Probleme der Edition - Retrodigitalisat (PDF)

Obwohl der mit 4. Februar 1861 berufene neue Präsident des Ministerrates, Erzherzog Rainer, von den Zeitgenossen und in der wissenschaftlichen Literatur als eher unbedeutende Persönlichkeit eingestuft wurde, markierte sein Amtsantritt im größeren Zusammenhang der allgemeinpolitischen Entwicklung in Österreich eine entscheidende Wende, die jedoch mit der Berufung des neuen Leiters für ein im wesentlichen ohnedies gleichbleibendes Ministerium keineswegs beabsichtigt war. Die eigentliche Wende war wohl schon mit der Berufung des Staatsministers Schmerling an die Stelle des Grafen Goluchowski am 13. Dezember 1860 vollzogen, und die ersten Ansätze zu einer Umorientierung der inneren Politik reichen schon in das Jahr 1859 zurück. 1861 brachte aber dann den ersten Schritt zu jener Wende, die schließlich zur konstitutionellen Neugestaltung von 1867 führte, obwohl der Monarch zunächst unvermindert an seiner absolutistischen Grundeinstellung festhielt, was er gerade im Ministerrat nachdrücklich zum Ausdruck brachte1. Friedrich Walter hat, gestützt auf Josef Redlich, das Wesentliche des Wandels von 1861 darin gesehen, daß neben dem „Scheinparlamentarismus der Reichsvertretung“ und „der Erhaltung der Machtstellung der zentralen Bürokratie“ mit der Einrichtung einer autonomen Landesverwaltung jenes Element institutionalisiert wurde, von dem aus die verfassungsrechtliche und soziale Umwandlung Österreichs ihren Ausgang nahm2.

Die verfassungspolitische Ausgangslage - Retrodigitalisat (PDF)

Den Ausgangspunkt für die neue Entwicklung bildeten die innenpolitischen Ereignisse seit Magenta, Solferino und Zürich.

Die Folgen der Niederlagen auf den italienischen Schlachtfeldern waren für die Habsburgermonarchie in jeder Hinsicht katastrophal. Die ungarische revolutionäre Bewegung entfaltete besonders seit dem Ausbruch des Krieges eine verstärkte Tätigkeit. Ihre Hoffnungen wurden zwar durch die plötzliche Sinnesänderung Napoleons III., die zum Vorfrieden von Villafranca führte, jäh zerstört, die Unruhen in Ungarn selbst dauerten jedoch fort, ja sie wurden durch den Erlaß des Protestantenpatents vom 1. September 1859 noch gesteigert3. Neben die ungarische trat auch noch die finanzielle Problematik. In jüngerer Zeit wurde die Frage gestellt, ob letztere nicht die entscheidende Komponente für die nun einsetzende Umgestaltung der Donaumonarchie bildete4. Wenn man sich den ruinösen Zustand der Staatsfinanzen nach dem verlorenen Krieg vergegenwärtigt5, so erscheint eine diesbezügliche Argumentation durchaus einleuchtend, denn die ersten Maßnahmen einer Abkehr vom Absolutismus fanden im finanziellen Bereich ihren gesetzlichen Niederschlag. Die mit kaiserlichem Patent vom 23. Dezember 1859 eingesetzte Staatsschuldenkommission6 bestand aus sieben Mitgliedern, von denen sich der Kaiser die „Ernennung des Präsidenten derselben und zweier Mitglieder aus dem Kreise der Grundbesitzer und Kapitalisten“ vorbehielt. Die übrigen Mitglieder sollten von der Nationalbank (2), der niederösterreichischen Handels- und Gewerbekammer und der Wiener Börsekammer (je 1) gewählt werden7. Wesentliche Aufgaben der Kommission waren die Überwachung der Staatsschuld, die Prüfung des Berichts der Staatsschuldendirektion über die Staatsschulden und die Erstattung eines diesbezüglichen Vortrages, der „zur allgemeinen Kenntnis“ zu bringen sei8. Auch die mit Ah. Handschreiben vom 11. November 1859 eingesetzte „Ersparungskommission“ hatte die Aufgabe, nach gründlicher Durchleuchtung des Budgets Möglichkeiten zur Herstellung des Gleichgewichts im Staatshaushalt aufzuzeigen9. Wohl hielt sich die Rolle der Staatsschuldenkommission zunächst in recht begrenztem Rahmen, und es war der angestrebten Finanzreform nur ein bescheidener Erfolg beschieden — vor allem deshalb, weil der „verstärkte“ Reichsrat nicht bereit war, der von den Reformern empfohlenen Sparpolitik zuzustimmen —, allein „das Budgetrecht blieb das wirksamste Mittel, mit dem sich der Parlamentarismus in Österreich schrittweise durchsetztea “.

Neben dem Problem der Sanierung der Staatsfinanzen war die Frage einer Neuordnung der Verhältnisse in Ungarn von entscheidender Bedeutung. In der Ministerkonferenz vom 30. März 1860 wurden die in dieser Hinsicht entscheidenden Beratungen aufgenommen. Zunächst wurde Erzherzog Albrecht von seinem Posten als Generalgouverneur von Ungarn abberufen und durch den im Lande angesehenen FZM. Ritter v. Benedek ersetzt. Sodann wandte man sich der Erörterung folgender Punkte zu: „1. Ob die Landesvertretung des Königreiches Ungarn in einer Versammlung vereint oder aber in mehreren Versammlungen geteilt einzuberufen sei? 2. Ob die bisherige Fünfteilung der Statthalterei aufrechtzuerhalten sei oder nicht? 3. Welche Einrichtung den Komitatsbehörden zu geben wäre10?“ Zu einer Entscheidung gelangte man in dieser Ministerkonferenz nicht. Im Konferenzprotokoll vom 2. April 1860 ist festgehalten, daß der Kaiser sich vorbehalte, „diese wichtige Angelegenheit noch in reife Überlegung zu ziehen11“.

Wie so oft fiel die Entscheidung auch diesmal nicht in der Ministerkonferenz. Im Protokoll vom 19. April 1860 wird in knappen Worten lediglich mitgeteilt, daß der Ministerpräsident mit dem Entwurf eines Handschreibens beauftragt wurde, welches dann ohne wesentliche Änderungen die Billigung der Minister fand. Am darauffolgenden Tag wurden zwei Handschreiben in der „Wiener Zeitung“ veröffentlicht. Das erste, an Erzherzog Albrecht gerichtete, verkündete dessen Enthebung vom Posten des Generalgouverneurs und kommandierenden Generals in Ungarn. Das zweite, an Benedek adressierte Schreiben, verfügte dessen Betrauung mit der Leitung der politischen Verwaltung und des Landesgeneralkommandos. Die fünf Verwaltungsbezirke Ungarns wurden in einer Statthalterei mit dem Sitz in Ofen zusammengefaßt sowie Wahlen für einen einheitlichen Landtag und die Wiederherstellung der alten Komitatsverfassung angeordnet12. Auf den ersten Blick schien Benedeks Bestellung durchaus zielführend. Er war Ungar, Protestant und stand im Rufe persönlicher Lauterkeit. Überdies hatte man ihn bereits geraume Zeit vor seiner Ernennung jenen Ministerkonferenzen beigezogen, bei denen die ungarische Frage zur Diskussion stand13. Allein es zeigte sich nur allzubald, daß er nicht das nötige politische Fingerspitzengefühl besaß, um die nun immer stärker auftretenden nationalen Bestrebungen in für Kaiser und Regierung akzeptable Bahnen zu lenken. Man hatte sich in Wien der trügerischen Hoffnung hingegeben, in Ungarn würde man sich mit den gewährten Zugeständnissen begnügen. Aber bereits am 15. Mai 1860 sah man sich genötigt, das im Lande leidenschaftlich abgelehnte Protestantenpatent vom 1. September 1859 wiederaufzuheben14, und auch andere Maßnahmen, wie die „Bestimmungen zur Regelung der Geschäftssprache der Behörden im Königreich Ungarn beim dienstlichen Verkehr derselben mit den Parteien“ vom 14. Juli 1860, zeigten nicht den gewünschten Erfolg. Vielmehr ließen Benedeks Berichte in Wien keinen Zweifel darüber aufkommen, daß die Lage in Ungarn einem knapp vor der Explosion stehenden Pulverfaß glich15. Benedek, der einsah, daß die ihm zugedachte Aufgabe seine Kräfte überstieg, bat deshalb schon am 30. August 1860 um seine Enthebung, die allerdings erst am Tage der Erlassung des Oktoberdiploms ausgesprochen wurde16.

Hatte der Kaiser gehofft, durch die Einberufung des „verstärkten“ Reichsrates neben der Sanierung des Staatshaushaltes auch das ungarische Problem besser in den Griff zu bekommen, so sah er sich in seinen Hoffnungen bald getäuscht. Die ungarischen Altkonservativen unter der Führung des Grafen Szécsen ergriffen gemeinsam mit dem böhmischen Feudaladel, dessen prominentester Vertreter Heinrich Graf Clam-Martinic war, sofort die Initiative. Dieser Umstand und die Tatsache, daß von den 60 Mitgliedern des „verstärkten“ Reichsrates nur 25 Deutsche (die sich mit den ungarischen Vertretern hinsichtlich politischer Durchschlagskraft nicht messen konnten) waren, denen 11 Magyaren, 18 Slawen und Romänen und 5 Italiener gegenüberstanden17, ließen bereits nach kurzer Zeit die von den ungarischen Abgeordneten vertretenen konservativ-föderalistischen Tendenzen immer stärker hervortreten. Wohl am deutlichsten lassen sich die Vorstellungen zur Neugestaltung der Monarchie aus den nach Abschluß der Budgetdebatte im Reichsrat vorgelegten Anträgen erkennen.

Der vom ungarischen und vom böhmischen Hochadel vertretene Majoritätsantrag kulminiert in folgender Forderung: „Die Kräftigung und gedeihliche Entwicklung der Monarchie erheischt die Anerkennung der historisch-politischen Individualität der einzelnen Länder, innerhalb welcher die naturgemäße Entwicklung und Förderung der verschiedenen Nationalitäten ihre Geltung zu finden hat und die Verknüpfung dieser Anerkennung mit den Anforderungen und Bedürfnissen des gesamtstaatlichen Verbandes, daher — bei prinzipieller Gleichstellung aller Länder der Monarchie — sowohl die Anerkennung und Begründung ihrer Autonomie in der Administration und inneren Legislation als auch die definitive Feststellung, Sicherung und Vertretung ihres gemeinsamen staatsrechtlichen Verbandes. Diese staatsrechtliche Regelung kann aber ihre Ergänzung nur durch die Wiederbelebung und Begründung munizipaler Institutionen im Sinne einer ernstgemeinten Selbstverwaltung finden18.“

Gegen diese Ansichten erhoben die deutsch-liberalen Abgeordneten schwerste Bedenken. Sie fürchteten, daß durch eine Stärkung der Länderautonomie die zentrifugalen Kräfte immer mehr zunehmen und die Einheit des Reiches gefährden würden19. Nach einer ausführlichen Debatte wurde das Majoritätsvotum am 27. September 1860 mit 34 gegen 16 Stimmen angenommen20.

Die eben geschilderten Gedankengänge der von Szécsen und Clam-Martinic geführten Adelspartei übten einen entscheidenden Einfluß auf den Monarchen aus. Er trat ohne Wissen seiner Minister mit den ungarischen Altkonservativen in Kontakt und legte dann am 16. Oktober 1860 in einer als „Konferenz“ bezeichneten Sitzung die „Ah. Erlässe über die neue politische und administrative Organisation der Monarchie“ vor21. Diese Schriftstücke erhielten auch in dieser Sitzung die Ah. Genehmigung und wurden bereits wenige Tage später in der „Wiener Zeitung“ publiziert22.

Damit hatte der Kaiser einen dritten Schritt auf dem Weg zur Gewährung einer Verfassung getan. Die erste Konzession in dieser Richtung bildete die mit dem Patent vom 5. März 1860 verfügte Einberufung des „verstärkten“ Reichsrates23. Die nächste Etappe war dann mit der Erlassung des Handschreibens vom 17. Juli 1860 an Erzherzog Rainer erreicht, mit dem „die Einführung neuer Steuern und Auflagen, dann die Erhöhung der bestehenden Steuer- und Gebührensätze bei den direkten Steuern, bei der Verzehrungssteuer und bei den Gebühren von Rechtsgeschäften, Urkunden, Schriften und Amtshandlungen, endlich die Aufnahme neuer Darlehen“ an die Zustimmung des Reichsrates gebunden wurden24. Diese beiden Zugeständnisse erfolgten teils aus der Einsicht in die triste finanzielle Lage des Staates, teils in der Hoffnung, die Lage in Ungarn wenigstens etwas zu entspannen, was jedoch nicht gelang. Das Oktoberdiplom verschlechterte die innenpolitische Lage noch weiter. Wie falsch die Ansicht des Kaisers war, in seinen altkonservativen Ratgebern die politischen Repräsentanten Ungarns zu sehen, erwiesen die folgenden Wochen mit aller Deutlichkeit. Die Lage jenseits der Leitha gestaltete sich von Tag zu Tag bedrohlicher. Es kam zur Vertreibung der Bachschen Beamten, zu regierungsfeindlichen Kundgebungen, und schließlich schritten die Magyaren auch noch zur Steuerverweigerung, was sich angesichts der finanziellen Lage besonders nachteilig auswirkte.

Vielleicht noch negativer war die Aufnahme des Diploms diesseits der Leitha, besonders durch das liberale Bürgertum und die Beamtenschaft25. Wollte der Monarch das Reich nicht der Gefahr staatsgefährdender innerer Wirren und einem finanziellen Kollaps aussetzen, mußte er versuchen, durch Besänftigung sowohl der Deutschen als auch der Ungarn die Lage zu stabilisieren. Ähnlich wie nach den Niederlagen des Jahres 1859 war es auch jetzt wieder primär der finanzielle Aspekt, der zur raschen „Vollendung“ des Oktoberdiploms durch das Februarpatent führte26. Mit der Berufung von Anton Ritter v. Schmerling am 13. Dezember 1860 zum Staatsminister schien Franz Joseph einen glücklichen Griff getan zu haben, galt jener doch einerseits als einer der prominentesten Vertreter der deutsch-liberalen Strömung, andererseits war er auch für die Ungarn akzeptabel. Während G. Franz den Eintritt Schmerlings in das Ministerium dem Einfluß Pleners zuschreibt27, führt Schmerling selbst seine Berufung auf die Fürsprache der Ungarn — besonders von Vay und Szécsen — zurück. Er begründet das Eintreten der Magyaren für seine Person folgendermaßen: „Als ich in dem Ministerium Schwarzenberg das Portefeuille der Justiz innehatte, fand sich häufig Veranlassung, die Ungarn dem Fürsten Schwarzenberg gegenüber zu verteidigen. Der Fürst fand in seinem über alle Maßen strengen Vorgehen gegen die ungarischen Gefangenen und Verurteilten kein Ziel und Ende, die Behandlung derselben grenzte an Grausamkeit, wenn sie diesen Namen nicht vollauf verdiente28.“ Der Minister schildert dann anhand des Beispiels von Leopold Graf Nádasdy sein Eintreten für die verurteilten Ungarn. Der Graf war infolge schlechter Verpflegung während der Haft erkrankt, und die Verwandten ersuchten Schmerling um Abhilfe. Dieser brachte die Angelegenheit in der Ministerkonferenz zur Sprache. Seine Vorstellungen erregten „zwar den Unwillen des Fürsten Schwarzenberg, welcher meinte, man könne dem Gefangenen doch nicht servieren wie im Hotel Munsch“, doch schließlich erreichte Schmerling dennoch eine Verbesserung der Haftbedingungen29. Das Ansehen, das Schmerling aufgrund dieser Haltung bei den Ungarn genoß, schwand allerdings bereits in den ersten Monaten seiner Ministerschaft rapide.

Es wäre nun sehr interessant, wenn uns die Memoiren des Staatsministers in bezug auf die Stellung des Ministerrates nähere Auskünfte geben würden. Leider hüllt sich Schmerling diesbezüglich genauso in Stillschweigen wie seine Kollegen Rechberg, Plener, Pratobevera und Lasser, die in ihren privaten Aufzeichnungen zu dieser Frage ebenfalls kaum Stellung nehmen. Das Wesentliche zur Stellung des Ministeriums wurde bereits im Einleitungsband von H. Rumpler dargestellt30. Dort wurde auch die Vermutung ausgesprochen, daß die Betrauung Erzherzog Rainers mit der Geschäftsleitung und dem Präsidium des Ministerrates aus dem Grunde erfolgte, da die Gefahr eines Bündnisses Schmerlings mit dem Reichsrat gegen den Kaiser bestand31. Wie die Aufzeichnungen Schmerlings zeigen, scheint diese These richtig zu sein. Rechberg richtete nämlich zu Beginn des Jahres 1861 an Schmerling die Frage, ob es nicht zweckmäßiger scheine, das Amt des Staatsministers und des Ministerpräsidenten in einer Hand zu vereinigen. Dieser erwiderte darauf, „daß im gegenwärtigen Momente, wo die innere Frage und insbesondere die Anbahnung wahrhaft konstitutioneller Zustände Hauptaufgabe seien, auch das Staatsministerium als wichtigstes sich darstelle und diese Wichtigkeit immerhin auch dadurch gekennzeichnet werden könnte, daß der Staatsminister an die Spitze des Kabinetts gestellt würde32“. Äußerst interessant sind die Argumente, die Schmerling zur Unterstützung seiner Auffassung anführt. Er meint nämlich, Rechberg hätte durchaus nicht die Gabe besessen, vor dem Reichstag als Redner aufzutreten, und er sei auch nicht geeignet gewesen, in den Debatten seinen Mann zu stellen. Was für den Staatsminister aber noch schwerer wog, war das Fehlen jeglicher konstitutionellen Gesinnung beim Außenminister, und überdies sah er in diesem nur ein willenloses Werkzeug in den Händen der Ungarn. Es zeugt nicht von mangelndem Selbstbewußtsein, wenn der Staatsminister schreibt, daß Rechberg in seinem Innersten wohl vor dem Gedanken zurückbebte, „als eigentliches Haupt eines Kabinetts einem künftigen Parlament gegenüberzutreten33“. Solche Skrupel plagten Schmerling selbst durchaus nicht. Dem Kaiser allerdings dürfte bei soviel Konstitutionalismus doch nicht ganz wohl zumute gewesen sein. Man darf nicht übersehen, daß Männer die wichtigsten Ministerposten bekleideten, die Schmerling gesinnungsmäßig nahestanden und mit denen er in einigen Fällen schon jahrelang in Kontakt gestanden war34. Es bestand nun in den Augen Franz Josephs sehr wohl die Gefahr, daß das Ministerium den zu erwartenden Angriffen nicht genug Widerstand entgegensetzen würde. Der Gegenzug des Kaisers war unter diesem Gesichtspunkt nicht schlecht gewählt. Rechberg dürfte ihn von Schmerlings Aspirationen auf den Posten des Ministerpräsidenten informiert haben, denn eines Tages erschien Mecséry beim Staatsminister und teilte ihm mit, der Kaiser beabsichtige, Erzherzog Rainer an die Spitze des Ministeriums zu berufen. Der Polizeiminister hielt diese Lösung für unglücklich, denn „ein Erzherzog würde nicht im Parlament auftreten, in die Verhandlungen eingreifen und am Ende sich der Möglichkeit einer parlamentarischen Niederlage aussetzen können35“. Schmerling, Mecséry und Rechberg begaben sich daher zum Kaiser, um ihm ihre Bedenken vorzutragen. Franz Joseph hörte die Minister zwar ruhig an, meinte aber, daß ihm die Argumente der Minister nicht stichhaltig erschienen, „da es in vielen Staaten der Fall sei, daß nicht der Ministerpräsident, sondern der Ressortminister, und hier vor allem der Staatsminister, die Vertretung und Verhandlungen im Parlament zu führen habe, so daß der Erzherzog nie in die Lage kommen würde, seinen Platz dort einzunehmen36“. Man sieht daraus, daß diese Maßnahme des Kaisers den durch die Einrichtung des Reichsrates für das Ministerium drohenden Gefahren noch am ehesten begegnen konnte. Es wäre Schmerling wohl schwergefallen, unter einem Mitglied des Kaiserhauses als Regierungschef seinen sicherlich vorhandenen konstitutionellen Neigungen allzusehr nachzugeben und mit dem Parlament zu paktieren — was übrigens auch für die anderen liberal gesinnten Minister galt. Andererseits konnte man den Angriffen des Reichsrates auf das Ministerium viel von ihrer Schärfe nehmen, wenn man den Ministerpräsidenten einer direkten Kritik einfach entzog. In diesem Zusammenhang wäre zu vermerken, daß Schmerling vorschlug, Erzherzog Albrecht zum Präsidenten des Herrenhauses zu ernennen, was dieser jedoch ablehnte. Im Gegensatz zu der ausführlichen Darstellung der Betrauung Erzherzog Rainers mit der Leitung der Geschäfte des Ministerrates und des Präsidiums desselben37, gibt der Staatsminister in seinen Memoiren keine Gründe für diesen Schritt an38. Dabei wäre es sicherlich äußerst aufschlußreich, zu erfahren, was ihn zu diesem Vorstoß bewogen hatte.

Die Ministerratsprotokolle vom 7. Februar 1861 bis 30. April 1861 – Abgrenzung des Bandes und Interpretationsfragen - Retrodigitalisat (PDF)

Im Rahmen der Edition der Protokolle des Ministeriums Erzherzog Rainer – Schmerling stellte sich die Frage nach einer sinnvollen Abgrenzung des vorliegenden ersten Bandes, d. h. nach einer historisch vertretbaren Zäsur. Ursprünglich wurde daran gedacht, diesen Band mit dem Ministerratsprotokoll II vom 14. Juni 1861 enden zu lassen, da zu diesem Zeitpunkt eine Anzahl von wichtigen Beratungsgegenständen einer zumindest vorläufigen Erledigung zugeführt war, etwa die Aufnahme und Durchführung des Protestantenpatents vom 8. April 1861 in Tirol und Vorarlberg, die zwangsweise Steuerexekution in Ungarn oder die Grundsätze über die Regelung des Gemeindewesens. Außerdem kündigte sich am 13. Juni 1861 zum ersten Male die Auseinandersetzung zwischen Regierung und ungarischem Landtag an30.

Anläßlich einer Besprechung in Budapest im November 1975 wurde von den Mitgliedern des ungarischen Komitees für die Veröffentlichung der Ministerratsprotokolle auf die Bedeutung der Eröffnung des Reichsrates hingewiesen und damit die Frage verbunden, ob nicht mit diesem Datum (1. Mai 1861) der zweite Band beginnen könnte. Österreichischerseits wurde dieser Anregung dann Rechnung getragen.

Ergänzende Quellen zu den Ministerratsprotokollen - Retrodigitalisat (PDF)

Ähnlich wie für die Ära Belcredi stellte sich auch für die ersten Monate des Ministeriums Erzherzog Rainer – Schmerling die Frage nach Konferenzen, die neben den protokollarisch festgehaltenen Ministerratssitzungen abgehalten wurden. Anhand des im Nachlaß Folliot de Crenneville-Poutet vorhandenen Hofjournals und Tagebuches konnte für die Jahre 1865 und 1866 eine beträchtliche Anzahl solcher „inoffizieller“ Zusammenkünfte registriert werden. Bedauerlicherweise fehlt für das Jahr 1861 das Hofjournal, und die Tagebuchaufzeichnungen Crennevilles enthalten im Gegensatz zu 1865/66 keine Nachrichten über Ministersitzungen. Der Versuch, anhand der Akten oder Findbücher der Hofarchive (Zeremonielldepartement und Obersthofmeisteramt) bzw. der Kabinettskanzlei (Direktionsakten oder Korrespondenzakten) festzustellen, ob nicht — wie dies eben 1865 und 1866 der Fall war — neben den durch die Ministerratskanzlei protokollierten Konferenzen noch andere Ministerbesprechungen stattgefunden hatten, blieb ebenfalls ergebnislos.

Ebenso konnte ein anderes Problem nur in einem Fall gelöst werden. Zweifellos ließen die Minister (oder deren Stellvertreter), die Präsidenten der einzelnen Hofkanzleien, der Präsident des Staatsrates oder andere gelegentliche Teilnehmer der Ministerratssitzungen in ihren Ressorts schriftliche Unterlagen für die Konferenzen ausarbeiten. Diese Aufzeichnungen konnten nur in einem Fall gefunden werden. Es handelt sich dabei um die reziproke Zulassung der Küstenschiffahrt zwischen Österreich und Sardinien. Das von Max Freiherrn v. Gagern für Rechberg ausgearbeitete umfangreiche Konzept (und zwar für die Ministerratssitzung II v. 17. 2. 1861/V) hält die Ansichten des Finanzministeriums, der Central- Seebehörde und des Generalkonsuls v. Aussez fest, welche die gegenseitige Cabotage befürworteten31.

Quellenlage und Quellenauswahl für den Kommentar - Retrodigitalisat (PDF)

Was Umfang und Intensität der Kommentierung anlangt, gilt wie für die bisherigen Bände, daß der Schwerpunkt nicht sosehr auf historischem, sondern doch eher auf archivalisch-editorischem Gebiet liegt. Die Vielzahl der im Ministerrat erörterten Probleme läßt eine genaue Analyse und Interpretation dieser Fragen in dem einen oder anderen Fall nicht in vollem Umfang zu. Man braucht sich nur die Tagesordnung des Ministerrates II vom 30. März 1861 vor Augen zu halten, um den ganzen Umfang dieser Problematik zu begreifen. Wieviel Arbeitsaufwand ist etwa für die Auffindung von Berichten über das Einlaufen der englischen Kriegskorvette „Scourge“ in den Kriegshafen von Venedig sinnvoll vertretbar32? In diesem Zusammenhang muß man sich auch der Tatsache bewußt werden, daß es oft nicht leicht zu entscheiden ist, wie weit man einen Gegenstand zurückverfolgen soll, um dem Benützer dieser Edition jene Quellen angeben zu können, die zum Verständnis der im Ministerrat angeführten Argumente erforderlich sind.

Ein anschauliches Beispiel zu diesem Problem ist der Kommentar zum Ministerratsprotokoll II vom 23. März 1861. In dieser Sitzung wurde als dritter Punkt die Frage der zwangsweisen Steuereinhebung in Ungarn beraten. Der Kommentar beschränkt sich auf die wichtigsten Angaben, obgleich das in den Wiener Archiven zu dieser Frage vorhandene — bisher jedoch noch nicht verwendete — Material einen umfangreichen Aufsatz rechtfertigen würde. Die für den Kommentar heranzuziehenden Archivbestände sind dieselben, wie sie in der Einleitung zu Band VI/1 der Ministerratsprotokolle (Ministerium Belcredi) besprochen wurden33. Auch für diesen Band wurde als Ansatzpunkt der Bestand der Kabinettskanzlei gewählt, weil er der vielseitigste und geschlossenste ist und weil sich aus der Signatur der Akten dieses Archivkörpers auch viele Aktenbestände anderer Ministerien erschließen. Eine Änderung ergab sich nur insofern, als im Kommentar dieses Bandes primär auf die Originale der Vorträge und nicht auf die Extrakte der Kabinettskanzlei zurückgegriffen werden konnte. Dies geschah, da unter der Aktenzahl des Ministerialaktes häufig weiterführendes Quellenmaterial beigelegt ist bzw. auf Vor- oder Nachakten verwiesen wird. Überdies ist der Bestand der Kabinettskanzlei wegen der außergewöhnlich hohen Qualität seiner Register für den Benützer leichter zugänglich als die häufig durch äußere Einflüsse (Justizpalastbrand 1927, Kriegsschäden) oder durch Skartierung in Mitleidenschaft gezogenen Bestände anderer Wiener Archive34.

Im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv sind von fünf Mitgliedern des Ministeriums Erzherzog Rainer – Schmerling Nachlässe vorhanden, und zwar von Schmerling, Rechberg, Lasser, Plener und Pratobevera, die jedoch — mit Ausnahme der Memoiren Schmerlings — auf in diesem Band behandelte Themen nur ganz selten ausdrücklich Bezug nehmen. Was Schmerlings „Denkwürdigkeiten“ betrifft, so müssen ihnen zumindest für die Jahre 1860 bis 1865 neben anderen privaten Notizen auch äußerst genaue Aufzeichnungen über Ministerratssitzungen (wenn nicht vollständige Abschriften der Protokolle) zugrunde gelegen sein, denn es ist erstaunlich, wie oft seine Memoiren den Inhalt der Ministerratsprotokolle exakt wiedergeben35. Für den Kommentar wurden sie nicht herangezogen, da sie für die in diesem Band behandelte Periode keine neuen Fakten enthalten und da Schmerlings Interpretation der Ereignisse nur den Zweck verfolgte, seine Entscheidungen als unumgänglich nötig darzustellen.

Von anderen Beständen des Haus-, Hof- und Staatsarchivs wurde in größerem Umfang das Material des Informationsbüros und der Administrativen Registratur herangezogen. Die Bedeutung des ersteren Bestandes, besonders für die innere Geschichte der Donaumonarchie, wird erst seit geraumer Zeit voll zur Kenntnis genommen. Trotz umfangreicher Skartierungen (das Prinzip, nach welchem dabei vorgegangen wurde, konnte nicht eruiert werden) enthält diese Quellengruppe recht interessante Aktenstücke zur Verhaftung von Ladislaus Graf Teleki in Dresden und dessen Auslieferung nach Wien36 oder über die Stimmung der Bevölkerung in Südtirol37. Die Akten der Administrativen Registratur enthalten reiches Material über alle jene Belange, die nicht den Bereich der diplomatischen Berichterstattung oder der ungarischen Behörden betreffen. Auf eine eingehende Darstellung dieses Bestandes kann in diesem Zusammenhang verzichtet werden, da ein von R. Stropp verfaßter genauer Archivbehelf vor der Veröffentlichung steht.

Obwohl es keinem Zweifel unterliegt, daß die Ministerversammlung des Ministeriums Rainer – Schmerling wieder die Bezeichnung „Ministerrat“ führte — Erzherzog Rainer wurde am 4. Februar 1861 anstelle Rechbergs mit der „Leitung der Geschäfte des Ministerrates“ betraut, und die Formulierung des Konzepts „Ministerkonferenz“ wurde eigens auf „Ministerrat“ korrigiert38 —, führen viele Aktenstücke und auch die Ministerratsprotokolle selbst auf dem Mantelbogen und in der Einleitungsformel die Bezeichnung „Ministerkonferenz“. Erst mit dem Protokoll vom 23. März 1861 wird die verfassungsrechtlich korrekte Bezeichnung „Ministerrat“ wieder voll verwendet. Da es sich aber bei diesem relativ langen Festhalten an der seinerzeit aus politischen Gründen eingeführten Bezeichnung „Ministerkonferenz“ um ein nicht uninteressantes retardierendes Aktendetail handelt, wurde die in den Akten verwendete Bezeichnung beibehalten und nicht, wie es sachlich gerechtfertigt wäre, generell auf „Ministerrat“ normalisiert.