17. März der Vortrag, mit dem der Entwurf der Reichsratsstatuten vorgelegt werden sollte, zur Abstimmung kam, wurde er einstimmig angenommen und das damit verbundene Patent mit der Unterschrift des Kaisers etwa einen Monat später zum Gesetz erhoben102. Die Verzögerung bei der faktischen Umsetzung der prinzipiellen Entscheidung über die Stellung des Reichsrates war einerseits durch die Reise des Kaisers vom 21. März bis 4. April nach Venedig und Triest bedingt, andererseits durch das zähe Tauziehen um die Besetzung der Reichsratsposten verursacht, das hinter den Kulissen stattfand. Allen Beteiligten war klar, daß die Ausrichtung der neuen Institution neben den Statuten weitgehend von den Protagonisten, die die Institution mit Leben ausfüllen sollten, abhing. Kübeck hatte schon früh seine|| S. 32 PDF || Vorstellungen hinsichtlich der Berufung der Reichsräte deponiert103. Der Präsident ging bei der Auswahl seiner zukünftigen Mitarbeiter mit größter Akribie vor, wobei seine „ursprüngliche Absicht dahin ging, für jedes Gebiet der Verwaltung, sodann aber auch für jedes Land eine hervorragende Persönlichkeit zu ernennen“104. Akut war dann die Frage nach der Ministerratssitzung vom 3. März 1851 geworden, als der Kaiser am darauf folgenden Tag Kübeck aufforderte, ihm „auch die Personalvorschläge zu überreichen“105. Kübeck einigte sich mit Schwarzenberg darauf, „daß bei der ersten Ernennung sich auf eine kleine Anzahl, 6 – 7 ganz bewährter Personen, beschränkt werden solle“, jeder weiteren Nominierung eine sorgfältige Prüfung vorangehen werde und vorläufig die Verwaltung, die Finanzen, der Handel und die Justiz, bei den Ländern Ungarn und Kroatien berücksichtigt werden sollten106. Eine Auswahlliste wurde dann am 5. März dem Kaiser von Kübeck überreicht107. Der heftige Widerstand der Mehrheit des Ministerrates gegen das Reichsratsstatut hatte die Frage der Postenbesetzungen zunächst in den Hintergrund gerückt. Nach der endgültigen Entscheidung wurde die Frage wieder aktuell; bereits am 18. März übereichte Kübeck einen neuen – überarbeiteten – Besetzungsvorschlag dem Monarchen108. Die Sache verlief allerdings nicht so reibungslos, wie der Reichsratspräsident es sich erhofft hatte. Denn nach zwei Tagen und einer weiteren Besprechung mit dem Kaiser vermeinte er „Zeichen vielartiger Einwirkungen auf den Kaiser, insbesondere bei Personen-Wahlen“ zu erkennen109. Die folgende Abwesenheit Franz Josephs von Wien und die Tatsache, daß er nach seiner Rückkehr kurz das Bett hüten mußte, verzögerte die endgültige Bestellung der Reichsräte zusätzlich. Am 6. April schienen dann zumindest die ersten Reichsräte festzustehen. Da aber „Fürst Schwarzenberg Unruhe über die Wahl der ungarischen Reichsräte“ verspürte, wurden noch zwei zusätzliche Räte auf Wunsch des Ministerpräsidenten bestimmt110. Schließlich wurden die ersten acht Reichsräte mit Allerhöchsten Handschreiben an Schwarzenberg vom 13. April 1851 ernannt111. Damit war die Angelegenheit aber noch nicht endgültig erledigt. In letzter Minute tauchten „Schwierigkeiten wegen ministerieller Gegenzeichnung der an die Reichs-Räthe zu erlassenden Kab[inetts] Schreiben“ auf, und es gab deswegen offensichtlich gravierende Meinungsverschiedenheiten zwischen Kübeck und Schwarzenberg112. Doch das muß retrospektiv als das letzte Aufbäumen, als ein eher symbolischer Akt des Widerstandes, angesehen werden, und so konnte Kübeck schließlich zufrieden in seinem Tagebuch festhalten:|| S. 33 PDF || „Zustellung der Handbillete an die Reichs-Räthe ohne ministerielle Gegenzeichnung“, wobei das „ohne“ hervorgehoben wurde113. Das Reichsratstatut wurde schließlich als kaiserliches Patent vom 13. April 1851 im Reichsgesetz- und Regierungsblatt publiziert114.
Die Errichtung des Reichsrates, vor allem dessen Ausstattung mit weitgehenden machtpolitischen Kompetenzen und die Art und Weise, wie diese Errichtung vor sich gegangen war, markieren einen Wendepunkt in der innenpolitischen, nachrevolutionären Entwicklung der Habsburgermonarchie. Die Konsolidierung der innenpolitischen Verhältnisse ermöglichte es den fundamental konservativen – reaktionären – Kräften, ihren Forderungen nach Revision der „revolutionären Errungenschaften“ Nachdruck zu verleihen. Nun war Schwarzenberg bei seiner Berufung zum Regierungschef zweifellos nicht mit der Absicht angetreten, liberale oder gar demokratische Ideale zu verwirklichen; ganz im Gegenteil, er war aus einer konservativen Position angetreten, durch gemäßigte Reformen auf dem Gebiet der Politik, der Verwaltung und der Wirtschaft die gravierenden Fehler und Versäumnisse des vormärzlichen Systems zu beseitigen, um so die konservative Ordnung erhalten zu können. Dazu berief er Fachleute in sein Kabinett und hatte keine Scheu, auch Männer des liberalen Lagers zu berücksichtigen. Das war zudem, zumindest in der Hoch-Zeit der nachrevolutionären Bewegung, ein kluger Schachzug des pragmatischen Machtpolitikers Schwarzenberg115. Den reaktionären Kräften – in der Fachliteratur öfters mit den Hof- und Militärkreisen mehr um- als beschrieben – erschien freilich so viel Pragmatismus von vornherein suspekt, und nach der „Normalisierung“ im Inneren vollends obsolet. Ein deutliches Zeichen dafür war die Publikation der „Bekenntnisse eines Soldaten“ im Jahre 1850. Diese anonym erschienene, aber eindeutig Major Emmerich von Babarczy zuordenbare Schrift vertrat unverblümt den harten Kern der Reaktion. Einige notwendige Reformen sollten bleiben, alle anderen „Errungenschaften“, inklusive der Verfassung, aber müßten aboliert werden; die Rückkehr zur alten, absolutistischen Regierungsform sei das Ziel116. Was die Sache so brisant machte, war der Umstand, daß Babarczy zu jener Zeit Flügeladjutant des Kaisers war. Es ist nicht anzunehmen, daß der Major ohne Rückendeckung, also auch mit wohlwollender Kenntnisnahme des Monarchen, scharfe Attacken gegen die als liberal bezeichneten Mitglieder der Regierung ritt. Die Zeit schien also reif für einen radikalen Wechsel, nur die Frage nach dem „wie“ blieb offen. Zur Lösung dieser Frage bot sich Kübeck geradezu an. Der ehemalige Hofkammerpräsident stand hoch in der Gunst des Kaisers und der Hofkreise, war wiederholt von diesen als politischer Ratgeber und für heikle Missionen herangezogen worden; der erfahrene Verwaltungsfachmann, dessen Loyalität außer Frage stand, war zudem durch die Revolutionsereignisse zum unbedingten Verfechter des absolutistischen Systems geworden,|| S. 34 PDF || der dieses politische System auch ideologisch zu begründen wußte117. Die Entscheidung, die Institution des Reichsrates als Ansatzpunkt zur Aushebelung des real existierenden politischen und Regierungssystems zu verwenden war allerdings ohne ihn gefallen. Als brillanter Politiker hatte er aber sofort erkannt, welches Potential sich hier darbot. Nachdem er im Herbst 1850 – nach der Rückkehr von seiner deutschen Mission – mit der praktischen Durchführung der genannten Aufgabe betraut worden war, ging er plan- und zielstrebig ans Werk. Der Plan ging freilich von Anfang an viel weiter, als nur die Beschneidung der ministeriellen Machtstellung. Nichts weniger als die Aufhebung der Verfassung und die Installierung des Kaisers als – buchstäblichen – Alleinherrschers war das Ziel. Schon Mitte November 1850 hatte der Kaiser ja eindeutig erklärt, der Reichsrat sei als Ersatz, also zur Eliminierung der Verfassung gedacht118. Ein weiteres Indiz lieferte Kübeck selbst, als er Mitte Jänner 1851 vom „allerengsten Geheimnis“ sprach, das bei den Beratungen um das Reichsratstatut nicht erwähnt werden dürfe119. Und schließlich notierte Kübeck – halb resignierend, halb verzweifelt – am 31. März 1851, also nachdem die Entscheidung über das von ihm festgeschriebene Statut des Reichsrates endgültig gefallen war: „Wieder ein Monath ohne Resultat für die Lösung der im Oktober 1850 gestellten Aufgaben.“120
Ministerwechsel - Retrodigitalisat (PDF)
Der Installierung des Reichsrates, der an sich bereits ein sichtbares Zeichen für die endgültige Abkehr von der konstitutionellen Ära bedeutete, war eine Zeit der härteren Maßnahmen sowohl der Legislative als auch und vor allem der Exekutive gegen den „revolutionären Geist“ vorausgegangen. Alles, was in den Augen der erstarkenden Reaktion auch nur eine Spur dieses Geistes aufwies, wurde mit Mißtrauen betrachtet. Dieses Mißtrauen machte auch vor den Regierungsmitgliedern nicht Halt, und es war Anton Ritter v. Schmerling, der Justizminister, der als erster deutliche Zeichen der neuen politischen Wirklichkeit zu spüren bekam.
Schmerling war nach seiner Rückkehr von Frankfurt, so seine eigene Einschätzung, der Posten des Justizministers wegen seiner „Energie“, die er in Frankfurt entwickelt hatte, angeboten worden, und weil Schwarzenberg offenbar der Meinung war, daß Schmerling „in seinem Geiste mitwirken werde“121. Diese Einschätzung dürfte der Realität entsprochen haben; Schwarzenberg setzte nur seine einmal gewählte Linie fort, „kluge Köpfe“, ungeachtet ihrer politischen Einstellung (freilich nur bis zu einer gewissen Grenze) für sein Kabinett zu rekrutieren122. Der neue Justizminister enttäuschte die in ihn gesetzten Erwartungen zunächst auch nicht. Der von ihm energisch betriebenen|| S. 35 PDF || Umsetzung des Reformwerkes im Justizbereich versuchte Schmerling allerdings eine „humanitäre“ Richtung zu geben, was, wie er anmerkt, von Schwarzenberg nicht geschätzt wurde, da der Ministerpräsident darin bereits eine Opposition sah123. Ein weiterer Umstand, den der Ministerpräsident ganz und gar nicht schätzte, war die ständige Ressortüberschreitung des Justizministers in Fragen der deutschen Politik. Schmerling war auf diesem Gebiet innerhalb der Regierung – ausgenommen den Außenminister natürlich – als einziger durchaus kompetent124. So viel Kompetenz und vor allem ihre fortdauernde selbstbewußte Demonstration führten zu Irritationen und schließlich zu einer gewissen Verbitterung auf der Seite von Schwarzenberg, wie Schmerling in seinen „Denkwürdigkeiten“ mit einigem Verständnis konstatierte125. Hinzu kam, daß der Leiter des Justizressorts, zwar weit entfernt davon, demokratische Prinzipien zu vertreten, doch auf dem Boden der Verfassung stand und wiederholt zumindest vorbereitende Maßnahmen zur Einberufung des Reichstages einforderte. Das wiederum ließ den Ministerpräsidenten, der nach der Meinung Schmerlings in der Verfassung ohnehin nur ein Mittel zur Umsetzung seiner politischen Strategie sah, gereizt und ablehnend reagieren126. Zudem glaubte der Justizminister, daß die ihm auf seinen Dienstreisen entgegengebrachten „mehrfachen Huldigungen“, wie er selbstgefällig anmerkte, eine „gewisse Verstimmung und Eifersucht bei den anderen Mitgliedern des Ministeriums hervorgerufen haben“. Einen weiteren, prinzipiellen Grund für die Ablehnung seiner Person seitens einiger seiner Ministerkollegen vermeinte Schmerling in der schon damals gefaßten Absicht zu erblicken, „die ganze Verfassung aufzuheben“; da sie wußten, „daß es dann zwischen mir und ihnen zu entscheidenden Conflicten kommen würde“, suchten sie diese von vornherein zu vermeiden1127. Deshalb hätten diese Personen den Kaiser gegen ihn aufgebracht. „Wenigstens wäre es sonst nicht begreiflich gewesen, daß einige wahrlich nicht bedeutende Dinge, […], wie die Vernehmung der Militärs bei öffentlichen Verhandlungen, die Beschränkung der Jurisdiktion über Militärpersonen u. dgl. den Kaiser so aufgeregt haben, daß er ganz sichtbare Zeichen seiner Mißbilligung und Unzufriedenheit gegen mich kundgegeben hat.“128
Der unmittelbaren Anlaß für seinen Rücktritt, oder wie es Schmerling formulierte, „was meine Geduld erschöpfte“, war dann das eklatante Mißtrauen bei der Auswahl der zu ernennenden Notare. Die Kabinettskanzlei des Kaisers hatte sich alle Unterlagen über die Ernennungen geben lassen, um, wie der Justizminister auf Umwegen erfuhr, die von ihm getroffene Wahl von den Statthaltern überprüfen zu lassen129. Schmerling zog die|| S. 36 PDF || Konsequenzen und ersuchte im Schreiben vom 8. Jänner 1851 den abwesenden Schwarzenberg – „im Interesse des Dienstes“ und es als „ein Gebot der Ehre“ erkennend, nachdem er das Vertrauen des Kaisers verloren habe – seine Entlassung erwirken zu wollen130. Zwölf Tage später, nachdem keine Antwort eingelangt war, wiederholte er sein Gesuch131, und am 23. Jänner 1851 war es dann so weit. Auf Vortrag Schwarzenbergs erhielt Schmerling seine Entlassung; zugleich wurde Karl Ritter v. Krauß zu seinem Nachfolger ernannt132.
In seinen „Denkwürdigkeiten“ beklagt Schmerling die Form, in der seine Demission erfolgt war, findet, daß er „in beinahe ungnädiger Weise“ des Amtes enthoben worden war133. Die Klage ist nicht nur durch gekränkte Eitelkeit begründet. Im Entlassungshandschreiben befand der Kaiser, dem Demissionsgesuch Schmerlings „unter Anerkennung Ihrer auf diesem wichtigen Posten entwickelten ersprießlichen Tätigkeit in Gnaden zu willfahren“; das war eine recht schroffe Formulierung, zumal das Handschreiben wörtlich in der Wiener Zeitung publik gemacht wurde134. Eine gehörige Portion Wehleidigkeit hatte dann aber offenbar zu einer selektiven Wahrnehmung der Realität geführt. Man habe ihn, lamentiert Schmerling, „auf die Gasse gesetzt und wenn ich nicht auf meinen Posten als einfacher ständischer Verordneter zurückgekehrt wäre, so hätte ich als Lohn einer langen und wie ich glaube vorzüglichen Dienstleistung am Ende noch mit Nahrungssorgen zu kämpfen gehabt“135. Tatsächlich war für den zurückgetretenen Justizminister eine jährliche Pension von 4000 fl. vorgesehen136; dazu kam es nicht, da Schmerling Mitte März 1851 zum ersten Senatspräsidenten des Obersten Gerichts- und Kassationshofes ernannt wurde137. Diese Ernennung, die sehr wohl in Zusammenhang mit seiner Demission gesehen werden muß, findet in seinen Memoiren allerdings keine Erwähnung. Der Nachfolger Schmerlings im Amt und Bruder des Finanzministers, Karl Ritter v. Krauß, hatte zweifellos keine Ambitionen, die Verfassung oder irgendwelche verfassungsmäßigen Institutionen wieder aufleben zu lassen; er war ein fachlich kompetenter Bürokrat ohne allzu große politische Ambitionen138.
Die zweite Änderung an der Spitze eines Ressorts betraf das Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Bauten. Schon die Form, in der sie geschah, machte für aufmerksame politische Beobachter den Unterschied zur Demission Schmerlings sichtbar. Im Allerhöchsten Handschreiben vom 23. Mai 1851, mit dem der Kaiser das Entlassungsgesuch Karl Ludwig Freiherr v. Brucks bewilligte und das ebenfalls in der Wiener Zeitung abgedruckt wurde, hieß es, er tue dies „unter Anerkennung der von Ihnen auf|| S. 37 PDF || diesem Posten geleisteten, ausgezeichneten Dienste“139. Die Form war kein Zufall, denn im ursprünglichen Entwurf stand genau dieselbe Formel, wie sie bei der Entlassung Schmerlings verwendet worden war – „dem Staate geleisteten ersprießlichen Dienste“ – und war offenbar auf höchste Weisung hin geändert worden. Dieser Entlassungsurkunde war ein kurz angebundenes Schreiben Brucks an Schwarzenberg vorausgegangen: „Durchlaucht muß ich zu Folge der mit Sr. Majestät gehabten Unterredung bitten, die nötigen Einleitungen treffen und mir solche mitteilen zu wollen, welche in Beziehung auf meine Amtsenthebung zu veranlassen sind.“140 Der unmittelbare Anlaß für diesen Schritt des Handelsministers war – so wurde zumindest kolportiert – die Überschreitung beim Kostenvoranschlag für den Bau der Semmeringbahn141. Bruck selbst gab zu, daß dies für ihn nur ein Vorwand gewesen, und daß der Entschluß zurückzutreten seit Monaten gereift war. Die Gründe, die er bei dieser Gelegenheit, nämlich in einem Gespräch mit Kübeck, weiters angab, sind allerdings wenig überzeugend: Er könne kein leitendes Prinzip des Ministeriums mehr erkennen, sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik sei von „dem Wechsel der Ereignisse“ abhängig und den wechselnden Ideen des Ministerpräsidenten und seines „Souffleurs“ – womit Bach gemeint war – unterworfen. Eine vernünftige Diskussion im Ministerrat sei außerdem mangels einer leitenden Führung nicht möglich142. Man muß bedenken, daß Bruck dem Reichsratspräsidenten schlecht den wichtigsten Grund für seine Demission angeben konnte: Kübeck selbst und die von ihm verfolgte Politik der strengen Kontrolle, ja direkten Einmischung in die Regierungsgeschäfte. Inwieweit dabei die prinzipielle Frage der Abkehr vom Konstitutionalismus eine Rolle spielte, ist nicht eindeutig zu beantworten. So hatte Bruck zwar Mitte Februar 1851 anläßlich der Schlußsitzung des von ihm initiierten Zolltarifkongresses gesagt, daß nach dem Erfolg dieses Unternehmens fortan „jeder Zweifel darüber verstummen [muß], ob die Völker Österreichs durch ihre Vertreter zu gemeinsamen Beratungen sich würdig vereinigen können“143, doch ist diese Aussage wohl dem wirtschaftlichen Pragmatismus Brucks zuzuschreiben und hat mit der politisch motivierten Forderung Schmerlings nach Wiederbelebung der Verfassung wenig zu tun. Diese „Affäre“ hatte übrigens schon damals zum Rücktrittsangebot des Handelsministers geführt, das der Kaiser aber nicht annahm. Was Kübeck wiederum zu der Bemerkung veranlaßte: “Hätte sie [die Demission] der Kaiser doch angenommen! Der Verlust wäre gering gewesen.“144 Weitere Beweise für die Geringschätzung Brucks durch Kübeck lassen sich finden145; von dieser Einstellung war dann auch das Verhältnis der beiden und die Einflußnahme des Reichsratspräsidenten auf die Arbeit des Handelsministers gekennzeichnet. Insbesondere|| S. 38 PDF || die sehr weit gehenden Pläne des Handelsministers zum Ausbau des österreichischen Eisenbahnnetzes, die eine starke Belastung des Budgets in sich bargen, lehnte der Reichsratspräsident ab146. Insofern hatte der unmittelbare Anlaß für den Rücktritt Brucks – die Frage der Kostenüberschreitung der Semmeringbahn – schon einen symbolischen Charakter.
Brucks Nachfolger, Andreas Baumgartner, ursprünglich Professor für Physik, seit 1833 Direktor der Porzellanfabriken und seit 1846 auch jener der Tabakfabrikation, war zweifellos ein allgemein gebildeter Mann, der auch die Fachkenntnisse für sein neues Amt mitbrachte. Er war schon 1848 Minister für öffentliche Arbeiten gewesen; was ihm fehlte, waren – wie es Friedjung formulierte – „Selbständigkeit des Urteils und Spannkraft des Willens“147. Was ihn allerdings unter den veränderten politischen Verhältnissen zum idealen Ministerkandidaten machte – er war einer der von Kübeck sorgfältig ausgesuchten Reichsräte.
Deutsche Frage: Kriegsgefahr und Olmützer Punktationen - Retrodigitalisat (PDF)
„Fürst Schwarzenberg sei daher des Erachtens, daß Österreich sich in die Verfassung setzen müsse, seine Bundesgenossen bei einem möglichen Konflikte mit Preußen ohne Zeitverlust mit aller Kraft unterstützen zu können.“148 Mit diesen Worten zog der österreichische Ministerpräsident, zugleich auch Minister des Äußeren, in einem Ministerrat Mitte Oktober 1850 die Konsequenzen aus der Entwicklung in der kurhessischen Krise, nachdem er zuvor sein Kabinett darüber informiert hatte, daß der Bitte des Kurfürsten um Bundeshilfe von der Bundesversammlung entsprochen worden war. Daß Schwarzenberg dabei der Fehler unterlief, neben dem bayerischen, württembergisches und darmstädtisches anstatt hannoveranisches Militär als Exekutionstruppen zu nennen, war ein marginales Versehen. Viel schwerer wog der Umstand, daß auch Preußen, das sich ja den Bestrebungen Österreichs, den Deutschen Bund wiederzubeleben, entgegenstemmte, offensichtlich gewillt war, in Kurhessen einzumarschieren149. Auch in der schleswig-holsteinischen Frage waren sich Österreich und Preußen nicht näher gekommen. Zwar hatte zu diesem Zeitpunkt der Frankfurter (Rumpf-) Bundestag, an den sich Dänemark mit dem Ersuchen um Bundesintervention gewandt hatte, noch keine Entscheidung getroffen, doch es war abzusehen, daß dem Ersuchen stattgegeben werden würde. Das wiederum brachte Preußen in eine schwierige Lage, da es die Beschlüsse des Bundestages, den es ja nicht anerkannte, nur als nichtig betrachten konnte. Die Ernennung Joseph Maria von Radowitz’, eines deklarierten Verfechters des preußischen Unionsprojektes, Ende September 1850 zum preußischen Außenminister trug sicher auch nicht zur|| S. 39 PDF || Entspannung der Lage bei150. Die Zeichen standen somit auf Sturm. Die versammelten Mitglieder der österreichischen Regierung nahmen die Schlußfolgerungen ihres Ministerpräsidenten kommentarlos zur Kenntnis, und der dem Ministerrat vorsitzende Kaiser ließ es sich nicht nehmen, „in die Erörterung einzugehen, welche militärischen Dispositionen zur Erreichung des gedachten Zweckes zu treffen wären“.
Schwarzenberg, der in der deutschen Frage eine wesentlich aktivere Politik als noch vor einem Jahr betrieb, hatte zur Absicherung dieser Politik einen wichtigen Schritt gesetzt. Am 12. Oktober 1850 war es ihm gelungen, mit den beiden deutschen Mittelstaaten Bayern und Württemberg ein Schutz- und Trutzbündnis, den sogenannten Bregenzer Vertrag, abzuschließen. Darin verpflichteten sich die drei Staaten, den Deutschen Bund aufrechtzuerhalten, jeden Widerstand gegen die Bundesbeschlüsse, insbesondere jene über Kurhessen, als „Bundesbruch“ zu behandeln und gegebenenfalls mit Bundesexekution gegen Preußen vorzugehen. Konkret hieß das, daß die Vertragspartner im Fall des Falles über 200.000 Mann Truppen gegen Preußen marschieren lassen wollten151. Der Bregenzer Vertrag verbesserte in der Auseinandersetzung um die Durchsetzung der Pläne zur Wiederherstellung des Deutschen Bundes oder der Deutschen Union die Stellung Österreichs erheblich. Dessen waren sich offenbar auch Teile der preußischen Regierung – und auch der König – bewußt. Dazu kam noch, daß sich die Haltung Rußlands zur Eindämmung der beiden deutschen Krisenherde, des holsteinischen und des kurhessischen, zunehmend dem österreichischen Standpunkt näherte, was bis zu mehr schlecht als recht verhüllten Kriegsdrohungen des Zarenreiches gegen Preußen ging152. Und so erhielt der preußische Ministerpräsident Friedrich Wilhelm Graf v. Brandenburg am 15. Oktober 1850 den Auftrag, den in Warschau weilenden Nikolaus I. um dessen Vermittlung in der verfahrenen Situation zu ersuchen. Zehn Tage später fand sich auch der österreichische Kaiser mit seinem Ministerpräsidenten in Warschau ein. Nikolaus, der in den Kategorien der ehemaligen Heiligen Allianz dachte, war an einer friedlichen Beilegung der Differenzen gelegen, und auf seinen Druck kam am 28. Oktober eine vorläufige Einigung der beiden Kontrahenten zustande. Brandenburg gab die Versicherung ab, Preußen werde den vom Frankfurter Rumpfbundestag beschlossenen Maßnahmen, also auch der Wiederherstellung der „gesetzmäßigen“ Ordnung in Holstein, nichts in den Weg legen. Diese Warschauer Übereinkunft bedeutete de facto die Aufgabe des preußischen Unionsplanes, denn Brandenburg stimmte der Wiederherstellung des – reformierten – Deutschen Bundes unter Einschluß der gesamten Habsburgermonarchie zu,|| S. 40 PDF || verzichtete auf die Forderung nach einer Volksvertretung und erklärte sich mit der Übertragung der obersten Bundesgewalt an einen zu gründenden Bundesrat einverstanden. Beide Seiten kamen auch überein, daß die Bundesreform in „freien“ Ministerkonferenzen, nicht vom Bundestag, ausgehandelt werden sollte. Wenngleich mehrere Fragen offen geblieben waren, vor allem die preußische Forderung nach Gleichberechtigung mit Österreich in der Führung des Bundes, und Schwarzenberg zudem die vollständige Abolition der Erfurter Unionsverfassung zu einer conditio sine qua non erklärte, so war diese Übereinkunft doch ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Annäherung der beiden Streitparteien; die Gefahr eines unmittelbaren bewaffneten Konflikts schien damit zumindest gemindert153. Es kam nun darauf an, wie das Ausgehandelte konkret umgesetzt werden konnte. Schwarzenberg unterrichtete am 30. Oktober 1850 sein Kabinett über das Ergebnis der Besprechungen mit Brandenburg und vermittelte den Eindruck, daß die akute Krise mehr oder minder beigelegt wäre; eine gegenseitige „Entwaffnung“, d. h. eine Rücknahme der Kriegsvorbereitungen könne nun beginnen und so den Boden für weitere Verhandlungen ebnen154.
Anders reagierte Preußen. Zwar war Brandenburg bemüht, den Kurs der Konfliktbereinigung fortzusetzen, doch am 1. November 1850 überschritten die Interventionstruppen des Bundes die kurhessische Grenze, worauf die aufgestellten preußischen Truppen dasselbe taten. In der Folge kam es zu einem – allerdings sofort unterbundenen – Schußwechsel. Brandenburg und seine Partei setzten es gegen Radowitz und seine Anhänger durch, daß die vorgesehene preußische Mobilmachung vorläufig unterblieb, worauf Radowitz zurücktrat. Doch die „Friedenspolitik“, die Brandenburg – und nach dessen plötzlichem Tod – auch sein Nachfolger Otto v. Manteuffel betrieb, brachte nicht das erhoffte positive Echo von österreichischer Seite. Im Gegenteil, die Reaktion Schwarzenbergs auf die versöhnlichen Töne aus Berlin glich einem Ultimatum – er forderte unter anderem vor allen weiteren Verhandlungen den vollständigen Rückzug der preußischen Truppen aus Kurhessen –, sodaß die verschobene preußische Mobilmachung am 5. November 1850 nun doch angeordnet wurde. Diese Kriegsvorbereitungen trieben zuweilen seltsame Blüten. Das Ansinnen der preußischen Gesandtschaft in Wien, die Einberufung aller sich in Österreich befindenden preußischen Untertanen durch die offizielle Wiener Zeitung kundzutun, wurde von der österreichischen Regierung mit Befremden registriert und natürlich abgelehnt; sie mußte aber konstatieren, daß die Publikation der preußischen Mobilmachung, die ja primär gegen Österreich gerichtet war, durch ein anderes – privates – österreichisches Blatt nach geltendem Recht nicht zu verhindern war155. Zur gleichen Zeit, in der sich der Ministerrat mit diesem kuriosen Fall beschäftigte, und nachdem Schwarzenberg ein Ultimatum an Preußen gestellt hatte156, holte sich der österreichische Ministerpräsident die Zustimmung seines Kabinetts zu einem Treffen mit dem „für eine friedliche Ausgleichung günstig gestimmten“ provisorischen preußischen|| S. 41 PDF || Außenminister Manteuffel. Ob sich das Verhandeln mit diesem als „unpatriotisch verschrieenen Minister“ überhaupt lohne, käme darauf an, ob er sich halten könne, fügte der österreichische Ministerpräsident vorsichtshalber hinzu157. Manteuffel und Schwarzenberg trafen einander am 28. November 1850 in Olmütz und schlossen bereits am folgenden Tag, obwohl es zeitweise schien, daß die Verhandlungen erfolglos abgebrochen werden würden, einen Vertrag ab, die so genannten Olmützer Punktationen. Schwarzenberg verzichtete gegen das preußische Zugeständnis, daß die Lösung der kurhessischen und der holsteinischen Frage in Beratungen aller deutschen Regierungen gefunden werden sollte, auf den Anspruch, daß der Frankfurter Rumpfbundestag der legitime Nachfolger der alten Bundesversammlung sei; auch der Verzicht des österreichischen Ministerpräsidenten auf die Forderung nach vollständigem Rückzug Preußens aus Kurhessen und die österreichische Garantie, die Bundesintervention in Kurhessen diene nur dem offiziell angegebenen Zweck, ermöglichte es Manteuffel, das Gesicht zu wahren. Hinsichtlich der Durchführung einer allfälligen Bundesreform kamen die beiden Verhandlungspartner – wie eigentlich schon in der zweiten Warschauer Zusammenkunft ausgehandelt – überein, Ministerkonferenzen in Dresden einzuberufen, und zwar durch separate Einladungen an alle Mitglieder des Deutschen Bundes. Eine explizite Anerkennung Preußens als gleichberechtigtem Partner Österreichs wurde zwar nicht fixiert, die Betonung des gemeinsamen Vorgehens in einigen wichtigen Fragen konnte aber in diese Richtung interpretiert werden. De facto wurde aber dadurch die Erfurter Union aufgelöst, somit die von Preußen verfolgte nationalliberale Einigungspolitik zu Grabe getragen und der alte Deutsche Bund als Grundlage des weiteren Vorgehens akzeptiert. Andererseits war es Schwarzenberg nicht gelungen, seine alte Forderung nach Aufnahme Gesamtösterreichs in den Deutschen Bund durchzusetzen. Auch gegenüber den deutschen Mittelstaaten hatte die Habsburgermonarchie an Sympathien verloren, weil sie sich „durch eine solche Zweier-Verständigung außerhalb des Bundes überspielt und geradezu düpiert fühlten“, und weil das von ihnen als aggressiv erlebte Preußen nicht nachhaltig in seine Schranken gewiesen worden war158. Der übrige – militärische – Inhalt der Punktationen dokumentierte die Duschsetzung des österreichischen Standpunktes. Die Verpflichtung Manteuffels in einem geheimen Zusatzabkommen, Preußen noch vor Beginn der vereinbarten Dresdener Konferenzen bis auf den Friedensstand zu demobilisieren, war eine Demütigung, was von Preußen auch so empfunden wurde, und stellte eine schwere Hypothek für das Verhältnis der beiden deutschen Großmächte für die Zukunft dar159.
Die Annahme der Olmützer Punktationen durch die österreichische Regierung bedurfte als außenpolitische Materie nicht einmal eines Ministerratsbeschlusses; Schwarzenberg brauchte nur das Resultat der Beratungen seinen Ministerkollegen mitzuteilen160. Anders war es auf preußischer Seite. Denn, wie schon Schwarzenberg vor seiner Abreise nach|| S. 42 PDF || Olmütz konstatiert hatte, kam es nun darauf an, „ob v. Manteuffel, der als unpatriotischer Minister verschrieen sei, im Ministerium bleiben werde oder nicht.“161 Trotz großer Widerstände konnte sich aber Manteuffel durchsetzen, wurde am 19. Dezember 1850 sogar zum preußischen Ministerpräsidenten bestellt162. Die zweite preußische Kammer allerdings wollte zunächst die „Unterwerfung“, obwohl es hier pikanterweise Otto v. Bismarck übernommen hatte, die Regierungspolitik zu rechtfertigen, nicht akzeptieren. Doch schließlich, Anfang Jänner 1851 und mit einem knappen Abstimmungsergebnis, beugte sich auch die Kammer dem Unvermeidlichen163.
Denn die Entscheidung über die Annahme der Olmützer Punktationen war längst von der Realität überholt worden; seit dem 23. Dezember 1850 wurde in Dresden über die Reform des Deutschen Bundes verhandelt, seit dem 10. Jänner 1851 in Anwesenheit aller Bundesgenossen. In zahlreichen Konferenzen, Sitzungen und Beratungen wurden Reformvorschläge erarbeitet. Tatsächlich ging es um die Stellung Österreichs und Preußens zueinander und im Deutschen Bund. Schwarzenberg strebte die Integration der gesamten Habsburgermonarchie in den Bund an, ohne die von Preußen ultimativ geforderte „Parität“ in der Führung zugestehen zu wollen. Der Gesamteintritt Österreichs und die Schaffung einer die Donaumonarchie begünstigenden starken Exekutive hätte eine wesentlich größere Bindung des Deutschen Bundes an die österreichischen Interessen bedeutet. Die Zugestehung der „Parität“ kam für Schwarzenberg deswegen nicht in Frage, weil dadurch weit mehr als eine Gleichstellung der beiden deutschen Großmächte erreicht, vielmehr ein Übergewicht Preußens – nicht zuletzt wegen der dominierenden Stellung Berlins im deutschen Zollverein – geschaffen worden wäre. Preußen beharrte aber auf der „Parität“, machte sie zur Bedingung für die Aufnahme des Gesamtstaates der Habsburger in den Deutschen Bund. Damit waren die Fronten der beiden deutschen Großmächte, da eine Annäherung der Standpunkte nicht erzielt werden konnte, verhärtet. Hinzu kam noch der Umstand, daß die deutschen Mittelstaaten nun Stellung gegen diese „Parität“, die über ihre Köpfe hinweg ausgehandelt werden sollte, Stellung bezogen, da sie befürchteten, dadurch über kurz oder lang ihre Souveränität zu verlieren. Unter diesen Umständen war das Scheitern der Dresdener Konferenzen vorprogrammiert. Nachdem Preußen Ende März 1851 seinen ehemaligen Verbündeten aus der Union empfahl, an der Frankfurter Rumpfbundesversammlung teilzunehmen, womit es zwar sein Ziel, die volle „Parität“ zu erreichen, aufgab, zugleich aber die Eingliederung Gesamtösterreichs in den Deutschen Bund verhinderte, war es dann Mitte Mai soweit; alles, was in den Konferenzen ausverhandelt, jedoch nicht beschlossen worden war, wurde unverbindlich zu weiteren Verhandlungen und allfälligen Beschlußfassung an den|| S. 43 PDF || Bundestag weitergeleitet. Dadurch war eigentlich der status quo ante hergestellt und die alte Bundesverfassung trat wieder in Kraft164.
Das einzige konkrete Ergebnis war das – auch das ist symptomatisch – einen Tag nach der zehnten und zugleich Schlußsitzung der Dresdener Ministerialkonferenzen unterzeichnete geheime Schutz- und Trutzbündnis zwischen Österreich und Preußen. In diesem Allianzvertrag verpflichteten sich die beiden Vertragspartner zum Beistand bei etwaigen Angriffen von dritter Seite; das galt für die Gesamtheit des Territoriums der beiden Staaten, also auch für die Gebiete, die außerhalb des Deutschen Bundes lagen. Dieses gegen liberale Tendenzen gerichtete Bündnis wurde 1854 erneuert und lief dann 1857 aus. Der Vorteil lag hauptsächlich auf österreichischer Seite, da es ihm Garantien für seinen Besitz in Italien und freie Hand in Ungarn bot165.
Während die Herbstkrise einen wichtigen und oft behandelten Beratungsgegenstand in den Ministerkonferenzen darstellte, sowohl was die politische als auch die konkret-militärische Dimension betraf, Schwarzenberg sich also bemüßigt fühlte, seine Kabinettsmitglieder ausführlich zu informieren, ja zuweilen sogar ihre Zustimmung einzuholen, kamen die Dresdener Konferenzen, beziehungsweise ihr Scheitern im österreichischen Ministerrat so gut wie nie vor166. Nur den Abschluß des geheimen Allianzvertrages mit Preußen teilte der Ministerpräsident seinen Kollegen mit, die ihn „einhellig als zur Ah. Ratifikation Sr. Majestät für geeignet erkannten“167. Von da an bis zum Tod von Schwarzenberg wurden Fragen der deutschen Politik im Ministerrat nicht mehr erwähnt.
Zum Kommentar - Retrodigitalisat (PDF)
Wie bei allen bisherigen Bänden der Edition stammt der größte Teil der Archivalien zur Erstellung des wissenschaftlichen Kommentars auch beim vorliegenden Band aus den Beständen des Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Hier ist zunächst und vor allem der Bestand der Kabinettskanzlei zu nennen, gefolgt von den Current- und Separatbillettenprotokollen. Im Bereich der Außenpolitik wurden die Bestände des Politischen Archivs und der Administrativen Registratur in Anspruch genommen. Für die inneren Belange des österreichischen Kaiserstaates wurden die Akten des Informationsbüros (A-Akten), der Hofämter (Obersthofmeisteramt und Oberstkämmereramt) und der Ordenskanzleien herangezogen.
Archivmaterial der Ministerien des Inneren, der Justiz, des Handels, des Kultus und Unterrichts, des Verkehrs und der Nachlaß Bach, alles Bestandteile des Allgemeinen|| S. 44 PDF || Verwaltungsarchivs, lieferten weitere Unterlagen für den wissenschaftlichen Kommentar, genauso wie die Bestände des Finanzarchivs, sowohl aus der Präsidialreihe als auch aus den einzelnen Abteilungen, und dem Ministerium für Landeskultur und Bergwesen. Dasselbe gilt auch für das Kriegsarchiv, mit der Präsidial- und der Allgemeinen Reihe, der Militärkanzlei Seiner Majestät, den Alten Feldakten und dem Nachlaß Haynau.
Weiteres Quellenmaterial für die Kommentierung wurde unter den Beständen des Amtsarchivs der Geologischen Bundesanstalt und des Bankhistorischen Archivs der Oesterreichischen Nationalbank gesucht und gefunden.
Zur Vervollständigung des Kommentars, soweit er Fragen der ungarischen Kronländer betraf, wurden die Bestände des Magyar Hadtörténete Levéltár (Ungarisches Kriegsarchiv) eingesehen.
Für die Schreibung von Personen- und Ortsnamen gilt, was darüber an anderer Stelle bereits gesagt wurde168.