Zur Edition der cisleithanischen Ministerratsprotokolle 1867−1918

Von Thomas Kletečka, Stefan Malfèr und Anatol Schmied-Kowarzik

Vorgeschichte der Edition

Ein wirkliches Großprojekt nahm seinen Anfang, als einige österreichische Historiker unter dem Vorsitz von Univ. Prof. DDr. Friedrich Engel-Janosi 1967 daran gingen, die Ministerratsprotokolle zu edieren1. Die Bedeutung der Quellengattung liegt auf der Hand. Die Protokolle dieses höchsten politischen Gremiums im Bereich Exekutive enthalten Aussagen zur Struktur und Organisation des Staates, zur Wechselwirkung zwischen Problemen der Länder und Problemen des Gesamtstaates, zur Nationalitätenfrage, zu Verfassung, Verwaltung und Rechtswesen, zu Wirtschaft und Gesellschaft, zu kulturellen und sozialen Fragen. Der ganze große Raum der Habsburgermonarchie war Gegenstand der Beratungen.

Das Organ Ministerrat existierte seit dem 1. April 1848. „Am 1. April 1848, um 12 Uhr, traten die am 18. und 20. März ernannten Minister zu ihrer ersten ‚Besprechung‘ zusammen, der die Qualifikation ‚Ministerrat‘ zukommt.“2 Das Vorgängerorgan, die Staatskonferenz, hatte sich nicht zu einer wirklichen Gesamtregierung entwickeln können, „die ihre Entscheidungen im Wege der Übereinkunft fällte“ und durch die dem Monarchen, „wenn auch nur in beratender Funktion, ein Gesamtwille gegenübergestellt werden“ sollte3. Die Staatskonferenz erkannte aber die Zeichen der Zeit und beschloss am 17. März 1848, vier Tage nach dem Ausbruch der Revolution am 13. März, dass es unerlässlich sei, einen verantwortlichen Ministerrat zu bilden. Noch am selben 17. März genehmigte Kaiser Ferdinand den Beschluss4.

Entscheidend war das Epitheton „verantwortlich“. Wie dieses Wort im politischen Kontext verstanden wurde, erhellt aus dem § 8 der nur wenige Wochen später erlassenen sogenannten Pillersdorfschen Verfassung: „Die Person des Kaisers ist geheiligt und unverantwortlich. Er ist für die Ausübung der Regierungsgewalt unverantwortlich; seine Anordnungen bedürfen aber zur vollen Gültigkeit der Mitfertigung eines verantwortlichen Ministers.“5 Unverantwortlich war der Monarch auch vorher gewesen, das hieß, er konnte durch kein anderes staatliches Organ zur Verantwortung gezogen werden6. Das hatte für alle seine Handlungen gegolten, auch für die Anordnungen im Rahmen der Regierungsgewalt. Nun wurde eine Einschränkung vorgenommen, ein höchst folgenreiches „aber“. Die Anordnungen in Ausübung der Regierungsgewalt „bedürfen aber zur vollen Gültigkeit der Mitfertigung eines verantwortlichen Ministers“. Die Minister konnten also für ihr Organhandeln zur Rechenschaft gezogen werden, und der Kaiser konnte keine Anordnungen mehr ohne die Gegenzeichnung eines verantwortlichen Ministers verfügen. Damit hielt die politische Verantwortung Einzug in die bisher nur beratenden Gremien des monarchisch-absolutistischen Staates. Die nur beratende Staatskonferenz wurde zum politisch verantwortlichen Ministerrat, zur tatsächlichen Regierung. Es brauchte zwar noch einige Zeit bis zur Klärung und vollen Ausbildung der modernen Ministerverantwortlichkeit, blieb doch die später heftig diskutierte Frage noch offen, wem gegenüber die Minister verantwortlich waren, dem Kaiser oder der Volksvertretung. Die §§ 32 und 33 der Pillersdorfschen Verfassung besagten nur: „Die Minister sind für alle Handlungen und Anträge in ihrer Amtsführung verantwortlich“, und „Diese Verantwortlichkeit, sowie die Bestimmung der anklagenden und richtenden Behörde, wird durch ein besonderes Gesetz geregelt.“7 Dennoch war das Prinzip der verantwortlichen Regierung festgelegt, und ihre Beratungen und Beschlüsse wurden eben in den Ministerratsprotokollen festgehalten, die dem Monarchen zur rechtsgültigen Kenntnisnahme vorgelegt wurden8.

Engel-Janosi und die Herausgeber der Edition wählten den etwas sperrigen aber präzisen Titel „Die Ministerratsprotokolle Österreichs und der österreichisch-ungarischen Monarchie 1848−1918“. Mit Österreich war hier das 1804 proklamierte und bis 1867 bestehende Kaisertum Österreich gemeint. Die 1. Serie der Edition bildeten die Ministerratsprotokolle des Kaisertums Österreich, beginnend 1848. Diese Serie liegt mittlerweile geschlossen vor. Sie umfasst den Einleitungsband und 27 Textbände.

Nach dem Tod des Fürsten Felix Schwarzenberg, des ersten Ministerpräsidenten Franz Josephs, wurde der Ministerrat als Kollegialorgan entmachtet und zur Ministerkonferenz degradiert9. Dies geschah im Umfeld der Aufhebung der Verfassung, die der junge Kaiser mit Hilfe des ehemaligen Hofkammerpräsidenten und 1851 zum Präsidenten des Reichsrates10 ernannten Karl Friedrich Freiherr v. Kübeck erreichte11. Die Bezeichnung Ministerkonferenz blieb von 1852 bis 1860 bestehen. An der Art der Protokollführung änderte sich nichts. Auch das politische Gewicht der Konferenz blieb nicht gering, trotz der Doppelgleisigkeit von Ministerkonferenz und Kübeckschem Reichsrat. Dazu trugen nicht wenig die starken Ministerpersönlichkeiten dieses Jahrzehnts bei. Schon 1857 wollte das Armeeoberkommando, das seit 1852 nur gelegentlich an der Ministerkonferenz teilnahm, wieder regelmäßig vertreten sein12. Ab 1860 hieß das Gremium wieder Ministerrat13.

Die Umwandlung des Kaisertums Österreich in die österreichisch-ungarische Monarchie auf Grund des Ausgleichs von 1867 brachte die Dreiteilung des Organs Ministerrat mit sich.

Für die Ungarn war die Bestellung eines eigenen verantwortlichen Ministerpräsidenten und einer verantwortlichen Regierung gemäß den ungarischen Aprilgesetzen des Jahres 184814 das Um und Auf und der erste Schritt der politischen Aussöhnung der Nation mit ihrem König. Am 15. Februar 1867 versammelten sich in Budapest einige Herren unter dem Vorsitz des Monarchen, um jene Punkte der Gesetzesartikel des Jahres 1848 zu erörtern, die einer Änderung bedurften. Das Protokoll dieser Besprechung wird als erster königlich ungarischer Ministerrat gezählt, noch vor der formalen Ernennung von Gyula Graf Andrássy zum königlich ungarischen Ministerpräsidenten und der anderen ungarischen Minister.

Der Ministerrat in Wien blieb im Amt, verlor aber in inneren Angelegenheiten seine Zuständigkeit für die Länder der ungarischen Krone. Er wurde zum Ministerrat für die übrigen Länder, die sich dann „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ nennen sollten, also Cisleithanien15.

Für jene Ministerien und Gegenstände, die gemäß den Ausgleichsgesetzen gemeinsam waren, also Außenpolitik, Kriegswesen und deren Finanzierung, entstand der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie. Seine Protokolle bilden die 2. Serie der Edition, die vom Institut für Geschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaft herausgegeben wird. Von ihr liegen sechs Bände vor, vier sind in Bearbeitung.

Der Wirkungskreis der beiden Organe, des österreichischen Ministerrates bis 1867 (1. Serie) und des gemeinsamen Ministerrates 1867−1918 (2. Serie) erstreckte sich, im Rahmen der jeweiligen Kompetenz, über das gesamte Gebiet der Habsburgermonarchie. Die Edition war ja als gemeinsames Projekt der österreichischen und der ungarischen Historiographie gedacht. Das war, lange vor der Wende 1989, eine mutige und weitsichtige Entscheidung. Die Ministerratsprotokolle der beiden Teile der Monarchie von 1867 bis 1918 blieben dagegen außer Betracht. Es war aber naheliegend, dass irgendwann auch die ungarischen und die österreichisch-cisleithanischen Ministerratsprotokolle 1867−1918 das Interesse der Historikerzunft finden würden. In der Tat begann die Ungarische Akademie der Wissenschaften schon in den 1990er Jahren mit der Edition der ungarischen Protokolle, leider ist nur ein Band erschienen16.

Zur Edition der cisleithanischen Ministerratsprotokolle ergriffen Thomas Kletečka und Stefan Malfèr die Initiative, als die Fertigstellung der 1. Serie in greifbare Nähe rückte. Dass sich die österreichische Historiographie erst relativ spät damit befasst, ist nicht nur der immensen Aufgabe geschuldet, die 1. Serie fertigzustellen, sondern auch dem abschreckenden Umstand, dass die cisleithanischen Ministerratsprotokolle zu den Brandakten gehören, also zu den beim Brand des Justizpalastes in Wien am 15. Juli 1927 schwerstens in Mitleidenschaft gezogenen Archivbeständen. Es sind jedoch nicht alle Protokolle verbrannt. Etwa ein Zehntel des Bestandes ist ganz oder teilweise erhalten geblieben. Bei einer fünf Jahrzehnte umfassenden Aktenreihe ist das immer noch eine beträchtliche Menge. Kletečka und Malfèr entwarfen einen Editionsplan und beantragten beim Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung die Mittel zur Bearbeitung der ersten beiden Bände. Das Projekt wurde genehmigt17.

Mittlerweile hat das Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Edition der erhalten gebliebenen cisleithanischen Ministerratsprotokolle 1867−1918, die wir als 3. Serie in das Gesamtprojekt einreihen, in ihr Arbeitsprogramm aufgenommen. Das Projekt konnte in die Leistungsvereinbarung der Akademie mit dem zuständigen Bundesministerium eingebracht und so die Finanzierung sichergestellt werden.

Hiermit wird der erste Band der Öffentlichkeit vorgelegt.

Brandakten

Die Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie und die Bildung der Nachfolgestaaten im Herbst 1918 bedeuteten das Ende der bisherigen und die Entstehung neuer zentraler Regierungsorgane18. Sie brachte darüber hinaus auch das Ende der alten Zentralstellen mit sich. Diese erzeugten keine Akten mehr, ihr schriftlicher Nachlass wurde zu reinem Archivgut, abgesehen von jenen Stücken, die die neu entstehenden Behörden für ihre Geschäftsgebarung benötigten und daher in ihre Registraturen überführten.

Die Lage der Archive der alten Zentralstellen in Wien war nach 1918 durch drei Faktoren bestimmt19. Eine riesige Menge von Akten fiel an, die Nachfolgestaaten forderten die Auslieferung der sie betreffenden Stücke, gleichzeitig verschärfte sich der Druck, Behörden und Beamte einzusparen, also auch Archivbeamte. Zur Gründung eines Zentralarchivs oder einer Generaldirektion der staatlichen Archive konnte man sich nicht durchringen. Es erwies sich als Vorteil, dass von den bestandenen österreichischen, also k. k. Zentralstellen nur das Ministerium des Innern ein selbständiges, von wissenschaftlichen Beamten geleitetes Archiv hatte. Es gelang dem Direktor dieses Archivs, Heinrich Kretschmayr, nach und nach Bestände der meisten anderen Ministerien in seine Obhut zu bekommen. Nicht davon betroffen waren die Archive der früheren gemeinsamen Zentralstellen, das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, das Hofkammerarchiv und das Kriegsarchiv. Nach der Übernahme der älteren Akten des Justizministeriums änderte das Archiv 1921 seinen Namen in „Staatsarchiv des Innern und der Justiz“. Es befand sich im ehemaligen Hofkanzleigebäude zwischen dem Judenplatz und der Wipplingerstraße, heute Sitz des Verwaltungsgerichtshofs und des Verfassungsgerichtshofs.

1923 wurde das Ministerium des Innern im Zuge weiterer Einsparungen mit dem Bundeskanzleramt zusammengelegt. Das Staatsarchiv des Innern und der Justiz erhielt aus diesem Anlass die Bestände des Ministeriums des Innern bis 1899 und – für uns wichtig – die Registratur des österreichischen Ministerratspräsidiums 1861−1918. Zugleich musste das Archiv übersiedeln, weil die Räume in der alten Hofkanzlei dem Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft überlassen wurden. Im ausführlichen Bericht des Staatsarchivars Jakob Seidl in der Archivalischen Zeitschrift, Jahrgang 1926, lesen wir:

Wenn auch den Beamten der Abschied von den alten Räumen, die freilich den Anforderungen, welche an Archivdepots gestellt werden müssen, keineswegs entsprachen, nicht leicht fiel, so wurde er dadurch erleichtert, dass die neuen Räume, welche nach langwierigen Verhandlungen dem Staatsarchiv des Innern und der Justiz im Justizpalast am Schmerlingplatz […] zur Verfügung gestellt wurden, hinsichtlich ihrer Eignung als Archivdepot bei weitem die Räume am Judenplatz übertrafen. Das Archiv verfügt nunmehr über sonnige, zusammenhängende, im Tiefgeschoß des Justizpalastes gelegene, feuer- und einbruchsichere, durch eine Zentralheizung erwärmte, vollkommen trockene und gut lüftbare Lagerräume, die im Ausmaß von 850 qm durch geschickte Raumausnützung eine Belegfläche von rund 5½ km Länge ergaben. Im Hochparterre desselben Gebäudes wurden dem Archive die nötigen Beamten- und Benützerräume zur Verfügung gestellt.“20

Da trotzdem nicht alle Bestände Platz fanden, erhielt das Archiv noch Räume im Gebäude des ehemaligen Kriegsministeriums am Stubenring mit einer Belegfläche von 2,8 km Länge. Weiter heißt es:

„Nach Beendigung der Übersiedlung, die in der Zeit vom 1. Dezember 1924 bis Mitte September 1925 mit 85 zweispännigen Fuhren durchgeführt wurde, wobei die wissenschaftliche Benützung des Archivs nur eine Unterbrechung von 6 Wochen erlitt, die amtliche Benützung jedoch ständig aufrecht erhalten werden konnte, ist ein Hauptabschnitt in der Entwicklung des Staatsarchivs des Innern und der Justiz abgeschlossen.“21

Diesem Bericht ließ Seidl einen Überblick über die Bestände des Archivs folgen. Hier lesen wir über die Ministerratsprotokolle:

„Die Registratur des österreichischen Ministerratspräsidiums enthält in rund 900 Kartons und 100 Faszikeln die Aktenbestände dieser Stelle aus den Jahren 1861−1918 und die Protokolle des österreichischen Ministerrates aus dem Zeitraume 1867−1918.“22 Die Akten des Ministerratspräsidiums selbst seien nicht von hervorragender Bedeutung, da sich darin fast nichts befinde, was nicht in den Ministerien ausführlicher behandelt sei. „Historisch wertvoll dagegen sind die Protokolle des Ministerrates. Da alle Angelegenheiten von politischer und finanzieller Bedeutung, Gesetzgebung und organisatorische Maßnahmen in den regelmäßig stattgefundenen Besprechungen der Minister beraten wurden, stellen die hierüber geführten ausführlichen, dem Kaiser, der bei wichtigen Entscheidungen oft den Vorsitz führte, regelmäßig vorgelegten Protokolle eine wertvolle Quelle dar, deren Benützung durch sorgsam gearbeitete Nachschlagebücher erleichtert ist.“

Knapp zwei Jahre später ereignete sich die Katastrophe. Am 15. Juli 1927 setzte eine wegen des Urteils im Schattendorfer Prozess aufgebrachte Menge den Justizpalast als Symbol der parteiischen Justiz in Brand23. Erst sehr spät konnte die Feuerwehr eingreifen. Was dem Feuer entkommen war, wurde nun völlig durchnässt.

Am 29. August 1927, also nur wenige Wochen nach dem Brandunglück, berichtete Jakob Seidl auf dem 19. Deutschen Archivtag in Speyer über die Ereignisse24:

Erst in den Morgenstunden des 16. Juli wurde es den Archivaren ermöglicht, wenn auch unter Lebensgefahr, das noch brennende Gebäude zu betreten. […] In den Depots […] bedeckte eine glühende, ungefähr 1½ m hohe scheinbare Aschenschicht, aus der überall noch Flammen emporloderten, den Boden. […] Es dauerte noch mehrere Tage, bis es möglich war, mit den Aufräumungsarbeiten zu beginnen. […] Es zeigte sich, dass durch das Zusammenstürzen der brennenden 3½ m hohen Stellagen die Flammen teilweise erstickt worden waren, so dass sich doch noch zahlreiche, wenn auch an den Rändern verkohlt und vollkommen durchnäßte einzelne Akten, ja sogar in den untersten Reihen ganze, allerdings vom Wasser triefende Faszikel fanden. Dieser so gerettete Rest, der ungefähr 25 % der im Justizpalaste befindlich gewesenen Bestände des Archivs, welches 9700 Faszikel und 3900 Kartons umfaßte, ausmachen dürfte, wurde vorsichtig in Kartons gegeben, diese mittels Auto in luftige Säle der ehemaligen österreichisch-ungarischen Bank geführt, daselbst immer am selben Tage ausgepackt und zum Trocknen ausgelegt.25
Das Trocknen geschah zuerst mit Filtrierpapier, doch angesichts der Menge ging man zum Trocknen mit Heißluft über. „Was soll nun weiters mit den tausenden von Akten und Aktenteilen, die selbstverständlich jeder Ordnung entbehren […] geschehen, um sie jemals wieder verwerten zu können?“26 Aus dieser Frage sprechen noch heute das Entsetzen und die verzweifelte Trauer des berichtenden Archivars. Wieder fügte Seidl eine Übersicht an, diesmal über die Bestände, „die dem Brande zum größten Teil zum Opfer gefallen sind“. Darunter befand sich auch die „Registratur des österreichischen Ministerratspräsidiums mit den Ministerratsprotokollen aus den Jahren 1861−1918 mit 900 Kartons und 100 Faszikeln“27.

Die Trocknungs-, Konservierung- und Ordnungsarbeiten wurden in den folgenden Monaten und Jahren mit großem Einsatz durchgeführt, über die wir durch einen weiteren Artikel aus der Feder Jakob Seidls in der Archivalischen Zeitschrift, Jahrgang 1930, und durch spätere persönliche Erinnerungen informiert sind28. Seidl schrieb: „Wenn auch die Flammen unersetzbare Werte vernichtet haben, so sind die erhaltenen Reste doch derart, dass sie noch immer einen wertvollen Niederschlag der Tätigkeit aller jener Behörden enthalten, deren Akten in diesem Archive verwahrt worden sind.“29 Die meisten Akten wurden vorsichtig in einen Papierbogen gelegt, diese mit einem Pappendeckelumschlag in Kartons verwahrt. Einige Akten wurden mit einem durchsichtigen Papier überklebt. „Von besonders schlecht erhaltenen Stücken mit wertvollem Inhalt werden außerdem amtlich beglaubigte Abschriften angefertigt.“30 Darunter fielen auch die Ministerratsprotokolle. Zu diesen schrieb Seidl:

„Schließlich muß noch eines Bestandes gedacht werden, dessen Neuordnung mit Rücksicht auf seinen Wert bereits durchgeführt worden ist. Es sind dies die Protokolle des österreichischen Ministerrates aus der Zeit von 1867 bis 1918. Wenn man bedenkt, daß der Ministerrat fast jede Woche einmal tagte, und die nachfolgende vorläufige Übersicht betrachtet, die die erhaltenen Protokolle angibt, so wird man den Erhaltungszustand leider als sehr schlecht bezeichnen müssen. Dazu kommt noch, daß manche der erhaltenen Protokolle schwer beschädigt sind, so daß an deren Abschriftnahme schon seit Monaten gearbeitet werden muß.“31 Es folgt eine Tabelle32, aus der hervorgeht, dass 750 Protokolle ganz oder teilweise erhalten geblieben waren, allerdings in höchst unterschiedlicher Dichte. Die Abschriften, von denen Seidl hier spricht, sind von verschiedenen Archivaren beglaubigte Typoskripte, die heute so wie die Akten selbst im Allgemeinen Verwaltungsarchiv liegen.

So viel zum Hintergrund des Bestandes Ministerratsprotokolle, Brandakten.

Ergänzungen

Der heutige Archivkörper heißt gemäß dem im digitalen Netz zugänglichen Archivplan: Österreichisches Staatsarchiv/Allgemeines Verwaltungsarchiv/Inneres/Ministerratspräsidium/ Österreichische Ministerratsprotokolle.

Er enthält allerdings mehr Protokolle als die von Seidl genannten. Es sind offenbar im Zuge der Ordnungsarbeiten weitere Protokolle aufgetaucht, die in der ersten Übersicht von 1930 fehlen. Dazu kommen die von Seidl in einer Fußnote erwähnten Abschriften, die die Regierung der tschechoslowakischen Republik von denjenigen Tagesordnungspunkten hatte anfertigen lassen, die spätere tschechoslowakische Agenden betrafen33. Das Archiv erhielt Kopien dieser Abschriften. Für 1867 liegen einige Abschriften vor, die für den Historiker Josef Redlich angefertigt wurden. Im Vorwort seines schon vor dem Krieg begonnenen, 1920 erschienenen ersten Bandes des großen Werks über „Das österreichische Staats- und Reichsproblem“ lesen wir von den „Akten, die hier zum erstenmal in weitem Ausmaße benützt werden konnten – die Protokolle der Ministerkonferenzen und des Ministerrates“34. Für die Jahre ab 1900 gibt es einige Abschriften aus dem Nachlass des Ministerialrates und Kanzleidirektors im Ministerium des Innern Ludwig Alexy. Nicht erfüllt hat sich die Hoffnung, Abschriften einzelner Tagesordnungspunkte bei den Vortragsextrakten in der Kabinettskanzlei im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu finden, eine Praxis, die bis 1866 gelegentlich gehandhabt wurde.

Die erhaltenen Protokolle und Tagesordnungspunkte sind nicht unbekannte Inseln in einem endlosen Meer, sondern genau identifizierbare Teile eines bekannten Ganzen. Jedes Protokoll wurde ja dem Kaiser zu Kenntnisnahme vorgelegt und hinterließ so eine genaue Spur in der unversehrt erhaltenen Kabinettskanzlei. Wir wissen für all die fünf Jahrzehnte genau, wann eine Sitzung stattgefunden hat und welche Punkte auf der Tagesordnung standen. Zu einem unbekannten Zeitpunkt wurde ein maschinschriftliches Verzeichnis der Sitzungen erstellt, in dem zusätzlich zur Tagesordnung auch festgehalten wurde, wer den Vorsitz führte, welche Minister anwesend waren und wer Protokoll geführt hat. Auch der Wortlaut und das Datum der Kenntnisnahme des Kaisers in Form einer Allerhöchsten Entschließung sind in der Kabinettskanzlei verzeichnet.

Gegenstand der nun beginnenden Edition der 3. Serie „Die cisleithanischen Ministerratsprotokolle 1867−1918“ sind alle, auf welchem Weg auch immer erhalten gebliebenen Protokolltexte, die wie bisher textkritisch aufbereitet und wissenschaftlich kommentiert werden, sowie die vollständige Angabe aller stattgefundenen Sitzungen, ihrer Tagesordnung und der Teilnehmer auch für jene Sitzungen, von denen das Protokoll nicht erhalten ist.

Im Österreichischen Staatsarchiv sind die erhaltenen Protokolltexte, sowohl Reinschriften als auch Abschriften, im oben genannten Bestand gesammelt. Es stellt sich die Frage, ob weitere Abschriften in anderen Archivbeständen existieren. Mit Sicherheit kann gesagt werden, dass keine amtlichen Zweitschriften angefertigt wurden. Vereinzelt wurde in dem einen oder anderen Ministerium eine Abschrift von dem einen oder anderen Tagesordnungspunkt angefertigt, die sich beim sachlich betreffenden Akt befindet. Eine systematische Suche nach solchen Zufallsstücken ist aus Kapazitätsgründen nicht möglich, müsste man doch unvorstellbare Aktenmengen bewegen. Auch die systematische Suche in Nachlässen oder anderweitigen Aktenbeständen ist nicht zu bewältigen. Die Herausgeber laden jedoch alle Personen, die mit Quellen aus diesem Zeitraum arbeiten, ein, allfällige Funde dem herausgebenden Institut mitzuteilen, damit solche Ergänzungen in die Edition eingearbeitet werden können.

In den Vorakten zu den im Ministerrat behandelten Gegenständen finden sich mitunter auch für den Minister vorbereitete Reden, die als „Vortrag im Ministerrat“ bezeichnet wurden. Es lässt sich aber nicht sagen, ob sie sich mit der tatsächlichen Rede decken, und sie enthalten keine Hinweise auf mögliche Diskussionen oder auf den Ministerratsbeschluss. Sie können daher keinesfalls als Ersatz eines fehlenden Protokolls gelten. Wer sich jedoch für ein bestimmtes Thema interessiert, wird solche Akten mit Gewinn heranziehen.

Zur Einrichtung der Edition

Die formale Gestaltung richtet sich nach den Vorgaben der 1. Serie, die auch in der 2. Serie mit wenigen Abweichungen zur Anwendung kommen35.

Das Kopfregest enthält den Aktenbefund (Reinschrift, Abschrift, sonstige Herkunft), den Protokollführer, den Vorsitz, die an- und abwesend geführten Teilnehmer, die Bestätigung der Einsichtnahme des Protokolls durch die Teilnehmer (BdE.). Es werden nur die Nachnamen angeführt. Der vollständige Name und die Funktion sind in jedem Band im Verzeichnis der Teilnehmer zusammengefasst. Auch allfällige Drucklegungen werden vermerkt.

Es folgen das Verzeichnis der Tagesordnungspunkte, die Aktenzahlen (Kabinettszahl und Ministerratszahl) und die Überschrift.

Die Kopfregesten der nicht erhaltenen Protokolle (Protokollführung, Vorsitz, Anwesende, Tagesordnungspunkte) werden nach den oben erwähnten, noch vor 1927 angefertigten und vollständig erhaltenen maschinschriftlichen Abschriften erstellt. Datum und Wortlaut der Allerhöchsten Entschließung über diese Protokolle werden aus dem Protokollbuch der Kabinettskanzlei ergänzt.

Der Protokolltext wird vollständig wiedergegeben. Die Orthografie wird nach der Neuen deutschen Rechtschreibung normalisiert, da es sich nicht um private Aufzeichnungen, sondern um Kanzleischriften handelt. Der Lautbestand bleibt jedoch stets erhalten („That“ wird zu Tat normalisiert, „giltig“ wird nicht zu gültig geändert). Der Name des sprechenden Ministers wird gesperrt gedruckt.

Die Allerhöchste Entschließung, mit der der Kaiser das Protokoll zur Kenntnis nahm, bildet den Abschluss des Dokuments.

Textkorrekturen und Beilagen werden im textkritischen Apparat ausgewiesen. Beilagen werden nur nach Maßgabe der inhaltlichen Bedeutung in die Edition aufgenommen.

Jene Stellen, die durch den Brand angesengt oder anderweitig beschädigt wurden und unleserlich sind, werden durch eckige Klammern [] ausgewiesen:

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Ein leerer Klammerausdruck vor oder nach einem Buchstaben oder einer Silbe zeigt einen fehlenden Wortteil an.
[] Ein allein stehender leerer Klammerausdruck zeigt ein oder mehrere fehlende Wörter im Ausmaß von höchstens einer Zeile an.
[Absatz] Zeigt einen fehlenden Absatz an.
[Seite] Zeigt eine fehlende Seite an.
[?] Wenn die Menge des fehlenden Textes nicht angegeben werden kann, steht der Ausdruck [?].

Textergänzungen werden höchst behutsam vorgenommen. Die Phantasie, mit der ein Bearbeiter einen fehlenden Textteil ergänzen könnte, muss auch dem Benützer der Edition zugesprochen werden. Nur einzelne fehlende Buchstaben, Silben, Wörter und Satzzeichen, die zwingend und ohne Zweifel aus dem Zusammenhang erschließbar sind, werden stillschweigend ergänzt, um die Lesbarkeit des Textes nicht unnotwendig zu erschweren. Interpolationen der Herausgeber, die sich aus anderen Quellen ergeben, stehen in eckigen Klammern.

Im Kommentar werden die von den Teilnehmern zitierten Akten ausgewiesen, sofern sie erhalten sind. Es wird versucht, den Gegenstand in das Geflecht der Ereignisse einzubinden, indem je nach Möglichkeit 1. auf eine vorausgehende Beratung, einen Ministerialakt usw. hingewiesen, gegebenenfalls die Vorgeschichte angedeutet wird, und 2. auf eine Fortsetzung, eine Entscheidung des Kaisers, den Beschluss einer parlamentarischen Körperschaft usw. verwiesen wird. Sofern vorhanden wird Literatur zu einem Thema in Kurzfassung angeführt. Das vollständige Zitat ist aus der Bibliografie zu entnehmen. Die Bibliografie führt nur die zitierten Werke an.

Ein Kommentar jener Tagesordnungspunkte, zu denen kein Text erhalten ist, unterbleibt. Zwar ließe sich zu jedem Thema Aktenmaterial finden, doch ist das Ziel der Edition nicht die Aufbereitung von in viele Tausende gehenden Inhaltsangaben, sondern dessen, was die Minister im Ministerrat zu sagen hatten. Wo dies verloren ist, kann darüber nichts gesagt werden. Dennoch werden die Regesten der fehlenden Protokolle ediert, weil sie, wie oben ausgeführt, den Raster bilden und weil es von Interesse sein kann zu wissen, wann und wie oft die Regierung ein Thema debattiert hat. Auch können so allfällig in Zukunft auftauchende Protokolle oder Protokollteile eingeordnet werden.

Demgemäß werden auch die Einleitungen nicht die Geschichte der jeweiligen Jahre vollständig darstellen, sondern in erster Linie versuchen, die Ausführungen der Minister und die Entscheidungen des Gremiums mit der bisherigen Historiographie zu verbinden und daraus neu gewonnene Erkenntnisse vorstellen.

In der 1. und in der 2. Serie wurden in jedem Band zur Übersicht ein chronologisches Verzeichnis der Protokolle und Beilagen gedruckt. In den Bänden der 3. Serie werden in dieses Stückverzeichnis nur jene Protokolle und Tagesordnungspunkte aufgenommen, die erhalten sind.

Das Register wird wie bisher als kombiniertes Personen-, Orts- und Sachregister geführt.

Die Edition wird acht Bände, fallweise in Teilbände gegliedert, umfassen:

Band Zeitraum Ministerien Teilbände
I 1867 Beust 1
II 1868−1871 Carlos Auersperg, Taafe I, Plener, Hasner, Potocki, Hohenwart, Holzgethan 1
III 1871−1879 Adolf Auersperg 2
IV 1879−1893 Stremayr, Taafe II 2
V 1893−1900 Windischgrätz, Kielmansegg, Badeni, Gautsch I, Thun, Clary, Wittek 1
VI 1900−1904 Koerber I 1
VII 1905−1914 Gautsch II, Hohenlohe, Beck, Bienerth, Gautsch III, Stürgkh 2
VIII 1914−1918 Erster Weltkrieg: Stürgkh, Koerber II, Clam, Seidler, Hussarek, Lammasch 1