Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)

Von Stefan Malfèr

Krieg mit Sardinien und Frankreich – Von Buol-Schauenstein zu Rechberg - Retrodigitalisat (PDF)

Als der 53jährige, einer schwäbischen Familie entstammende österreichische Berufsdiplomat Johann Bernhard Graf v. Rechberg und Rothenlöwen am 19. Mai 1859 zum erstenmal der Ministerkonferenz präsidierte, vermutete wohl niemand, daß in seine Regierungszeit der Übergang Österreichs von der (neo)absolutistischen zur konstitutionellen Monarchie fallen würde. Seit drei Wochen befand sich Österreich im Krieg mit dem Königreich Sardinien-Piemont und mit dem Kaiserreich Frankreich zur Verteidigung des Besitzes des lombardisch-venezianischen Königreichs und indirekt der habsburgischen Sekundogenituren Großherzogtum Toskana und Herzogtum Modena. Auf dem Spiel stand aber noch mehr – die Verteidigung der Friedensordnung von 1815 und die Frage, ob das nationale oder das Legitimitätsprinzip gültig sein sollte, ein Streit, der noch lange nicht entschieden war1.

Daß dieser Krieg drohte, war seit Wochen und Monaten klar, spätestens seit der vielzitierten Ansprache Napoleons III. an den österreichischen Botschafter, Joseph Alexander Freiherr von Hübner, anläßlich des Neujahrsempfanges, als er wie aus heiterem Himmel bedauerte, daß die Beziehungen zwischen den beiden Reichen nicht mehr so gut seien, wie er es wünschte. Als der Krieg aber tatsächlich ausgebrochen war und es sich zeigte, || S. 10 PDF || daß Österreich von keiner der europäischen Großmächte unterstützt wurde, vielmehr isoliert dastand, wurde dies zum Rücktrittsgrund für Rechbergs Vorgänger Carl Ferdinand Graf Buol-Schauenstein, Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern seit Schwarzenbergs Tod 1852. Nicht ein militärischer Mißerfolg, sondern die offen zu Tage getretene Isolierung Österreichs unmittelbar nach Kriegsausbruch bewogen Kaiser Franz Joseph I., seinen Außenminister fallenzulassen und, auf den Rat des alten Staatskanzlers Metternich hin, durch Rechberg zu ersetzen. Ein Systemwechsel war damit nicht angesagt.

Die Forschung ist sich darüber einig, daß die Kriegsvorbereitungen in militärischer, finanzieller und diplomatischer Hinsicht ungenügend und vor allem unkoordiniert waren, als Österreich mit seinem Ultimatum vom 23. April Sardinien zur Abrüstung auf den Friedensfuß zwingen wollte. Das Gegenteil trat ein. Die ausweichende Antwort des sardinisch-piemontesischen Ministerpräsidenten Camillo Benso Conte di Cavour zwang Österreich zum Krieg. Cavour frohlockte, konnte er doch nur dann auf Napoleons III. Hilfe zählen, wenn Sardinien-Piemont angegriffen wurde. Dies war nun der Fall, und Österreich stand vor der europäischen Öffentlichkeit als Aggressor da2. Am 28. April begannen die österreichischen Truppen mit dem Einmarsch in Piemont.

Alles wäre wohl anders gekommen, wäre die Monarchie ein erfolgreicher Aggressor gewesen, wäre es dem Oberkommandierenden der kaiserlichen Armee in Lombardo-Venetien FZM. Franz Graf Gyulai nach dem österreichischen Kriegsplan gelungen, die Piemontesen in der südlich des Po und der Hügellandes von Monferrato gelegenen Ebene rund um die piemontesische Hauptfestung Alessandria zu schlagen, bevor Napoleon III. mit seinen Truppen zur Stelle war; oder wäre ein rascher Vorstoß in der nordwestlichen Poebene über die Flüsse Ticino, Sesia und Dora Baltea nach Turin gelungen. Keines von beidem geschah. Man hat den glücklosen Nachfolger des glücklichen Radetzky der Unentschlossenheit und Unfähigkeit geziehen. „Tatenlos blieb Gyulai durch Wochen in der Lomellina liegen“, faßte Friedjung 1912 die Ereignisse der ersten Kriegswochen zusammen3. Von „vierzehntägigem untätigen Verharren“ schrieb Schmidt-Brentano 1975, und: „Gyulai hatte also noch keinen Schritt getan, als seine noch vorher so großartig verkündete Absicht, offensiv vorzugehen, in das Gegenteil umschlug.“4

Die Enttäuschung über die Niederlage Österreichs hat wohl das Urteil der Zeitgenossen und ganzer Generationen von Militärhistorikern über die Fähigkeiten Gyulais beeinflußt. Tatsache ist, daß die Österreicher sehr bald Novara einahmen und an die Sesia gelangten. Tatsache ist, daß Anfang Mai starke Regenfälle die Flüsse unpassierbar machten und den || S. 11 PDF || österreichischen Vorstoß aufhielten5. Erwiesen ist ferner, daß Cavour Ende April in einer seit Jahren generalstabsmäßig vorbereiteten Aktion die Reisfelder im Vercellese, z.T. gegen den Widerstand der Reisbauern, systematisch überfluten ließ, sodaß sie für die schwere Artillerie unpassierbar wurden6. Tatsache ist, daß die Österreicher dennoch am 9. Mai an der Dora Baltea waren und die Piemontesen Turin unmitellbar bedroht sahen7. Inzwischen begannen freilich die französichen Truppen von Genua her nach Alessandria vorzurücken. Was hätte Gyulai die Einnahme Turins – abgesehen vom Prestigeerfolg – genützt ohne kräftigen Nachschub aus dem Hinterland. Unsicher geworden brach er den Vorstoß ab und verschanzte sich bei Novara, immer noch in feindlichem Gebiet stehend.

Als Rechberg am 19. Mai in der Ministerkonferenz „einen Überblick der gegenwärtigen politischen Lage des Kaiserstaates nach außen“ gab, war noch keine militärische Entscheidung gefallen, es war zu keiner Schlacht gekommen, Österreich war nicht nur unbesiegt, sondern auch unbesetzt, vielmehr befanden sich die österreichischen Truppen in Piemont. Rechberg hoffte mit mehr Erfolg als Buol die Großmächte England, Preußen und Rußland auf Österreichs Seite zu ziehen. Der Krieg sollte keinen lokalen Charakter behalten, sondern als Frage der Weiterbestandes der europäischen Friedens­ordnung angesehen werden8.

Die europäischen Mächte warteten aber ab. Gyulai, der den gemeinsamen französisch­piemontesischen Aufmarsch nicht mehr verhindern konnte, versuchte mit einer „forcierten Rekogniszierung“, also einem bewaffneten schnellen Kundschaftsmarch in Richtung Alessandria die Unsicherheit über die Stellung des Feindes und zugleich das Warten zu beenden. Am 20. Mai wurde der Vorstoß bei Montebello aufgehalten, die Österreicher hatten ihr erstes Gefecht verloren und zogen sich zurück. Ende Mai verließ Gyulai auch die Lomellina, das Gebiet zwischen Ticino und Sesia, und zog sich auf österreichisches Gebiet zurück, in Erwartung einer Schlacht. Am 4. Juni trafen die Heere bei Magenta am Ticino aufeinander, nachdem – ein weiteres Mißgeschick für die habsburgischen Truppen – die Sprengung der Eisenbahnbrücke über den Ticino mißlungen war9. || S. 12 PDF || Nach allgemeiner Erkenntnis ging diese Schlacht unentschieden aus. Nicht nur Gyulai, auch Napoleon III. verbrachte eine schlaflose Nacht, Gyulai aber entschied sich zur Preisgabe der Lombardei und zum Rückzug hinter den Mincio ins sichere Festungsviereck, wodurch Magenta tatsächlich zur Niederlage wurde10. Daß die Schlacht kein großer Sieg Napoleons war, geht auch daraus hervor, daß er keineswegs die Verfolgung der österreichischen Truppen aufnahm, sondern seine Truppen ordnete und erst ganze vier Tage später, am 8. Juni, gemeinsam mit Viktor Emanuel II. in die nahe lombardische Hauptstadt Mailand einzog.

Der Ausbruch des Krieges und die Mißerfolge der habsburgischen Truppen hatten sofort die befürchteten Auswirkungen auf die Sekundogenituren. Schon am 27. April 1859 sah sich Großherzog Leopold II. gezwungen, die Toskana zu verlassen, womit nach 122 Jahren die im ganzen erfolgreiche Herrschaft der Habsburg-Lothringen in Florenz endete11. Am 11. Juni flüchtete Herzog Franz V. aus Modena. Die habsburgische Herrschaft hatte hier weniger als ein halbes Jahrhundert gedauert12.

Die Enttäuschung in Österreich war natürlich groß. Ebensogroß war die unverhohlene Genugtuung bei den Ungarn, die nur durch eine Erschütterung des neoabsolutistischen „Bachschen“ Systems zu verfassungsmäßigen Zuständen zurückzukehren hoffen konnten13. Am 16. Juni wurde Gyulai als Oberbefehlshaber der II. Armee enthoben. Er war nach Buol das zweite, aber lange nicht das letzte Opfer der Ereignisse des Jahres 1859. Zwei Tage lang war GdK. Franz Graf Schlik interimistischer Befehlshaber, bis Kaiser Franz Joseph I., der am 29. Mai zum Kriegsschauplatz aufgebrochen war, am 18. Juni persönlich den Oberbefehl übernahm. Er hatte nicht viel Zeit, seine Truppen zu ordnen oder zu verstärken. Schon sechs Tage später, am Freitag, dem 24. Juni 1859, kam es im Hügelgebiet südlich des Gardasees zur denkwürdigen, für beide Seiten verlustreichen Schlacht von Solferino, die bekanntlich dem damals 27jährigen Genfer Geschäftsmann Henri Dunant den Anstoß zur Gründung des Roten Kreuzes gab. Beide Seiten zusammengezählt gab es rund 4000 Tote und 20.000 Verwundete. Die österreichischen Truppen wurden geschlagen und zogen sich über den Mincio und die Etsch ins sichere Festungsviereck zurück (Peschiera – Mantua – Legnago – Verona). Das Hauptquartier wurde nach Verona verlegt.

|| S. 13 PDF || Der 24. Juni wurde zwar zu einem „schwarzen Freitag“ für Kaiser Franz Joseph, dennoch war nur eine Schlacht verloren, noch nicht der Krieg. Was würden die nächsten Tage bringen? Niemand rechnete mit dem baldigen Ende des Krieges.

Ein kurzer Briefwechsel zwischen Hübner und seinem Freund Rechberg gibt beredtes Zeugnis von der Stimmung in diesen Wochen. Hübner schrieb am 11. Juni, eine Woche nach Magenta, aus Neapel:

„Lieber Freund, [. . .] Wie auch immer die Kriegsereignisse sich wenden, wir dürfen jetzt keinen Frieden machen, wir müssen die Vermittlungsvorstöße zurückweisen. Dieser Entschluß des Kaisers scheint, wie aus Ihrem Briefe hervorgeht, fest zu stehen. Darüber freue ich mich.“14

Rechbergs Antwort vom 28. Juni, vier Tage nach der Schlacht von Solferino:

„Lieber Freund! [. . .] Der Mangel an militärischen Successen ist ein schweres Unglück. Es nützt aber nichts, über das, was nicht mehr zu ändern ist, Glossen zu machen. Wir müssen die Tatsachen, wie sie sich darstellen, annehmen und auf dieselben die weiteren Pläne stützen. Die Lage ist zwar sehr ernst, aber der Mut und die Entschlossenheit sind ungebrochen und hiemit ist schon Vieles gewonnen – nur wer sich selbst aufgibt, ist verloren.“

Am 9. Juli replizierte Hübner:

„Lieber Freund, [. . .] Ihr Brief vom 28. v. M. ist mir aus der Seele geschrieben. So ist es: nur wer sich selbst aufgibt ist verloren. ‚Der Mut und die Entschlossenheit sind ungebrochen!‘ sagen Sie. Dies sind goldene Worte. Auch in Italien scheint man dies zu fühlen, und die Verluste des Feindes in der letzten Schlacht, die er selbst auf nahebei 20.000 angibt, haben hier zu Lande die Achtung vor Österreich sichtlich gehoben, [. . .] Gestern haben wir hier von einem Waffenstillstande gehört, welcher zwischen den beiden Kaisern in Verhandlung wäre. Ich zerbreche mir den Kopf, um mir die so unerwartete Nachricht zu erklären. [. . .] das Wort Waffenstillstand hat mich die ganze Nacht wie ein Alp gedrückt. [. . .]“.

Tatsächlich waren die Würfel für die überraschende Beendigung des Krieges schon gefallen. Österreich hatte die diplomatischen Bemühungen um mögliche Bundesgenossen, vor allem Preußen, und um die Europäisierung des Konflikts15 im Dienste der Verteidigung des Legitimitätsprinzips fortgesetzt, war aber auch auf diesem Felde erfolglos geblieben. Berlin hatte am 14. Juni die Teilmobilmachung der Armee angeordnet und zugleich auf dem Umweg über St.Petersburg eine Vermittlungsaktion eingeleitet. Erst Anfang Juli schien die volle Mobilmachung bevorzustehen. Die Doppelaktion der keineswegs in sich einigen preußischen Führung16 hatte eine Abkühlung der Streitparteien zur Folge. Napoleon III. wollte nämlich auf das Risiko eines Krieges am Rhein nicht eingehen; für Franz Joseph bedeutete die Vermittlungsaktion, daß Preußen nicht an der Seite Österreichs in den Krieg ziehen würde, bloß um Österreichs Rechte zu verteidigen, || S. 14 PDF || sondern nur dann, wenn es seine Stellung im Deutschen Bund auf Kosten Österreichs stärken konnte. Daran änderte auch die Entsendung des alten Feldmarschalls Fürst Alfred Windischgrätz nach Berlin nichts mehr, der am 3. Juli in der preußischen Hauptstadt eintraf17. Allein war aber der vorläufig übermächtige Gegner Frankreich nicht zu besiegen, die Gefahr, auch noch Venetien zu verlieren, war groß. Beide Kontrahenten hatten also gute Gründe, den Krieg abzubrechen. Beide hatten aber auch gute Gründe, einer Vermittlungsaktion auszuweichen: Napoleon, weil das mit Cavour paktierte Kriegsziel noch nicht erreicht war; Franz Joseph, weil ein europäischer Kongreß unweigerlich die ganze italienische Frage und das Legitimitätsprinzip aufgerollt hätte. So waren beide Kaiser zu einem raschen Separatfrieden bereit. Den ersten Schritt unternahm Napoleon III. am 6. Juli, indem er folgendes Schreiben an Franz Joseph ins österreichische Hauptquartier bringen ließ:

„Es wurde mir aus Paris mitgeteilt, daß eine Großmacht bemüht ist, den Kriegführenden einen Waffenstillstand in Vorschlag zu bringen. Wenn dieser Vorschlag angenommen würde, so wünschte ich davon benachrichtigt zu werden, um der zum Angriff auf Venedig sich vorbereitenden Kriegsflotte den Befehl zu erteilen, ihre Operationen sofort einzustellen, da es unsere Pflicht ist, jedem unnützen Blutvergießen Einhalt zu tun.“18 Franz Joseph nahm das versteckte Waffenstillstandsangebot auf und antwortete am 7. Juli:

„Obgleich ich noch keine Nachricht erhalten habe, daß ein Waffenstillstand von einer dritten Macht uns vorgeschlagen werden wird, so teile ich doch den von Euer Majestät ausgedrückten Wunsch, jedes unnütze Blutvergießen zu vermeiden, zu sehr, als daß ich zu einer direkten Verhandlung behufs Einstellung der Feindseligkeiten die Hand nicht bieten möchte, wofern dies in der Absicht Euer Majestät gelegen. In diesem Falle würde ich vorschlagen, die behufs Festsetzung der Dauer und Bedingungen zu einem Waffenstillstande zu betrauenden Kommissäre in Villafranca zusammentreten zu lassen.“19

Schon am nächsten Tag, am 8. Juli, wurde in Villafranca der Waffenstillstand geschlossen. Drei Tage später, am 11. Juli, wurden ebenfalls in Villafranca die Friedenspräliminarien unterzeichnet20. Kaiser Franz Joseph I. konnte angesichts der militärischen Niederlage einigermaßen zufrieden sein. Zwar hatte er den größten Teil einer wertvollen Provinz verloren – die lombardischen Teile des Festungsvierecks, Mantua und Peschiera, konnte er behalten –, aber er hatte aus der damaligen Sicht der Dinge die österreichischen Ansprüche in Italien weitgehend gewahrt, ohne die Stellung Österreichs gegenüber Preußen im Deutschen Bund bzw. auf gesamteuropäischer Ebene durch einen Kongreß irgendwie zu schmälern. Die Lombardei hoffte er zurückerobern zu können21.

|| S. 15 PDF || Vergebens hatte Erzherzog Albrecht am 8. Juli in einem Telegramm an den Generaladjutanten des Kaisers Graf Grünne ins Hauptquartier nach Verona mit dem lateinischen Zitat gewarnt: „Timeo Danaos et dona ferentes“22. Vergebens war Hübners oben zitiertes Kopfzerbrechen. Vergebens die Wut des Ministers Graf Leo Thun – der Friede sei eine Schmach –, von der Polizeiminister Kempen erzählt, worauf wir gleich zurückkommen.

Vergebens war übrigens auch die Wut des italienischen Ministerpräsidenten Cavour, der sich um die Früchte seiner Politik geprellt sah, sein Amt zu Verfügung stellte und sich für ein halbes Jahr verbittert zurückzog23.

Rechberg hatte die entscheidenden Tage im Hauptquartier in Verona verbracht. In den wenigen Ministerkonferenzen, die in den ersten Julitagen stattfanden, präsidierte der Minister des Inneren Bach. Am 14. Juli kehrte Rechberg zurück. Das kurze Protokoll der Ministerkonferenz an diesem Tag verzeichnet nur zwei eher marginale Punkte. Was sich außer Protokoll abspielte, erfahren wir von Kempen:

„14. Juli [. . .] Graf Rechberg war heute aus Verona zurückgekehrt und wollte der Ministerkonferenz präsidieren. Deshalb fand ich mich dort ein. Der Graf erzählte die Genesis des Friedens; seine Notwendigkeit ging aus der gänzlichen Unvorbereitetheit zum Kriege hervor. Als der Entwurf eines Manifestes an die Völker Österreichs, verfaßt und vorgelesen von Hofrat Thierry, angehört ward, sprach sich Graf Thun in so greller und verletzender Weise über den Friedensschluß aus – er nannte ihn eine Schmach – , daß ich Rechbergs Ruhe nicht begriff. Minister Bach schwieg schlau und ich beschränkte mich darauf, das Manifest kürzer abgefaßt zu wünschen.“ 24

Mit dieser Sitzung endet der erste Teil von Rechbergs Zeit als Vorsitzender der Konferenz und überhaupt der erste Teil des vorliegenden Bandes, der Kriegsteil sozusagen. Erst sechs Wochen später, am 23. August, trat die Konferenz wieder zu einer ordentlichen Sitzung zusammen. Bevor wir auf diese wichtigen sechs Wochen und auf die „Ministerkrisis“ (Kempen), die in diese Zeit fiel, zu sprechen kommen, ist noch etwas über die Kriegsperiode zu sagen.

Was bisher in gedrängter Kürze als notwendiger Hintergrund skizziert wurde, ist in der Literatur ausführlich behandelt worden, nämlich die Ursachen des italienischen Krieges von 1859, die diplomatischen Bemühungen vor und während des Feldzugs, die militärischen Ereignisse und die Gründe für Österreichs Mißerfolg25. || S. 16 PDF || All das war aber nicht das vorherrschende Thema der Diskussionen in den Ministerkonferenzen, auch wenn Rechberg erstaunlich oft seine Kollegen über die äußere Lage informierte. Das neoabsolutistische Beratungsgremium war nicht das Forum für außenpolitische oder militärstrategische Entscheidungen26. Wenn es der Kaiser für notwendig befand, zur Beratung dieser Fragen eine Konferenz einzuberufen, dann fand sie außer der Reihe statt27. Auch 1859 gab es solche Konferenzen, und zwar vor Ausbruch des Krieges von Jänner bis April. An ihnen nahmen nicht alle Minister teil, dafür der Chef des Generalquartiermeisterstabes (d. i. der Generalstabschef) FZM. Heinrich Freiherr v. Hess und der Generaladjutant des Kaisers Grünne. Bezeichnenderweise liegen die Protokolle dieser wichtigen Konferenzen nicht in der Reihe der Ministerkonferenz- bzw. Ministerratsprotokolle in der Kabinettskanzlei, sondern in einer Sonderreihe der Militärkanzlei, und sie tragen keine Aktenzahl28. Hier wurde die Frage erörtert, ob die Monarchie Krieg führen sollte oder nicht, hier wurden die diplomatischen Optionen und der Stand der militärischen Vorbereitungen diskutiert.

Die Protokolle der ordentlichen Reihe dagegen eröffnen die Sicht auf die zivilen Auswirkungen des Kriegs. Aus ihnen erfahren wir etwas über die Stimmung der Bevölkerung, || S. 17 PDF || über Presse und Propaganda, über das Kommunikationswesen, über Versorgung, und nicht zuletzt über den nervus rerum, die Finanzen29.

Der Krieg in den Beratungen der Ministerkonferenz - Retrodigitalisat (PDF)

Eine kleine Statistik über die Themen der Ministerkonferenzen mag die unmittelbaren Auswirkungen des Feldzugs auf das Hinterland veranschaulichen. Von den 86 Besprechungspunkten der 23 Sitzungen zwischen dem 19. Mai (Übernahme des Vorsitzes durch Rechberg) und dem 14. Juli 1859 (letzte Sitzung des Kabinetts vor der Neubestellung) handelten nur 17, also nur ein Fünftel, von routinemäßigen Verwaltungsgegenständen, die mit dem Krieg nichts zu tun hatten. Die anderen 69, also vier Fünftel bezogen sich auf den Krieg. 9 betrafen die Kriegsfinanzierung; 15 die Auswirkungen des Kriegs auf den Gang der Verwaltung und auf die Beamten, darunter mehrere über präventive Maßnahmen für den Fall einer Invasion der feindlichen Truppen auf dem Seeweg im Küstenland und in Dalmatien; 14mal stand die Schiffahrt auf der Tagesordnung; 17mal beriet die Konferenz über das Telegrafenwesen und über die Presse, also Fragen der Kommunikation und Propaganda; die übrigen 14 Besprechungspunkte handelten über verschiedene allgemeine Themen im Zusammenhang mit der Kriegssituation.

Bei allen diesen Gegenständen ist als Tendenz festzustellen, daß die Mehrheit der zivilen Minister bemüht war, militärische Gesichtspunkte nicht überzubewerten und die Auswirkungen des Krieges gering zu halten.

Ein Beispiel dafür ist die Entscheidungsfindung über die Handhabung von Privattelegrammen. Innenminister Bach verlangte am 3. Mai das Verbot der Verbreitung und Veröffentlichung von Privattelegrammen mit beunruhigenden Nachrichten: „Unrichtige, verfälschte oder erdichtete Telegramme über politische und Kriegsereignisse sind geeignet, im Publikum, das vorzugsweise ihnen seine Aufmerksamkeit schenkt, Beunruhigung und Aufregung zu verursachen, und keine Repressivmaßregel ist imstande, das einmal angerichtete Unheil zu beheben. Unterstützt vom Finanzminister, der seinerseits den verderblichen Einfluß der aus unlautern Quellen geschöpften Nachrichten auf den öffentlichen Kredit bestätigte, trug der Minister des Inneren auf die Beschränkung solcher Veröffentlichungen an.“30 Bach berief sich später darauf, daß ihn der Kaiser persönlich dafür verantwortlich gemacht hatte zu sorgen, daß durch die Veröffentlichung von telegrafischen Nachrichten die Ruhe im Inneren nicht gefährdet werde31. Aber Handelsminister Toggenburg, Justizminister Nádasdy und selbst der Chef der Obersten Polizeibehörde Kempen fanden ein solches Verbot für unangemessen. Die Ministerkonferenz wählte als Ausweg die Einsetzung einer Kommission. Am 24. Mai urgierte Toggenburg eine Entscheidung. Die Kommission sei zu keiner Einigung gekommen. Er habe zwar ungünstige Telegramme zurückgehalten, fühle sich aber zu einer solchen präventiven || S. 18 PDF || Polizeimaßregel weder berufen noch berechtigt. Er wies auch auf die Nutzlosigkeit hin, da schlechte Nachrichten spätestens 24 Stunden später in ausländischen Zeitungen zu lesen seien32. Eine Woche später – man ist versucht zu sagen, rechtzeitig vor Magenta – rang man sich zu einem Beschluß durch. Ob er ausgeführt wurde, ist nicht bekannt33. Das Fazit der Diskussionen ist jedenfalls, daß man angesichts der Tatsache, daß die Minister einen Monat für diesen Beschluß brauchten, von einer energischen und entschiedenen Zensur der Publikation von Privattelegrammen gewiß nicht reden kann. Auch in der Frage, ob der internationale Telegrafenverkehr aufrechtzuerhalten sei, setzte sich die gemäßigte Linie durch. Nur chiffrierte Telegramme aus Frankreich in den Orient ließ man nicht mehr durch34. Ähnlich schwankend-vorsichtig verlief die Diskussion, ob das evangelische Konsistorium in Wien ein „Kriegsgebet für die Einheit der Gesinnung Deutschlands“ anordnen dürfe oder nicht. Man entschied sich, es den Gemeinden freizustellen bei gleichzeitigem Hinweis auf die Bedenken. Die generelle Anordnung wurde untersagt35.

Entschiedener trat die Konferenz für die Interessen der freien Küstenschiffahrt und überhaupt der Handelsschiffahrt ein. Toggenburg wandte sich energisch gegen die Bestrebungen der Militärs, sie zu verbieten. Dies komme einer Selbstblockade gleich. Die Bevölkerung Dalmatiens sei auf die Versorgung mit Lebensmitteln von der Küste her angewiesen, und ein allgemeines Verbot des Auslaufens österreichischer Schiffe aus den österreichischen Häfen, nur um sie vor Kaperung zu schützen, sei „der gänzliche Ruin unserer Handelsschiffahrt“ und könne nicht befürwortet werden36. Die Beschränkungen für die Schiffahrt wurden auch innerhalb weniger Tage nach Abschluß des Waffenstillstandes aufgehoben37. Ebenso klar trat man für die Respektierung französischen, also feindlichen Eigentums auf einem österreichischen Schiff ein38. Auf die geradezu skurrile Anfrage des Statthalters in Galizien Gołuchowski an den Innenminister Bach Anfang Juni, ob die Ausfuhr von eichenen Faßdauben nach Frankreich, vermutlich zur Herstellung „feindlicher Proviantfässer“ bestimmt, gestattet werden könne, zögerte Bach keinen Augenblick, die Ausfuhr zu bewilligen, weil zu einem Verbot kein hinreichender Grund vorliege39. (Keiner von beiden konnte zu diesem Zeitpunkt wissen, daß der Statthalter bald dem Minister im Amt nachfolgen würde.)

Der Erfolg der Bemühungen der Ministerkonferenz, die Auswirkungen auf das Hinterland gering zu halten, kann angesichts der Kürze des Krieges kaum überprüft werden. Ein Feldzug, der erst wenige Wochen dauerte, konnte das Leben in einem großen Staat nicht grundlegend verändern. Wohl aber beeinflußte sein Verlauf die öffentliche Stimmung. Es war ein ungewöhnlicher, bemerkenswerter Schritt der Ministerkonferenz, daß sie der öffentlichen Meinung beim Kaiser einen zwar untertänigen, aber zugleich || S. 19 PDF || unmißverständlichen Ausdruck verlieh. Dies geschah am 9. Juni, wenige Tage nach der Schlacht bei Magenta und am Tag nach dem Einzug der siegreichen Alliierten in Mailand. Ernst und feierlich beginnt das Protokoll, die Konferenz scheint durch die Nachrichten wie aufgerüttelt:

„Über Antrag des Kultusministers wurde einstimmig beschlossen, daß die Ministerkonferenz sich während der Dauer der gegenwärtigen ernsten Zeitverhältnisse regelmäßig, und zwar auch wenn kein spezieller Gegenstand eine Beratung erheischt, am Dienstag, Donnerstag und Samstage jeder Woche zum Austausch von Wahrnehmungen und zur fortgesetzten persönlichen Verständigung über Inzidenzfälle versammle.“

Hier war ein neues Selbstbewußtsein erwacht, das sich im nächsten Beratungspunkt fortsetzte. Jeder Minister berichtete über die Stimmung der Gemüter in seinem Beobachtungskreis. Das offensichtlich stark raffende Protokoll klingt mit dem feierlich als „heilige Pflicht“ bezeichneten Beschluß aus, „diese Wahrnehmungen über die öffentliche Stimmung mit aller Freimütigkeit ehrfurchtsvoll zur Ah. Kenntnis zu bringen, und der vorsitzende Minister des Äußern übernahm die Erstattung des diesfälligen au. Vortrages“. Was hier geschah, war eine kleine Revolution, der Beginn des Aufstiegs der nach Schwarzenbergs Tod beiseitegeschobenen, zur „Konferenz“ degradierten Ministerversammlung. Das geht vielleicht nicht unmittelbar aus dem Protokoll hervor, wohl aber deutlich aus dem Vortrag, den Rechberg im Auftrag der Konferenz erstattete. Alleruntertänigst wurde in diesem Vortrag vom 10. Juni 1859 nichts weniger als die Absetzung des Kommandierenden der italienischen Armee verlangt, ein klarer Eingriff in die kaiserliche Prärogative. Wenige Wochen, und Rechberg würde wieder den Titel Ministerpräsident tragen, und weniger als zwei Jahre, und die Versammlung würde wieder „Ministerrat“ heißen, so wie vom Revolutionsjahr 1848 an bis 1852.

Rechberg berichtete im Vortrag vom 10. Juni über den bedauerlichen Eindruck, den die Nachrichten vom Kriegsschauplatz in Wien und in den Provinzen, „namentlich in Pest“, hervorgerufen hatten. Von Besorgnis, Aufregung und Erbitterung ist die Rede. Sie richte sich nicht gegen die Truppe, sondern gegen die „unglückliche Führung der Operationen“. Bei weiteren Mißerfolgen würde sich diese Erbitterung zu einer bedenklichen Höhe steigern. Dann der zentrale Satz: „Da sie sich jedoch bis jetzt noch einzig und allein gegen die Person der Oberkommandanten FZM. Grafen v. Gyulai richten, so würden, falls ein Wechsel im Oberkommando eintrete, auch ferner nachteilige Berichte vom Kriegsschauplatze eine weniger ungünstige Aufnahme finden.“ Im Klartext: Gyulai war abzuberufen, sonst könnte leicht eine Revolution in Ungarn ausbrechen. Fast begütigend fuhr Rechberg fort, daß die Bevölkerung noch zu allen Opfern bereit sei. Dann erhöhte er wieder den Druck: „Dieser Gegenstand wurde ziemlich lange und heftig besprochen.“ Der folgende Satz klingt wie eine Captatio benevolentiae: „Ich bemerkte meinen Kollegen, daß es der Ministerkonferenz nicht zukomme, über militärische Operationen ein Urteil zu fällen, daß es aber ihre Pflicht sei, über die Stimmung der Bevölkerung Eurer Majestät ehrerbietigsten Bericht zu unterlegen.“ Die Konferenz beauftragte Rechberg einstimmig, diesen „Bericht“ zu erstatten40. Nicht der Umstand, daß Gyulai sechs Tage später tatsächlich enthoben wurde, ist so bemerkenswert, sondern daß || S. 20 PDF || die Ministerkonferenz aus eigenem und in Überschreitung ihrer Kompetenzen seinen Kopf forderte41. Sie tat es aus einem hochpolitischen Grund, nämlich aus Angst vor einer Revolution in Ungarn.

Ein anderer ebenfalls höchst wichtiger Beratungsgegenstand lag durchaus im Wirkungsbereich der Konferenz: die Finanzen. Schon im Vorfeld hatte die Kriegsfinanzierung eine wichtige Rolle gespielt. Finanzminister Bruck war dabei aus guten Gründen bemüht, die Ausgaben möglichst niedrig zu halten. Im Vorjahr war es ihm endlich gelungen, die seit langem eingestellte Konvertierbarkeit der Währung wiederherzustellen, also den jederzeitigen Umtausch von Banknoten in klingende Münze, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Sanierung der Finanzverhältnisse des stark verschuldeten Staates. Neue außerordentliche Ausgaben und die erneute Inanspruchnahme der Nationalbank – stets das rascheste Mittel zur Geldbeschaffung – gefährdeten die Währungssanierung. In zähen und mühsamen Verhandlungen hatte sich die Regierung seit dem Akutwerden der Kriegsgefahr zu Jahresbeginn bis Mitte Mai zu folgendem Bündel von Maßnahmen durchgerungen42. Die wichtigste Maßnahme war die Genehmigung zur Aufnahme einer Anleihe von 200 Millionen Gulden ö. W. und die sofortige Belehnung dieser seinerzeit zu begebenden Anleihe bei der Nationalbank bis zu zwei Dritteln ihres Nennwertes, also 133 Millionen Gulden. Daneben wurden beschlossen und genehmigt: die Einhebung der Steuer auf Zinserträge von Obligationen direkt bei der Auszahlung, Kuponsteuer genannt; die Sistierung der erst im Vorjahr wieder eingeführten Umtauschpflicht der Nationalbank, um den Silberabfluß bei der Bank zu unterbinden; die Einhebung der Zölle in Silber; Zuschläge zu den direkten und indirekten Steuern, und die Einhebung einer Silberzwangsanleihe in Lombardo-Venetien. Dieses Kronland war ja, anders als die übrigen Teile der Monarchie, ein Land mit Silberwährung. Die Bevölkerung hatte sich stets geweigert, Papiergeld anzunehmen. Es wurden auch alle Zahlungen des Staates, z. B. die Beamtengehälter und die Zahlungen für die Armee in Silber geleistet. Um dieses Silber wieder abzuschöpfen und weil eine freiwillige Anleihe wenig Aussicht auf Erfolg hatte, war man auf das Auskunftsmittel der Silberzwangsanleihe gekommen. Alle diese Maßnahmen waren zwar wichtige Ergänzungen, aber nur die Belehnung der zukünftigen neuen Anleihe bei der Nationalbank brachte rasch das für die Mobilisierung und Verpflegung der Armee notwendige Geld.

Da die Kriegsführung in Italien aus den genannten Gründen viel Silber erforderte, bemühte sich Bruck ab Mitte Mai auch um ausgabenseitige Entlastung. Damit sind wir beim ersten Protokoll dieses Bandes. Der umfangreichste Tagesordnungspunkt war nicht etwa der Bericht des neuen Vorsitzenden Rechberg über die äußere Lage der Monarchie, sondern der Vorschlag Brucks, die Auszahlungen der Zinsen der Nationalanleihe von 1854 in Silber für die Kriegsdauer zu sistieren und statt dessen Obligationen auszugeben. || S. 21 PDF || Trotz schwerer Bedenken der Konferenz – Bach und Nádasdy sprachen von „Wortbruch“ – und später des Reichsrates wurde die Maßnahme beschlossen und sanktioniert43. Denselben Zweck verfolgte Brucks Vorschlag in der Konferenz am 31. Mai, in Lombardo-Venetien Kassaanweisungen auf die beschlossene Silberzwangsanleihe auszugeben, die von jedermann als Zahlungen anzunehmen seien. Das war der versteckte Versuch, in diesem Kronland endlich Papiergeld einzuführen. Obwohl die Konferenz und dann der Reichrat zustimmten, scheiterte die Maßnahme, einerseits weil schon eine Woche später die Lombardei geräumt werden mußte und damit die Zwangsanleihe im halben Kronland uneinbringlich wurde, andererseits weil sich die Bevölkerung hartnäckig weigerte, diese „Vaglien“ anzunehmen. Die Leidtragenden waren die Beamten, deren Gehälter nun mittels dieser Scheine bezahlt wurden. Der sofort eintretende Kursverfalls und damit Kaufkraftverlust bewirkte eine faktische Gehaltsreduktion um ein Drittel, ein Problem, das in der Ministerkonferenz auch nach dem Krieg noch zur Sprache kam. Erst im November wurden die Gehaltszahlungen für alle Staatsdiener in Venetien wieder in Silber geleistet44.

Die militärisch-diplomatische Entwicklung im Lauf des Monats Mai veränderte auch die Situation der Finanzen. Ein lokaler Krieg in Italien mit dem Ziel, die Piemontesen zu schlagen, bevor die französichen Truppen zur Stelle waren, kostete weniger Geld, als ein europäischer Krieg an Po, Rhein und in der Adria. Als die zweite Variante wahrscheinlicher wurde und das Armeeoberkommando die Vorbereitungen dazu in Angriff nahm, begann Finanzminister Bruck, anstatt einfach neue Finanzierungsvorschläge zu machen, zu warnen und Widerstand zu leisten. Die Wortwahl in der Konferenz vom 26. Mai und dann am 28. Mai im Beisein des Kaisers war drastisch. Zu diesem Zeitpunkt war noch keinerlei militärische Entscheidung gefallen. Bruck sprach von „schwierigster Lage“, „größten Opfern“, „finanziellem Ruin“, „drohender Aussicht“, „Erschöpfung“ und „unerschwinglichen Lasten“45. Franz Josephs Entscheidung war in formaler Hinsicht ein ausgleichender Schiedsspruch. Er gab vor, weder den Standpunkt der fordernden Militärs noch den des warnenden Finanzministers einzunehmen, sondern den übergeordneten politischen Gesichtspunkt. In Wahrheit trat er damit auf die Seite der Armee, indem er einen europäischen Krieg als notwendig hinstellte. Bruck blieb nichts anderes übrig, als zu versichern, „er werde tätigst bemüht sein, die Mittel zur Bestreitung der unvermeidlich gewordenen Vermehrung der k.k. Armee auf die mindest lästige Weise sicherzustellen“.

Als Bruck einen Monat später, am 5. und 7. Juli, der Ministerkonferenz konkrete Vorschläge unterbreitete, wie die erforderlichen gigantischen Summen aufgebracht werden könnten, || S. 22 PDF || und eine heftige Debatte ausbrach, handelte es sich freilich nur mehr um eine akademische Diskussion: nach den beiden inzwischen verlorenen Schlachten und nach der Gewißheit, daß es mangels Bündnispartnern zu keinem großen europäischen Krieg gegen Frankreich kommen werde, schloß Franz Joseph, wie oben dargestellt, den Waffenstillstand von Villafranca. Trocken verzeichnet das Konferenzprotokoll vom 14. Juli die Rücknahme der Vorschläge durch den Finanzminister. Österreich hatte eine Provinz verloren, Bruck aber war der unmöglichen Aufgabe enthoben, eine Anleihe von 500 Millionen Gulden aufzulegen. Als der Kaiser das Protokoll der Konferenz vom 5. und 7. Juli zur Kenntnis nahm – er tat es am 19. Juli –, war alles schon vorbei.

Dennoch ist das Protokoll der Sitzungen vom 5. und 7. Juli 1859 ein überaus interessantes Aktenstück. Bruck verband nämlich seine Finanzierungspläne mit dem Vorschlag, Vertrauensmänner einzuberufen. Dagegen erhob sich ein Sturm der Ablehnung seitens aller Minister. Am schärfsten formulierte es Bach: „Soviel ist gewiß, daß die fragliche Einberufung den nur zu häufig hervortretenden Wünschen nach konstitutionellen Einrichtungen nur Nahrung geben werde.“ Damit war das entscheidende Zukunftswort gefallen, das hinter den Diskussionen der folgenden Wochen nach dem Laxenburger Manifest vom 15. Juli 1859, mit dem der Kaiser seinen Völkern das Ende des Krieges mitteilte, und überhaupt der folgenden Monate lauerte. Die Wortkette Armeeaufwand – Krieg – Staatsschulden – Kreditaufnahme führte über kurz oder lang unweigerlich zum Ruf nach Kontrolle und Mitbestimmung derer, die zahlten, sowohl der Bankiers als der Steuerzahler, und damit zum Ruf nach politischen Reformen. Bruck war nur der erste, der es aussprach. „Zeitgemäße Verbesserungen in Gesetzgebung und Verwaltung“ hieß es in der verschleiernden, für die interessierten Zeitgenossen aber bedeutungsschweren Sprache des Laxenburger Manifestes, mit dem nach dem Jahrzehnt des Neoabsolutismus die Wende zu den Jahren der Verfassungsexperimente eingeleitet wurde.

Exkurs: Der Krieg und die Technik - Retrodigitalisat (PDF)

Der Kriegszustand dauerte vom 28. April bis zum 8. Juli 1859. Es war ein kurzer Feldzug mit langfristigen Auswirkungen. Sie waren nicht nur politischer Art. Erwähnt wurde bereits die Gründung des Roten Kreuzes. Daneben gab es auch technische Aspekte. Es war der erste Krieg, in dem die Eisenbahnen eine strategische Rolle spielten. Schon die ältere Literatur war sich dessen bewußt46. Nunmehr liegt eine ausführliche Untersuchung zu diesem Thema vor47.

Das Eisenbahnnetz war überall in starker Ausdehnung begriffen. Der überraschend schnelle Truppenaufmarsch der Franzosen, der den Plan Gyulais, die Piemontesen allein zu schlagen, durchkreuzte, war eine direkte Folge des guten und reibungslos funktionierenden französischen Bahnnetzes. Auch die Habsburgermonarchie besaß bereits ein || S. 23 PDF || beträchtliches Netz. Insgesamt fuhren auf den österreichischen Bahnen von Jänner bis Juli 1859 über 10.000 Militärzüge, die 3,5 Millionen Soldaten, 327.000 Pferde, 99.000 Ochsen, 32.000 Fuhrwerke, 5777 Geschütze und 6 Millionen Zentner Güter beförderten48.

Allerdings war Lombardo-Venetien und damit der aktuelle Kriegsschauplatz noch nicht mit dem Zentrum der Monarchie verbunden, sodaß Nachschub und Truppentransport mehr Zeit in Anspruch nahmen. Die Brennerbahn war erst im Bau, und auch wenn gerade vor dem Krieg die kurze Teilstrecke Bozen-Trient und mitten im Krieg die Strecke Trient-Verona eröffnet werden konnte, fehlte die Verbindung über den Brenner. Innsbruck selbst war nur über Bayern mit dem Zentrum der Monarchie verbunden. Vor allem aber fehlte die Verbindung zwischen der wichtigeren, weil schon ausgebauten Südbahn und dem italienischen Netz. Zwischen Nabresina nördlich von Triest, wo die Südbahn vom Karst herabsteigend die Adria erreichte, und Casarsa zwischen Pordenone und Udine am westlichen Ufer des Tagliamento klaffte eine über 100 km lange Lücke, einschließlich der wichtigen Brücke über den Tagliamento. Dazu kam, daß das Fuhrwesen nicht ausreichend organisiert war, um die eintreffenden Nahrungsmittel weiterzuliefern. So kam es zu schwierigen, z. T. chaotischen Zuständen in den Endbahnhöfen. Zum Beispiel vegetierten noch Ende Juli von den über Wien zugeführten Schlachtochsen 7828 Stück abgemagert in Casarsa auf abgefressenen Wiesen, ohne daß sie verwendet oder weitertransportiert werden konnten49. Die Telegrafie, die zweite neue Technik in diesem Krieg, vollbrachte erstaunliche Leistungen, konnte aber auch zu einer Quelle von Mißverständnissen werden. Es kam sogar zu Zugsunglücken durch falsche Übermittlung von Zeit- und Ortsangaben. Die fehlenden Eisenbahnlinien sowie die mangelnde Koordination zwischen Eisenbahn, herkömmlichem Fuhrwesen und Telegrafie zählten somit zu den Ursachen für Österreichs militärische Unterlegenheit.

In der Ministerkonferenz kamen Eisenbahnfragen mehrmals zur Sprache. Das grundsätzliche Problem sprach FZM. Hess am 28. Mai an: „Dermal sind wir auf dem italienischen Kampfplatze noch um etwa 36.000 Mann schwächer als unser Gegner, und wegen der langsamen Beförderung auf unseren bloß einspurigen und in Friaul wie in Tirol unterbrochenen Eisenbahnen wird sich diese Ungleichheit erst bis Ende Juni beheben lassen.“50 Wiederholt wurde nach dem Krieg die Fertigstellung der Strecke Nabresina-Casarsa urgiert51. Ein anderes Problem war die Frage der Sicherheit der Eisenbahnen. Kaiser Franz Joseph selbst forderte „die sorgfältigste Überwachung der guten Instandhaltung“ der zum Truppentransport verwendeten Bahnen52. Auch die politische Zuverlässigkeit wurde zum Thema. Der Chef der Obersten Polizeibehörde Kempen hatte angeregt, „daß die höheren Funktionäre an der Südbahn, insoweit sie Ausländer sind, unter den gegenwärtigen Verhältnissen beseitiget werden“53. || S. 24 PDF || Tatsächlich hatte Handelsminister Toggenburg die Verwaltungs­räte der Staatseisenbahngesellschaft und der Südlichen Staats-, lombardisch-venezianischen und centralitalienischen Eisenbahngesellschaft angewiesen, „sämtliche französische Nationalen von jeder exekutiven Stellung sowohl bei dem Eisenbahnbau- als Betriebsdienste zu entfernen“54. Daraus sprach die Sorge, daß die in Paris sitzenden Eigentümer bzw. Eigentümervertreter der 1855 privatisierten Bahnen55 einen für Österreich schädlichen Einfluß nehmen bzw. daß die bei den Gesellschaften angestellte Franzosen unzuverlässig sein könnten56.

Neben der Eisenbahn war das Telegrafenwesen in rascher Verbreitung begriffen57. Auch hier gilt wie bei der Eisenbahn, daß der Feldzug von 1859 für Österreich der erste Krieg war, in dem die Telegrafie in großem Stil verwendet wurde. Aber auch die private Nutzung stieg sprunghaft an. Auf die Diskussion in der Ministerkonferenz betreffend die Veröffentlichung von Privattelegrammen und die Frage, ob französische Telegramme aus Frankreich befördert werden sollten, wurde schon hingewiesen. Das Ausmaß, das die neue Technik erreicht hatte, geht aus einem Bericht des Direktors der k.k. Staatstelegrafen, Karl Brunner v. Wattenwyl, hervor, den er im August seinem zuständigen Minister vorlegte58. Die Staatsdepeschen verdreifachten sich, die privaten verdoppelten sich. So wurden z. B. im Juni 1859 66.181 Telegramme befördert, davon 23.148 Staats- und 43.033 private Telegramme. In diesen Zahlen sind die von den Feldtelegrafen beförderten nicht inbegriffen. Diese Menge an Depeschen konnte von den österreichischen Beamten kaum mehr bewältigt werden. Die Staatsverwaltung wandte sich an Bayern um Aushilfskräfte59. Die schwierige Arbeit der Telegrafisten wird in einer Note des Handelsministers an den Finanzminister, in der er eine Gehaltszulage vorschlug, anschaulich geschildert:

„Wenn, wie E. E. ohnedies bekannt ist, selbst in gewöhnlichen Zeiten die Telegrafen-Manipulation durch häufiges Nachtwachen, stets gespannte Aufmerksamkeit, || S. 25 PDF || langes Stillsitzen in verschlimmerter Luft mit unbeweglichem Oberleib und ausgestreckten Armen Nerven und Lungen des Manipulanten in ungewöhnlicher Weise in Anspruch nimmt, so bedarf es keiner Auseinandersetzung, wie sehr die gesundheitsschädlichen Einwirkungen des Telegrafendienstes sich in den bei den Kriegsereignissen zunächst beteiligten Kronländern erhöhen müssen, wo der Andrang der wichtigsten Staats- und Familiendepeschen so groß ist, daß selbst der systemmäßig eingeführte Wechsel es fast unmöglich macht, die in Permanenz fungierenden Telegrafisten vor gänzlicher Erschöpfung . . . zu bewahren.“60 Der Kaiser genehmigte 8000 fl. für diesen Zweck61.

Die vermehrte private Korrespondenz brachte der Telegrafenverwaltung bedeutende, unerwartete Einnahmen, ohne daß eine Gebührenerhöhung vorgenommen wurde, und zwar in den Monaten März bis Juni 124.000 fl. Die monatlichen Einnahmen waren von 65.000 auf 100.000 fl. gestiegen. Auch nach dem Verlust der Lombardei betrugen die monatlichen Einnahmen noch 84.000 fl. So konnte Brunner schreiben: „Abgesehen von den enormen Leistungen für den Staat stellt sich somit das befriedigende Resultat heraus, daß die Kriegsmonate für die Telegrafenverwaltung einen bedeutenden finanziellen Vorteil brachten, welcher beinahe hinreicht, um das Anlagekapital für die sämtlichen außerordentlichen Linienbauten zu decken.“

Diese außerordentlichen Bauten, d. h. die Ausweitung des Telegrafennetzes, waren in der Tat beeindruckend. In den Monaten Jänner bis Juli 1859 wurden 565 Meilen neue Telegrafenlinien errichtet, das sind 4286 km (1 österr. Meile = 7,586 km). Der größte Teil davon war von bleibendem Nutzen, nämlich 545 Meilen. Nur 20 Meilen waren, da von rein militärischem Nutzen, vorübergehender Natur. Präliminiert waren 305 Meilen gewesen. Somit wurden 234 Meilen zusätzlich errichtet62. Der Kostenaufwand betrug 191.000 fl. Unter den damals errichteten Linien befand sich eine dritte Staatsleitung von Wien nach Triest, eine Leitung von Wien über Krems, Klagenfurt und Udine nach Venedig, eine zweite Staatsleitung Bozen-Innsbruck, dann Bozen-Landeck, Bozen-Bruneck, Feltre-Vicenza, Debreczin-Miskolcz, Fünfkirchen/Pécs-Esseg, Marburg-Warasdin, Kaschau-Tarnów. Insgesamt wurden u.a. 703 Zentner Kupferdraht, 4324 Zentner Eisendraht und 58.000 Säulen verwendet. Im Einsatz waren übrigen 627 Telegrafisten. Brunner versäumte nicht, auf die ungeheure Arbeitsleistung hinzuweisen, die diese Leute vollbrachten. Die 66.000 im Juni 1859 beförderten Telegramme summierten sich zu 1,857.211 Wörtern. Im ersten Halbjahr waren es insgesamt rund 12 Millionen Wörter, und Brunner schloß seinen Bericht – nicht ohne technischen Stolz – mit der Feststellung, „daß zur Beförderung obiger Depeschen über eine Milliarde einzelner elektrischer Ströme das österreichische Telegrafennetz durcheilen mußten“.

Laxenburger Manifest – Kabinettskrise und neues Ministerium – Ministerprogramm - Retrodigitalisat (PDF)

Im Laxenburger Manifest vom 15. Juli 1859 teilte der Kaiser seinen Völkern mit, daß er den Krieg beendet und Friedenspräliminarien genehmigt habe. Er rechtfertigte diesen || S. 26 PDF || Schritt und den Verlust des größten Teiles der Lombardei damit, daß ihm das Glück der Waffen nicht günstig gewesen sei und daß der Erfolg einer Fortsetzung des Krieges ohne „die ältesten und natürlichen“ Bundesgenossen – ein Seitenhieb auf Preußen und den Deutschen Bund – zweifelhaft gewesen wäre. Dagegen tue es seinem Herzen wohl, daß die Segnungen des Friedens wieder gesichert seien. Auf diese Aussage folgte etwas überraschend eine Begründung. Die Segnungen des Friedens seien ihm „doppelt wertvoll, weil sie Mir die nötige Muße gönnen werden, Meine ganze Aufmerksamkeit und Sorgfalt nunmehr ungestört der erfolgreichen Lösung der Mir gestellten Aufgabe zu weihen: Österreichs innere Wohlfahrt und äußere Macht durch zweckmäßige Entwicklung seiner reichen geistigen und materiellen Kräfte, wie durch zeitgemäße Verbesserungen in Gesetzgebung und Verwaltung dauernd zu begründen.“63

Diese Begründung ist deshalb überraschend, weil der Kaiser ja seit zehn Jahren die Möglichkeit für zeitgemäße Verbesserungen in Gesetzgebung und Verwaltung gehabt hatte. Es war offenkundig, daß diese Formulierung die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem autokratisch-absolutistischen und zentralistischen System abfangen sollte. War damit aber ein Systemwechsel angesagt?

Die genaue Rekonstruktion der Überlegungen und Gespräche des Kaisers und seiner engsten Umgebung in den Tagen nach Solferino, nach Villafranca, nach Laxenburg ist nicht möglich. Daß aber die militärische Niederlage personelle und politische Konsequenzen mit sich bringen müsse, das dürfte wohl bald klar geworden sein. Weniger klar dürfte gewesen sein, in welche Richtung die Konsequenzen und Änderungen gehen sollten.

Die Öffentlichkeit erfuhr natürlich nichts, die sonst eingeweihten Kreise ahnten wohl manches, aber auch sie erfuhren nicht viel. Selbst der Chef der Obersten Polizeibehörde Kempen tappte im Dunkeln, nachdem die Ministerkonferenz nach der schon zitierten Sitzung vom 14. Juli nicht mehr einberufen wurde. || S. 27 PDF || Hier einige Notizen aus seinem Tagebuch64:

15. Juli. [. . . Graf Grünne] sprach von dem Geschrei nach seiner Entfernung vom innehabenden Posten und sagte, er hätte den Kaiser gebeten, auf ihn keine Rücksicht zu nehmen, allein der Kaiser wolle hievon nichts wissen. [. . .] 19. Juli. [. . .] Ich fand den Kaiser nachdenkend, nur halb hörend, was ich vortrug, [. . .]. 21. Juli. FML. Hartmann will erfahren haben, daß Minister Bach einen diplomatischen Posten erhalten werde, und FML. Kellner sagte mir, daß rücksichtlich der Ministerkonferenzen eine Änderung im Zuge sei. Graf Grünne schwieg über das eine so wie über das andere. 22. Juli. Nach 9 Uhr begab ich mich zum Kardinal-Primas Ungarns, der mich freudestrahlend empfing, weil der Kaiser ihm zugesagt, er wolle nunmehr an Ungarn Konzessionen machen. [. . .] 26. Juli. Gegen 11 Uhr machte ich dem Erzherzog Rainer meine Aufwartung. Es scheint ihm über die nächsten Maßnahmen der Regierung gar nichts bekannt zu sein [. . .]. 29. Juli. [Der Kaiser] war sehr ernst [. . .]. 2. August. [Grünne bittet Kempen, seinen Rücktritt einzureichen. Der Kaiser spricht von der Notwendigkeit, die Gendarmerie von der Polizei zu trennen:] es hänge dies auch mit der Reorganisation des Ministeriums zusammen. [. . .] 4. August. [. . .] erfuhr ich [. . .], ich würde bei der Obersten Polizeibehörde durch Baron Hübner ersetzt. Sonderbar: während Ultramontane, Graf Rechberg, Thun, Wolkenstein und Baron Hübner, ein Organisationskonklave in nächtlichen Stunden abhalten [. . .]. 6. August. Ich erfuhr, die Ministerkrisis sei zu Ende [. . .]. 8. August. [Franz Joseph auf Kempens Frage, ob er Gendarmerieinspektor bleiben werde:] „Ich weiß es wirklich nicht, ob es geht; es hängt mit der Ministerkrise zusammen, einer schweren Entbindung.“ [. . .] 11. August. [. . . Finanzminister Bruck] brummte vor sich hin: „Wenn es nur schon entschieden wäre! Allein die Sache ziehet sich schleppend hin. Ich würde es für mich als Gnade betrachten, wenn ich loskäme, denn sich abmühen Tag und Nacht und dennoch nichts erreichen ist wahrlich nicht zu ertragen.“ [. . .] 17. August. [. . .] ununterbrochene Gerüchte über bevorstehende Verwaltungsänderungen [. . .]. Graf Clam-Martinitz, Regierungspräsident in Krakau, bat um seine Entlassung, die ihm gewährt worden ist, ihm, dem fähigsten, würdigsten Manne für die Leitung der inneren Angelegenheiten [. . .]. Dagegen ist es möglich, daß der mißachtete Graf Goluchowski am Steuerruder sich festsetze. 22. August. Ahnungslos stand ich auf. [. . .]

Kempen notierte also bis zur Neubestellung des Kabinetts am 21. August, bekanntgeworden am 22. August, zwar viele Gerüchte, wußte aber wenig Sicheres. Unsere Unsicherheit endet wesentlich früher. Im Nachlaß Rechberg liegen neun Konferenzprotokolle aus diesen Wochen, die uns sehr gut über die wesentlichen Inhalte der Gespräche und Verhandlungen informieren. Zusätzliche Informationen, wenn auch persönlich gefärbt, bieten die Erinnerungen eines der Beteiligten, des früheren Botschafters in Paris Hübner65.

Bereits am 28. Juli, also nur zwei Wochen nach dem Laxenburger Manifest, trafen sich die Minister Rechberg und Thun, dann Hübner und der Reichsrat Graf Wolkenstein beim Kaiser zu einer Konferenz: „Se. k. k. apost. Majestät bemerken, die Konferenz berufen zu haben, um die Beratung über die von den Konferenzmitgliedern bereits besprochenen Organisationspunkte zu fördern und möglichst bald zum Abschlusse zu bringen.“ Die Gespräche hatten also schon früher begonnen. Sie wurden unter wechselnder Beteiligung fortgesetzt und endeten mit der Bestellung des Ministeriums Rechberg und mit der Ausarbeitung eines „Ministerprogramms“, das die Arbeitsgrundlage des neuen Kabinetts bildete. Die Protokolle dieser Konferenzen sind, so wie die schon besprochenen Konferenzprotokolle vor dem Krieg, keine ordentlichen, sondern außerordentliche.|| S. 28 PDF || Zwar wußte man schon Ende der 1920er Jahre von ihrem Vorhandensein, doch wurde ihre Bedeutung nicht recht erkannt. 1971 hat sie Friedrich Walter bloß auszugsweise publiziert66. Im vorliegenden Band werden alle diese Protokolle im Anhang abgedruckt. Aus ihnen geht nicht nur das dramatische Tauziehen um die einzuschlagende Richtung der Änderungen hervor, sondern – im Verbund mit den Ministerkonferenzprotokollen der darauffolgenden Monate – auch das Gewicht der Entscheidungen, die in diesen wenigen Wochen gefallen sind67.

Elf Punkte, elf dürre Stichworte waren es, die Rechberg am 28. Juli vorlas. Einige betrafen das Ministerium selbst, die oberste Verwaltungsebene. Schon das erste Wort verrät die Brisanz des Themas: „Präsidium“. Die Wiederherstellung des „Präsidiums“ war keineswegs eine formale Floskel, sondern der Ausdruck des Willens, die entscheidende strategische Machtposition nach dem Kaiser zurückzubekommen. Die Ministerkonferenz sollte wieder von einem beratenden zu einem entscheidenden Gremium werden. Ihren Beschlüssen hatten sich alle Minister unterzuordnen. Die Ausdrücke „Vorsitzender der Ministerkonferenz“ einerseits, bzw. andererseits „Ministerpräsident“ und „Ministerrat“ – Bruck forderte die Wiedereinführung dieser Bezeichnung am 6. August – waren „Chiffren für Absolutismus beziehungsweise Konstitutionalismus“68. Zu diesem Komplex gehörten auch die Punkte „Unterordnung der Polizei und der Gendarmerie unter das Ministerium des Inneren“ und „Armee“. Die Armee sollte über den Umweg der Budgeterstellung wieder an die Ministerkonferenz angebunden werden.

Andere höchst wichtige Punkte waren die Liberalisierung der Presse, Ungarn und die Rechtsstellung der Evangelischen und der Juden. Hinter dem Punkt „Gemeindewesen, ständische Einrichtungen, Vorbereitung zum Übergang auf ein größeres Selfgovernment“ || S. 29 PDF || verbargen sich die von der feudal-konservativen Adelsopposition gegen den zentralistisch-bürokratischen Neoabsolutismus erhobenen Forderungen, z.B. Ausscheidung der Gutsgebiete aus den Gemeinden, Errichtung ständischer Organe und Übernahme gewisser Verwaltungsbefugnisse durch sie. Alle diese Punkte wurden in den folgenden Wochen diskutiert, nicht alle gleichermaßen kontroversiell.

Höchst aufschlußreich ist die personelle Zusammensetzung der Konferenzen. Dreimal führte der Kaiser selbst den Vorsitz, bei der ersten Sitzung, dann am 4. August und bei der letzten Sitzung. Nur drei von insgesamt neun Personen nahmen an allen Sitzungen teil: Rechberg, Hübner und der Kultus- und Unterrichtsminister Thun, also der böhmische Hochadelige und prominente Minister des Ministeriums Buol-Schauenstein und zwei aus der metternichschen Diplomatenschule kommende konservative Politiker. Zu Thun gesellten sich in den ersten fünf Sitzungen zwei weitere Vertreter des hochkonservativen böhmisch-mährischen Adels, nämlich der 56jährige Karl Friedrich Otto Graf Wolkenstein-Trostburg, seit 1857 Mitglied des ständigen Reichsrates, und der gerade erst 33jährige Heinrich Jaroslav Graf Clam-Martinic, seit 1853 Landespräsident von Westgalizien in Krakau, ein Schwager Thuns. Damit saßen also drei der prominentesten Vertreter des feudalkonservativen Adels in der Konferenz, die zur Weichenstellung für die Zukunft einberufen worden war69. Alle drei hatten bereits in und nach der Revolution in den Jahren 1848–1850 wichtige Rollen gespielt. Damals hatte der böhmische Feudaladel trotz der militärischen Erfolge des Standesgenossen Fürst Windischgrätz seine politischen Ziele nicht erreicht. Kam es nun zu einer Neuauflage der Diskussion um die „postfeudale Neuordnung Österreichs“70?

Wolkenstein trat offen für die Rückkehr zum vorrevolutionären Patrimonialsystem ein. Clam wollte nicht so weit gehen. In einer dichten Stellungnahme skizzierte er am 3. August den feudalkonservativen Entwurf einer postfeudalen Neuordnung als mehrstufiges System von sich selbst verwaltenden Gemeinden anstelle „bürokratischer Allherrschaft“. An erster Stelle stand die Ortsgemeinde mit „wesentlicher Vertretung des Besitzes in der Gemeinde“ und gleichgeordnet die Gutsgebiete unter der Leitung des Grundherren71. Beide zusammen bilden Gemeinden höherer Ordnung, denen bereits öffentlich-rechtliche Befugnisse zukommen72. Darüber stehen die Kreistage und Landstände. Die gesellschaftspolitische Vision hinter dieser Ordnung formulierte er so: Statt aus einer „Summe anorganisch nebeneinander gestellter, eben deshalb sich untereinander reibender und bekämpfender, zu der Regierung aber allmählig in offenen Gegensatz tretender Individuen“ war der Staat seiner Meinung nach zusammenzusetzen aus einer || S. 30 PDF || „von unten nach oben aufsteigenden Überordnung korporativ geschlossener, sich selbst verwaltender autonomer Organe. [. . .] Räumliches Beisammensein, Gemeinsamkeit oder Affinität der Interessen, endlich hergebrachte Beziehungen bilden die Grundlage zu organischem, korporativen Zusammenschließen.“73 Von Anfang an leisteten Rechberg und Hübner Widerstand gegen diesen Versuch der böhmischen Aristokraten, ein Stück des seit 1848 verlorenen Terrains wieder zurückzugewinnen74. Ihr und des Kaisers Ziel war bescheidener. Die Selbstverwaltung sollte keine neue Gesellschaftsordnung einführen, sondern die staatliche Verwaltung billiger machen75.

Am 6. und 7. August wurde die Konferenz um zwei weitere amtierende Minister vermehrt, nämlich Finanzminister Freiherr v. Bruck und Justizminister Graf Nádasdy. Bruck hatte vehement gegen seinen Ausschluß von den Konferenzen protestiert und seine Beiziehung gefordert. Da er als Finanzminister und Kontaktmann zur Hochfinanz kaum entbehrlich war, wurde er nun doch beigezogen76. Am 7. August kam es in der Frage der Selbstverwaltung, die sich als zentraler Punkt entpuppte, zum Eklat. Als unüberbrückbar erwies sich der Gegensatz zwischen den feudalkonservativen Vorstellungen von Thun, Wolkenstein und Clam auf der einen und den pragmatischeren, zentralistisch-konservativen Plänen von Rechberg, Hübner, Bruck und Nádasdy auf der anderen Seite. Die Gruppe um Rechberg lehnte es ab, den adeligen Großgrundbesitzern in der Gemeinde- und Bezirksverwaltung eine öffentlich-rechtliche Stellung – mit allen sozialpolitischen Konsequenzen – statt einer bloß privatrechtlichen Rolle zuzugestehen und blieb dabei, daß bei aller Berücksichtigung der Interessen des Großgrundbesitzes die Verwaltung verstaatlicht bleiben sollte77. Man beschloß, die jeweiligen Ansichten in zwei getrennten Voten dem Kaiser vorzulegen78. Franz Joseph entschied sich, wie aus dem weiteren Verlauf der Konferenzen hervorgeht, für das Votum Rechbergs und gegen die böhmischen Altkonservativen. Wolkenstein und Clam zogen sich daraufhin zurück und blieben den Konferenzen fern. An ihre Stelle trat ab dem 16. August der Statthalter in Galizien und zukünftige starke Mann im Kabinett Rechberg Agenor Graf Gołuchowki79. Das Ministerprogramm, dessen Text Hübner und Rechberg redigiert hatten80, wurde nun zügig durchdiskutiert und fertiggestellt.

|| S. 31 PDF || Interessant ist natürlich auch, wer an diesen Konferenzen nicht teilgenommen hat. Es waren jene Minister und Chefs von Zentralstellen, die dann am 21. August enthoben worden sind. Ihr Ausscheiden dürfte also schon am Beginn der Konferenzen festgestanden oder ihr Verbleib so unsicher gewesen sein, daß sie nicht mehr herangezogen wurden: allen voran der Minister des Inneren Bach, dann der Handelsminister Graf Toggenburg, dessen Ministerium eingespart wurde, der Chef der Obersten Polizeibehörde Kempen und der Generaladjutant Graf Grünne. Auch die Erzherzoge Albrecht, Wilhelm und Rainer, die bedeutende politische Ämter innehatten und sie auch in den folgenden Monaten behielten – Generalgouverneur in Ungarn, Chef des Armeeoberkommandos und Präsident des ständigen Reichsrates – nahmen nicht teil.

Am 21. August 1859 genehmigte der Kaiser das Ministerprogramm, das somit zur Grundlage des Ministeriums Rechberg wurde81. Am selben Tag wurde Rechberg, der ja nur interimistisch den „Vorsitz“ in der Ministerkonferenz innegehabt hatte, zum Ministerpräsidenten ernannt. Gołuchowski wurde Innenminister, Hübner Polizeiminister. Am 22. August wurden die Enthebungen Bachs, Toggenburgs und Kempens und die Ernennungen Rechbergs, Gołuchowskis und Hübners in der Wiener Zeitung publiziert, gemeinsam mit einem offiziösen Artikel, in dem die Öffentlichkeit über die wichtigsten Punkte des Regierungsprogramms informiert wurde82. Die Inhalte des Programms gelangten später auch anderweitig in die Presse, etwa in Form eines Erlasses Gołuchowskis an die Statthalter83. Das Programm selbst drang nicht an die Öffentlichkeit, es blieb ein internes Arbeitspapier für die Minister.

Was beinhaltete nun dieses aus elf Punkten bestehende Programm? Zunächst wurde die Position der Ministerkonferenz neu definiert (Punkt I). Der Ministerpräsident leitete die Verhandlungen. Die Beschlüsse waren für alle Mitglieder bindend, eine Formel, || S. 32 PDF || gegen die sich Thun heftig, aber ohne Erfolg gewehrt hatte. Es war also nicht mehr von Beratung und Meinungsabgabe die Rede, sondern von Verhandlung und Beschlußfassung. Der Wirkungskreis wurde sehr weit gefaßt. Im Punkt V wurde das Verhältnis der Ministerkonferenz zum ständigen Reichsrat zugunsten der Ministerkonferenz neu geregelt. Die Minister sollten im zukünftigen Statut das Recht zur Teilnahme an den Sitzungen des Reichrates erhalten, bzw. war ihnen Gelegenheit zu Gegenvorstellungen vor der Ah. Schlußfassung zu geben. Das hieß nichts anderes als die Umkehrung des Verhältnisses: die Minister hatten nun das letzte Wort, nicht mehr der Reichsrat. Schließlich wurde in Punkt X der Staatsvoranschlag ausdrücklich zur Angelegenheit der Ministerkonferenz erklärt. Noch eindeutiger war der gegen die Armeeführung gerichtete Zusatz, daß Nachtragsbudgets nur im Wege der Ministerkonferenz beim Kaiser beantragt werden konnten. Insgesamt bedeuteten diese Bestimmungen eine deutliche Stärkung der Ministerkonferenz und des Ministerpräsidenten.

Daß hinter allen Reformen die Notwendigkeit der Sanierung des Staatshaushaltes stand, geht aus folgenden Punkten hervor: Einsparung des Handelsministeriums (II), Vereinfachung der Verwaltung durch Ausgliederung gewisser Verwaltungsgeschäfte an nichtstaatliche Organe (IX), Budgethoheit der Ministerkonferenz (X) und vor allem Einsetzung einer Ersparungskommission (X).

Eine Reihe von Programmpunkten trug der öffentlichen Meinung Rechnung und versprach – z. T. rudimentär und natürlich ohne das Wort zu verwenden – liberale Reformen: die Umwandlung der Obersten Polizeibhörde in ein Polizeiministerium, damit gleichzeitig ihre Einordnung in die Ministerkonferenz (II), die Trennung der Gendarmerie von der Polizei und ihre Unterordnung unter das Innenministerium (II), Pressefreiheit (IV), Neuregelung des Verhältnisses des Staates zu den Evangelischen im Sinne größerer Freiheit und Autonomie (III)84, Abschaffung von noch bestehenden Beschränkungen für Juden, also Vorantreiben der Emanzipation (III), und schließlich die Erweiterung des Reichsrates durch „Einberufung temporärer Mitglieder“ (V).

Föderalistische Forderungen kamen zum Zug in folgenden Programmpunkten: unausgesprochen in der Erweiterung des Reichsrates, insofern die neuen Reichsräte aus den Ländern berufen werden sollten (V), in der Heranziehung von Vertrauensleuten bei der Durchführung des Gemeindegesetzes (IX), in der geplanten Selbstverwaltung (IX), in dem von Gołuchowski vorgeschlagenen Punkt über die Nationalitäten, der praktisch das Ende der Bachschen Forcierung der deutschen Amtssprache bedeutete (XI), und in der Ausnahme Tirols in der Religionsfrage (III).

Wohl auf die Initiative des Finanzministers Bruck, der auch noch die handelspolitischen Agenden vom aufgelösten Handelsministerium übernahm, waren noch folgende Punkte aufgenommen worden: Vereinfachung der Rechtspflege (VI), baldiger Erlaß einer Gewerbeordnung (VII), die Beschleunigung der Gesetzgebung in Richtung „volkswirtschaftliche Einigung mit Deutschland“, ein Punkt, der einen national- und machtpolitischen, aber auch einen stark liberal-wirtschaftspolitischen Aspekt hatte (VIII), und der Passus über die Finanzen (X).

|| S. 33 PDF || Das Programm des Ministeriums Rechberg war also keineswegs ein Durchbruch zum Konstitutionalismus, es enthielt aber doch eine Reihe von Punkten, die das neoabsolutistische, zentralistisch-bürokratische System der 1850er Jahre korrigierten, ja sogar je nach der Entwicklung der Dinge untergraben konnten. Niemand konnte genau wissen, wohin etwa die Stärkung der Ministerkonferenz, die Schwächung des ständigen Reichsrates, die angesprochene Erweiterung dieses Gremiums durch Vertrauensmänner oder die Beteiligung von Bürgern „aus allen Klassen“ bei der Durchführung des Gemeindegesetzes führen würden. Franz Joseph hatte die Notwendigkeit von Reformen erkannt und eine Reihe von konservativen Beratern beauftragt, sich darüber Gedanken zu machen. Schon nach recht kurzer Zeit war die Entscheidung gegen den hochkonservativen Flügel zugunsten eines gemäßigt föderalistischen Kurses gefallen. Daß die Rückkehr zum Patrimonialsystem, die sich Wolkenstein gewünscht hatte85, die Probleme der Monarchie nicht lösen würde, war klar, und auch die Formulierung im Entwurf zu Punkt IX: „Wie natürlich, müßten alle diese Geschäfte mehr patriarchalisch als bürokratisch behandelt werden“, fiel bei der Redaktion des Textes. Ob aber der gemäßigt konservative Kurs Rechberg-Gołuchowski die notwendige Konsolidierung bringen, oder ob er, wie Clam prophezeite86, unweigerlich zum Konstitutionalismus führen würde, darüber konnte man geteilter Meinung sein.

Zur Beantwortung der Frage, welche Ideen in der durch den Kriegsausgang erzwungenen Reformdebatte zum Zug kamen und in das Ministerprogramm einflossen, sind neben den Protokollen der Konferenzen im Juli und August und allfälligen Memoiren auch noch die bekannten Denkschriften heranzuziehen. Schon Redlich hat auf die Denkschrift hingewiesen, die Buol im Juli 1859 seinem Nachfolger Rechberg übermittelt hat. Er hat sie im Anhang seines Werks abgedruckt, er kannte aber das Ministerprogramm selbst nicht87.

Der Vergleich des Ministerprogramms mit dieser sehr lesenswerten Denkschrift ist in der Tat hochinteressant. Die Übereinstimmungen sind erstaunlich. Buol, der sich mit dem Memoire „selbst klarzumachen“ versuchte, woran die Konsolidierung der Monarchie gescheitert war, sich aber wohl auch seinen Ärger von der Seele schrieb, ortete einige strukturelle Mängel in der Innenpolitik, für die er bekanntlich nicht zuständig gewesen war. Als ersten Fehler bezeichnete er, daß gegebene Versprechen nicht eingehalten worden waren, und nannte drei Beispiele: „Warum aber nun nach langen zehn Jahren noch Zweifel obschweben können über die volle Gleichberechtigung der verschiedenen religiösen Konfessionen, warum die Gemeindeordnung noch nicht funktioniert, warum endlich die verschiedenen Landesvertretungen noch nicht bestehen, darüber weiß man sich keinen Aufschluß zu geben.“ Als zweiten Mißstand sah er den ständigen Reichsrat, und zwar seine Zusammensetzung und die fehlende Kooperation mit der Ministerkonferenz: „Er bekrittelt die Vorschläge der Minister, ohne an deren Stelle andere praktische Vorschläge vorlegen zu können.“ Als dritten und vielleicht größten Mißstand sah er die schwache Stellung der Ministerkonferenz. Der Kaiser scheine ein „kompaktes Ministerium, || S. 34 PDF || das von einem Sinn ausgehe“, als Beengung seiner Macht zu sehen. „Gegenwärtig geht jeder Minister [. . .] nach seiner individuellen Überzeugung voran. Seine Anträge sind durch nichts wirksam kontrolliert als durch den Widerspruch des Souveräns und die [. . .] Einwendungen des Reichsrates.“ Buol kritisierte auch die Sonderstellung der Armee, die nicht durch einen Minister in der Konferenz vertreten sei. Entsprechend diesen Mängeln skizzierte er einige Maßregeln: Vertrauensmänner sollten die Einberufung der Landesvertretungen vorbereiten, der Reichsrat sollte reorganisiert werden, die Stellung der Minister sollte modifiziert, ein Ministerprogramm diskutiert und sanktioniert werden. Ein Kriegs- und ein Polizeiminister waren zu ernennen. „Häufige Berufung des Ministerrates [sic!] unter dem Präsidium des Kaisers, selbst Konferenzen mit dem Reichsrate wären wohl ganz besonders zu empfehlen.“

Bis in manches Detail finden sich also Übereinstimmungen zwischen dem Ministerprogramm und den Anregungen Buols. Die Annahme ist wohl nicht von der Hand zu weisen, daß der Diplomat Rechberg, der inneren Politik fernstehend, in dieser schwierigen Zeit den Ratschlägen seines aus derselben „Schule“ kommenden Berufskollegen, langjährigen Vorgesetzten und Vorgängers bereitwillig Gehör schenkte: so wäre denn das Ministerprogramm vom 21. August 1859 in gewisser Weise Vermächtnis und Rache des loyalen und scharfsichtigen, aber glücklosen Buol.

Ein weitere große Denkschrift vom Sommer 1859 ist die Broschüre „Die Aufgaben Österreichs“, die Bruck dem Kaiser und den Mitgliedern der besagten Konferenzen überreicht hat. Ihr Verfasser war der Sektionsrat Dr. Gustav Höfken im Auftrag Brucks, dessen Ideen sie zweifellos ausdrücken88. Während Buol vor allem die strukturellen Mängel in der Regierungmaschinerie in den Blick nahm, entwarf Bruck „ein schwungvoll vorgetragenes Zukunftsprogramm“ (Brandt), das nicht nur eine allseitige Modernisierung samt „wirtschaftlicher Einigung mit Deutschland“, sondern auch die Konstitutionalisierung der Monarchie vorsah. Wenn man unter die pathetische und z.T. weitschweifige Sprachoberfläche blickt, so entdeckt man eine beträchtliche Zahl von Reformpunkten, die sich auch im Regierungsprogramm in lakonischer Kürze finden: Religionsfreiheit, Selbstverwaltung, volkswirtschaftliche Einigung mit Deutschland, Gewerbegesetzgebung, Vereinfachung des Zivilprozesses, Absage an Germanisierungstendenzen, Ordnung im Staatshaushalt.

Die beiden Denkschriften ergänzten einander recht gut. Wenn Buol in seinem Schlußabsatz schrieb, man solle nicht glauben, daß alles, was liberal klinge, unbedingt revolutionär sein müsse, dann schlug er eine Brücke zu vielen konkreten Forderungen Brucks. Natürlich blieben Grundfragen kontroversiell. Für Buol war „eine Konstitution im modernen Zuschnitt“ undenkbar, während Bruck überzeugt war, daß „ein prinzipielles Widerstreben Österreichs gegen verfassungsmäßige Entfaltung zu nichts führen würde als zu neuer Isolierung“, weshalb er „eine gesunde, lebensfähige Konstituierung [sic!] des Reichs“ forderte. Die Gemeinsamkeit vieler Details in den beiden Denkschriften und im Ministerprogramm ist aber offenkundig. Die Probleme lagen wohl auch offen zutage.

|| S. 35 PDF || Das Programm bot einen vom Kaiser sanktionierten Ansatz zu strukturellen Reformen der Regierungsmaschinerie und bezeichnete inhaltliche Reformvorhaben. Beides war in den genannten Denkschriften entschieden zum Ausdruck gekommen, die somit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Wende vom Sommer 1859 leisten89. Die im vorliegenden Band edierten Konferenzprotokolle liefern dazu einerseits in den markanten Wortmeldungen Wolkensteins und Clams die Gegenvorstellungen der Altkonservativen, andererseits entnehmen wir ihnen die ziemlich detaillierte Geschichte der Entstehung des Ministerprogramms.

Mit dem Wechsel im Kabinett und mit der Einigung auf ein Regierungsprogramm war – in erstaunlich kurzer Zeit – die innenpolitische Konsequenz des verlorenen Krieges gezogen. Es begann ein neuer Abschnitt, und mit der Ministerkonferenz vom 23. August wurden auch die ordentlichen Sitzungen wieder aufgenommen. Das Sitzungsprotokoll ist sehr sachlich. Rechberg kündigte an, daß der Kaiser in Zukunft an jedem Donnerstag der Ministerkonferenz präsidieren werde. Da die Anwesenden das Ministerprogramm schon kannten, ging Rechberg sofort auf einige Details der Durchführung ein. U. a. setzte er eine Ministerkommission zur Ausarbeitung des neuen Statuts für den Reichsrat ein. Auch die wichtige Ersparungskommission wurde diskutiert.

Zwei Tage später, am 25. August, fand die erste „Donnerstagkonferenz“ unter dem Vorsitz des Kaisers statt. An diesen Donnerstagkonferenzen nahmen in Hinkunft auch die Erzherzoge Wilhelm, Rainer und in ungarischen Angelegenheiten Albrecht teil. An diesem 25. August hatte auch die Vereidigung der neuen Minister stattgefunden. Die Ansprache des Kaisers an das neue Kabinett – eine Gepflogenheit, die Franz Joseph beim Amtsantritt Buols eingeführt hatte – war diesmal kurz. Ein Vergleich der beiden Ansprachen zeigt, daß die Position des Kaisers nun nach dem verlorenen Krieg deutlich schwächer war als 185290. Der Monarch verpflichtete die Minister auf strenge Durchführung des Programms, einträchtiges Vorgehen, einhelliges Zusammenwirken und – auf die Vermeidung von allem, was „konstitutionellen Gelüsten Nahrung geben könnte“. Um die Bedeutung dieses letzten Auftrags zu erhöhen, wurde ihm ein eigener Tagesordnungpunkt zugeordnet. Die weiteren Tagesordnungspunkte waren wie in der Konferenz am 23. August der Durchführung des Programms gewidmet. Damit kündigte sich an, was die Protokolle der kommenden Wochen und Monate bestätigen: die strikte, rasche Durchführung des Programms war oberstes Ziel Rechbergs. Auch daraus ist die Bedeutung der Diskussionen in den sechs Wochen im Juli und August 1859 ersichtlich.

|| S. 36 PDF || Bevor im folgenden auf einige Details der Durchführung eingegangen wird, muß auf einen Punkt hingewiesen werden, der im Programm nicht enthalten war.

Ungarn: zögernde Schritte auf dem Weg zur Verständigung - Retrodigitalisat (PDF)

Es ist bezeichnend, daß Ungarn im Programm nicht erwähnt wurde. Für das schwierigste und größte Problem war in den Konferenzen eine rasche, klare Entscheidung nicht zu finden gewesen, daher schwieg das Programm darüber. Freilich war das Wort „Ungarn“ schon im Stichwortkatalog Rechbergs am 28. Juli enthalten gewesen, und Graf Wolkenstein hatte als erster Redner sogar die Diskussion damit eröffnet. So vermerkt das Protokoll nach der kurzen Einleitung durch Franz Joseph und Rechberg: „Graf Wolkenstein ergreift das Wort, um auf die Schwierigkeit und Dringlichkeit der ungarischen Frage aufmerksam zu machen. Kann man, sagt er, anderen Ländern die intendierte selbständigere Bewegung in der Administration geben und Ungarn nicht? Kann man ständische Einrichtungen in den anderen Ländern anbahnen und in Ungarn nicht?“

Das Problem war deshalb so schwierig, weil die Ereignisse von 1848/49 auf beiden Seiten sehr tiefe Wunden geschlagen hatten, nämlich einerseits die Unabhängigkeitsbestrebungen Ungarns, kulminierend in der Entthronung der Habsburger am 14. April 1849, andererseits die militärische und administrative Unterwerfung und Zerteilung des Landes und die Erklärung, daß Ungarn seine Verfassung verwirkt habe. Der junge Monarch hatte in den seither vergangenen zehn Jahren nicht vermocht, das militärisch bezwungene Land moralisch zurückzugewinnen. Jederzeit konnte die Revolution wieder ausbrechen. Der Feldzug von 1859 hatte gezeigt, wie sehr dieser Umstand die Monarchie als Ganze schwächte. Eine Änderung der Politik war unbedingt notwendig, der Weg zueinander war aber mühsam. Die bisherigen Versuche hochadeliger ungarischer Politiker, den Gesprächsfaden wieder zu knüpfen, waren erfolglos geblieben. Im Sommer 1859, angesichts der veränderten Umstände, unternahmen sie neue Versuche. Diesmal fanden sie Gesprächspartner.

a) Die Aktion der Altkonservativen

Vier Monate lang, von Juli bis Oktober, gab es recht intensive Kontakte in Form von Briefen, Denkschriften und Gesprächen zwischen Mitgliedern der Regierung, vor allem Rechberg und Hübner, und prominenten konservativen ungarischen Aristokraten. Ihre Botschaft war stets dieselbe: die Stimmung in Ungarn sei sehr schlecht, das Regierungssystem müsse geändert werden. Die immer wiederkehrenden Gravamina bzw. Ratschläge lauteten: an die Stelle des bürokratischen Zentralismus, des sogenannten Bachschen Systems, und der Aufteilung des Landes in fünf Verwaltungsgebiete müsse wieder die frühere Lokalverwaltung (Komitatsverfassung) treten; die Einheit des Landes müsse wiederhergestellt werden, indem die Abtrennung Siebenbürgens und der serbischen Wojwodschaft rückgängig gemacht werde; der Absolutismus müsse aufgegeben, die Rückkehr zu verfassungsmäßigen Zuständen eingeleitet werden (Einberufung des Landtages). Diese Forderungen wurden je nach Autor und Gesprächspartner in eindeutiger und scharfer Form oder in diplomatisch-kluger Verkleidung vorgebracht.

|| S. 37 PDF || Einer der ersten derartigen Kontakte fand schon Ende Juni zwischen Rechberg und dem ehemaligen siebenbürgischen Hofkanzler Samuel Jósika statt. Er soll auf die Frage, wie Ungarn zu beruhigen sei, geantwortet haben, dies könne allein die gänzliche Beseitigung des bisherigen Regierungssystems bewirken91. Sehr bald tätig wurde Graf Anton Szécsen. Er verfaßte eine umfangreiche Denkschrift, die er Rechberg übermittelte92. Sehr diplomatisch gab er auch Fehler auf ungarischer Seite zu und sprach von gegenseitiger Mäßigung. Er forderte die Ablöse Bachs und die „Wiederherstellung oder Neubegründung verfassungsmäßiger Zustände“. Bemerkenswert war sein Vorschlag zur Verfahrensweise. Die Lösung könne nicht das Werk eines einzigen Mannes sein, es müßten Notable, Vertrauensmänner, einberufen werden. Ende Juli ist bereits das Wort „Konzessionen“ aus Franz Josephs Mund verbürgt. Kempen notierte im Tagebuch am 22. Juli 1859: „Nach 9 Uhr begab ich mich zum Kardinal-Primas Ungarns, der mich freudestrahlend empfing, weil der Kaiser gestern ihm zugesagt, er wolle nunmehr an Ungarn Konzessionen machen. Der Kardinal riet seinen Landsleuten Mäßigung an. Als S.M. nach 12 Uhr mich empfingen, erwähnte ich diese Äußerung des Primas. Der Kaiser bemerkte mir sogleich, daß die Ungarn viel verlangen und mit nichts zufrieden sein werden; [. . .]“.93 Wenige Tage später begannen, wie wir oben gesehen haben, die Konferenzen über die einzuschlagende Richtung und über das Ministerprogramm. Am 28. Juli war mehrmals von Ungarn die Rede, aber auch die Skepsis des Kaisers kam zum Ausdruck. Am 3. August bezeichnete Clam-Martinic „die Anbahnung einer Vereinbarung mit Ungarn“ als „notwendige Vorbedingung“ des Reformwerkes. In den weiteren Konferenzen war aber von Ungarn nicht mehr die Rede.

Mitte August trat der angesehene ungarische Magnat und Präsident der Akademie der Wissenschaften Graf Emil Dessewffy an Rechberg heran. Im Hotel zum Erzherzog Carl logierend bot er Rechberg unter Berufung auf seine gute Bekanntschaft mit Metternich und Schwarzenberg eine Denkschrift an. Im Brief an Rechberg formulierte er offen, kurz und scharf seine Analyse und sein Programm: „Die Fortsetzung des Absolutismus in Österreich ist fortan zur moralischen Unmöglichkeit geworden. Diese ist aber zugleich eine materielle. Dieses System ist zu teuer, dasselbe kann in die Länge nicht bezahlt werden, ohne den Ruin der Finanzen herbeizuführen.“ Wie solle, fragte Dessewffy, der Übergang zum Konstitutionalismus so stattfinden, daß er zugleich eine Stärkung der Staatsgewalt (!) und die Beseitigung der vorhandenen Mißstände und Gefahren ermöglichte. Seine Antwort war der „historisch-rechtliche Staatsstreich“: „Mein Ideengang führte mich zu dem Heilmittel einer Reihe von Maßregeln, welche sich in ihrer Gesamtheit als ein Staatsstreich darstellen [. . .]. Dieser Anschauung zufolge wäre der Modus der Ausführung ein diktatorischer, und der Umschwung von der Krone ausgehend.“ Eine längere öffentliche Diskussion sei zu gefährlich, eine rasche Besserung der || S. 38 PDF || Verhältnisse aber unumgänglich. Ein weiteres Element seiner Analyse: „Die ungarischen Verhältnisse lassen sich ohne die österreichischen nicht regeln, ebensowenig die österreichischen ohne die ungarischen [. . .].“ In äußerster Verknappung faßte er seine Vorschläge so zusammen: „Meine Entwürfe beabsichtigen [. . .] von einer absoluten Konfusion zu einer legalen Ordnung, und im Wege der Diktatur aus dem Labyrinthe eines selbstgeschaffenen und vielfach kontestierten Rechts in einen auf historischer Grundlage beruhenden Zustand der Legalität zu gelangen.“ Das war es: von der absoluten, d.i. absolutistischen Konfusion zur legalen Ordnung, vom selbstgeschaffenen Recht zur Legalität auf historischer Grundlage! Das Ziel war klar definiert, der Weg dahin noch mühsam. Berühmt geworden ist Dessewffys geschickte, auf die Psyche des Kaisers berechnete Formulierung in diesem Brief, Franz Joseph solle seinem Namen untreu werden, aber seinem Charakter treu bleiben: „Weder so absolutistisch und starr wie der Kaiser Franz, noch so zentralisierend und germanisatorisch wie Kaiser Joseph – aber ebenso fest und mutvoll wie Kaiser Franz Joseph“94.

Es war also kein Zufall und keine unbedeutende Nebensache, wenn das erste Ministerkonferenz­protokoll des neuen Kabinetts am 23. August festhielt: „Über die Zustände und Bedürfnisse des Königreichs Ungern wäre sich mit einigen Notabilitäten des Landes vertraulich zu beraten“, es war geradezu der im Ministerprogramm fehlende Satz zu Ungarn; und den Ministern wurde freigestellt, bis zum Eintreffen der ungarischen Herren die sich bietenden Gelegenheiten zu vertraulicher Besprechung zu nützen95. Besonders Hübner machte davon Gebrauch und suchte sich in den folgenden Wochen eingehend zu informieren96. Am 26. August wandte sich Szécsen an Rechberg und bekundete seine Gesprächsbereitschaft97. Wenige Tage später sandte Graf István Széchenyi die Denkschrift Erno˝ Holláns mit einem Begleitbrief an Rechberg98. Hollán stand den Liberalen näher als die bisherigen Denkschriften99. Er betonte die Bedeutung der „nationalen Partei“ im Lande und wies darauf hin, daß sie nur durch die Rehabilitation des Rechtszustandes zu befriedigen sei. Am 15. September besprach man in der Ministerkonferenz den Zeitpunkt und den Personenkreis der „Vorberatungen in ungarischen Angelegenheiten“100. Am 25. September sagte Szécsen, einer der Eingeladenen, || S. 39 PDF || Rechberg sein Kommen zu und sandte ihm zugleich eine weitere Denkschrift eines anonym bleibenden Journalisten, die er wärmstens empfahl. Sie sei zwar einseitig, „aber im Ganzen enthält der Aufsatz so viel Wahres und Richtiges, er entwirft ein so deutliches Bild der herrschenden Mißstimmung und bezeichnet die Ursachen, die ihr zugrunde liegen, mit so vieler Richtigkeit“, daß er es für seine Pflicht hielt, sie Rechberg mitzuteilen101. Eine handschriftliche Notiz Rechbergs beweist, daß er die Schrift rezipiert hat. Der Autor fällte ein vernichtendes Urteil über die neoabsolutistische Periode: „Die Zentralisation hat die Monarchie während eines zehnjährigen Friedens nach außen ihres Einflusses und Gewichtes fast gänzlich beraubt, im Inneren an den Rand eines fast unheilbaren Verderbens gebracht“. Den Ausweg, den er skizzierte, faßte er zum Schluß so zusammen: „Die Folge wird sein, daß der konstitutionelle, föderative, im Sinne und nach der Vorschrift der Pragmatischen Sanktion wiederherzustellende Bund Österreichs mehr Stärke nach außen und mehr Wohlfahrt nach innen bietet, als der durch die französischen Jakobiner ersonnene Zentralismus.“ Bemerkenswert ist der Hinweis auf die Pragmatische Sanktion und die gleichzeitige Absage an revolutionäres Gedankengut.

Die konservativen ungarischen Aristokraten bemühten sich also nach Kräften, die neuen Vertrauten des Kaisers zu bearbeiten. Aber auch die Gegenkräfte blieben nicht tatenlos. Als Hübner, der die Notwendigkeit des Handelns Richtung Ungarn wirklich erkannt hatte, Anfang Oktober von einem kurzen Aufenthalt in Ungarn zurückkam, stellte er bei Rechberg eine Meinungsänderung fest, die er auf den Einfluß des Reichsrates Geringer zurückführte, der 1849– 1852 als Leiter der Zivilverwaltung in Ungarn das „Bachsche System“ einzuführen gehabt hatte. Auch Erzherzog Albrecht lehnte Zugeständnisse ab102. Rechberg schlug Hübner vor, er solle seine Ideen zur Vorgangsweise in Ungarn zunächst dem Innenminister Gołuchowski erläutern. Der lehnte aber größere Zugeständnisse strikt ab. Damit wird neben dem oben dargestellten Konflikt zwischen den Feudalkonservativen und den gemäßigt Konservativen in der Frage der Selbstverwaltung eine weitere Bruchlinie sichtbar zwischen denen, die eine Aussöhnung mit Ungarn befürworteten – zu ihnen gehörten Hübner und Bruck – und denen, die noch nicht so weit waren. Rechberg dürfte in dieser Frage eine schwankende Haltung eingenommen und sich dann gegen Hübner gewandt haben. Er wußte natürlich, daß für Franz Joseph die Zustimmung zu einem solchen Maximalprogramm, wie es in den Gesprächen und Memoranden gefordert wurde, nicht in Frage kam, sondern daß der Kaiser mit bescheidenen Konzessionen das Ziel der Pazifizierung des Landes erreichen wollte. Hübner erwog jedenfalls schon zu diesem Zeitpunkt seinen Rücktritt103. Die Aussichten auf einen Erfolg der Gespräche zwischen der Regierung und den ungarischen Notablen waren also nicht besonders gut. Sie fanden laut Hübner am 12. Oktober statt und endeten ohne Ergebnis104. Tags darauf schlug || S. 40 PDF || Rechberg Hübner vor, seine Ideen der gesamten Ministerkonferenz außer Bruck vorzutragen. Dieses Gespräch fand am 17. Oktober statt. Erwartungsgemäß blieb Hübner allein, der nun rasch seinen Entschluß durchführte. Am 19. Oktober überreichte er, ohne Rechberg zu informieren, dem Kaiser ein Memorandum, in dem er die Vorstellungen der Ungarn, wie sie sich ihm aus all den Gesprächen ergeben hatten, befürwortend zusammenfaßte, und reichte seinen Rücktritt ein105. Es war ein beunruhigendes Signal für die Öffentlichkeit, daß ein Minister schon so kurze Zeit nach der Bestellung zurücktrat. Die wahren Gründe blieben ihr verborgen106. Die Gespräche mit den Ungarn wurden dementiert107.

Der Versuch der Aussöhnung war jedenfalls vorerst vertagt. Die Aktionen der ungarischen Konservativen vom Sommer 1859 führten zu keinem unmittelbar sichtbaren Ergebnis. Sie waren dennoch nicht umsonst, sondern stellten das Verbindungsglied dar zwischen dem absolutistischen Jahrzehnt, dessen Regierungssystem gleichsam aus Trägheit noch ein paar Monate auf tönernen Füßen weiterzubestehen vermochte, und dem „ersten Schritt auf dem Weg zum Ausgleich“, wie das Oktoberdiplom von 1860 genannt wurde. Ein beherztes Aufgreifen der Ratschläge im Sommer 1859 hätte der Stabilität der Habsburgermonarchie wohl genützt, doch pflegen historische Prozesse eben häufiger in vielen kleinen Einzelschritten als in großen, beherzten abzulaufen.

b) Exkurs: Die Denkschrift Hübners

Hübner bot in seiner Denkschrift vom 19. Oktober eine schonungslose Analyse der Lage der Monarchie im Sommer und Herbst 1859. Die Auswege, die er aufzeigte, wurden viele Monate später, als er längst kein Amt mehr bekleidete, tatsächlich beschritten. Seine Ideen und Formulierungen nahmen das Oktoberdiplom vorweg. Die Denkschrift ist darüberhinaus auch ein sehr persönliches Dokument. Nicht weniger als neunmal kommt das Wort „Überzeugung“ vor. || S. 41 PDF || Aus allen diesen Gründen erscheint es gerechtfertigt und an der Zeit, die Denkschrift hier zur Gänze zu publizieren108:

„Euere Majestät, Allergnädigster Herr!

Die Stimmung der Bevölkerungen in den verschiedenen Teilen des Reiches hat sich in den letzten Monaten wesentlich verschlimmert. In Böhmen, Mähren, den deutschen Provinzen ist zwar ein Geist der Widersetzlichkeit nicht bemerkbar, wohl aber eine große Entmutigung, der immer lauter werdende Wunsch nach Besserung, kein Gefallen an Theorien wie im Jahre 1848, im Gegenteile Angst vor der Revolution, aber die Überzeugung, daß es so nicht bleiben könne, und ein gänzlicher Mangel an Vertrauen in die Regierung. Ich muß der Wahrheit gemäß hinzufügen, daß sogar die in diesen Landen sonst so warmen Gefühle der Anhänglichkeit und Liebe für die Ah. Dynastie in letzter Zeit zu erkalten scheinen. Das hier Gesagte gilt namentlich auch von der Reichshauptstadt Wien.

In Ungarn sind die Zustände noch weit unbefriedigender. Zu dem Mißtrauen und der wachsenden Abneigung, welche die Stimmung der übrigen Provinzen, in verschiedenem Grade, bezeichnet, treten hier Trotza, wachgerufene Erinnerungen an ehemalige Rechte und ein allen Ständen und allen Nationalitäten des Königreiches gemeinsames Gefühl der Erbitterung und Geneigtheit zum Widerstande, sobald sich nur die Gelegenheit ergibt, gegen die Regierung Euerer Majestät. Es ist Tatsache, daß in dem jetzt noch passiven Widerstande Ungarns gegen die Regierung sich Adel und Bürgerschaft, Ungarn, Deutsche und Slowaken begegnen. Dies würde freilich ein Zerfallen dieser Bundesgenossen nach einem Siege über die Regierung nicht ausschließen. Aber im Kampfe gegen sie würden sie gewiß alle unter derselben Fahne stehen.

Ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich Ungarn in diesem Augenblicke als am Rande des moralischen Abfalles von Österreich stehend betrachte. Zum tatsächlichen bedürfte es nur einer günstigen Konjunktur der auswärtigen Verhältnisse. Im geringeren Grade gilt dasselbe von Siebenbürgen. In Kroatien und Slawonien herrschen gleichfalls Kälte und Abneigung gegen die Regierung vor.

Hiezu tritt die Finanznot und die Kreditlosigkeit Österreichs. Die neuerliche Bekanntmachung des Überschreitens des durch kaiserliches Patent auf 500 Millionen festgesetzten Nationalanlehens um 111 Millionen hat auf den ohnehin bereits tief erschütterten Kredit Österreichs im In- wie im Auslande vernichtend gewirkt. An ein Anlehen kann, wie die bedeutendsten Autoritäten der Geldwelt versichern und übrigens die Berichte aus dem Auslande dartun, unter den gegenwärtigen Umständen nicht gedacht werden. Zwei Aufgaben stellen sich daher als die dringendsten heraus: die moralische Wiedereroberung Ungarns und die Herstellung des Kredits.

|| S. 42 PDF || Wenn es keinem Zweifel unterliegt, daß der von dem letzten Ministerium verfolgte Weg der absoluten Zentralisierung zu keinen guten Ergebnissen geführt hat, wenn die Absicht Euerer Majestät, als Allerhöchstdieselben ein neues Ministerium bildeten, wie schon das unter Ah. Sanktion festgestellte Ministerprogramm dartut, dahin hinausging, daß in Zukunft ein anderer Weg eingeschlagen werden solle, so stellt sich dies Bedürfnis heute umso dringender dar, als seit August, dem Amtsantritte der gegenwärtigen Minister, sich die innere Lage des Reiches wesentlich verschlimmert hat. Alle Berichte, alle Wahrnehmungen, die ich teils durch meine Organe, teils persönlich gesammelt habe, bestätigen diese Tatsache.

Mittel, welche noch im August für hinreichend erachtet werden konnten, würden sich heute als unwirksam, morgen als verderblich erweisen.

Ungarn widerstrebt der Regierung dermalen noch passiv, das Benehmen der protestantischen Konvente ist der erste Schritt zum aktiven Widerstand. Ist einmal ein materieller Konflikt mit der Regierung entstanden, so wird früher oder später zur Waffengewalt geschritten werden. Es entsteht daher für die Regierung die Frage, ob sie diesen Weg betreten oder, ehe es zum Konflikte kömmt, Mittel der Versöhnung anwenden wolle.

Bei der gegenwärtigen Lage Europas, bvon Italien gar nicht zu sprechenb, bei der Unsicherheit des Friedens, bei den ungarischen Sympathien in England und der Nationalitätenpolitik Napoleons, bei der Haltung Rußlands, ungeachtet der jetzt etwas freundlicheren Stimmung des russischen Kaiserhauses, ist es mit Bestimmtheit vorauszusehen, daß Anwendung der Waffengewalt von Seite der kaiserlichen Regierung zur Unterdrückung eines Aufstandes in Ungarn ein diplomatisches Einschreiten der Großmächte unter dem Vorwande, Blutvergießen vermeiden zu wollen, ohne allen Zweifel herbeiführen würde. Ist die kaiserliche Regierung in der Lage, eine solche Dazwischenkunft zurückzuweisen und die dergestalt durch das Ausland gestützte Rebellion mit Erfolg zu bekämpfen? Bei der herrschenden Finanznot, bei der in den übrigen Provinzen herrschenden Mißstimmung muß ich es bezweifeln. Gibt aber die Regierung die fremde Vermittlung zu, so hat Österreich aufgehört, eine Großmacht zu sein. Dahin aber wird es meiner Ansicht nach kommen, wenn nicht in kürzester Frist die Mittel gefunden werden, Ungarn moralisch wieder zu gewinnen.

Auf welche Weise kann dies geschehen?

Ich gehe hiebei von folgenden leitenden Grundsätzen aus: Vor allem muß die volle Machtfülle Euerer Majestät und die Einheit der Monarchie gewahrt werden. Was für Ungarn geschieht, wird auch für die übrigen Provinzen geschehen müssen.

Da hiedurch für Landesverwaltung und Landesgesetzgebung ein Teil der jetzt von der Zentralregierung geübten Tätigkeit an die Landesvertretungen übergehen würde, so scheint mir die Schaffung eines Organs in Wien, etwa eines erweiterten Reichsrates cals Gegengewichtc unerläßlich.

Was immer auch Euere Majestät für Ungarn zu tun Ag. beschließen würden, es müßte meiner Überzeugung nach als ein Akt der kaiserlichen Gnade und nicht als ein erzwungenes Zurückgehen auf historische Rechte erscheinen.

|| S. 43 PDF || Solche Auslegungen oder Anforderungen, welche am künftigen ungarischen Landtage, falls einer berufen wird, ohne Zweifel auftauchen würden, müßten auf das bestimmteste zurückgewiesen und ihnen dadurch die praktische Bedeutung genommen werden, daß einem jeden seine Meinung darüber frei stehe, die Regierung aber bei der ihrigen beharre.

Soll der Weg der Versöhnung mit Ungarn betreten werden, so muß die Regierung zunächst sich die Frage stellen, ob sie überhaupt zu versöhnen die Mittel besitze, denn sie besitzt nur solche Mittel, welche mit der Wahrung der kaiserlichen Macht und der Einheit der Monarchie verträglich sind. Kann eine Wiedergewinnung Ungarns mit solchen Mitteln nicht erzielt werden, so wäre der Weg der Versöhnung verschlossen und es bliebe nichts übrig als Anwendung der Gewalt.

Meine Ansicht, ja meine innigste Überzeugung erlaube ich mir jedoch treugehorsamst dahin auszusprechen, daß die Hoffnung auf Wiedergewinnung oder Versöhnung Ungarns in diesem Augenblicke noch nicht entschwunden ist. Die äußersten Parteien wird man freilich nicht versöhnen, aber [für] die konservativen Elemente im Adel und Bauernstande, den achtungswerten Teil der Stadtbevölkerung gäbe es Mittel, [sie] wieder um ihren Kaiser und König zu scharen, ohne die Macht Euerer Majestät wesentlich zu schwächen und ohne die Einheit der Monarchie zu gefährden.

Darauf käme es nun eben zunächst an, die Maßregeln zu ermitteln, welche eine solche Umstimmung in Ungarn hervorrufen sollen und werden. Sie würden, falls Euere Majestät diesen Weg zu betreten gesonnen wären, den Gegenstand der besonderen Erwägung und Nachforschungen bilden müssen. Meinen Erhebungen zufolge dürfte eine solche Umstimmung schwerlich anders als durch nachstehende Maßregeln bewerkstelligt werden:

Abschaffung der sechs Statthaltereiabteilungen und Wiedereinverleibung der Woiwodina.

Herstellung der alten ungarischen Verwaltungsformen, also des ungarischen Hofkanzlers, der Statthalterei in Ofen, des Judex Curiae, des Personalis etc.

Reaktivierung der ehemaligen Komitate in thesi; Ernennung der Obergespäne und auf deren Vorschlag der Vizegespäne durch Euere Majestät.

Zulassung der ungarischen Sprache als Amtssprache in Ungarn, wo das vor dem Jahre 1848 der Fall war; endlich Einberufung des Landtages in Preßburg, bei dessen Zusammensetzung natürlich den neuen Verhältnissen Rechnung zu tragen wäre.

Auf ein Zurückgehen vor das Jahr 1848 in Beziehung auf Urbarium, adelige Steuerfreiheit und Freiheit von Militärpflichtigkeit scheint außer den extremsten Parteien niemand für möglich zu halten, noch zu wünschen. Dagegen hörte ich von allen Seiten, daß die Krönung in der Meinung des Volkes ein unentbehrlicher Akt sei, damit der König vor der Nation in der vollen Weihe seiner Würde erscheine; doch wird von allen vernünftigen Ungarn zugegeben, daß der Krönungseid ohne wesentliche Modifikationen nicht geleistet werden könne.

Durch solche Maßregeln, welche mir im Vereine mit anderen, weiter unten treugehorsamst zu erwähnenden die Einheit der Monarchie nicht zu gefährden scheinen, halte ich es für möglich, eine moralische Wiedereroberung Ungarns zu bewerkstelligen. Sollte dies aber auch nicht gelingen, sollten Trotz und Leidenschaft mächtiger sein als Vernunft und Interesse, so würde ein Vorangehen der Regierung mit den bezeichneten Maßregeln ihre Stellung wesentlich bessern, sie würde gewiß auf die allgemeine || S. 44 PDF || Zustimmung der übrigen Provinzen sowie des Auslandes rechnen können und den Einmischungsgelüsten der Großmächte Vorwand und Anlaß entziehen.

Ich habe oben ehrerbietigst die Überzeugung ausgesprochen, daß nichts für Ungarn geschehen könne, was nicht auch analogisch für die übrigen Provinzen getan würde. Tritt ein Landtag in Ungarn zusammen, um bei der Abfassung der Landesgesetze zu intervenieren, so wird dasselbe Recht den übrigen Ländern nicht versagt werden können. Bei Bildung dieser ständischen Verfassungen könnte natürlich keine Rede sein, auf abgeschaffte Privilegien einzelner Klassen zurückzukehren; alle Klassen und alle Stände sollen darin vertreten sein, der Schwerpunkt aber im Grundbesitz liegen. Die Landesvertretung sowohl der ungarischen als die der übrigen Provinzen beraten und vereinbaren mit der Regierung die Landesgesetze. Eine theoretische Festsetzung der Grenze zwischen Beratung und Deliberierung würde ich weder für klug noch für praktisch halten. Man muß überall wissen, daß der Kaiser der Herr ist, der jeden durch die legalen Organe an ihn gelangten Wunsch seiner Länder prüft und soweit als möglich berücksichtigt, daß er aber in letzter Instanz die Macht hat, unzulässige Wünsche zurückzuweisen.

Die Schaffung dieser Landtage macht, wie oben gehorsamst bemerkt worden, um der Zentrifugalkraft ein Gegengewicht zu geben, die Einsetzung eines Zentralorgans meiner Ansicht nach unumgänglich notwendig.

Ich würde zu diesem Ende die Umgestaltung des Reichsrates zu einem legislativen und finanziellen Beirat der Kaisers als angezeigt erachten. Ich setze voraus, daß Euere Majestät alle bestehenden Finanz- und Steuergesetze sowie jene, welche sich auf Zollsachen, Münz- und Bankwesen dund Rekrutierungd beziehen, als organische Reichsgesetze erklären. Die Tätigkeit des Reichsrates würde sich auf die eFinanzfragene beschränken, in der Art, daß ohne Zustimmung desselben keines dieser Gesetze abgeändert, keine neue Staatsanleihe kontrahiert, keine bestehende Steuer erhöht, keine neue eingeführt würde. Zusammengesetzt würde dieser Reichsrat zum Teile durch Mitglieder kraft kaiserlicher Ernennung, zum Teil durch Wahl der Provinzlandtage aus ihrer Mitte.

Ich halte es für unerläßlich und für weniger bedenklich als es scheinen möchte, daß Euere Majestät die eben angedeuteten Finanzakte als da sind: Kontrahierung von Staatsanlehen etc. von der Zustimmung des Reichsrates abhängig zu machen geruhen, denn ohne eine solche Zusage wird der Kredit nicht hergestellt werden, und wird der Kredit nicht hergestellt, so gehen wir der größten aller Gefahren entgegen – dem Bankrott. Allein, selbst eine Zusage wird nicht hinreichen, den Kredit herzustellen, wenn der Reichsrat nicht zum Teile aus gewählten Abgeordneten der Landtage besteht.

Dies wird auch zugleich ein Mittel sein, Petita um Steuerbewilligungsrecht, wie sie am ungarischen Landtage wahrscheinlich und an anderen möglicherweise vorkommen dürften, auf das bestimmteste zurückzuweisen, indem die Provinzen durch ihre Vertreter im Reichsrate an der legalen Kontrolle des Staatshaushaltes teilnehmen würden. Dies sind in ihrem kürzesten Ausdrucke die Grundsätze, welche ich mir als die leitenden vorstelle, damit es gelingen könne, Österreich aus der gefahrvollen und unhaltbaren Lage, in der es sich befindet, zu retten.

|| S. 45 PDF || Ich spreche hier nicht nur Meinungen aus oder Ideen, sondern meine innige und tiefe Überzeugung. Den Weg fortzugehen, welchen das letzte Ministerium durch zehn Jahre verfolgt hat, halte ich für unmöglich, weil er in einer nahen Zukunft zu Katastrophen und um uns aus diesen zu retten, zum modernen Konstitutionalismus führen würde. Dieser aber ist in Österreich gleichbedeutend mit Schwächung der kaiserlichen Macht und Auflösung der Monarchie. Es bleibt daher meiner Überzeugung nach kein anderes Mittel übrig, als mutatis mutandis mit Beibehaltung der in dem letzten Jahrzehnte geschehenen Umgestaltungen mit Berücksichtigung der Bedürfnisse der Zeit auf den alten historischen Weg zurückzukehren, den das erlauchte Erzhaus während sechs Jahrhunderten und mit Ihm seine treuen Völker in guten und bösen Tagen, und in den bösen gerade am innigsten vereint, unter wechselnden Geschicken zusammen gewandelt sind. Zuweilen haben die Regierungen der erlauchten Vorfahren Euerer Majestät versucht, von diesem Wege abzuweichen. Es war aber immer vom Übel, und in Ihrer Weisheit und ohne Ihrer Würde Eintrag zu tun, haben diese erhabenen Monarchen noch zu rechter Zeit einzulenken geruht. Als Beleg erlaube ich mir hier an den letzten Akt Kaisers Joseph II. im Jahre 1790 und an den Vorgang weiland Seiner Majestät Kaisers Franz im Jahre 1825 treugehorsamst zu erinnern.

Gegen diesen Weg wird eingewendet, daß er zum modernen Konstitutionalismus führe. Ich glaube im Gegenteil, es ist das einzige Mittel, ihm zu entgehen.

Es ist für einen treuen Diener eine harte aber heilige Pflicht, seinem Monarchen ein so trübes Bild der Zustände des Reiches zu entwerfen. Eine noch härtere für mich ist, Euerer Majestät hier ehrerbietigst auszusprechen, daß mir mein Gewissen nicht erlauben würde, Mitglied der Regierung zu verbleiben, wenn auf dem gegenwärtigen Wege fortgegangen werden soll. Daß dies aber die Absicht der Mehrzahl der Minister Euerer Majestät ist, darüber kann ich nach meinen Unterredungen mit Grafen Rechberg, Grafen Gołuchowski, Grafen Thun und Grafen Nádasdy nicht zweifeln. Da aber nur ein einmütiges Zusammengehen sämtlicher Minister, versichert des kräftigen Beistandes Euerer Majestät, es möglich machen würde, den von mir bezeichneten Weg mit Aussicht auf Erfolg zu betreten, da zwischen meinen Kollegen und mir eine große Meinungsverschiedenheit obwaltet, da meine Meinung für mich den Wert einer tiefen Überzeugung hat, da kein Ehrenmann seine Überzeugung irgend einer anderen Rücksicht opfern darf und kann, da ich andererseits weder die Anmaßung noch die Hoffnung habe, bei Euerer Majestät meine Überzeugung gegenüber den widerstrebenden Ansichten der Ministers des Äußern, des Inneren, der Justiz und des öffentlichen Unterrichtes zur Geltung zu bringen (mit dem Finanzminister habe ich über die Sache nicht gesprochen, weil sein Geist sich in einer der meinigen fremden Richtung bewegt) – aus allen diesen Gründen sehe ich mich genötigt, Euere Majestät ehrerbietigst um meine Enthebung in Gnaden von dem Posten des Polizeiministers zu bitten.

Hübner

Wien, am 19. Oktober 1859.“

c) Die „Maßregeln zur Verständigung mit Ungarn“

Mit der Enthebung Hübners am 20. Oktober war also die Entscheidung gefallen, jetzt keine große Aktion zur Aussöhnung mit Ungarn einzuleiten. Statt dessen wurde nun rasch der Weg kleinerer Konzessionen eingeschlagen, der sich freilich schon nach sehr kurzer Zeit als Sackgasse erweisen sollte. Der Kaiser selber eröffnete den || S. 46 PDF || Ministern seinen Entschluß, „Maßregeln zur Verbesserung der Zustände in Ungarn, zu ergreifen“, zunächst einem kleinen Kreis, der „engeren Konferenz“, dann der gesamten Ministerkonferenz109. Beigezogen war auch der Generalgouverneur von Ungarn Erzherzog Albrecht110. Nicht weniger als zwölf politische und wirtschaftliche – sozusagen vertrauensbildende – Maßnahmen wurden erwogen und elf auch beschlossen. Unter anderen Umständen hätten sie ein respektables Paket sein können. In der gespannten Nachkriegssituation im Herbst 1859 und angesichts der ständigen Verschlechterung der Stimmung wegen des am 1. September erlassenen Protestantenpatents konnten sie nicht greifen. Man begann zwar mit der Durchführung der einzelnen Maßnahmen111, politisch gesehen blieben sie aber wirkungslos. Dennoch sind die Diskussionen in der Ministerkonferenz, z. B. über die Sprachenfrage oder über die Aufhebung der fünf Verwaltungsbezirke, hochinteressant. Thun versäumte nicht die Gelegenheit, den Finger auf die Wunde zu legen und einen Landtag zu monieren, der „die Möglichkeit der Krönung Sr. Majestät als König von Ungarn in sich schließen würde“, und Bruck beantragte sogar, „die Komitatsverfassung in Angriff zu nehmen“. Auf der anderen Seite zitierte Erzherzog Albrecht die Schlacht am Weißen Berge, wiederholte also die Verwirkungstheorie, und Nádasdy formulierte in einem eigenen Votum seine Besorgnis so: „Man muß ungarischen Landtagen beigewohnt haben, um die Tatkraft zu ermessen, welche eine Versammlung, die sich auf 8,000.000 Seelen stützt, entwickelt. Diese Versammlung [. . .] wird bei der herrschenden Stimmung, wo die im April 1848 Ah. sanktionierten, im hohen Grade demokratischen Gesetze noch in frischem Angedenken sind, in wenigen Tagen zu einer Konstituante übergehen [. . .].“

d) Der Umschwung

Trotz des Versuchs des Kaisers, mit den „Maßnahmen“ ein Ende der Debatte zu erzielen, wurde weiter geredet, bzw. wurde die Fortsetzung der Gespräche als notwendig angesehen, wie etwa der Nebensatz Gołuchowskis in der Konferenz zwei Tage nach der Enthebung Hübners zeigt, man wolle „das Resultat der Besprechung mit den ungarischen Vertrauensmännern nicht beeinträchtigen“112. Am 12. November führte Rechberg z. B. ein langes Gespräch mit dem Reichsrat Ladislaus Szőgyény, der es verstand, die absolute Loyalität zum Kaiserhaus mit einer klaren Sprache zur ungarischen Frage zu verbinden113. Er überreichte Rechberg wenige Tage später eine Denkschrift, die zum wiederholten Mal die Mängel des neoabsolutistischen Systems und mögliche || S. 47 PDF || Auswege aufzeigte114. Es gelang Szőgyeny vielleicht deutlicher und glaubwürdiger als anderen aufzuzeigen, daß die Änderung des Systems vor allem im Interesse der Krone selbst gelegen war. Der bisherige Weg führe „trotz der besten landesväterlichen Absichten“ nicht zum erwünschten Ziel, das neue System sei „ob seiner inneren Gebrechen an und für sich fehlerhaft“ und könne nie zur Befriedigung Ungarns führen, vielmehr schade es dem Ah. Throne. Der Weg, den Szőgyeny wies: niemand könne allein die Probleme lösen, man müsse mit den ungarischen Politikern offen reden. Seine persönliche Meinung faßte er im prägnanten Satz zusammen: „Negatio unius est positio alterius. Man tue das Gegenteil von dem, was bisher geschehen ist und noch geschieht.“115

Daß von einer Befriedung Ungarns immer weniger die Rede sein konnte, zeigte vor allem der täglich wachsende Widerstand gegen das Protestantenpatent für Ungarn. Die Tatsache, daß es von der Regierung oktroyiert war, und noch mehr, daß es die Zahl der Superintendenzen vermehrte und ihre Grenzen veränderte, um die slowakischen und deutschen Gemeinden von den magyarischen zu emanzipieren, löste bei den Magyaren heftigste Reaktionen aus, die in der Ministerkonferenz wiederholt zur Sprache kamen116. Was letzlich den Meinungsumschwung bei Franz Joseph herbeigeführt hat – ob es die wachsende Unruhe war, die vernünftigen Ratschläge im Sinne Szőgyénys oder die finanziellen Notwendigkeiten – ist nicht so wichtig. Vermutlich griffen diese Vorgänge ineinander, jedenfalls änderte er Ende Jänner 1860 wieder seine Politik. Er verließ den nutzlosen Weg kleiner Zugeständnisse und beschritt nun doch den erfolgversprechenderen Weg der Beratung mit den Ungarn. Peter Hanák hat die verschiedenen Ereignisse, die sich um den 23. Jänner 1860 gruppieren, überzeugend analysiert117. Vier davon werden in den Ministerkonferenzprotokollen greifbar. An diesem Tag begann die Konferenz mit der Redaktion des kaiserlichen Patents zur Verstärkung des Reichsrates118. Daß die ungarischen Altkonservativen in diesem Gremium ein wichtige Rolle spielen würden und daß auf diesem Umweg also doch die sogenannte Transaktion mit den Ungarn begann, ist bekannt. Zugleich legte der Finanzminister einen Anleiheplan zur Deckung des Budgetdefizits des Jahres 1860 vor119. Der Zusammenhang zwischen der finanziellen und der konstitutionellen Problematik wird offenbar. Am selben Tag beauftragte der Kaiser gewissermaßen hinter dem Rücken der Konferenz den Reichsrat v. Szőgyény, || S. 48 PDF || die Grundzüge einer Komitatsverfassung auszuarbeiten120. Am Vortag war schließlich eine Deputation der Protestanten aus Ungarn eingetroffen. Am 23. Jänner empfing Rechberg ihren Sprecher Baron Miklós Vay. In den folgenden Tagen kam es zu intensiven Verhandlungen über das Protestantenpatent121. Am 1. Februar wurde Vay vom Kaiser in Audienz empfangen122.

Gleichsam als Gegengewicht zu den beginnenden Gesprächen hatte Franz Joseph ebenfalls am 23. Jänner endlich Erzherzog Albrecht die von ihm erbetenen weitreichenden Vollmachten zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in Ungarn erteilt123. Außerdem wurde ein Plan zur militärischen Besetzung Ungarns vorbereitet124. Die letzten beiden Schritte dienten aber offenbar nur dazu, die grundsätzliche Änderung der Politik hinter einer scheinbaren Politik der Stärke zu verbergen. Einige Fakten der folgenden Monate sprechen eine andere Sprache. Am 31. März begann die Ministerkonferenz mit der Diskussion über die Grundzüge der Komitatsverfassung aufgrund der Entwürfe Szo˝gyénys125. Die Vollmachten für Albrecht waren beinahe ein Abschiedsgeschenk: drei Monate später, am 19. April 1860 wurde er als Generalgouverneur abgelöst, der populäre General FML. Ludwig Ritter von Benedek, der Abstammung nach ein Ungar, wurde sein Nachfolger126. Wenige Wochen später, am 15. Mai 1860, wurde das Protestantenpatent zurückgenommen127. Und Baron Miklós Vay wurde gleichzeitig mit der Erlassung des Patents vom 20. Oktober und der Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Institutionen Ungarns zum ersten ungarischen Hofkanzler seit 1848 ernannt.

Die Finanzfrage: Bemühungen um ein ausgeglichenes Budget - Retrodigitalisat (PDF)

Kehren wir zurück zum Ministerprogramm und zu seiner Durchführung. Ein wichtiges, durchgängiges Motiv war, wie wir gesehen haben, die Sparpolitik zwecks Ordnung des Staatshaushaltes. Das Vertrauen der Finanziers in die politische Führung der Monarchie war erschüttert. Wollte die Regierung die Großmachtstellung behaupten, ohne den konstitutionellen Wünschen nachzugeben, dann mußte sie vor allem versuchen, Einnahmen und Ausgaben in Einklang zu bringen, um nicht dem Vertrauen der Kreditgeber völlig ausgeliefert zu sein. Die Struktur- und Verwaltungsreformen, die im Ministerprogramm enthalten waren, zielten also primär auf Einsparungen. Es stellte sich freilich heraus, daß der Weg zu konkreten, spürbaren Ausgabensenkungen sehr mühsam war, auch wenn die Umsetzung des Ministerprogramms zügig angegangen wurde.

Relativ rasch wurden jene Punkte durchgeführt, die den Wirkungskreis einzelner Ministerien betrafen (Punkt II). Die Auflösung des Handelsministeriums wurde schon in der || S. 49 PDF || ersten Konferenz angesprochen. Am 28. August legte Toggenburg die Amtsführung zurück. Die Aufteilung der Agenda beschäftigte noch ein paarmal die Konferenz, und mit dem 31. Oktober 1859 hörte das Handelsministerium zu existieren auf128. Die Übertragung der Zuständigkeit für die „Wiener Zeitung“ vom Finanz- ans Polizeiministerium (Punkt II, letzter Absatz) wurde im Dezember 1859 geregelt129. Die definitive Organisierung des neuen Polizeiministeriums ließ noch etwas auf sich warten130. Einige Zeit erforderte auch die Reorganisierung der Gendarmerie (Punkt II, erster Absatz). Mitte Oktober legte Innenminister Gołuchowski seine Anträge vor. Dabei kam es zu heftigen Auseinandersetzungen darüber, ob die Gendarmerie in eine Zivilwache umgewandelt werden oder ob sie ihren militärischen Charakter beibehalten sollte131. Der Vertreter des Armeeoberkommandos ging so weit zu sagen, die Anträge des Innenministers kämen einer Abschaffung der Gendarmerie gleich und nicht einer Reorganisierung132. Die Entscheidung fiel erst im Juni 1860. Der militärische Charakter wurde beibehalten, doch wurde die Gendarmerie den Weisungen der Zivilbehörden unterstellt. Keinen Zweifel ließ der Kaiser an seinem Willen, daß es zu bedeutenden Einsparungen kommen müsse133.

Rasch wurde auch die Durchführung des Punktes IX angegangen, also die Überwälzung von Verwaltungsaufgaben auf Gemeinden und „andere Organisationen“ bzw. die Einsetzung von Kommissionen aus Vertrauensmännern, die darüber beraten sollten. Schon am 25. August brachte der Kaiser diesen Programmpunkt zur Sprache, am 30. August und am 1. September wurde über die dazu nötige Instruktion gesprochen, die Gołuchowski in der Folge erließ134. Im Oktober begannen die Kommissionen in den Kronländern mit der Arbeit, die von der Öffentlichkeit mit großem Interesse verfolgt wurde135. Im Frühjahr 1860 lagen die Ergebnisse vor und wurden in der Ministerkonferenz beraten136. Die inhaltlichen Differenzen waren aber noch so groß, daß es nicht zur Erlassung von Landgemeindeordnungen kam, somit auch der erhoffte Einspareffekt in der Verwaltung ausblieb.

Das wichtigste Instrument des Ministerprogramms war die Budgetsparkommission (Punkt X). Auch sie wurde sofort am 23. August zur Sprache gebracht137. Allerdings hatte es den Anschein, als ob ihre Einsetzung gleich auf die lange Bank geschoben werden sollte, jedenfalls wurden „gegen ihre sofortige Wirksamkeit Bedenken erhoben“. Thun schlug ganz im Sinne des Punktes X, nach dem „das Gesamtbudget Gegenstand der Ministerberatung“ zu sein hatte, vor, daß Bruck „Hauptideen“ vorlegen sollte, || S. 50 PDF || über die sich zuerst die Minister zu verständigen hätten. Das Ergebnis sollte der Kommission als Richtschnur dienen. Die Konferenz folgte Thun und beauftragte den Finanzminister, Ersparungsvorschläge vorzulegen. Damit gab sie aber Bruck freie Hand. Er ließ als Instruktion für die Kommission die Denkschrift „Über Reformen der inneren Verwaltung in finanzieller Beziehung“ ausarbeiten und Anfang Oktober den Ministerkollegen überreichen. Bruck forderte Vereinfachung, mehr Verantwortung und mehr Kontrolle. Die Schrift mündete in eine scharfe Kritik der Militärverwaltung: „Bis nahe an 300 Millionen Gulden, also über die ordentliche laufende Staatsbedeckung eines Jahres, hat sich der Militäraufwand schon in einem Jahr belaufen, über 1900 Millionen Gulden wurden für dieses kostspielige Werkzeug binnen den 12 Jahren 1848 bis 1859 aus den Kriegskassen verausgabt, und doch wurde gerade bei diesem Dienstzweige die Unabhängigkeit der Kontrolle gebrochen [. . .]“. Kein Wunder, daß sich das Armeeoberkommando sofort gegen diese Kritik verwahrte138. Am 22. und am 26. Oktober wurden Brucks Vorschläge besprochen. Zwar gab es politisch begründete Bedenken gegen die Auflassung so mancher Unterbehörden auf Landesebene, doch wurde die Denkschrift als Leitfaden für die Kommission gebilligt. Am 11. November 1859 wurde die Budgetsparkommission vom Kaiser eingesetzt, die Tatsache wurde „zur Beruhigung des Publikums über die finanziellen Zustände“ in der Wiener Zeitung veröffentlicht139. Die Kommission wurde sogar vom Kaiser in Audienz empfangen, ein deutlicher Hinweis auf ihre Wichtigkeit. Zurecht hat Brandt formuliert, daß diese aus hohen Beamten zusammengesetzte Kommission „zum Hebel [wurde], um den von den Ressortchefs nie realisierten Budgetausgleich tatsächlich zu erkämpfen und namentlich die bisher unüberwindbare Militärverwaltung zu bezwingen“140. Von November 1859 bis März 1860 erarbeitete sie Vorschläge für das Budget 1860/61, gipfelnd in der Forderung nach einem normalen Aufwand für Heer und Marine von bloßen 70 bis 80 Millionen Gulden. Die Reduktion der Militärausgaben wurde zu einem politischen Hauptthema der 1860er Jahre, und immer wieder berief man sich auf die Sparkommission von 1859/60141.

So weit war es im Herbst 1859 noch nicht, aber der politische Angriff auf das Armeebudget war schon eingeleitet. Der Kaiser selbst brachte Armeereduktionen in Vorschlag, und Ministerpräsident Rechberg warnte vor einem „wahren Sturm nach konstitutionellen Einrichtungen und Garantien“, wenn es nicht gelinge, den Staatshaushalt auszugleichen142. Ernüchternd waren demgegenüber die Summen, die Bruck am 1. November, dem Beginn des Verwaltungsjahres 1859/60, der Ministerkonferenz vorlegte143. Der Krieg hatte 200 Millionen Gulden gekostet. Zusammen mit dem Ordinarium von 106 Millionen hatten Armee und Marine im Verwaltungsjahr 1858/59 || S. 51 PDF || ganze 306 Millionen Gulden verschlungen. Für das neue Jahr hatte das Armeeoberkommando schon wieder 170 Millionen verlangt. Bruck sah sich „außerstand“, die dafür notwendigen Summen aufzubringen, und verlangte die Reduktion des „ungeheuren“ Armeestandes jetzt im Frieden. Er blieb nicht allein mit dieser Forderung, und die Minister überboten sich in scharfen Äußerungen. Die Debatte wurde zwei Tage später im Beisein des Kaiser fortgesetzt, der schließlich vom Armeeoberkommando Vorschläge sogar zu solchen Reduktionen abverlangte, „zu denen man bisher nie greifen wollte“144. Schließlich wurden der Armee 132 Millionen zugebilligt, einschließlich 20 Millionen Schulden aus dem Vorjahr, sodaß sie in Wirklichkeit nur 112 Millionen erhalten sollte. Es war ein Kompromiß durchaus zugunsten Brucks und Rechbergs. In der Ah. Entschließung über den Staatsvoranschlag für 1859/60 hieß es zum Armeebudget, der Kaiser „erwarte von der Umsicht und Pflichttreue des Armeeoberkommandos, daß hievon [d.h. von den 132 Millionen] zuverlässig nicht nur die innerhalb der notwendigen Grenzen zu haltenden Erfordernisse des Ordinariums, Extraordinariums und die Schuldenreste des Jahres 1859 nebst allen wie immer Namen habenden Militärauslagen ohne Überschreitung [das war eine Absage an jedwedes Nachtragsbudget] werden bestritten, sondern durch zweckmäßig tunliche Beschränkungen hieran auch noch Ersparungen werden erzielt werden.“145 Die politische Diskussion über die Frage, was die Armee die Monarchie kosten dürfe, war damit keineswegs zu Ende. Am 8. Dezember stellte Franz Joseph die entscheidende Frage nach dem Friedensnormalbudget bzw. nach dem Friedensstand der Armee146. Auch hier nannte Bruck die Summe von 72 Millionen, die dann in den Protokollen der Sparkommission wiederkehrt.

Noch schwieriger als die Verminderung der Ausgaben war die Erhöhung der Einnahmen zu bewerkstelligen. Eine grundlegende Reform der direkten Steuern war schon seit Jahren in Verhandlung, die Positionen waren festgefahren. Die Finanzverwaltung zielte auf eine Dynamisierung des stabilen Bodenertragskatasters zugunsten flexibler Ertragsschätzungen unter Mitwirkung von Selbstverwaltungskörpern. Das Ergebnis wäre eine gerechtere, aber sicher auch höhere Steuer gewesen. Die Widerstände des grundbesitzenden Adels waren so stark, daß die Reform, die Bruck an der Wende 1858/59 sogar schon durch die Ministerkonferenz gebracht hatte, im Frühjahr 1859 am Widerstand des Reichsrates zu scheitern drohte. Es war Bruck gelungen, das endgültige Aus durch den Vorschlag der Einsetzung einer unabhängigen Immediatkommission zu verhindern. Daß das Ministerprogramm nichts zur Steuerreform enthielt – mit Ausnahme des vagen Hinweises auf die „Steuereinhebung“ im Punkt IX über die Selbstverwaltung – erklärt sich wohl aus der verfahrenen Situation, in der sich die Steuerreformpläne befanden147. Immerhin wurde sofort nach Beginn der Tätigkeit des neuen Kabinetts Rechberg auch darüber geredet: am 25. August brachte der Kaiser die Immediatkommission zur Sprache148. || S. 52 PDF || Sie wurde bald darauf eingesetzt. Die Hoffnungen Brucks erfüllte sie nicht, und im Mai 1860 wurde die Brucksche Steuerreform endgültig abgeblasen149.

Unterwegs zur Budgetkontrolle von außen - Retrodigitalisat (PDF)

Wenn ein ausgeglichener Staatshaushalt so schnell nicht zu erreichen war, was die Diskussionen um Ausgaben und Einnahmen bewiesen, dann war der Staat also doch auf das Vertrauen der Kreditgeber angewiesen, dann ging die Entwicklung unaufhaltsam in Richtung Kontrolle der Staatsausgaben durch Kräfte außerhalb der zentralen Administration. In der Tat mußten im Spätherbst des Jahres 1859 zwei entscheidende Schritte in diese Richtung getan werden, die für die Entwicklung der inneren Organisation der Habsburgermonarchie von allergrößter Bedeutung wurden. Beide sind mit dem Namen des Finanzministers Bruck verbunden: die unabhängige Kontrolle der Staatsschuld und die Verstärkung des Reichsrates als wichtige Schritte zur verfassungsmäßigen Mitwirkung des Staatsvolkes an der Gestaltung des Staatshaushaltes.

Die Staatsschuldenkontrolle war kein Punkt des Ministerprogramms. Sie war durch die scheinbar eigenmächtige und in Finanzkreisen höchstes Aufsehen erregende Überschreitung einer Anleihe durch den Finanzminister – praktisch einer ungedeckten Neuverschuldung und Geldproduktion – auf die Tagesordnung gekommen. Es handelte sich um die Überschreitung des mit 500 Millionen bewilligten Nationalanlehens von 1854 um 111 Millionen, die Bruck in den Jahren 1857 und 1858 mit Billigung Franz Josephs zur Defizitdeckung getätigt hatte. Die Ministerkonferenz war schon im Dezember 1858 informiert worden, hatte aber die unvermeidliche Veröffentlichung des Tatbestandes auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Am 8. Oktober 1859 eröffnete Bruck der Ministerkonferenz, der Zeitpunkt der Veröffentlichung sei nun gekommen, die Tatsache der Überschreitung sei überdies schon bekannt geworden und werde kaum Eindruck machen, und er legte den Kundmachungs­entwurf vor. Rechberg äußerte zwar Bedenken, doch stimmte die Konferenz schließlich zu150.

Die Kundmachung wurde in der Wiener Zeitung veröffentlicht und verursachte entgegen den beruhigenden Versicherungen Brucks vor allem im Ausland eine sehr schlechte Presse. Die Kurse wurden davon kaum beeinflußt, wie Bruck selbstsicher feststellte151. Im Inland rief das Ereignis die konservativen Gegner Brucks auf den Plan. Sie hofften nun, den als zu liberal geltenden Finanzminister aushebeln zu können. Offen wurde seine Abberufung gefordert152. Elf Tage nach der Veröffentlichung erreichte der Streit die Ministerkonferenz. Rechberg beklagte die Erschütterung der Glaubwürdigkeit der Monarchie und forderte eine wirksamere Kontrolle der Staatsschulden­gebarung. Auch Bruck hatte sich schon damit befaßt, wollte sich aber nicht drängen lassen. Auf eine entsprechende Bemerkung Rechbergs bot Bruck seine Demission an. || S. 53 PDF || Die Krise um Bruck dauerte einige Tage lang an, der Kaiser ließ aber Bruck nicht fallen, der Finanzminister zog seine Demission zurück und beantragte tags darauf die Verbesserung der Kontrolle der Staatsschuld153. Eine Kommission aus Beamten und aus Vertretern der Börsekammer, der Handelskammer und der Nationalbank unter dem Vorsitz des Präsidenten der Obersten Rechnungskontrollbehörde sollte laufend den Stand der Staatsschuld überprüfen. Brucks Ministerkollegen, allen voran Thun, der entschiedenste Gegner Brucks, verlangten aber eine „wahrhaft unabhängige Kommission“, in der gar keine Beamten vertreten sein sollten, dafür „Mitglieder aus allen Ständen, dem Adel, großen Grundbesitzern, dem Handelsstande und Industriellen“. Bruck stimmte sofort zu. Zehn Tage danach, am 5. November, legte er den Entwurf eines kaiserlichen Patents vor, der in mehreren Sitzungen diskutiert wurde. Der Reichsrat bekämpfte den Entwurf heftig, doch die Ministerkonferenz hatte sich geeinigt und wollte wohl auch die im Ministerprogramm errungene verstärkte Stellung gegenüber dem Reichsrat behaupten, der Kaiser entschied in allen Punkten für die Minister, und zu Weihnachten 1859 wurde die Einsetzung der Staatsschuldenkommission verfügt154. Die Einsetzung war ohne Zweifel ein wichtiger Schritt, um das verlorengegangene Vertrauen wiederzugewinnen, sie war Voraussetzung für eine neue Kreditaufnahme. Sie bedeutete auch eine Schwächung des autokratischen Regierungsstils des Neoabsolutismus in einer wichtigen Teilfrage, indem „hier in Wahrheit die Kontrolle des Staatsschuldenwesen durch die Hochfinanz als Exponenten der Staatsgläubiger konzediert wurde“155. Zwar wollte die Regierung durch diese Maßnahme den konstitutionellen Forderungen entgegenarbeiten, man kann sie aber auch als einen ungewollten Vorgriff darauf interpretieren. Die Staatsschuldenkommission wurde nämlich nur drei Jahre später in die parlamentarische Staatsschuldenkontrollkommission des Reichsrates umgewandelt. Gleichsam um die Kontinuität der beiden Kommissionen zu beweisen, wurde der vom Kaiser eingesetzte Präsident der ersten Kommission, Josef Fürst Colloredo-Mannsfeld, auch zum Präsidenten der zweiten gewählt156.

Der zweite und noch spektakulärere Schritt war die sogenannte Verstärkung des Reichsrates. Das Ministerprogramm sah im Punkt V eine Reform des neoabsolutistischen Kübeckschen Beratungs­organs vor. Unter anderem sprach es von der „Einberufung temporärer Mitglieder, welche nicht dem Staatsdienste angehören, zur Beratung spezieller Fragen“. Es war zunächst nicht zu sehen, daß diese harmlose Formulierung den Keim der Konstitutionalisierung in sich barg. Ebensowenig war es sicher, daß dieser Keim in fruchtbares Erdreich fallen würde. Vorerst war es nicht mehr als eine Anknüpfung an das Reichsratsstatut aus dem Jahr 1851, das im § 16 diese Möglichkeit vorsah. Sie war erstmals am 7. Juli, kurz vor dem überraschenden Kriegsende, von Justizminister Nádasdy in Spiel gebracht worden, und zwar um die von Bruck verlangte Einberufung von || S. 54 PDF || Vertrauensmännern abzuwehren157. Dann wurde der Punkt V des Ministerprogramms beschlossen. In der Konferenz vom 23. August wurde ein Ministerkomitee eingesetzt, das die Vorschläge zur Reform des Reichsratsstatuts ausarbeiten sollte158. Hübner forderte in seiner Denkschrift die „Erweiterung“ des Reichsrates.

Noch bevor das Ministerkomitee – Thun, Bruck und Nádasdy – seine Vorschläge unterbreitete, fiel in ganz anderem Zusammenhang erstmals das Wort „verstärken“.

Der von Bruck am 26. Oktober 1859 vorgelegte Entwurf des Kabinettschreibens, mit dem die Budgetsparkommission eingesetzt werden sollte, enthielt folgenden Passus: „Die Kommission hat ihre Arbeit längstens bis Ende März 1860 zu vollenden, da es Meine Absicht ist, dieselbe an Meinen nach den §§ 13 und 16 Meines Patentes vom 13. April 1851 durch zeitliche Teilnehmer aus den verschiedenen Kronländern und Ständen der Monarchie verstärkten Reichsrat zu leiten und durch denselben nochmals prüfen und zu Meiner Schlußfassung vorbereiten zu lassen“159. Bruck verknüpfte also geschickt zwei Punkte des Ministerprogramms, die Budgetkommission (Punkt X) und die Reform des Reichsratsstatuts (Punkt V). Er tat dies zu einem Zeitpunkt, in dem die finanzielle Problematik gerade einen Höhepunkt an öffentlicher und regierungsinterner Aufmerksamkeit erreicht hatte. Daß am selben Tag und im selben Protokoll auch die Errichtung der Staatsschuldenkommission beantragt wurde, zeigt in nicht zu überbietender Deutlichkeit, daß die Politik des selbstherrlichen Neoabsolutismus, der sich eine zu teure Armee geleistet hatte, zu Ende war: eine Sonderkommission sollte den Staatshaushalt durchleuchten, Vertreter der Hochfinanz durften die Staatsverschuldung kontrollieren und angesehene Männer aus allen Kronländern und Ständen sollten den zukünftigen Staatsvoranschlag beraten!

Die Ministerkonferenz war mit Brucks Vorschlag einverstanden. Thun ging an diesem 26. Oktober sogar noch einen Schritt weiter. Er meinte, es sollten eigentlich nicht bloß „zeitliche“ Reichsräte berufen werden, denen bei enger Auslegung des Reichsratsstatuts nur eine Expertenrolle zufiel, sondern gleichberechtigte „außerordentliche“. Dies war keine neue Idee. Schon 1851 – der Langzeitminister Thun war schon damals Kabinettsmitglied gewesen – hatte Schwarzenberg die Möglichkeit der Einberufung außerordentlicher Reichsräte vorgeschlagen, der Kaiser hatte das verweigert160. Auch diesmal blieb es dabei, daß bloß „zeitliche Teilnehmer [. . .] beigezogen“ werden sollten161.

Am 23. Jänner 1860 lag schließlich der Entwurf des Ministerkomitees für ein neues Statut vor162. Die Diskussion wurde nunmehr ganz offen unter dem Stichwort „Verstärkung des Reichsrates“ geführt, wobei die Eigenschaftswörter „zeitlich“ oder „außerordentlich“ fehlten. Der Entwurf sah einfach vor, daß der Reichsrat durch Mitglieder verstärkt werde, die periodisch einzuberufen waren. Vorgesehen waren die Erzherzoge, || S. 55 PDF || kirchliche Würdenträger, Inhaber hoher Staatsämter sowie „dreiunddreißig den verschiedenen Kronländern angehörige und in denselben hervorragende Männer“. Im Verlauf der Redaktion des Patententwurfs wurde dann doch die Bezeichnung „außerordentliche Reichsräte“ gewählt. Aufgabe des verstärkten Reichsrates sollte die Beratung des Staatsvoranschlags sowie wichtiger Fragen der Gesetzgebung und inneren Verwaltung sein. Wieder war es Bruck, der unmißverständlich auf den Zusammenhang zwischen der Verstärkung des Reichsrates und der Budgetfrage hinwies. Am selben Tag hatte er nämlich die Begebung einer großen Anleihe beantragt, um das Defizit für 1860 in der Höhe von 87 Millionen Gulden zu decken. Bruck ließ es sich nicht entgehen darauf hinzuweisen, daß daran das Militär mit über 50 Millionen beteiligt war. Um das Publikum für die Anleihe zu gewinnen, müsse u. a. möglichst schnell die Reichsratsreform durchgeführt werden163. Im Laufe einiger Monate war also aus der „Einberufung temporärer Mitglieder [. . .] zur Beratung spezieller Fragen“ des Ministerprogramms ein regelmäßig einzuberufendes Gremium von hervorragenden Männern aus allen Kronländern zur Beratung des Budgets geworden!

Spannend und aufschlußreich sind die Protokolle über die Beratungen dieses Patententwurfs. Thun war in zwei Punkten im Ministerkomitee allein geblieben164. Er hielt es für verfrüht, das Patent schon jetzt zu erlassen. Zuerst sollten die Gemeindevertretungen und die Landtage ins Leben treten, dann erst als Schlußstein der verstärkte Reichsrat. Thun vertrat also die Konzeption des Staatsaufbaus von unten. Zweitens sollten die Reichsräte nicht von den zukünftigen Landtagen vorgeschlagen, sondern ganz allein vom Kaiser ernannt werden. Die Meinungsunterschiede in diesen beiden Punkten lösten eine Debatte über die Frage aus, auf welchem Weg die Konstitutionalisierung der Monarchie am ehesten verhindert werden konnte. Thun war der Ansicht, daß durch die Gemeindevertretungen und Landtage im Sinn der feudalkonservativen Grundbesitzer, für die er die ganze Zeit über kämpfte, wenigstens diese soziale Gruppe zufriedengestellt würde. Die liberalen bürgerlichen Kreise wären ohnehin nur mit „modernen Ideen von Konstitution“ zu beruhigen. Der verstärkte Reichsrat allein würde also keine der beiden Gruppen gewinnen. Dagegen meinte Bruck, ein längeres Zuwarten sei nicht mehr möglich und was die Regierung damit biete sei das mindeste, was gewährt werden müsse. Rechberg verlangte die sofortige Einberufung, weil es sonst notwendig werden könnte, „eine andere Versammlung zu berufen, die viel schlimmer wäre als die im Patent vorgeschlagene“. Thun und auch Gołuchowski warnten immer wieder vor dem Konstitutionalismus, Bruck, Nádasdy und Rechberg beharrten darauf, daß es um ständische Vertretung gehe und daß der verstärkte Reichsrat nicht die Gefahr der Konstitutionalisierung in sich berge. Nach zugleich mühsamen und spannenden sieben Sitzungen wurde das Patent am 5. März 1860 erlassen165. Thun sollte letzten Endes recht behalten, daß der verstärkte Reichsrat den Weg zum Konstitutionalismus nicht aufhalten könne. || S. 56 PDF || Sieht man aber die Entwicklung der Habsburgermonarchie von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie als eine längst fällige und notwendige und als einen positiven Prozeß, dann ist der verstärkte Reichsrat ein weiteres Verbindungsglied gewesen, ein „Verfassungsexperiment“, das zwar nicht die Erwartungen seiner Erfinder erfüllt hat, das aber durch die offene Diskussion in seinem Schoß, durch die begleitende und verstärkende Öffentlichkeit und durch den nach wenigen Monaten erbrachten Beweis seines Ungenügens die Entwicklung beschleunigt hat166. Das Ministerprogramm enthielt, das wird deutlich, eine beträchtliche Sprengkraft. Es erwies sich geradezu als flexibles Instrument und konnte, ohne daß es die Verfasser gewollt hatten, über sich hinausführen.

Religionsfragen - Retrodigitalisat (PDF)

Großen Raum nehmen im vorliegenden Band konfessionelle Fragen ein. Auch dabei kam es zu einer überraschenden Verknüpfung mit der finanziellen und sogar mit der Verfassungsfrage, was weder in den Konferenzberatungen im Juli und August angeklungen war noch aus dem Wortlaut des Ministerprogramms zu entnehmen ist.

Rechbergs Stichwortkatalog vom 28. Juli sprach von der „Regelung der Verhältnisse der Akatholiken und der Juden“167. Die Verhältnisse der „Akatholiken“, also der Evangelischen, hatten im Frühjahr 1859 ausführlich die Ministerkonferenz beschäftigt, und zwar aus Anlaß des vom Kultusminister Thun nach langen Vorbereitungen vorgelegten Protestantenpatents für Ungarn168. Franz Joseph hatte in der ersten Sitzung des Kabinetts unter Rechberg, an der er teilnahm, den Vortrag darüber urgiert – die Sache war ihm also wichtig169. Auch die Notwendigkeit, verschiedene Beschränkungen aufzuheben, denen die Juden in manchen Kronländern der Monarchie unterlagen, war im Frühjahr 1859 ein Thema in der Konferenz gewesen, und im Ministerium des Inneren war ein Operat zur allgemeinen Regelung der staatsbürgerlichen Verhältnisse der Juden in Vorbereitung170.

Diese beiden Themenkreise verbargen sich also hinter der Formulierung vom 28. Juli. In den nachfolgenden Konferenzen über das Ministerprogramm war nicht weniger als viermal davon die Rede. Am 2. August wurde die Protestantenfrage und eine Sonderregelung für Tirol besprochen. Am 6. August verlangte der beigezogene Minister Bruck, der selbst evangelisch war, eine „striktere Fassung“ des Artikels, was angenommen wurde, und er schlug die Aufnahme eines Passus über das Konkordat vor, was die Konferenzteilnehmer ablehnten. Am 11. August monierte Bruck die Judenfrage, worauf am 16./17. August in den Punkt III des Ministerprogramms der Satz eingefügt wurde: „In betreff der Juden sind nur da Beschränkungen und Ausnahmen festzuhalten, || S. 57 PDF || wo besondere Lokalverhältnisse es erheischen“171. Die Durchführung des Punktes III wurde bald in Angriff genommen.

a) Das Protestantenpatent für Ungarn

Der Ministervortrag mit dem Protestantenpatent für Ungarn gelangte Mitte Juli zum Kaiser. Er ließ die Sache während der Wochen der Beratung des Ministerprogramms ruhen. Am 1. September 1859, wenige Tage nach der definitiven Bestellung des Kabinetts Rechberg, unterzeichnete er das Patent. Die Ministerkonferenz beschäftigte sich noch mit einigen Details der Publikation des Patents und der nachfolgenden Ministerialverordnung vom 2. September, mit der ein provisorisches Statut erlassen wurde172. Am 10. September wurde das Patent, am 13. die Ministerialverordnung publiziert. Nur zwei Wochen später fiel der aufsehenerregende, sich wie ein Lauffeuer verbreitende Beschluß des Theißer Distriktualkonvents in Käsmark, Patent und Statut als ungesetzlich abzulehnen und den Kaiser um deren Sistierung bzw. um die Einberufung einer Synode zu bitten. Was war geschehen?

Die Notwendigkeit einer Regelung der evangelischen Kirchenverfassung wurde allseits anerkannt. Das neoabsolutistische Regime hatte sich 1858 entschieden, die im Detail kontroverse Materie statt im Weg einer Synode durch ein Oktroi ganz im Sinne der zentralistischen Staatskonzeption zu erledigen, nicht zuletzt weil man von einer Synode unliebsame politische Diskussionen befürchtete. Ein wichtiger Punkt war die Neueinteilung der Superintendenzen. Sie sollten den Statthalterei­abteilungen angeglichen werden, um den Slowaken im Norden und den Deutschen im Süden die Möglichkeit zu Superintendenzen mit slowakischer bzw. deutscher Mehrheit zu eröffnen173. Die erwähnten Beratungen im Frühjahr 1859 und der Vortrag vom 15. Juli brachten die Materie zur Unterschriftsreife. Vielleicht hätten die Proteste in Grenzen gehalten werden können, wenn die Armee auf den italienischen Schlachtfeldern siegreich geblieben wäre. Nach Solferino und Villafranca aber wurde das Patent zum Anlaß eines rasch wachsenden, heftigen und sehr emotionalen Widerstandes. Die zahlreichen im vorliegenden Band enthaltenen Ministerkonferenzprotokolle vom Herbst und Winter 1859 und 60 zu diesem Thema174 dokumentieren ausführlich den Kampf zwischen der Regierung und den sogenannten Autonomisten unter den ungarischen Evangelischen, die, wie Gottas formuliert hat, aus „zusammenwirkenden religiösen, patriotischen, nationalen und politischen Interessen“ Widerstand geleistet haben175. Die Regierung nahm zunächst – dem Minister Thun folgend – eine harte Haltung ein, wechselte im Jänner 1860 vorsichtig zu einer vermittelnden Position, um dann im Mai 1860 das Patent faktisch zurückzunehmen, indem sie es den Superintendenzen freistellte, sich an das Patent || S. 58 PDF || zu halten oder nicht. Nur die Slowaken blieben dabei, weil sie durch das Patent gegenüber den Magyaren gestärkt waren.

Warum wurde das Patent zu diesem ungünstigen Zeitpunkt überhaupt erlassen, warum wurde diese „kollosalste Dummheit“ (Dessewffy)176 begangen, die mit der Blamage der faktischen Zurücknahme endete? Die Antwort liegt wohl in der Überlagerung zweier Prozesse und in der falschen Einschätzung der Situation durch die Regierung. Der eine Prozeß war der Wunsch, die Kirchenordnung endlich und im Sinn des Neoabsolutismus zu erlassen, der andere war die Entwicklung der italienischen Frage, der Krieg und die daraus folgende Schwächung der Regierung. Thun, der Kaiser und Gołuchowski waren noch überzeugt, daß das Patent sinnvoll sei und sogar beruhigend wirken werde. Sie sahen nicht, daß es zu spät war. Hübner hat das gesehen, aber sie glaubten ihm nicht. In seinen Erinnerungen schreibt er, daß er, als er von der Sache hörte, instinktiv gespürt habe, wie gefährlich es sei, eine so wichtige Materie angesichts einer so schlechten politischen Stimmung durch Oktroi erledigen zu wollen. Graf Anton Szécsen habe ihn bestärkt und geraten, wenigstens die Änderung der Distriktseinteilungen zu unterlassen. Auch Rechberg habe zu dieser Meinung geneigt, Thun habe sich aber durchgesetzt177. Es war ein Pyrrhussieg für Thun. Der ungarische Widerstand gegen die Regierung fand im Patent geradezu einen Kristallisationspunkt. Er führte, wie schon oben dargelegt wurde, im Jänner 1860 zur Fortsetzung der im Oktober 1859 abgebrochenen Gespräche mit den Altkonservativen. Auf diesem Umweg wurde der Kirchenstreit zu einem Faktor in der Verfassungsfrage. Indem er die Unzufriedenheit der Ungarn mit den politischen Verhältnissen vermehrte, verstärkte er alle anderen Faktoren, die einen Verfassungsumschwung vorbereiteten. Das Patent wurde schließlich zurückgenommen, und der Anführer der Deputation der Protestanten in Wien, Baron Nikolaus Vay, wurde wenige Monate später der erste ungarische Hofkanzler.

Ein analoges Patent über die Verhältnisse der Evangelischen in Cisleithanien wurde zwar in der Ministerkonferenz auch angesprochen178, gelangte aber erst im Jänner 1861 zur Verhandlung in die Konferenz179.

b) Schritte auf dem Weg zur Emanzipation der Juden

In der Judenfrage war es der finanzielle Druck, der die Regierung zur Bewegung zwang. Schon die oben erwähnte Besprechung in der Konferenz vom 31. März 1859 hatte davon ihren Ausgang genommen. Bruck hatte berichtet, daß die Verhandlungen über eine Anleihe in London durch das Gerücht behindert würden, es werde das Verbot für Juden erneuert, Christen als Dienstboten anzustellen. Als Bruck in der Konferenz vom 11. August die Frage ansprach, begründete er dies freilich nicht mit dem finanziellen Argument, sondern bezeichnete „die Judenfrage als eine jener Fragen, deren freisinnige Lösung für ihn eine Prinzipienfrage sei“.

|| S. 59 PDF || Es bedurfte noch einmal eines Anstoßes von außen, um Bewegung in die Sache zu bringen. Am 13. Oktober verlas Rechberg zwei Zeitungsartikel über Vorfälle in Galizien zum Thema christliche Dienstboten bei Juden und schlug vor, „im Interesse unserer auswärtigen Beziehungen“ das Gesetz zu ändern. Er bezeichnete die Sache als „höchst dringend“180. Innenminister Gołuchowski, vor kurzem noch Statthalter in Galizien, verteidigte das bestehende Gesetz. Christliche Dienstboten würden bei Juden demoralisiert und der christlichen Religion entfremdet, ebenso auch ihre Kinder. Die Mehrheit in der Konferenz war aber für die Zurücknahme des Verbots, das „immerwährenden Angriffen der in- und ausländischen Presse ausgesetzt ist“. Daraufhin stellte der Innenminister einen baldigen Antrag in Aussicht. Er löste das Versprechen am 29. Oktober ein181. Damit begann eine vielfältige Diskussion. Es gab nämlich noch andere Beschränkungen, die nun zur Sprache kamen, und die Minister waren keineswegs immer einer Meinung. Insgesamt aber folgten bemerkenswerte Schritte auf dem Weg zur völligen Gleichstellung der Juden in der Habsburgermonarchie, die dann mit dem Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger erreicht worden ist182. Es handelte sich um sechs Bereiche: 1. die Aufhebung des Verbots des Haltens christlicher Dienst­boten183; 2. die Aufhebung der Bestimmungen der §§ 124, 129 und 130 des ABGB. betreffend Judenehen184; 3. die Aufhebung des Verbots des Aufenthalts von Juden in Bergbaustädten und -orten Ungarns, seiner ehemaligen Nebenländer und Böhmens185; 4. die Aufhebung von Gewerbe­beschränkungen für Israeliten (Apotheken, Mühlen, Brauereien, Brennereien und Schankgewerbe) und die damit verbundene Aufhebung des Aufenthaltsverbots auf dem flachen Land in Galizien, Krakau und der Bukowina186; 5. die Aufhebung der Beschränkungen der Zeugenfähigkeit der Juden187 und 6. die Befähigung der Juden zum Realitätenbesitz188.

Die Punkte eins bis fünf konnten rasch erledigt werden. Interessant ist die Begründung, die Gołuchowski im Vortrag zum ersten Punkt formulierte. In der Ministerkonferenz am 13. Oktober hatte er noch recht ablehnend reagiert, und am 29. Oktober war hauptsächlich über die Form der Aufhebung geredet worden. Im Vortrag selbst begründete er den Antrag, das Verbot aufzuheben, mit wirtschaftlichen, sozialen und juristischen Argumenten. Die Regierung wolle die Juden zum Betreiben von Gewerben und zum Ackerbau gewinnen. Das Verbot, christliche Dienstboten zu halten, schließe das aber geradezu aus. Es beschränke die Möglicheiten der dienenden und arbeitenden Klasse.

|| S. 60 PDF || Außerdem sei es nicht leicht zu überwachen und werde daher öfter übertreten als befolgt. Das entscheidende Argument für die Aufhebung sei aber, daß das Verbot nur in einigen Kronländern gelte und in anderen nicht189.

Kontrovers war vor allem die Frage der Besitzfähigkeit der Juden. Sie führte zu heftigen Diskussionen pro und contra, die in den Ministerkonferenzprotokollen ausführlich wiedergegeben sind. Gołuchowski und Thun befürworteten nur eine bescheidene Ausweitung des Rechts, Immobilien zu erwerben, Bruck, Nádasdy und Rechberg vertraten eine liberalere Linie. Thun war der Ansicht, die Maßnahme greife „so tief in die sozialen Verhältnisse ein“, sie berühre „die sozialen Verhältnisse der Länder so tief“, daß nur die Landtage berufen seien, darüber zu entscheiden. Immerhin konnte er sich die Zulassung zum Erwerb städtischer Realitäten vorstellen, nicht aber den Erwerb landtäflicher und bäuerlicher Güter190. Bruck wies dagegen eindringlich auf die Konsequenzen für den Kredit Österreichs hin, den die Aufrechthaltung des Verbots, Besitz zu erwerben, hätte: „Der Einfluß der Juden auf den öffentlichen Kredit ist bekannt; werden sie in ihren gerechten Erwartungen getäuscht, so ist auf ihre Mitwirkung für eine österreichische Finanzoperation nicht zu rechnen“191.

Erst Ende Dezember einigte sich die Ministerkonferenz. In den Kronländern Tirol, Salzburg, Oberösterreich, Kärnten, Krain und Steiermark blieben die Beschränkungen aufrecht; in Galizien, in der Bukowina und in Krakau wurde der Besitzerwerb an den Bildungsgrad gebunden – trotz des Einwandes des Justizministers, „eine solche Einteilung der Menschen um der Zulässigkeit willen, Realeigentum zu erwerben, hat wohl nie, weder in Österreich noch anderwärts bestanden“; in Niederösterreich, Böhmen, Mähren, Schlesien, Küstenland, Dalmatien und im gesamten Bereich der Länder der Stephanskrone wurden die Beschränkungen weitgehend aufgehoben.

Im Jänner wurde der Vortrag erstattet, Franz Joseph zögerte aber mit der Unterschrift. Bruck drängte zweimal, die Sache zu entscheiden192. Im März 1860 wurden endlich die neuen liberaleren Bestimmungen über die Zulassung der Juden zum Besitzerwerb erlassen. Insgesamt aber hat das Kabinett Rechberg in nur knapp fünf Monaten den Punkt III des Ministerprogramms betreffend die Judenfrage erledigt. Die volle rechtliche Gleichstellung war zwar noch nicht erreicht, sie war im Programm gar nicht vorgesehen, dennoch erwies es auch in diesem Punkt, wie Brandt zutreffend formuliert hat, „die ihm innewohnende politische Sprengkraft“193.

c) Die Lippowaner

Auf eine andere, auf den ersten Blick unbedeutende Religionsfrage sei hier noch hingewiesen. In der Ministerkonferenz vom 4. Juni 1859 stand die Frage auf der Tagesordnung, || S. 61 PDF || ob sich die kleine, knapp 3000 Seelen zählende Glaubensgemeinschaft der Lippowaner oder Altgläubigen in der Bukowina – sie war schon von Kaiser Josef II. toleriert worden – in jeder Hinsicht den staatlichen Gesetzen zu unterwerfen habe oder ob für sie eine Ausnahme möglich sei, da sie gewisse gesetzlich vorgeschriebene Verwaltungsakte, wie z. B. die Führung von Geburts-, Trauung- und Sterberegistern, kategorisch ablehnte. Mit bemerkenswerter Toleranz plädierten die meisten Minister dafür, diesen „harmlosen Leuten“, die eine „sittlich gute und bürgerlich ruhige Haltung“ an den Tag legten, Ausnahmen zu gewähren194. Das Ergebnis war die Ah. Entschließung v. 18. August 1859, mit der die äußeren Rechtsverhältnisse der Lippowaner geregelt wurden. So klein die Gruppe war, zählte sie doch zu den gesetzlich anerkannten Konfessionen. Auffällig ist allerdings der Unterschied im Vokalbular, das manche Minister in den erwähnten Protokollen zur Judenfrage und zur Frage der Lippowaner verwendeten.

Wiener Stadterweiterung – Schillerfest – Gewerbegesetz – Feldschutzordnung – Sprachenfrage - Retrodigitalisat (PDF)

Auf einige besonders wichtige oder ergiebige Themen des vorliegenden Bandes sei noch hingewiesen. Das Jahr 1859 war nicht nur ein Kriegsjahr. In diesem Jahr wurde auch die ganz friedliche Schleifung der Mauern und Bastionen der Reichshaupt- und Residenzstadt beschlossen, eines der bedeutendsten Daten und Ereignisse für die Stadt Wien. Am 21. Mai 1859 legte Innenminister Bach der Ministerkonferenz den Grundplan der Wiener Stadterweiterung zur Schlußbesprechung vor, den Kaiser Franz Joseph dann mit Ah. Entschließung vom 1. September 1859 genehmigte195. Die Schleifung der entbehrlich gewordenen und die Stadtentwicklung äußerst hemmenden Mauern sowie die Erlaubnis, das Glacis, das freie Vorfeld der Mauern, bebauen zu dürfen, war der Beginn des Jahrhundertprojekts der Wiener Stadterweiterung und der Auftakt für die Ringstraßenzeit.

Die Durchführung erforderte viele Detailentscheidungen. So wurde z.B. im Herbst der vorgesehene Bauplatz der geplanten Schule für die Evangelischen auf dem Karlsplatz zur Diskussion gestellt. Thun wollte den Platz für die Erweiterung des Polytechnischen Instituts, der heutigen Technischen Universität, reservieren. Außerdem trug er Bedenken, „die zahlreichen Schüler einer Oberrealschule mit den Polytechnikern [also mit Studenten] in so nahe Berührung zu bringen“196.

Eine Entscheidung von weit größerer Tragweite stand im Frühjahr 1860 auf der Tagesordnung der Konferenz, nämlich der tatsächliche Beginn der Bauarbeiten und die Frage der Verkaufs der gewonnen Neubaugründe, die sich ja im Besitz des Staates befanden197. Innenminister Gołuchowski wollte die Gründe nur etappenweise verkaufen und dem Innenministerium, somit dem Zentralstaat, die Federführung sichern. Bruck machte sich für ein Pauschalabkommen mit der Stadt Wien stark. Obwohl die Ministerkonferenz Bruck folgte und der Kaiser auch in diesem Sinn entschied, wurde der Beschluß || S. 62 PDF || wenige Wochen später, kurz nach Brucks Tod und unter Umgehung der Ministerkonferenz, umgestoßen. Der Staat trug gegenüber der Gemeinde den Sieg davon.

Im Herbst 1859 wurde das Schillerfest begangen. Aus Anlaß des hundertsten Geburtstags des Dichters am 10. November wurden im ganzen deutschen Sprachraum mit einer heute kaum nachvollziehbaren Begeisterung ungezählte Theateraufführungen, Schillerfeiern, Festakademien, Umzüge u. s. w. veranstaltet, wurden Denkmäler errichtet und Plätze und Straßen nach ihm benannt. Fünf Jahrzehnte nach seinem Tod war aus dem Dichter der Weimarer Klassik der Nationalheros geworden198. In ihm konnte man deutschen Geist und deutsche Kultur, aber auch die Ideen der Freiheit und der Brüderlichkeit feiern. Die Zentenarfeiern erhielten unterschiedliche nationalpolitische Akzentsetzungen: liberale und demokratische, konservative, großdeutsche und kleindeutsche mit der Propagierung der Idee des deutschen Nationalstaates199.

Der österreichischen Regierung kamen diese Feiern nicht sehr gelegen. Zu frisch war noch die Enttäuschung über die fehlende Unterstützung durch den Deutschen Bund und durch Preußen im Krieg gegen Frankreich und Sardinien. Wie hatte es im Laxenburger Manifest geheißen? Die gegründeten Hoffnungen, nicht allein zu stehen, seien „bitter enttäuscht“ worden. „Der warmen und dankbar anzuerkennenden Teilnahme ungeachtet, welche unsere gerechte Sache in dem größten Teile von Deustchland, bei den Regenten wie bei den Völkern gefunden hat, haben sich unsere ältesten und natürlichen Bundesgenossen hartnäckig der Erkenntnis verschlossen, welch hohe Bedeutung die große Frage des Tages an sich trage.“200 Im übrigen waren nationale Feiern grundsätzlich nicht im Interesse der Monarchie gelegen. Sie wurden von seiten der Regierung als nationale Agitation gewertet und immer mit großer Skepsis beobachtet201. Die Befürchtungen des konservativen Österreich hat FZM. Graf Wimpffen, einer der vielen nach dem Krieg pensionierten Generäle, mit seinem Bonmot auf den Punkt gebracht, der Fackelzug zu Schillers Geburtstag sei die Leichenfeier, mit der das monarchische Prinzip zu Grabe getragen werde202.

Wenn man sich aber einer Feierlichkeit nicht entziehen konnte, dann mußte man wenigstens versuchen, sie zu neutralisierten203. Genau das tat das Kabinett mit einigem Erfolg auch bei der Schillerfeier. Am 15. Oktober 1859 referierte Polizeiminister Hübner || S. 63 PDF || in der Ministerkonferenz über die Vorbereitungen in Wien und beantragte die Abhaltung einer „musikalisch-deklamatorischen Feier im großen Redoutensaale“204. Die Begründung war einerseits die Wahrung des Prestiges, da die Feier „in ganz Deutschland ein ungewöhnliches Interesse hervorruft und für die in anderen Residenzstädten glänzende Vorbereitungen getroffen werden“, andererseits die Abwehr ungewollter nationalpolitischer Inhalte. Eine solche Feier wäre der einfachste Weg, „das in Rede stehende Bankett mit seinen Toasten etc. zu beseitigen.“ Es gelang der Regierung, die sich insgesamt siebenmal mit dem Thema befaßte, das Schillergedenken dem Trend der Zeit gemäß pompös und würdig zu begehen, ohne aus dem deutschen Dichter einen nationalen Dichter im Sinn des Nationalstaatsgedankens zu machen. Franz Joseph achtete persönlich auf diese Linie. In diesem Sinn war auch das von Konstant von Wurzbach verfaßte offizielle, in der Staatsdruckerei erschienene Schillerbuch eine „österreichische Lösung“. Es enthielt keine hymnischen oder hagiographischen Beiträge, sondern war eine trockene, akribische Bibliographie der Werke Schillers, eine ausführliche Familienbiographie und ein Verzeichnis aller Schillerdenkmäler, -gedenkstätten und literarischen Huldigungen, freilich voluminös und prächtig ausgestattet205.

Zu den unbestrittenen Leistungen des sonst so ungeliebten Neoabsolutismus gehört die Gewerbeordnung vom 20. Dezember 1859 206. Das österreichische Gewerberecht beruhte auf dem Prinzip der Konzession. Ein Gewerbe durfte nur mit behördlicher Erlaubnis ausgeübt werden. Das Gegenmodell zu diesem System, das im alten Zunftwesen und im obrigkeitsstaalichen Denken wurzelte, war die Gewerbefreiheit. Dem Gesetz von 1859 waren jahrelange Bemühungen um die Liberalisierung der gewerblichen Vorschriften vorausgegangen. Schließlich war unter der Federführung von Handelsminister Toggenburg ein Entwurf zustandegekommen, der einen Kompromiß zwischen beiden Systemen herbeiführte und die beschränkte Gewerbefreiheit vorsah. Die Zahl der konzessionsbedürftigen Gewerbe wurde stark vermindert und taxativ aufgezählt, alle anderen waren frei, sie mußten lediglich angemeldet werden.

Der Entwurf war im Februar 1859 in der Ministerkonferenz verabschiedet und dann dem Reichsrat zur Begutachtung vorgelegt worden.

In den Protokollen des vorliegenden Bandes sind keine inhaltlichen Debatten mehr enthalten. Wohl aber wurde „der schleunige Erlaß einer Gewerbeordnung“ als eigener Punkt ins Ministerprogramm vom 21. August aufgenommen (Punkt VII). Bemerkenswert ist, daß der Kaiser selbst viermal in der Konferenz die Vorlage urgierte207. Mitte Dezember war es so weit, und Franz Joseph unterzeichnete rasch das kaiserliche Patent, mit dem die Gewerbeordnung eingeführt wurde. Sie trat am 1. Mai 1860 in Kraft. Zwar wurde sie mehrmals novelliert, blieb aber insgesamt bis zum Ende der Monarchie in Geltung208. Wie sehr dieses Gesetz sozialpolitische Grundfragen berührte, läßt die kurze || S. 64 PDF || Debatte über die Frage erahnen, welche Minister das Patent gegenzeichnen sollten. Während der Ministerpräsident und mit ihm die Mehrheit der Konferenz meinten, angesichts der großen Bedeutung des Gesetzes sollten alle Minister kontrasignieren, verwahrte sich Thun unter Hinweis auf seine „grundsätzlich abweichenden Ansichten“ gegen die „Zumutung“, das Patent zu unterzeichnen. Der Kaiser erließ ihm die Unterschrift209.

Ebenfalls bis zum Ende der Monarchie in Geltung war die Feldschutzverordnung vom 30. Jänner 1860, deren Zustandekommen im vorliegenden Band protokolliert ist210. Sie regelte einheitlich die – freiwillige – Anstellung von beeideten Feldhütern oder Flurwächtern durch die Gemeinden oder durch größere Grundbesitzer. Es handelte sich zwar im wesentlichen um eine Gemeindeangelegenheit, sie berührte aber auch staatliche Kompetenzbereiche. In mehreren Kronländern wurde später ein entsprechendes Landesgesetz erlassen. Die Ministerialverordnung stellte nicht nur einen einheitlichen Rahmen her, sondern stärkte auch die Position der Feldhüter, indem sie sie als öffentliche Wachen einstufte. Das bedeutete, daß ihre unter Hinweis auf den Diensteid abgegebenen Aussagen im Strafprozeß beweiskräftig waren. Zugleich wurde ihnen das Tragen kurzer Gewehre für die Notwehr erlaubt.

Die Feldhüter hatten nach Gołuchowskis Entwurf „einen numerierten Armschild zu tragen, auf welchem in der Landessprache die Worte ‚Feldhüter der Gemeinde N.N. [. . .]‘ ersichtlich sein müssen“. Rechberg befürchtete, diese Bestimmung könne „in den Gemeinden mit gemischter Bevölkerung Anstände in Absicht auf die Sprache zur Folge haben“. Der Innenminister verteidigte seinen Vorschlag, doch der Kaiser entschied sofort, daß die Bestimmung wegen Beschriftung der Binden wegzulassen sei. Die Sache könne je nach den Ortsverhältnissen geregelt werden.

Dieser überaus vorsichtige Umgang mit der Sprache und das Bemühen, gesamtstaatliche Regelungen auf diesem Gebiet zu vermeiden, führt uns zu einem für die Geschichte der Habsburgermonarchie zentralen Thema, zur Sprachenfrage. Der vorliegende Band enthält einige bemerkenswerte Beiträge dazu.

Das große, außerordentlich wirkmächtige Schlagwort von der Gleiberechtigung der Nationalitäten, das im Jahr 1848 „in die Geschichte Österreichs eintrat“ (Palacký)211 und in vielen Dokumenten der Jahren 1848 bis 1850 verankert worden war, fand seine erste und sichtbarste Anwendung in der Verwendung der Sprache im öffentlichen Bereich, also in der Amts- und in der Unterrichtssprache. Entgegen den Deklarationen der Jahre 1848–50 hatte von 1850 an und vollends im Neoabsolutismus die Vorherrschaft der deutsche Sprache die Gleichberechtigung der Sprachen abgelöst. || S. 65 PDF || Dabei ging es den Politikern des Neoabsolutismus in erster Linie um die Großmachtstellung der Monarchie und um ihre Einheit, die für sie nur mit einer einheitlichen – deutschen – Amtssprache denkbar schien, nicht aber um Sprachnationalismus, auch wenn das Gefühl der kulturellen Vorrangstellung des Deutschen weit verbreitet war. Dennoch, ja gerade deshalb wurden die vor allem mit dem Namen Alexander Bach und seiner Behördenorganisation verbundenen „Germanisierungs­tendenzen“ zum verhaßten Instrument des neoabsolutistischen Regimes. Mit seinem Fall mußte sich auch die Sprachenpolitik neu orientieren. Sie kehrte langsam zu den Ideen von 1848 zurück, eine Bewegung, die ja in vielen Bereichen zu beobachten ist212. Damit ist freilich nur die große Entwicklungslinie beschrieben. Innerhalb dieser Entwicklung gab es verschiedene z.T. divergierende Elemente, wie die folgenden Beispiele zeigen. Neben der Germanisierungstendenz gab es auch eine pragmatische Linie in der Sprachenpolitik. Es war unbestritten, daß die Behörden Eingaben der Parteien in allen landesüblichen Sprachen entgegenzunehmen hatten, aber Eingaben der Rechtsvertreter einer Partei mußten deutsch sein. Es war unbestritten, daß der Volksschul- und Religionsunterricht in der Muttersprache zu erteilen war, der Unterricht in den höheren Schulen aber sollte vorwiegend deutsch sein, um die Vorbereitung auf die – deutschen – Universitätsstudien zu gewährleisten. Die innere Amtssprache war deutsch, in Lombardo-Venetien aber italienisch213.

Der oben angesprochene Disput über die Armbinden der Feldschutzwächter ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Anregung Rechbergs, einem möglichen Streit aus dem Weg zu gehen, und die Weisung des Kaisers, die lokalen Behörden entscheiden zu lassen, waren nicht Ängstlichkeit, sondern Ausdruck einer konsequenten Politik und ein Beispiel für die pragmatische Linie in der Sprachenpolitik. Zwei weitere Beispiele gehören hierher. Am 11. Juni stand die Schreibung der ruthenischen Sprache auf der Tagesordnung der Konferenz. Innenminister Bach berichtete, die Verhandlungen über die Ersetzung der kyrillischen durch lateinische Buchstaben habe zu Aufregung unter den Ruthenen Galiziens geführt, die darin einen Angriff auf ihre Nationalität sehen würden. Bach schlug vor, davon abzusehen, und bat Thun um einen beruhigenden Erlaß. Wie aus der Antwort Thuns hervorgeht, war auch er gegen die Beseitigung der kyrillischen Buchstaben, hatte aber aus taktischen Gründen eine Kommission eingesetzt, die die Beseitigung ebenfalls ablehnte, und er war gesonnen, dem Votum der Kommission zu folgen214. Ein zweites Beispiel: Wenig später regte Thun an, bei der Unterrichtssprache in den Gymnasien, die gemäß dem Kabinettschreiben vom 9. Dezember 1854 vorwiegend deutsch sein sollte, eine Änderung dahingehend eintreten zu lassen, daß auch andere Sprachen als die deutsche zulässig seien215. Die Konferenz stimmte zu, || S. 66 PDF || und der Kaiser folgte mit Ah. Entschließung vom 20. Juli 1859 dem Antrag Thuns. Diese Ah. Entschließung wurde als Wende in der Sprachenpolitik des Neoabsolutismus beurteilt, als Abkehr von den „Germanisierungsbestrebungen“, und sie wurde sogar in einen Zusammenhang mit den Niederlagen auf den italienischen Schlachtfeldern gebracht216. In Wirklichkeit bestand kein Zusammenhang damit, sondern, wie aus dem Protokoll vom 25. Juni klar hervorgeht, mit dem schon zu Ende verhandelten Protestantenpatent für Ungarn. Bei diesen Verhandlungen hatten die ungarischen Protestanten ihren Wunsch nach Lockerung des Kabinettschreibens von 1854 zur Sprache bringen können. Thun wollte verhindern, daß das Thema im Protestantenpatent selbst erwähnt wurde, und hatte eine eigene Verhandlung darüber angeboten. Sein Ziel – gute Kenntnis des Deutschen bei den Maturanten – ließ er dabei nicht aus dem Auge, bloß sollte es nicht durch Zwang erreicht werden, sondern die Schulerhalter sollten die Verantwortung dafür übernehmen. Im Gegenzug erhielt der Unterrichtsminister die Zustimmung der Konferenz und des Finanzministers, in jedem der ungarischen Verwaltungsbezirke ein staatliches protestantisches Gymnasium errichten zu können. Das war kein schlechter Handel für den Minister. All das war jedenfalls schon entschieden, bevor die Niederlagen in Italien wirken konnten. Die Maßnahme war keine Konsequenz der Niederlagen, auch wenn die Ah. Entschließung und die Publikation des Ministerialerlasses erst nachher erfolgten217. Vielmehr handelte es sich um einen plausiblen Schritt im Rahmen der pragmatischen Linie der neoabsolutistischen Sprachenpolitik218.

Daß der Erlaß aber dann, ein paar Wochen nach dem Laxenburger Manifest publiziert, im Lichte dieses Manifests gelesen und interpretiert wurde und Hoffnungen weckte, lag auf der Hand. Inzwischen war übrigens tatsächlich eine Wende eingetreten, von der aber die Öffentlichkeit wiederum nichts wußte. Das Ministerprogramm enthielt nämlich unter der Überschrift „Nationalitäten“ einen Punkt zur Sprachenfrage (Punkt XI). Im Themenkatalog Rechbergs war das Wort nicht vorgekommen. Das Protokoll der Konferenz vom 16. und 17. August hält ausdrücklich fest, daß der Satz auf Anregung Gołuchowskis eingefügt worden war219. Er lautete: „Die deutsche Sprache soll den nichtdeutschen Bevölkerungen nirgends aufgedrängt, sondern in allen darauf bezüglichen Fragen gewissenhaft an dem Grundsatze gehalten werden, daß, soviel es möglich, überall die Sprache angewendet werde, welche dem praktischen Zwecke, um den es sich handelt, am besten entspricht.“ Nun hatten auch die Befürworter des Primats der deutschen Sprache im Neoabsolutismus mit praktischen Zwecken argumentiert (Einheit des Staates, Einheit des Wirtschaftsraumes, wissenschaftliche Ausbildung usw.), dennoch enthielt der Programmpunkt in den Worten „nirgends aufgedrängt“ eine deutliche Spitze gegen die germanisierende Tendenz im Neoabsolutismus und gegen Bach und leitete eine Wende ein. || S. 66 PDF || Er bewegte sich zwar nicht auf der Ebene der Gleichberechtigung der Nationalitäten, verschob aber die Nützlichkeitforderung deutlich vom Gesamtstaat auf die Länder und Völker.

Zum erstenmal wurde über dieses Thema Ende Oktober 1859 im Zusammenhang mit den „Maßnahmen für Ungarn“ geredet220. Aus der kurzen, aber ganz offenen Debatte werden die Positionen klar ersichtlich. Erzherzog Albrecht warnte vor der Magyarisierung, Nádasdy verfocht die Germanisierung, Rechberg und – bereits recht vehement – Gołuchowski forderten das Abgehen vom Sprachenzwang, Franz Joseph verlangte den Primat des „praktischen Bedüfnisses“.

In der Folge kam es zu einem Tauziehen zwischen Nádasdy und Gołuchowski – konkret ging es dabei um die Gerichtssprache in Galizien –, das zu Jahresbeginn 1860 in die Ministerkonferenz gelangte. Dort bot sich Gołuchowski die Gelegenheit, seine Ansichten zur Sprachenfrage darzulegen. In einer ausführlich festgehaltenen, vier Sitzungen umfassenden Debatte prallten die Meinungen der Minister aufeinander221. Der Innenminister verurteilte in scharfen Worten die Politik seines Vorgängers Bachs, indem er zu dessen Versuch, die deutsche Amtssprache in Ungarn einzuführen, in einem eigenhändigen Randvermerk schrieb: „Daß dieses, ich wage es zu sagen, minder korrekte und unkluge Vorgehen im großen Teile die dermaligen leidigen Verhältnisse Ungarns hervorgerufen habe, wird mir kaum jemand zu leugnen wagen.“ Auch Thun verurteilte die Politik seines ehemaligen Kollegen als „einen Weg, den die Regierung seit zehn Jahren [. . .] einzuschlagen versucht hat, der aber gefährlich ist, der Regierung nur Verlegenheiten und Gefahren bereitet und nicht zum Ziele führt, weil die Germanisierungsidee von allen anderen Nationalitäten der österreichischen Monarchie zurückgewiesen wird“.

Gołuchowski sah die Zukunft in dem Grundsatz, daß die innere Amtssprache deutsch, die äußere aber, also der Verkehr mit den Parteien, deutsch oder „die gesetzlich anerkannte Landessprache“ sein solle, und er deutete an, in welchen Kronländern welche Sprachen als gesetzlich anerkannte Landessprachen zu gelten hätten. Thun ging noch einen Schritt weiter und meinte, das Deutsche werde sich auch für den inneren Dienst nicht überall halten können. Auch dabei müsse das praktische Bedürfnis die Richtschnur sein.

Gegen diese Positionen verteidigte Justizminister Nádasdy, sekundiert von Bruck, geradezu leidenschaftlich die deutsche Sprache als einheitliche Gerichtssprache: „Ich setze voraus, daß wir ein einiges, nicht aus zehn Nationen lose zusammengehaltenes Kaisertum Österreich anstreben, daß wir daher die separatistischen Bestrebungen dieser Nationalitäten nicht teilen; ich setze voraus, daß wir für die ganze Monarchie, sowohl formell als materiell, sowohl in bürgerlichen als in Strafsachen, ein Gesetz, eine einige Rechtspflege, einen höchsten Gerichtshof wünschen; und eine natürliche Folge dieses Wunsches muß sein, daß wir auch für die ganze Monarchie eine Gerichtssprache ermöglichen.“ Immerhin gestand er zu, daß es im Interesse der Rechtspflege sei, die Schlußverhandlung im Strafprozeß in der eigenen Landessprache zu führen, wenn der || S. 68 PDF || Beschuldigte des Deutschen nicht mächtig sei, und er erklärte sich bereit, die dem entgegenstehende Verfügung aus dem Jahr 1857 abzuändern.

Sowohl Nádasdy als auch Gołuchowski beriefen sich in ihren langen Wortmeldungen auf Vorschläge und Beschlüsse aus dem vergangenen Jahrzehnt. Das Protokoll macht also auch deutlich, daß die nach außen hin vorherrschende germanisierende Sprachenpolitik des Neoabsolutismus intern nicht unumstritten war. Die Sprachenfrage beschäftigte im Lauf des Jahres 1860 noch oft das Kabinett Rechberg.

Die Bedeutung des Jahres 1859 für die Geschichte der Habsburgermonarchie - Retrodigitalisat (PDF)

Von den beiden Kriegsjahren der Habsburgermonarchie zwischen der Revolution von 1848/49 und dem Ersten Weltkrieg – nämlich 1859 und 1866 – hatte das Jahr 1859 in der österreichischen Historiographie lange Zeit einen geringeren Stellenwert als das Jahr 1866. Dieses wurde als „Schicksalsjahr“ bezeichnet222, in welchem durch das Ende des Deutschen Bundes und durch die endgültige Ausschließung Österreichs aus Deutschland „das alte Europa endete“223. Der preußische Sieg über Österreich bei Königgrätz wurde, nach dem Ausspruch Papst Pius IX., als „Weltuntergang“ beurteilt224. 1859 dagegen verlor Österreich nur eine Provinz, nicht aber seine Anwartschaft auf die Führung im Deutschen Bund.

Ein solche Sichtweise ist nur dann zutreffend, wenn Österreichs Großmachtstellung und die deutsche Frage im Mittelpunkt stehen. Schon aus der Sicht der italienischen Historiographie ist es umgekehrt. Für sie waren der zweite Risorgimentokrieg im Jahr 1859 mit den französisch-piemontesischen Siegen über die Habsburgermonarchie bei Magenta und Solferino die Voraussetzung und der Auftakt für die Gründung des Königreichs Italien im Jahr 1861, mithin wichtiger als 1866, das mit dem Gewinn Venetiens nur einen weiteren Schritt zur Erfüllung der italienischen Territorialansprüche brachte.

Auch aus der Sicht der österreichischen Geschichte ist das Jahr 1859 anders zu bewerten, wenn man statt der Außen- und Machtpolitik die innenpolitischen Aspekte mit einbezieht. Für die österreichische Verfassungsgeschichte ist es das Jahr, das den Umschwung vom Neoabsolutismus zum Konstitutionalismus einleitete. Wenn man den Übergang von der konservativ-absolutistischen zur liberal-konstitutionellen Monarchie von 1848 bis 1867 als eine zentrale und positive Entwicklungslinie bewertet, die ihrerseits den vielfachen Emanzipationsbewegungen und der Demokratisierung den Weg gebahnt hat, dann ist (nach dem bedeutendsten Ereignis: 1848) das Jahr 1859 ohne Zweifel ein Schlüsseljahr in der österreichischen Geschichte. Worin bestand die Quintessenz der Ereignisse dieses Jahres?

Sie lag wohl nicht in der vordergründigen Ereigniskette und in den sichtbaren Auswirkungen des Krieges. Die Neujahrsansprache Napoleons, der verlorene Krieg gegen Sardinien und Frankreich mit dem Verlust der Lombardei und die Friedenspräliminarien || S. 69 PDF || von Villafranca führten zum Laxenburger Manifest mit der Ankündigung zeitgemäßer Reformen. Die Ausarbeitung eines neuen politischen Programms – das Ministerprogramm vom 21. August – und die Berufung eines neuen Kabinetts markieren zwar das Ende des Neoabsolutismus, für die Zeitgenossen war dies aber nur undeutlich sichtbar. Das Programm wurde der Öffentlichkeit nur im Weg eines Zeitungsartikels in Umrissen bekanntgegeben. Das Kabinett wurde von einigen Männern der früheren Regierung und einigen neuen, aber ebenfalls konservativen Politikern gebildet. Mit Recht wurde gesagt, Ziel des neuen Kabinetts sei die Sicherstellung der Lebensfähigkeit des bürokratisch-absolutistischen Systems gewesen225, also keineswegs ein vollständiges Abgehen vom neoabsolutistischen Jahrzehnt. Dennoch führten die Ereignisse innerhalb weniger Monate zur Einberufung des verstärkten Reichsrates, zum Oktoberdiplom, und schließlich zum Februarpatent mit seinem Grundgesetz über die Reichsvertretung, also zum konstitutionellen Regierungssystem. Wie war dies möglich?

Die Quintessenz der Ereignisse von 1859 lag in der vielfachen Schwächung des bisherigen Systems. Geschwächt wurde allen voran der Kaiser selbst. Auch wenn der Minister des Äußern Buol-Schauenstein nach dem Kriegsausbruch zurücktrat, der wahre Verantwortliche für die Außenpolitik, die den Krieg nicht zu verhindern gewußt hatte, blieb Franz Joseph selbst. Geschwächt wurde er, da er als geschlagener Feldherr heimkehrte. Seine Popularität erreichte einen Tiefpunkt. Geschwächt wurde seine Position gegenüber der Regierung, die, wieder geführt von einem „Ministerpräsidenten“, den neoabsolutistischen Reichsrat auf den zweiten Platz verweisen konnte.

Geschwächt wurde zweitens die Militärbürokratie. Sie war verantwortlich für die unglückliche Wahl des Feldherrn Gyulai, für die Mängel im Ausrüstungs- und Nachschubwesen und für die Korruptionsfälle, die nach dem Krieg zu Prozessen führten. Der Rücktritt Grünnes und die Enthebung von mehr als hundert Generälen zeigte in personeller Hinsicht das Ausmaß der Schwächung, nachhaltiger aber wirkte die Verminderung der Finanzmittel, die die bewaffnete Macht in den folgenden Jahren hinnehmen mußte, angefangen von der Budgethoheit der Ministerkonferenz, über die Ersparungskommission bis hin zum Budgetbewilligungsrecht des Reichsrates von 1861. Ähnliches widerfuhr der Gendarmerie. Sie war unter Grünne und Kempen zu einer politischen Polizei geworden war. Nun mußte Kempen gehen, die Gendarmerie wurde reformiert und in ihrer Tätigkeit den politischen Behörden unterstellt.

Geschwächt wurde drittens das autokratisch-zentralistische Regierungssystem als solches. Symbol dafür war die Enthebung Bachs und seine Ersetzung durch den föderalistisch eingestellten Grafen Gołuchowski. Hierher gehört auch die Unterordnung des neoabsolutistischen Reichsrates unter die Ministerkonferenz, also die teilweise Rücknahme der Entmachtung des Ministerrates am Ende der Regierung Schwarzenberg. Daß dieser Reichsrat außerdem noch durch zeitliche Räte erweitert werden sollte, und ebenso die programmierte Stärkung des Selfgovernments waren weitere Hinweise auf die Schwächung des Zentrums.

Mit all dem ging auch eine entscheidende Schwächung der intransigenten Ungarnpolitik einher. Zwar führte der erste Anlauf jener ungarischen Führungsschicht, || S. 70 PDF || die dem Hof am nächsten stand, im Sommer und Herbst 1859 noch nicht zum Ziel, wohl aber der zweite, mit der Protestantenfrage verknüpfte, im Frühjahr 1860. Die Enthebung Erzherzog Albrechts, Symbol der harten Ungarnpolitik, am 19. April 1860 und seine Ersetzung durch Benedek waren das erste sichtbare Zeichen für die neue Linie, die mit der Wiederherstellung der ungarischen Verfassung im Oktober des Jahres bekräftigt wurde.

Geschwächt wurden ferner die klerikalen Kräfte. Auch hier gab es eine Symbolfigur, den Minister für Kultus und Unterricht Thun. Er verblieb zwar zunächst im Kabinett, doch zeigen die Protokolle klar seine Oppositionsrolle. Obwohl er seine Position hartnäckig, scharfsinnig und beredt verteidigte, blieb er meist in der Minderheit, ob es sich z.B. um den Rücktritt Brucks, um die Frage der Judenemanzipation oder um das ungarische Protestantenpatent handelte, das schließlich im Mai 1860 faktisch zurückgezogen wurde. Im Oktober 1860 verließ Thun die Regierung.

Die vielfältige Schwächung des bisherigen Systems eröffnete den gesellschaftlichen Kräften wieder einen größeren Spielraum im Wettstreit um den politischen Einfluß, was bisher unterdrückt worden war. Zunächst – vom Sommer 1859 bis Herbst 1860 – konnten die gemäßigt Konservativen und die konservativen Föderalisten wichtige Positionen besetzen, aber die liberalen Kreise, von Bruck und von seinem Nachfolger Plener im Zentrum der Macht geschickt in Spiel gebracht, konnten langsam aufholen und ab 1861 sogar die Mehrheit im Kabinett stellen. Dabei erwies sich das Ministerprogramm als ein Papier, das mehr Möglichkeiten eröffnete, als seine Verfasser im Sommer 1859 beabsichtigt und wohl auch vermutet hatten. Das Programm allein, ein dürres Papier, hätte freilich nichts bewirkt, aber im Drang der finanziellen und politischen Krise, unter dem Druck der Finanzwelt, der Ungarn, der liberalen Kräfte, wurde es doch zum Hebel für die Erneuerung. Es ist kein Zufall, daß es ungezählte Male in den Protokollen der Ministerkonferenz erwähnt wurde und daß sich die Minister darauf beriefen.

Die Ereignisse des Jahres 1859 zwangen den Kaiser und die Regierung, in der politischen Sackgasse, die man 1851 betreten hatte, anzuhalten, und sie drängten sie, umzukehren und sie langsam zu verlassen. So gesehen war es das Jahr der Wende, und eines der wichtigsten auf dem Weg der Monarchie zum liberalen Verfassungsstaat.