Ministerkonferenz und Ministerkonferenzprotokolle 1853 und 1854 - Retrodigitalisat (PDF)
Zwei Leitthemen kennzeichnen die Regierungstätigkeit in der neoabsolutistischen Epoche Österreichs: die Beseitigung der Nachwirkungen der Revolution von 1848/49 und die Versuche, ein modernes Staats- und Wirtschaftssystem aufzubauen. Die bisher veröffentlichten Protokolle des Ministeriums Buol-Schauenstein haben dies bereits deutlich zum Ausdruck gebracht1, und die Protokolle des vorliegenden Bandes zeigen, daß sich diese Schwerpunkte der Politik weiterhin stellten. Die grundsätzliche Problematik bei der sogenannten Neugestaltung Österreichs — dieses Schlagwort wurde von den Propagandisten des neoabsolutistischen Systems publizistisch weidlich ausgeschlachtet2 — bestand für die autoritär-absolutistische Regierung darin, die staatliche, soziale und wirtschaftliche Rückständigkeit zu überwinden, dennoch aber nicht in ein liberales Regime, das von den bürgerlichen Schichten getragen wurde, überzugleiten. Die Verwaltungsreform diente in der Art, wie sie verwirklicht wurde3, zweifelsohne dem Ziel, dem Staat eine damals als modern verstandene — zentralistische — Gestalt zu geben, die die Regierungsführung erleichterte. Diese Verwaltungsreform sollte auch in Zukunft das bürokratische System Österreichs maßgeblich bestimmen. Bei den Versuchen, Rahmenbedingungen für ein neues (kapitalistisches) Wirtschaftssystem zu schaffen, gab es allerdings Schwierigkeiten, || S. 10 PDF || die Schichten, die dieses tragen sollten, politisch auszuschließen, sie aber trotzdem für eine Mitarbeit zu begeistern. Gerade in dem in diesem Band behandelten Zeitraum zeigte sich die Brüchigkeit des finanzpolitischen Systems des Neoabsolutismus. Die Notwendigkeit, den Staat aus der wirtschaftlichen und der finanziellen Krise zu manövrieren, trat in den Vordergrund, innovatorische Maßnahmen mußten dagegen zurückstehen. Wichtig für das ehrgeizige Programm des neoabsolutistischen Staates war auch die Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, das in dem leider nicht im Original erhaltenen und nicht vollständig rekonstruierbaren Protokoll über die Vorbereitung des Konkordats vom 18. August 1855 zwischen Österreich und dem Heiligen Stuhl zum Ausdruck kam und hier zum erstenmal — soweit der Text auffindbar war — wissenschaftlich ausgewertet wurde. Eine besondere Bedeutung nimmt der Themenkreis Universitätsreform ein, neben der Grundentlastung der einzige wirkliche Erfolg der 48er Revolution. Die Regelung der Universitätsstudien und die Verordnung über die Richtlinien für eine Organisation der Universität Wien nahmen im ganzen 21 Beratungen (Tagesordnungspunkte) in Anspruch. Das zeigt die Bedeutung, die diese Reform für das neoabsolutistische Regime besaß.
In einem größeren Ausmaß als in den Protokollen der vorhergehenden Bände des Ministeriums Buol-Schauenstein kommt das Thema Außenpolitik zur Sprache. Allerdings befindet sich eine Reihe dieser Protokolle nicht im Bestand der Kabinettskanzlei des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, dem die Reihe der Ministerratsprotokolle angehört, sondern in einer Abteilung des Politischen Archivs, in dem für gewöhnlich die Aktenstücke der Zentralbehörden, die die Außenpolitik betreffen, eingereiht sind4. Da aber die Mehrzahl der Minister, und zwar der Minister des Äußern und des kaiserlichen Hauses, der Minister des Inneren sowie der Finanz- und Handelsminister, regelmäßig an den Sitzungen dieser eigens zur Beratung von außenpolitischen Fragen einberufenen „Konferenz5“ teilnahm — somit fehlten nur der Minister für Kultus und Unterricht sowie der Justizminister — und diese Protokolle für die österreichische Außenpolitik im Krimkrieg aufschlußreich sind, wurden sie als Anhang im vorliegenden Band abgedruckt6. Im Unterschied dazu wird eine Reihe der Protokolle von sogenannten Sonderkonferenzen nicht publiziert: so die der Konferenzen, die zur Kontrolle des Militärbudgets einberufen wurden. Diese standen meistens unter dem Vorsitz des Reichsratspräsidenten Kübeck, und neben einer Anzahl von Militärs nahm von den Ministern nur Finanzminister Baumgartner teil7. (Diese Protokolle liegen im Bestand Reichsrat/Präsidium des Haus-, Hof- und Staatsarchivs).|| S. 11 PDF || Auch die Protokolle der Beratungen des „Kirchenkomitees“, das — ebenfalls unter der Leitung Kübecks stehend — den Abschluß des Konkordats zu beraten hatte8, konnten in dem vorliegenden Band nicht aufgenommen werden. Die Protokolle einer anderen vom Kaiser eingesetzten „Konferenz“, die als Aufgabe erhielt, alle in den okkupierten Donaufürstentümern zu ergreifenden administrativen Maßregeln zu beraten und die aus Außenminister Buol, Innenminister Bach und FML. Grünne, Erster Generaladjutant des Kaisers, bestand, sind heute nicht mehr auffindbar9.
Die Existenz dieser „Konferenzen“, die im wesentlichen dann eingesetzt wurden, wenn Schwierigkeiten besonderer Natur auftraten oder wenn es galt, außerhalb der gewöhnlichen Staatsgeschäfte liegende Aufgaben zu bewältigen, zeigt den konstitutionellen Stellenwert der Ministerkonferenz in der neoabsolutistischen Zeit und wirft ein bezeichnendes Licht auf die Regierungspraxis dieses Systems: Mißtrauischer Abstand des jungen Monarchen gegenüber einer zu seiner Beratung und Unterstützung etablierten Institution, als Ministerkonferenz ohnehin nur noch ein kläglicher Rest des 1848 gegründeten konstitutionellen Ministerrates10, mochte nur ein Motiv für die Tendenz Franz Josephs gewesen sein, die Entscheidungsgewalt verschiedenen Gremien und Personen zuzuteilen, die Regierungsmacht zu dezentralisieren und damit zu schwächen.
Versuche der Stabilisierung und Ausbau des bürokratischen Systems - Retrodigitalisat (PDF)
In engem Zusammenhang mit der schwierigen außenpolitischen Lage, die Österreich durch den Krimkrieg erwuchs, ist das Bestreben zu sehen, das Erbe der 48er Revolution zu liquidieren und die Zwangsmaßnahmen zu beseitigen, mit denen das neoabsolutistische Regime auf die Erhebungen der Jahre 1848/49 geantwortet hatte. Zwar verfuhr man bezüglich der Begnadigungsanträge, die die ungarischen Revolutionäre betrafen, sehr zurückhaltend, wobei festzustellen ist, daß der Kaiser selbst manche Gnadenanträge entgegen der Meinung seiner Minister abschlägig beantwortete11. Man war jedoch im allgemeinen offensichtlich um eine „Normalisierung“ der Verhältnisse in den Kronländern und um eine allgemeine Entmilitarisierung bemüht. In diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache zu sehen, daß die Publizierung des erst 1854 in contumaciam gefällten Todesurteils gegen Hans Kudlich unterblieb — des schlechten Eindrucks wegen, || S. 12 PDF || den dieses in der Öffentlichkeit hervorgerufen haben würde12. Ein besonderer Gegenstand der Sorge war die Lage im lombardisch-venezianischen Königreich. Zunächst erwog man sogar, nach dem Antrag des Militär- und Zivilgouverneurs Radetzky die Kompetenz der Militärgerichte in dieser Provinz noch auszudehnen. Die Ministerkonferenz stimmte das jedoch bereits in der Sitzung vom 18. März 1854 bedenklich, weil damit der „Eindruck einer Verschärfung des Belagerungszustandes“ verbunden gewesen wäre13.
Ein Staat, dem es darum zu tun war, im Rahmen der Krimkriegdiplomatie die als liberal geltenden Westmächte England und Frankreich nicht zu verstimmen, konnte es sich nicht leisten, eines seiner wirtschaftlich bedeutendsten Kronländer, das lombardisch-venezianische Königreich, weiterhin dem Kriegsrecht zu unterwerfen, besonders angesichts der Sympathien, die England, vor allem aber der Kaiser der Franzosen, Napoleon III., den Führern der italienischen Einigungsbewegung entgegenbrachten14. Nachdem bereits am 13. August 1853 Bestimmungen „über die Milderung des Belagerungszustandes im lombardisch-venezianischen Königreich“ erlassen worden waren15, wurde am 1. Mai 1854, also kurz nach der Hochzeit Franz Josephs mit Elisabeth, Herzogin in Bayern — sie wurde als unmittelbarer Anlaß deklariert —, der Belagerungszustand in Lombardo-Venetien aufgehoben und ein Teil der Prozesse gegen italienische Revolutionäre „in Gnaden“ aufgelassen, ein anderer Teil den Zivilstrafgerichten übergeben, auch die in Este etablierte Militärkommission zur Aburteilung gewisser Staatsverbrechen wurde aufgehoben16. Allerdings verzichtete man nicht darauf (wie es von Justizminister Karl Krauß vorgeschlagen wurde17), einen „besonderen Gerichtshof zur Aburteilung der Verbrechen des Hochverrates, des Aufstandes und des Aufruhrs“ in Mantua ins Leben zu rufen18. Er jedoch wurde nur mit Zivilrichtern besetzt. Diese sprachen nach dem Zivilstrafgesetz Recht — entgegen dem ursprünglichen Antrag Feldmarschall Radetzkys, der von Bach unterstützt worden war, den „Spezialgerichtshof“ als ein „gemischtes Militär- und Zivilgericht unter einem militärischen Präsidium“ zu gründen19. Ähnliche Lösungen wurden auch für die Aufhebung der Kriegsgerichte in Wien, in Prag und in Ungarn, die dort weiterbestanden, obwohl der Belagerungszustand bereits aufgehoben war, vorgeschlagen. Doch erhoben sich über verschiedene Modalitäten vehemente Meinungsverschiedenheiten20.
Nach dem Beispiel Lombardo-Venetiens wurde am 15. Dezember 1854 der Belagerungszustand in Siebenbürgen beseitigt, allerdings ohne Etablierung eines || S. 13 PDF || „Spezialgerichtshofes21“. Damit glaubte das Kaisertum Österreich dem Ausland beweisen zu können, die Revolution bewältigt und „normalmäßige Verhältnisse“ geschaffen zu haben.
Die Durchfürhung der Verwaltungsreform, vor allem die der Verwaltungsorganisation in den Kronländern, war Ende des Jahres 1853 fast zur Gänze abgeschlossen. Von ihr war in der Einleitung zu Band 2 des Ministeriums Buol-Schauenstein ausführlich die Rede22. Im vorliegenden Band handeln noch einige Tagesordnungspunkte von diesem Gegenstand: So wurde die Organisation der Bezirksämter in Kroatien, Böhmen und Siebenbürgen, der Stuhlrichterämter in der Kaschauer Statthaltereiabteilung23, der Komitatsgerichte in dieser sowie in der Ödenburger Statthaltereiabteilung24 und die der Gerichtshöfe erster Instanz in Siebenbürgen25 besprochen, es wurden aber auch die Personalbestellung für die Kultus- und Unterrichtsgegenstände bei den Landesregierungen26, für die Sanitätsangelegenheiten bei den Statthaltereien27, die Organisierung der Staatsanwaltschaften in Ungarn28 und die Vorschriften über die innere Einrichtung der Staatsanwaltschaften29 beschlossen. Für den Hintergrund, Sinn und Gang dieser Reformmaßnahmen gilt das gleiche, was bereits in der Einleitung zum zweiten Band des Ministeriums Buol-Schauenstein gesagt wurde. Die ausführliche Beschäftigung der Ministerkonferenz selbst mit geringsten bürokratischen Personalfragen, wie Pensionen, Pensionierungen, Gnadengaben, Erziehungsbeiträgen und Auszeichnungen30, spiegelt Problematik und Stil eines sich immer mehr bürokratisierenden Obrigkeitsstaates wider, zu dessen Prinzipien es gehörte, neben der Armee den Verwaltungsapparat fest im Griff zu haben31. Der absolutistische Staat war bei der Ausführung seines Programms auf die eifrige Mitwirkung seiner Beamten und das klaglose Funktionieren seines Beamtenapparates angewiesen und mußte sich dessen versichern. Wieweit diesbezüglich das Germanisierungsprogramm Bachs, besonders was die Sprachenfrage betraf, auf den Widerstand seiner Ministerkollegen stieß, zeigt die Diskussion der Ministerkonferenz über die „Dienstprüfungen“ der Beamten („Prüfungen der politischen Beamten und der Richteramtsanwärter“). Es handelt sich dabei um ein interessantes Dokument, das nicht nur die Bedeutung der || S. 14 PDF || Bürokratie für die neoabsolutistische Regierungspraxis enthüllt, sondern sowohl alte, josephinische als auch neue Vorstellungen von Staatsdienst, Beamtentum und Beamtenbildung demonstriert, die im Grunde unvereinbar waren32.
Zur Beherrschung des Beamtenapparates gehörte es auch, daß — um in der heutigen Terminologie zu bleiben — das „Dienstrecht“ ausgebaut wurde. Maßnahmen gegen Beamtenbestechung und gegen Amtsmißbrauch wurden genauso erwogen wie jene zur Sicherung der „Amtshaftung“33. Amtsverschwiegenheit, Staatstreue und Gehorsam wurden als Beamtentugenden hervorgehoben, auf die die Regierung — selbstverständlich — nicht verzichten konnte. Der autoritäre Zugriff war rigoros. Der absolute Anspruch, den der Staat an seine Beamten stellte, geht aus der Diskussion hervor, die über journalistische Tätigkeiten von Beamten geführt wurde34. Gleichzeitig wurde jedoch schlecht für sie gesorgt. Die finanzielle und die soziale Lage vor allem der unteren Beamten war so prekär, daß man bereits öffentlich zugab, sie befänden sich „in der bittersten Not“ und wären kaum imstande, „ihr Leben zu erhalten“35. Dermaßen in Bedrängnis war es ihnen nicht möglich, vor der Bevölkerung die Rolle zu verkörpern, die ihnen zugedacht war, nämlich ein würdiger Repräsentant des Staates zu sein36.
Die Krisensituation des Staates - Retrodigitalisat (PDF)
Die schwierigen außenpolitischen Probleme, zu denen es in den Jahren 1853/54 vor allem durch den Krimkrieg kam, wurden freilich in den Sitzungen der Ministerkonferenz nicht besprochen37. Die Außenpolitik war Reservat des Kaisers, und zumindest in diesen Jahren wurden, wie bereits erwähnt, die außenpolitischen Fragen in einer von Franz Joseph einberufenen „Konferenz“, an der außer den Ministern des Äußern, des Inneren und der Finanzen regelmäßig der Präsident des Reichsrates Kübeck und hohe Militärs, wie der Erste General-adjutant des Kaisers und Chef der Militärzentralkanzlei FML. Karl Graf Grünne und FZM. Hess, und zum Teil auch die Erzherzöge Albrecht und Wilhelm38 teilnahmen, beraten. Ein Vergleich der Protokolle dieser „Konferenz39“ mit jenen der Ministerkonferenz, die Fragen außenpolitischer Natur zum Thema || S. 15 PDF || haben40, zeigt den inhaltlichen Unterschied. In den außerordentlichen Konferenzen wurden die grundsätzlichen Leitlinien der österreichischen Außenpolitik, wie etwa Fragen der Bündnis- und der Neutralitätspolitik, besprochen: Die Haltung, die Österreich gegenüber den kriegführenden Mächten, Rußland, dem Osmanischen Reich, später auch England und Frankreich, einnehmen sollte, sowie die mit dieser Politik verbundenen Finanzierungsprobleme wurden in „der Konferenz“ ausführlich diskutiert41. In der Ministerkonferenz dagegen wurden ausschließlich Themen besprochen, die sich im Rahmen dieser Problematik auf die Innenpolitik bezogen: so etwa die mit der von Österreich verfolgten Neutralitätspolitik in Verbindung stehenden Waffenlieferungsverbote an kriegführende Staaten samt ihren Folgen für den österreichischen Außenhandel42 oder auch bestimmte finanzielle und administrative Konsequenzen, die sich aus der Okkupation der Donaufürstentümer durch Österreich ergaben43, wobei jedoch festzuhalten ist, daß auch die grundsätzlichen Finanzprobleme, die mit Militäroperationen und Außenpolitik in Zusammenhang standen, der Ministerkonferenz verschlossen blieben.
Aus den Protokollen der Ministerkonferenz wird allerdings spätestens im November 1853 deutlich, daß sich Österreich—nach einer kurzen Phase wirtschaftlichen Aufschwungs in den frühen fünfziger Jahren—in einer äußerst schwierigen wirtschaftlichen Lage und in einer Krise des allgemeinen Staatshaushalts befand, die nicht allein durch die teure Finanzierung der außenpolitischen und der militärischen Operationen verursacht wurde44. Eine Schlüsselposition nimmt diesbezüglich das Protokoll vom 26. November 1853 45 ein. Es handelt sich dabei im übrigen um das einzige von den in diesem Band publizierten Protokollen einer Ministerkonferenz, bei der der Kaiser selbst den Vorsitz führte. Unmittelbarer als in anderen Diskussionen werden im Rahmen der Debatte über den Staatshaushalt für das Jahr 1854, der hier besprochen wurde, die wirtschaftlichen und die sozialen Probleme aufgerollt, denen sich das Kaisertum Österreich zu diesem Zeitpunkt konfrontiert sah.
|| S. 16 PDF || Im Jahre 1853 hatte es eine Reihe von Mißernten gegeben: in Lombardo-Venetien, Dalmatien, Krain, Istrien, in Teilen der Militärgrenze, in Tirol und in einigen Gebieten Galiziens46. Im Riesengebirge herrschte schon seit einigen Jahren durch eine Strukturkrise der häuslichen Spinnerei, Weberei und des Handwerks ein alarmierender Notstand47. Es kam zu einem sprunghaften Ansteigen der Getreidepreise, die in den Jahren 1854/55 den höchsten Stand des ganzen Jahrhunderts erreichten48. Die gesamteuropäische Marktlage und, wie später noch dargelegt werden wird, die Versorgung der Truppen des österreichischen Heeres, das im Krimkrieg mobil gemacht wurde, waren an dieser Entwicklung allerdings maßgeblich beteiligt49. Die Situation wurde durch eine angebliche Speicherung von Getreidevorräten in Venetien und die Spekulationen französischer Getreidehändler in Modena, Parma und Piacenza verschlimmert50. In Lombardo-Venetien herrschte bereits ein Mangel an Lebensmitteln.
Die „Budgetdebatte“ der Ministerkonferenz zeigt, daß gleichzeitig mit dieser Misere auch der Staatshaushalt in eine problematische Situation geraten war51. Die Kosten, die für die Grundentlastung und den neuen Verwaltungsapparat veranschlagt werden mußten, waren zwar hoch, aber immer noch gering im Vergleich zu den Militärausgaben dieser Jahre52. Der Straßenbau, vor allem aber der Bau von Staatseisenbahnen und die Eisenbahnbetriebsmittel verschlangen hohe Summen. Die Herstellung dieser Verkehrsverbindungen war aber nicht nur aus strategischen Interessen, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung unumgänglich notwendig. Es hatte sich herausgestellt, daß sich gerade der Mangel an Verkehrsverbindungen im Vormärz nachteilig für die wirtschaftliche Entwicklung Österreichs ausgewirkt hatte. Auch das Argument, der Bevölkerung, die nun bedeutend mehr mit Steuern belastet war als früher53, durch den Ausbau der verkehrstechnischen Infrastruktur den „good will“ der gerade nicht beliebten neoabsolutistischen Regierung zu zeigen, spielte in der Debatte über die Kosten der Verkehrsmittel eine Rolle54.
|| S. 17 PDF || Beträchtliche finanzielle Probleme wurden noch zusätzlich durch die „Eisenkrise“, die in diesen Jahren eingetreten war, geschaffen: Die staatlichen Bergund Hüttenwerke brachten nur einen geringen Reinertrag55. Die Einnahmen aus dem Berg-, Hütten- und Verkaufswesen gingen von 28.423 Gulden Konventionsmünze im Jahre 1852 auf 23.708 Gulden Konventionsmünze im Jahre 1858 zurück56. Einen probaten Ausweg aus dem Problem sah man zunächst in der Auflassung der defizitär betriebenen Bergbauunternehmungen. Einer zügigen Durchführung dieser Maßnahme stand bald jedoch die sozialpolitische Erwägung gegenüber, daß jede weitere Arbeitslosigkeit, die bereits eingesetzt hatte, zu verhindern sei57. Außerdem war gerade die Förderung der Montanindustrie ein favorisiertes Lieblingskind des Finanzministers58.
Der Krimkrieg schuf zusätzliche Belastungen für den Absatz der heimischen Waffenindustrie. Denn Österreich sah sich aufgrund seines Neutralitätsstatus gezwungen, ein Verbot zu erlassen, Waffen, Munition und sonstiges Material zur Munitionserzeugung (inbegriffen waren Blei, Schwefel, Salpeter, Schmiedeeisen, Stahl und Sensen) in kriegführende Staaten zu liefern59. Dieses galt zunächst — um den österreichischen Handel nicht zu schädigen — nur für Bosnien und die übrigen türkischen Provinzen. Später wurde es auch auf Serbien ausgeweitet, vor allem deshalb, weil von Österreich die Möglichkeit erwogen wurde, in Serbien einzumarschieren. Schließlich, am 31. Mai 1854, wurde dieses Verbot auf alle russischen und osmanischen Staaten ausgedehnt.
Das Defizit des Staatsbudgets war entsprechend dieser allgemeinen Lage hoch: Es war von 42,310.000 Gulden Konventionsmünze im Jahre 1848 auf 50,230.000 Gulden Konventionsmünze im Jahre 1853 gestiegen und nahm im Jahre 1854 dann das exorbitante Ausmaß von 124,520.000 Gulden Konventionsmünze an. Das Bruttodefizit betrug im Jahre 1852 79,620.000 Gulden Konventionsmünze, im Jahre 1853 134,050.000 Gulden Konventionsmünze und im Jahre 1854 162,480.000 Gulden Konventionsmünze. (Die Gesamtschuld des Staates schätzt H.-H. Brandt für Februar 1854, zu einem Zeitpunkt, für den noch von einem „Normalbudget“ gesprochen werden kann, da noch keine kriegerischen Maßnahmen ergriffen worden waren, auf 283,000.000 Gulden Konventionsmünze60.)
Angesichts des „in beunruhigender Weise sich jährlich vermehrenden Defizits“ ist es erklärlich, daß Kaiser Franz Joseph die Ministerkonferenz aufforderte, sich ernstlich mit „dessen Verminderung“ zu beschäftigen und „ergiebigere“ Einsparungen zu planen. Allerdings sah auch er ein, daß diese nur bei der || S. 18 PDF || Militärverwaltung erzielt werden konnten61. Es war jedoch der Kaiser selbst, der im Laufe eines Verwaltungsjahres im Rahmen seines allerhöchsten Oberbefehls immer wieder eine Reihe von Organisationsmaßnahmen, Truppenbewegungen etc. ohne Konsultation der zivilen Stellen, also ohne zentralisierte Kontrolle, bewilligte62. Die „abgesonderten Verhandlungen“ über eine Verminderung des Militärbudgets, die der Kaiser in dieser Ministerkonferenz andeutete, bewirkten allerdings wenig. Zur Zeit des Krimkriegs nahm die Explosion des Militäretats noch krassere Formen an: Am 19. Juli 1854 gewährte der Kaiser eine außerordentliche Militärdotation von 75,304.667 Gulden für militärische Operationen63. Es ist bezeichnend, daß dieser Mehraufwand in keiner Sitzung der Ministerkonferenz besprochen wurde. Umsomehr jedoch versetzt es in Erstaunen, daß in den Protokollen des Jahres 1854 überhaupt keine Debatte über den Staatsvoranschlag für das Verwaltungsjahr 1855 aufscheint.
Die Frage erhebt sich für uns, wie der Staat angesichts dieser finanziellen Misere der politischen und der sozialen Probleme, denen er sich gegenübergestellt sah, Herr werden konnte.
Den sozialen Problemen stand die Ministerkonferenz anfänglich mit erstaunlichem Unverständnis gegenüber. Besonders kritisch war die Situation im lombardisch-venezianischen Königreich: Eine Seidenraupenkrankheit breitete sich seit 1853 aus und schädigte die Seidenernte empfindlich. Eine Traubenkrankheit vernichtete auf Jahre hinaus die Traubenernte64, und die Getreideernte war, wie bereits erwähnt, 1853 schlecht ausgefallen65. In dieser Krisensituation kamen nun auch die Nachteile voll zum Tragen, die die Sequestration der Güter der aufständischen Lombarden von seiten der österreichischen Regierung66 verursachte: Die Kolonen auf den Gütern der Grundbesitzer, denen in Notzeiten wenigstens eine Unterstützung durch die Gutsbesitzer zugestanden war, waren nun ohne jede Hilfe, da eine Unterstützung von seiten der Staatsverwaltung nicht vorgesehen war. Verständlicherweise machte sich „Unzufriedenheit“, wie es in den Akten zurückhaltend heißt, breit67. Feldmarschall Radetzky reagierte im Vergleich zu den Wiener Zentralstellen schnell und unbürokratisch und verbot angesichts der steigenden Getreidepreise aus eigener Machtvollkommenheit, ohne Rückfrage in Wien zu halten, bereits im August 1853 jede weitere Getreideausfuhr aus dem lombardisch-venezianischen Königreich. Diese Maßnahme Radetzkys wurde von der Ministerkonferenz streng || S. 19 PDF || gerügt68, und selbst im Herbst 1853, als sich die Notlage verschlimmerte und Radetzky den Antrag stellte, den Einfuhrzoll für Getreide zu senken, um den Import vor allem von Mais und Weizen zu begünstigen und dadurch die Preise zu senken und den „Mangel an notwendigsten Lebensmitteln“ zu beseitigen, wollte die Ministerkonferenz paradoxerweise von Radetzky wissen, „ob nicht bereits der Zeitpunkt gekommen sei, das von ihm verfügte, in nationalökonomischer Beziehung nicht wohl zu rechtfertigende Ausfuhrverbot von Cerealien zurücknehmen zu können“69. Im übrigen verhielten sich die Wiener Zentralstellen auch hinsichtlich des eben erwähnten Antrags Radetzkys, den Einfuhrzoll zu senken, recht saumselig. Das Finanzministerium erhob „Einwendungen und Bedenken“: Feldmarschall Radetzky wurde noch einmal gefragt, die Statthalter der Lombardei und Venetiens wurden um ein Gutachten in dieser Angelegenheit gebeten. Erst die Tatsache, daß auch die benachbarten Länder Frankreich und Toskana, weiters Rom und Neapel den Einfuhrzoll für Getreide aufgehoben hatten und die im Zollverband mit Österreich stehenden Herzogtümer Modena und Parma die Befreiung vom Einfuhrzoll nicht nur bei Weizen und Mais, sondern auch beim Hafer wünschten, überzeugte den Finanzminister, daß diese Maßnahmen nicht nur für das lombardisch-venezianische Königreich, sondern für das gesamte Gebiet des italienischen Zollvereins notwendig war. Sie wurde zunächst mit Jahresende befristet, allerdings bereits einen Monat später bis Ende März 1854 verlängert70. Wie schlecht die Lage in Lombardo-Venetien wirklich war, zeigt übrigens auch, daß sich der Kaiser in der Ministerkonferenz vom 26. November 1853 persönlich für eine Anordnung Radetzkys einsetzte, durch die von diesem eine Unterstützung der Kolonen auf den sequestrierten Gütern durch die Staatsverwaltung bereits verfügt worden war71.
Auch hinsichtlich des Notstands in anderen Gebieten, wie in Dalmatien, Istrien und in Teilen Krains, reagierten die Ministerien bürokratisch langsam. Der Finanzminister hatte wohl in der Ministerkonferenz vom 26. November 1853 angesichts der Notlage in Dalmatien die „schleunigste Erledigung“ der Verhandlungen des Finanzministeriums über die Ermäßigung des Einfuhrzolls für Getreide und der Verzehrungssteuer für Getreide, Mehl und Hülsenfrüchte — der Zoll betrug 10 Kreuzer pro Zentner Getreide, die Verzehrungssteuer 4 und 3 Kreuzer pro Zentner — zugesagt72. (In Dalmatien war die Situation so problematisch, daß auf die Intervention Bachs hin ein eigener Fonds von 30.000 Gulden „zur direkten Unterstützung der Notleidenden“ gegründet wurde73.) Es dauerte allerdings bis zum 18. Dezember 1853, bis der Einfuhrzoll und die Verzehrungssteuer vom Jänner bis Ende März 1854 zur Gänze aufgehoben wurden — eine Maßnahme, die durch die Verschlechterung der Situation || S. 20 PDF || unbedingt notwendig wurde. Eine Ausdehnung dieser Maßnahme auf andere Gebiete der Monarchie erfolgte erst zu Beginn des Jahres 185474.
Das kleinliche Feilschen der Minister, ob die Frachtkosten für Getreide auf den Staatseisenbahnen auf einen dreiviertel Kreuzer für den Zentner pro Meile oder gar auf einen halben Kreuzer gesenkt werden könnten, um eine Preisreduktion bei Brot zu erzielen75, wirkt in diesem Zusammenhang beschämend. Innenminister Bach, der sich für die Ermäßigung der Frachtkosten bis auf einen halben Kreuzer einsetzte, hatte, das muß wohl in Rechnung gestellt werden, im Vergleich mit dem für den Staatshaushalt verantwortlichen Finanzminister, der an dem von ihm vorgeschlagenen Preis von einem dreiviertel Kreuzer unbedingt festhalten wollte, natürlich einen leichteren Stand. Als jedoch dann im Frühjahr 1854 die Getreidepreise in Galizien infolge der Ankäufe für die russischen Truppen, die im benachbarten Königreich Polen konzentriert waren, anstiegen, kämpfte der Innenminister Seite an Seite mit dem Finanzminister hartnäckig gegen den Erlaß eines Ausfuhrverbots von Getreide für Galizien — hauptsächlich mit außenpolitischen Argumenten und aus Rücksicht auf die Getreidebesitzer76.
Allerdings hatte Baumgartner Bedenken, die allgemeine soziale Krise durch zusätzliche Arbeitslose noch zu vergrößern, wenn man die der Staatsverwaltung unterstehenden nicht mehr rentablen Berg- und Hüttenbetriebe, wie bereits angeführt, einstellte77. Das war, soweit feststellbar, aber hinsichtlich der Ausgaben auch die einzige sozialpolitische Konzession, mit der er den sozialen Problemen Rechnung tragen wollte. Die allgemeine Lage der Staatsfinanzen und die Notwendigkeit, rigorose Einsparungen zu erzielen, erschwerten es ihm, das muß hinzugefügt werden, Zugeständnisse zu machen. Als allerdings die Frage zur Debatte stand, ob die Hofgebäude Steuerimmunität genießen sollten und die seit 1813 und 1817 eingeführte Grundsteuer für Hofrealitäten wieder abgeschafft werden sollte (von der Hauszins- und Einkommensteuer waren sie ohnehin befreit), um „Rücksicht auf die staatsrechtliche Stellung des Allerhöchsten Landesfürsten“ zu nehmen, lehnte Baumgartner gemeinsam mit Justizminister Krauß auch diese Privilegierung des Hofes ab: Die staatsrechtliche Stellung des Kaisers, so meinten die beiden Minister, begründe bloß eine Personalimmunität, aber keine Steuerimmunität, und das Privileg würde im übrigen in der Öffentlichkeit einen schlechten Eindruck erwecken. Die Erwägungen waren freilich rein prinzipieller Natur und mit keinerlei finanziellen Vorteilen für das Ärar verbunden: Die vom Hof entrichteten Steuern wurden der Hofdotation zurückerstattet78.
Von den Staatseinnahmen war kaum eine Steigerung zu erwarten. Auf die Aufforderung des Kaisers in der Ministerkonferenz vom 26. November 1853 hin, diesbezüglich Prognosen für die Zukunft zu stellen, waren die Äußerungen des Finanzministers äußerst karg: Einzig und allein vom Tabakgefälle erwartete er || S. 21 PDF || sich „beträchtliche Mehreinnahmen“. Das entsprach der Realität. Der Anstieg der durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate der Reinerträge aus dem Tabakmonopol betrug 4,2 Prozent im österreichischen Teil und 7 Prozent in der Gesamtmonarchie79. Bezüglich der vom Finanzminister angedeuteten Reformierung des Staatsgüterwesens und der „Kolonisierung“ der Krondomänen in Ungarn waren für die nächste Zukunft keine sicheren Einnahmen zu kalkulieren80. Die staatliche Eisenproduktion bereitete, wie schon erwähnt, weiterhin eher Sorgen, als daß sie zu einer Hoffnung auf Mehreinnahmen berechtigte. Die von Reichsratspräsident Kübeck ins Spiel gebrachte Anregung, den teuren Eisenbahnbau durch ein Sonderbudget, „abgesondert von den übrigen Erfordernissen des Staatshaushaltes zu bedecken“, wurde nicht konkretisiert und hätte außerdem als isolierte Maßnahme das Problem keineswegs lösen können81. Was den vom Kaiser angeregten Einsparungsplan anbetraf, so war eigentlich aufgrund der allgemeinen finanziellen Krise, die durch die militärischen Interventionen des Jahres 1854 nur noch verschlechtert werden sollte, nicht abzusehen, wo diesbezüglich anzusetzen war. Der Vorschlag des Kaisers, die Auslagen für staatliche Bauten zu vermindern, dürfte eine Illusion gewesen sein. Es mußte ein anderer Ausweg gefunden werden, das war der der zusätzlichen Geldbeschaffung.
Es ist aufschlußreich und für die damalige Stellung der Ministerkonferenz im Regierungsapparat bezeichnend, daß solche Wege schon längst — bereits seit Sommer 1853 — beschritten worden waren, ohne in diesem Forum in irgendeiner Form zur Debatte gestellt worden zu sein.
H.-H. Brandt hat das Scheitern des seinerzeitigen Programms des Finanzministers zur Währungsrestauration, das seit dem Sommer 1853 offenkundig geworden war, beschrieben82. Nachdem der Kaiser das Demissionsgesuch Baumgartners, das dieser nach seinen Mißerfolgen eingereicht hatte, zurückgewiesen hatte, nahm er die Budgetsanierung erneut in Angriff. Zu nennen wären hier etwa die gemeinsam mit dem Reichsratspräsidenten Kübeck unternommenen Anstrengungen, den Militäretat in Grenzen zu halten, die erfolglosen Versuche, im Spätsommer/Herbst 1853 durch eine Auslandsanleihe in London das Defizit zu decken, der Plan der Aufnahme einer neuerlichen Auslandsanleihe von 35,000.000 Gulden für die Tilgungsleistungen, das Projekt einer Sondersteuer in Form einer Pro-Kopf-Umlage, die als einmaliges Notopfer der Bevölkerung akzeptabel gemacht werden sollte, oder eines bereits im Frühjahr 1854 erwogenen Staatsgüterverkaufs. Von allen diesen finanz- und staatspolitisch bedeutsamen Schritten ist in den Protokollen der Ministerkonferenz nichts zu lesen. Die Lotterieanleihe von März 1854 wird nur marginal und wegen der Verteilung der Erträgnisse an die einzelnen Ministerien erwähnt83. || S. 22 PDF || Auch die steigenden Geldforderungen der Militärs für Rüstungen finden in den Protokollen kaum einen Niederschlag84, und das dadurch exorbitant gestiegene Gesamtdefizit — nach den Berechnungen Baumgartners betrug es im April 1854 bereits rund 103,400.000 Gulden85 — schien für die Ministerkonferenz überhaupt nicht zu existieren.
In ganz anderen Zusammenhängen wird jedoch die finanziell schwierige Lage, in der sich das Kaisertum Österreich und mit ihm der Finanzminister befanden, deutlich: etwa in der Sitzung, als Baumgartner gegen den Chef der Obersten Polizeibehörde auftrat und sich vehement für die Errichtung eines Judenbethauses in Wien einsetzte — mit dem bemerkenswerten Argument, daß bereits die im Oktober 1853 erlassene Verordnung über die Einschränkung der Besitzfähigkeit der Juden, eine neuerliche Diskriminierung der Juden, die 1848 zur Gänze beseitigt worden war86, „eine sehr nachteilige Wirkung auf die Finanzen und den Staatskredit geäußert habe“. Tatsächlich waren die jüdischen Bankiers in Europa danach kaum mehr bereit gewesen, Österreich Kredite zu gewähren87. Der Ausweg, der schließlich gewählt wurde, eine sogenannte Nationalanleihe nach dem französischen Muster des zweiten Kaiserreiches aufzulegen, die breite Bevölkerungsschichten dazu gewinnen sollte, Massensubskriptionen zu zeichnen, wurde in der Ministerkonferenz erst dann diskutiert, als diese Kreditoperation bereits eine beschlossene Sache war88. In Österreich hatte man im Gegensatz zu Frankreich, das durch solche Anleihen für gewöhnlich seinen finanziellen Kriegsbedarf deckte, keinerlei Erfahrung. Ein Erfolg der Anleihe schien aber nicht nur aus finanzpolitischen Gründen wichtig. Er sollte gleichzeitig auch den Beweis für die patriotische Gesinnung der Bevölkerung erbringen und letztlich deren Zustimmung zum neoabsolutistischen System in aller Öffentlichkeit dokumentieren89.
Die Ministerkonferenz, die also am Zustandekommen der Anleihe völlig unbeteiligt war, bekam nun die Aufgabe zugewiesen, die Bedingungen zu schaffen, die einen Erfolg dieser Kreditoperation garantieren würden90. Es war Innenminister Bach, der sich zum Anwalt der propagandistischen Seite dieses Unternehmens machte. Er stellte in der Sitzung die Anträge, Kapitalien für die Anleihe zu mobilisieren, um die Zeichnung zu erleichtern. Dazu gehörten 1. die Aufhebung der dreijährigen Frist, die Oktava91 auf den ehemaligen Herrengütern zu löschen, 2. die Bindung von bestimmten Kapitalien, wie Lehens-, Stiftungs-, Gemeinde- und Fideikommißgelder, zumindest teilweise aufzuheben, 3. die Vorschüsse auf die Urbarialentschädigung in Ungarn, Kroatien, Slawonien, Siebenbürgen, in der serbischen Woiwodschaft und in Galizien zu erneuern, || S. 23 PDF || 4. Zahlungen in Silber und nicht nur in Banknoten leisten zu dürfen und 5. die Zahlung der Zölle in Silbergeld festzulegen.
Auch die Staats- und die Sparkassenbeamten sollten mobilisiert werden. Bei den mageren Beamtengehältern war das allerdings nur dann möglich, wenn sie einen Teil ihrer Jahresbesoldung subskribierten und in Raten zurückzahlten92. Bach schuf nicht nur Erleichterungen für die Staatsbeamten, es wurde auch der gesamte Verwaltungsapparat aufgeboten, um die Bürokraten und darüber hinaus die Bevölkerung „ohne Zwang“ zu manipulieren und sie für die Subskription der Anleihe zu gewinnen93. Kübeck, der dieser Kreditoperation heftigen Widerstand entgegengesetzt hatte, bezeichnete sie nicht zu Unrecht als „freiwillige Zwangsanleihe94“.
Bach erzielte mit seiner Kampagne zwar einen vollen Erfolg95, die finanzpolitischen Auswirkungen waren aber dennoch gering. Sie erlaubten, wie der Finanzminister einige Monate danach ausführte, „zunächst nur die Bedeckung der Staatsbedürfnisse und die Zurückzahlung der Bankschuld in dem festgesetzten Betrag96“. Für eine weitere Geldbeschaffung mußten neue Wege gefunden werden. Finanzminister Baumgartner kam auf seinen bereits im März 1854 ventilierten Plan zurück, Staatsgüter zu veräußern. Seit dem Sommer 1854 nahm das Projekt konkretere Formen an: Der Finanzminister erwog, Staatseisenbahnen und Bergwerke zu verkaufen97. Über diese finanzielle Transaktion ist bereits ausführlich geschrieben worden, wobei ihr Einfluß auf die Politik sehr verschieden beurteilt wurde98. Im allgemeinen bedeutete dieser Entschluß eine vollkommene Abkehr von der von Kübeck (damals als Hofkammerpräsident) seit 1841 betriebenen Finanzpolitik, die den Eisenbahnbau allein dem Staat vorbehielt99. Die oben geschilderte Zerrüttung des Staatshaushalts und des Staatskreditwesens machte eine öffentliche Kapitalaufnahme für den Eisenbahnbau auch weiterhin unmöglich. Die Herstellung eines dichten Eisenbahnnetzes || S. 24 PDF || war aber für den Ausbau der Infrastruktur des Staates zur, wie Baumgartner ausführte, „unausweichlichen Notwendigkeit“ geworden100. Die halbfertigen Eisenbahnen waren außerdem völlig unproduktiv. In dieser Notsituation erschien daher der Gedanke, den Bahnbau privaten Unternehmen zu übertragen, als einziger Ausweg. Ein „Privateisenbahnkonzessionsgesetz“, das bereits im März und im Mai 1854 in der Ministerkonferenz beraten wurde101, sollte die entsprechenden Bedingungen schaffen, „aufmunternd und lockend“, wie der Finanzminister in der Sitzung vom 21. März 1854 meinte, zu wirken. Die endgültige Verordnung, die schließlich am 14. September 1854 publiziert wurde102, ermöglichte auch beträchtliche Vergünstigungen für Private, wahrte dem Staat aber dennoch Interventionsmöglichkeiten und Aufsichtsbefugnisse.
Inzwischen waren schon längst mit der französischen Gesellschaft Crédit Mobilier Kontakte geknüpft und Gespräche über einen Verkauf der Eisenbahnen geführt worden. Wichtig erscheint in unserem Zusammenhang, daß dieses Projekt — im Gegensatz zu den vorher zitierten Transaktionen — in der Ministerkonferenz eingehend besprochen wurde103.
Die Bedingungen, die Baumgartner seinen Ministerkollegen darlegte, wurden von ihm selbst als nicht besonders günstig eingeschätzt: Die neunzigjährige Pacht kam einem Verkauf gleich, und der ausgehandelte Kaufpreis von 170,000.000 Francs (65,500.000 Gulden) war nicht allzuhoch, wenn man in Betracht zieht, daß die Baukosten bis zu diesem Zeitpunkt bereits 94,000.000 Gulden betragen hatten104. Zudem sollten Montanbetriebe und Kohlengruben in Böhmen und im Banat um 30,000.000 Francs (11,550.000 Gulden) — das war unter dem Kapitalswert, wie Baumgartner zugab — veräußert werden.
Die Gesellschaft verlangte vom österreichischen Staat eine Annuitätsgarantie von 5,2 Prozent der Anlagesumme sowie Steuer- und Zollfreiheit für die Einfuhr von Maschinen, Schienen etc. Als Gegenleistung verpflichtete sie sich, den Kaufpreis in zunächst erhöhten, dann in gleichbleibenden Monatsraten bis Februar 1858 zu erlegen, bis Ende 1857 die Bahn von Szegedin nach Temesvár fertigzustellen, 45,000.000 Gulden für die Verbesserung des Bahnbetriebes innerhalb der 90 Pachtjahre zu investieren und sie nach Ablauf der Pachtzeit — das wäre im Jahre 1944 gewesen — in gutem Zustand der Staatsverwaltung zu übergeben.
Obwohl Baumgartner einen jährlichen Verlust von einer viertel Million Gulden berechnete, riet er dringend, diese finanzielle Operation zu tätigen. Die Gewährung der Zinsgarantie von 5,2 Prozent hielt er nicht für bedenklich, die geforderte Steuer- und Zollfreiheit für bestimmte Artikel könne, so führte er aus, sowohl in eine Zollermäßigung (bis zur Hälfte des Tarifs) wie auch in eine Steuerermäßigung umgewandelt werden. Er war auch der Meinung, daß staatspolitische Bedenken nicht bestünden, da die zum Verkauf angebotenen Bahnen nicht von Wien ausgingen, und eine Arbeitslosigkeit österreichischer Staatsbürger || S. 25 PDF || „fürs erste“ nicht eintreten würde; für die Montanbetriebe und Kohlengruben versprach er sich sogar durch eine private Verwaltung eine beträchtliche Ertragssteigerung. Österreichische Käufer seien, meinte der Finanzminister resignierend, „bei dem Charakter der österreichischen Industriellen“ ohnehin nicht zu finden; diese hätten zur Zeit zuwenig Kapital und wären im übrigen zu schwerfällig; ja man könne sogar vielleicht durch das fremde Vorbild und die ausländische Konkurrenz die österreichischen Unternehmer mobilisieren und dadurch einen volkswirtschaftlichen Vorteil erwarten105.
Die Diskussion in der Ministerkonferenz war kurz und zeigte keine wesentlichen Divergenzen. Das Hauptargument des Finanzministers, „daß [es] gegenwärtig kaum ein anderes Mittel“ der Geldbeschaffung gäbe, überzeugte auch den zögernden Kultus- und Unterrichtsminister. Innenminister Bach und Außenminister Buol, die das Projekt aus außenpolitischen Gründen von vornherein unterstützt hatten, weil sie eine Allianz Österreichs mit den Westmächten befürworteten106, und auch Justizminister Krauß stimmten dem Antrag nur mit kleinen Modifikationswünschen zu. Damit waren der Verkauf und die Reprivatisierung von österreichischen Staatseisenbahnen und Bergwerksbetrieben beschlossene Sache.
Es war eine der letzten finanziellen Transaktionen, die Baumgartner als Finanzminister tätigte. Er trat am 14. Jänner 1855 zurück. Er hatte beim Kaiser kein Vertrauen mehr gefunden107. Die Ära Baumgartner war damit zu Ende, der neue Finanzminister Bruck verfolgte andere Leitlinien der Finanzpolitik. Die Wirtschaftskrise konnte allerdings nicht beendet werden.
Trotz dieser Krise wurde weiterhin versucht, ein modernes Wirtschaftssystem aufzubauen, indem man die entsprechenden Rahmenbedingungen bereitstellte, was von den Propagandisten des neoabsolutistischen Systems auch in entsprechender Weise publizistisch verwertet wurde108. So wurde angestrebt, die letzten Reste des Feudalsystems zu beseitigen109, das Steuersystem zu vereinheitlichen110 und || S. 26 PDF || durch die Begründung eines verzweigten Bankwesens111 die finanzielle Grundlage für eine florierende Wirtschaft zu schaffen.
Alle diese Maßnahmen konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Österreich am Ende seiner finanziellen Kräfte angelangt war. Sie konnten fürs erste wohl auch schwerlich zum Tragen kommen.
Studienreform und Universitätsorganisation - Retrodigitalisat (PDF)
Im Gegensatz zum neoabsolutistischen Wirtschaftsprogramm, dessen Schwächen sich gerade in den Jahren 1853 und 1854 deutlich zeigten, wurde ein anderer Hauptdiskussionsgegenstand der Ministerkonferenz, die Reform der Universität, in dieser Zeit erfolgreich abgeschlossen. Während die anderen Minister mit der Bewältigung der Krisensituation des Staates beschäftigt waren, gelang es dem Kultus- und Unterrichtsminister, seine primären Anliegen, die „Neugestaltung der österreichischen Universitäten112“ und die „Einrichtung des Gymnasialstudiums113“, in seinem Sinne durchzusetzen, obwohl es heftige Widerstände gegen die Reformen gab. Anders als die Diskussionen über finanzpolitische Fragen enthüllen jene über die Studienreform und über die Universitätsorganisation weltanschauliche Gegensätze, die kaum überbrückbar waren. Anders auch als bei der Debatte über das Konkordat, obwohl gerade dieser Gegenstand geeignet war, ideologische Differenzen aufzuzeigen. Über das mit dem Heiligen Stuhl abzuschließende Konkordat hatte die Ministerkonferenz nur noch ein formelles Gutachten abzugeben, denn die wirkliche Entscheidungsgewalt war in die Hände des Kirchenkomitees gelegt, das seit 1852 bestand und unter dem Vorsitz des greisen Reichsratspräsidenten Kübeck die Sitzungen abhielt114. Die Debatte der Minister wurde erst lebhaft, als es um die Gleichstellung der Religionen in den Kronländern ging, wie das Protokoll — soweit es heute noch vorhanden ist — zeigt.
Die Reform des Studienwesens war neben der Grundentlastung die einzige Errungenschaft der Revolution des Jahres 1848, die zur Ausführung kam. Die Neugestaltung der Universitätsstudien115 wurde in der Literatur bereits ausführlich gewürdigt und ihre Bedeutung für die Entwicklung des gesamten || S. 27 PDF || Geisteslebens in Österreich hervorgehoben116. Hans Lentze vor allem hat in einer umfassenden Monographie und in einer Reihe von Spezialuntersuchungen die Diskussionen der Ministerkonferenz ausgewertet und die Gestalt des Unterrichtsministers Leo Graf Thun-Hohenstein sowie die Durchschlagskraft, die dieser bewies, als er im Alleingang sein Programm verwirklichte und das Humboldtsche Universitätsmodell, wie es an deutschen Universitäten verwirklicht worden war, nach Österreich verpflanzte, genau beschrieben117. Wie die Debatten der Ministerkonferenz zeigen, waren allein die Widerstände seiner Ministerkollegen so beträchtlich, daß der Plan Thuns scheitern hätte können118. Besonders der Finanz- und Handelsminister Baumgartner, der bereits an der vormärzlichen Universität Physik und Mathematik unterrichtet hatte und zur Zeit der Diskussion über die Reform des Studienwesens Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften war, äußerte die heftigsten Gegenvorstellungen119. Als entschiedener Widersacher erwies sich auch Justizminister Krauß120. Er entstammte der hohen vormärzlichen Bürokratie, die in der Zeit vor 1848, in der die Lehre den Universitäten, die eigentliche Forschung aber den Beamten anvertraut war, beträchtliche wissenschaftliche Leistungen erbracht || S. 28 PDF || hatte. Aber auch Innenminister Bach und Außenminister Buol-Schauenstein waren Gegner des Thunschen Konzepts. Ebenso opponierten sowohl der Reichsrat als Gremium als auch Reichsratspräsident Kübeck, die katholische Kirche und ein Teil der Öffentlichkeit. Die Angriffe richteten sich vor allem gegen den Grundsatz der Lehr- und Lernfreiheit, der 1848 verkündet worden war. Alle Reformvorschläge, die als Folgen dieses Prinzips angesehen wurden, stimmten mißtrauisch, manchmal auch deshalb, weil es mißverstanden wurde. So waren die Fragen der Ausbildung und der Berufung der Universitätslehrer, der freien Wahl der Lehrgegenstände durch die Universitätslehrer sowie des freien Unterrichts ebenso heftig umstritten wie die freie Wahl der Lehranstalt, der Lehrgegenstände und der Professoren durch die Studenten. Die Fragen, ob — als Folge der „Lehr- und Lernfreiheit“ — überhaupt noch Prüfungen abzuhalten seien oder ob etwa „Frequentations- und Inskriptionszeugnisse“ genügten und wieweit Überwachungs- und Disziplinierungsmaßregeln sowohl für Professoren als auch Studenten vorzusehen seien, bereiteten den Ministern und der Öffentlichkeit beträchtliche Sorgen. Die Wahrung des katholischen Charakters der Universität war ein anderes vieldiskutiertes Thema. Neben diesen grundsätzlichen Fragen spielte auch die Debatte über die Einrichtung eines Vorbereitungsjahrganges an der Universität im generellen und für die vier Fakultäten im einzelnen eine bedeutende Rolle121. Besonders erhitzten sich die Gemüter wegen der Reform des juristischen Studiums, vor allem deshalb, weil dieses eng mit dem höheren Staatsdienst im Zusammenhang stand. Eine Detailfrage, die jedoch grundsätzliche weltanschauliche Differenzen zwischen Thun und seinen Ministerkollegen aufriß, war die Einführung der historischen Rechtsschule, wie sie an deutschen Hochschulen gelehrt wurde, und die damit im Zusammenhang stehende Ausklammerung der Rechtsphilosophie122.
Über alle diese ideologischen Diskussionen, die die Verwirklichung der Universitätsreform begleiteten, sowie auch über die Hintergründe der kaiserlichen Entscheidung, die letztlich trotz aller Widerstände zugunsten des Thunschen Programms ausfiel, sind wir heute recht gut informiert123.
Über die Pläne zu einer behördlichen Neuorganisation der Universität wissen wir dagegen fast gar nichts. Das erscheint erstaunlich. Wie die Streitgespräche in der Ministerkonferenz und die umfassenden Elaborate von Bach und Krauß einerseits und von Thun andererseits zeigen124, waren sich die Minister wohl bewußt, daß die Fragen, welche äußere Verfassung eine Universität haben soll, wer von den an ihr vertretenen und in ihren Interessen meist sehr divergierenden Gruppen Mitsprache, Entscheidungsrecht und damit Macht ausüben sollte, von bedeutender gesellschaftspolitischer Relevanz sind. In den weltanschaulichen Differenzen, die in den Diskussionen über ein Statut der Universität Wien zutage traten, || S. 29 PDF || wurden zugleich auch die kontroversiellen gesellschaftsreformatorischen Absichten, die in der Periode des Neoabsolutismus herrschten, deutlich.
Der Entwurf eines „Statuts der Wiener Universität“, den Unterrichtsminister Thun Ende 1854 der Ministerkonferenz vorlegte125, lief im wesentlichen darauf hinaus, die Universität in eine Ordinarienuniversität — ebenfalls nach dem Humboldtschen Muster — zu verwandeln und die Reste des alten Korporationscharakters zur Gänze zu beseitigen. Denn trotz aller staatlichen Maßnahmen, die seit dem 18. Jahrhundert vorgenommen worden waren, die Autonomie der Universität schrittweise zu beschneiden, war das Wesen der Korporationsuniversität erhalten geblieben126. Im Jahre 1754 war es wohl zur Einführung der Studiendirektoren gekommen, denen das gesamte „Studium“ der vier Fakultäten samt Professoren und Studenten in jeglicher Hinsicht unterstellt wurde. Die Fakultät bestand jedoch weiterhin aus lehrenden und allen an ihr graduierten, „einverleibten“ Doktoren sowie aus den „am Platz“ ihre Praxis ausübenden Ärzten und Rechtsanwälten, denen es im übrigen, wenn sie an einer inländischen Universität promoviert worden waren, zur strengen Pflicht gemacht wurde, sich in die entsprechende Fakultät der Universität Wien inkorporieren zu lassen. Professoren, die an einer inländischen Universität ihren Doktorgrad erworben hatten, konnten sich unter Umständen in die Fakultät aufnehmen lassen, sie waren aber prinzipiell nicht Mitglieder der Fakultät. Die Fakultät war außer in den Studienangelegenheiten, die den Unterrichtsbehörden unterstellt waren, der Leitung des Dekans anvertraut, der unter Aufsicht des Studiendirektors aus den Reihen der Fakultätsmitglieder gewählt wurde. Der Dekan konnte ein lehrender oder nichtlehrender Doktor, unter Umständen auch ein Professor sein. Diese waren aber zeitweise zur Gänze von den akademischen Würden ausgeschlossen127. Der Rektor, der an der Spitze der Universität stand, konnte ebenfalls — in der Zeit kurz vor 1848 — aus allen Mitgliedern der Fakultät gewählt werden (seit vielen Jahren bekleidete an der Universität Wien jedoch kein Professor, sondern eine prominente Persönlichkeit des öffentlichen Lebens dieses Amt), gewählt von den Prokuratoren der studentischen Nationen, das waren seit 1838 die deutsche, ungarische, slawische und italienische Nation128 — ein freilich kläglicher Rest der alten studentischen Selbstverwaltung. Der Rektor stand dem Akademischen Senat (in Wien Universitätskonsistorium genannt) vor, der an der Universität Wien aus folgenden Mitgliedern bestand: dem Kanzler (Dompropst von St. Stephan), den vier Studiendirektoren, den vier Dekanen, den vier Senioren, den vier Prokuratoren der Akademischen Nationen und dem Syndikus.
|| S. 30 PDF || Die so in ihrem Wesen ausgehöhlt erscheinenden Fakultäten hatten jedoch weiterhin wichtige Funktionen zu erfüllen: Sie galten als Träger der alten Traditionen und hatten demnach die Vermögens- sowie die Verwaltungsangelegenheiten zu besorgen, nahmen Graduierungen vor, erstellten Gutachten, hatten das Recht, Gebühren einzuheben (seit Maria Theresias Zeiten kassierten sie einen bedeutenden Anteil der Promotions- und Disputationstaxen) und alle Stiftungen zu verwalten. Da die Professoren nur ausnahmsweise Mitglieder der Fakultäten waren, hatten die Doktoren Geld und Verwaltung der Universität in Händen — und damit auch einen Gutteil der Herrschaft. Es war so weit gekommen, daß sie für die Öffentlichkeit die Fakultät repräsentierten. Den Professoren war im wesentlichen keine andere Kompetenz geblieben, als aus den vorgeschriebenen, von der Studienhofkommission approbierten Büchern zu lesen.
Im Zuge der Revolution von 1848 war am 30. März 1848 vom ersten Unterrichtsminister, Franz Freiherr v. Sommaruga, in einer offiziellen Ansprache der Grundsatz der Lehr- und Lernfreiheit für die österreichischen Universitäten öffentlich deklariert und die Reform der Studienordnung in diesem Sinne in Aussicht gestellt worden. Am 30. September 1849 erschien bereits das „Provisorische Gesetz über die Organisation der Akademischen Behörden129“, das im wesentlichen der Universität Autonomie zugestand. Das Amt des staatlich bestellten Studiendirektors wurde aufgehoben, die Selbstverwaltung durch frei gewählte Dekane und durch einen Akademischen Senat als leitende Behörde der Studienabteilung bestimmt. Dieser sollte aus dem Rektor, dem Prorektor, den Dekanen und den Prodekanen der Professorenkollegien der vier Fakultäten bestehen. Auch der Rektor sollte aus den Reihen der ordentlichen Professoren stammen und alljährlich aus einer anderen Fakultät gewählt werden, allerdings nicht mehr, wie es bisher in Wien und in Prag geschah, durch die vier Nationsprokuratoren, sondern von den Vertretern der Fakultäten.
Für die Universitäten Wien und Prag, an denen die alteingesessenen, mächtigen Doktorenkollegien bestanden, wurde eine Sonderregelung getroffen: Die Doktorenkollegien blieben bestehen. Im Gesetz hieß es zwar, die Fakultät werde von Professoren, Doktoren und den immatrikulierten Studenten gebildet. Es waren allerdings nur zwei Vertretungen vorgesehen, ein Professoren- und ein Doktorenkollegium. Jedes der beiden Kollegien der vier Fakultäten hatte einen eigenen frei gewählten Dekan und einen Prodekan. Die Dekane der Doktorenkollegien hatten zugleich Sitz und Stimme im Professorenkollegium, und umgekehrt hatte auch der Dekan des Professorenkollegiums das gleiche Recht im Doktorenkollegium. Die Dekane der Doktorenkollegien waren Mitglieder des Akademischen Senats. Dieser wurde in Wien aus dem Rektor, dem Prorektor, dem Kanzler (Dompropst von St. Stephan), den vier Dekanen und den vier Prodekanen der Professorenkollegien sowie den vier Dekanen der Doktorenkollegien gebildet. Während an den anderen Universitäten des Kaisertums Österreich der Rektor nur aus den Reihen der Professoren hervorgehen konnte, || S. 31 PDF || wurde für Wien und Prag die Ausnahmebestimmung geschaffen, daß auch jeder immatrikulierte Doktor wählbar war.
Diese Lösung sollte sich bald als Fehlschlag erweisen: Von 1849 an standen sich die Professoren- und die Doktorenkollegien zumindest an der Wiener Universität feindlich gegenüber. Das wirkte sich auf die Abwicklung der gesetzlich vorgeschriebenen gemeinsamen Agenden (u. a. Abnahme der Rigorosen, Erstellung von Gutachten, Vornahme von Graduierungen und Nostrifizierungen etc.) nicht eben fördernd aus. Da das „Provisorische Gesetz“ von 1849 allein schon durch die Zusammensetzung des Akademischen Senats eindeutig darauf abzielte, auch die Doktorenkollegien in Wien und Prag ihrer Macht zu entkleiden, und sich in der Praxis auch sehr bald ihre tatsächliche Ohnmacht erweisen sollte — das Abstimmungsverhältnis stand regelmäßig 8 : 4 für die Professoren —, gingen nun die Quertreibereien von den Doktoren aus130.
Der Entwurf des Unterrichtsministers für ein neues „Statut der Universität Wien“ von 1854131 stellte eine wesentliche Korrektur des „Provisorischen Gesetzes“ vom 30. September 1849 dar. Wahrscheinlich wollte Thun durch die Vorlage eines neuen Statuts den unerfreulichen Zuständen ein Ende bereiten und klare Verhältnisse schaffen. Der Entwurf zielte jedenfalls, wie bereits erwähnt, darauf ab, nach dem Muster der Humboldtschen Universität, den Professoren die Macht zu übertragen und die Doktorenkollegien, die Thun für Relikte einer vergangenen Zeit gehalten haben mochte, zu eliminieren. Zwar wurde eingangs festgesetzt, daß Professoren und Doktoren weiterhin als gleichberechtigte Mitglieder die Fakultät zu bilden hätten (§ 2), doch wurde diese nominelle Gleichstellung durch eine entsprechende Kompetenzverteilung zugunsten der Professoren entkräftet: Die Leitung der Fakultät wurde einem Ausschuß zugewiesen, der aus allen ordentlichen Professoren und so vielen außerordentlichen Professoren bestehen sollte, daß deren Zahl die Hälfte der ordentlichen nicht überstieg, ferner aus einigen auserwählten entweder lehrenden oder durch wissenschaftliche Leistungen ausgezeichneten Doktoren (§ 3). Das bedeutete, daß alle universitätsfremden und nicht mit der Wissenschaft befaßten Personen künftig von den Fakultäten ausgeschlossen werden sollten. Die im Entwurf vorgesehene, durch erweiterte Funktionen verstärkte Stellung des Professorendekans hätte die Leitung der Fakultät ganz den Doktoren entzogen und den Professoren zugewiesen. Er wurde von der Plenarversammlung gewählt und präsidierte sie. Sie sollte 1. die Beamten für die Geschäfte der Fakultät als Korporation auserwählen, 2. das Vermögen und die Stiftungen der Fakultät verwalten, 3. Stiftungen und Stipendien vergeben und 4. alle Beschlüsse fassen, || S. 32 PDF || welche die Fakultät als Korporation betrafen (§ 5). In dieselbe Richtung weist die in dem Entwurf statuierte Gesamtleitung der Universität, die von einem Konsistorium (Akademischer Senat), bestehend aus dem Rektor, dem Kanzler (Dompropst von St. Stephan), den vier Dekanen, den vier Prodekanen und den vier Senioren, ausgeübt werden sollte (§§ 13 und 14).
Der Rektor sollte alle drei Jahre nach dem Turnus der Fakultäten und aus ihrer Mitte ein Jahr vor seinem Amtsantritt vom Akademischen Senat gewählt und vom Kaiser bestätigt werden (§ 15). Ihm wurde auch — wie im vorgeschlagenen Statut vorgesehen — die Disziplinargewalt über alle Mitglieder der Universität übertragen (§ 16). Sämtliche akademische Würden sollten nur von Katholiken bekleidet werden (§ 22). Eine weitere wichtige Bestimmung betraf die Aufhebung der Akademischen Nationen (§ 19).
Dieser Thunsche Entwurf rief in der Ministerkonferenz einen Sturm der Entrüstung hervor. Die prinzipiellen Meinungsdifferenzen äußerten sich bei der Besprechung eines jeden einzelnen Paragraphen mit einer solchen Vehemenz, daß nach vier Sitzungen jede weitere Diskussion sinnlos erschien und deshalb beschlossen wurde, die divergierenden Meinungen schriftlich dem Kaiser vorzulegen.
In dem Streit, der sich in den hierauf vorgelegten „Bemerkungen Bachs“ (und Karl Krauß’) und in den „Gegenbemerkungen“ sowie im „Motivenbericht“ Thuns132 manifestierte, ging es grundsätzlich um die Frage: Erhaltung der alten österreichischen Universität mit ihrem Korporationscharakter, dessen Repräsentanten die Doktorenkollegien waren, einerseits oder Umwandlung der hohen Schule in eine moderne wissenschaftsorientierte Ordinarienuniversität mit den Professoren an der Spitze andererseits. Sie reduzierte sich daher im wesentlichen auf die Diskussion über das Thema, ob wie bisher die Herrschaft von den Doktoren oder aber von den Professoren ausgeübt werden sollte. Erstaunlich und gar nicht dem Bild der sonst in der Ministerkonferenz gewohnten Parteizuordnung (sofern hier nicht eher von Parteiung zu sprechen ist) entsprechend ist aber die Tatsache, daß Innenminister Bach und Justizminister Krauß, die, obwohl man gerade Bach auch reaktionäre Tendenzen nachsagte, zumindest auf wirtschaftlichem und rechtlichem Gebiet als reformerisch eingestellt galten, der Rückkehr zu der vormärzlichen Korporationsuniversität das Wort redeten, während der Feudalkonservative Thun die Partei des radikalen Wandels ergriff, der 1848/49 (und auch später in den sechziger Jahren) von den großteils liberalen Professoren gefordert wurde133. Finanzminister Baumgartner jedoch, gleichzeitig Professor für Physik an der Universität Wien, Rektor im Jahre 1849 und Präsident der Akademie der Wissenschaften, der bei der Reform der Universitätsstudien der eigentliche Gegner Thuns war, trat — verständlicherweise — für die || S. 33 PDF || Machterweiterung der Professoren und damit in diesem Fall für Thuns Konzept ein.
Bach und Krauß schlugen in ihren von beiden unterzeichneten „Bemerkungen134“ die strikte Teilung der Universität in „Lehranstalt“ und „Korporation“ vor, wie es bis 1848/49 üblich gewesen war. Die Lehranstalt sollte von den Professoren bestimmt werden — unter der Leitung eines staatlich bestellten Studiendirektors, die Korporation von den Doktoren, denen wieder die Verwaltung (und damit die Herrschaft) anzuvertrauen wäre. Bezüglich der Entmachtung der Professoren gingen Bach und Krauß noch einen Schritt weiter: Die Professoren sollten nur dann Mitglieder des Doktorenkollegiums und damit der Fakultät sein, wenn sie ihre Aufnahme in die Fakultät ausdrücklich erwirkt hätten. Als Voraussetzung dafür sollte die Erwerbung des Doktorats an einer inländischen (später konzidierte man auch an einer ausländischen) Universität oder die Habilitierung an der Universität Wien gelten. Damit war einer vollständigen Restauration der vormärzlichen Verhältnisse das Wort geredet.
Thuns Universitätskonzept dagegen konnte analog dem Humboldtschen Modell konsequenterweise nur mit einer Machterweiterung für die Professoren verbunden sein. Dazu gehörte neben der in seinem Vorschlag proponierten Defacto-Entmachtung der Doktorenkollegien auch die strikte Ablehnung, das ehemalige Amt des Studiendirektors wiedereinzuführen, wie es von Bach und Krauß vorgeschlagen worden war. Statt dessen trat er dafür ein, die Macht des Rektors zu stärken.
Der Anschein der Widersprüchlichkeit, der durch die Haltung der Minister auf den ersten Blick erweckt wird, verstärkt sich noch, wenn man die landläufigen zeitgenössischen Ansichten über die weltanschauliche Einstufung von Professoren und Doktoren in Betracht zieht. Die Doktorenkollegien galten als konservativ. Entscheidendes Kriterium für eine ideologische Einordnung war damals außer der Haltung zur 48er Revolution die Stellung zur katholischen Kirche und — ein wenig später, als es um den Abschluß des Konkordats ging — zu ihrem Einfluß auf staatliche Angelegenheiten. Nun waren die Doktorenkollegien der medizinischen, der juridischen und — selbstverständlich allen voran — der katholisch-theologischen Fakultät bereits im Jahre 1851 gegen die Wahl des Protestanten Hermann Bonitz, der von Thun als Reformer des Mittelschulwesens von Berlin nach Wien berufen und zum Professor der Klassischen Altertumskunde ernannt worden war, zum Dekan der philosophischen Fakultät mit dem Hinweis aufgetreten, daß die Universität Wien ausschließlich katholischen Charakter habe. Paradoxerweise, das sei zur Illustration der Szene angeführt, erstellte der Rechtsanwalt Dr. Eugen v. Mühlfeld, selbst Mitglied des Doktorenkollegiums, das so prokatholische Gutachten gegen die Wahl Bonitz’ für die Doktoren135, derselbe Mühlfeld, der 1848 Vertreter bei der Frankfurter Nationalversammlung gewesen war und der dann in den sechziger Jahren als Abgeordneter || S. 34 PDF || der liberalen Partei im Abgeordnetenhaus in wütenden Wortgefechten für die Aufhebung des Konkordats kämpfte136.
Die Professoren dagegen wurden damals in der Öffentlichkeit allgemein als „freiheitlich“ und „fortschrittlich“ eingestuft. Den Behörden war allein „die Komplizität von Wissenschaft und Revolution“ seit den Studentenbewegungen des Jahres 1848 verdächtig, und das war von ihrem Standpunkt aus nicht ganz aus der Luft gegriffen: Nicht nur in Wien hatte eine Reihe von Professoren die Forderung der revolutionären Studenten unterstützt, und es waren die Professoren, die — trotz der so autoritären Berufungspolitik Thuns in den fünfziger Jahren, durch die in erster Linie Professoren aus katholisch-konservativen Kreisen berücksichtigt wurden — in den sechziger Jahren im Verein mit „freisinnigen“ Journalisten entschieden für die Erneuerung der Universität und gegen ihren katholischen Charakter im Sinne eines liberalen Programms auftraten137.
Von unserem heutigen Standpunkt aus, in dem selbstverständlich diese späteren Entwicklungen auch mit einbezogen werden, scheint es daher widersprüchlich, daß ein dem Konservativismus so verpflichteter Mann wie der Unterrichtsminister für eine soziale Elite Partei ergriff, die kraft ihres Amtes Generationen von Studenten im liberalen Sinn zu beeinflussen vermochte, die reformerisch eingestellten Minister Bach und Krauß dagegen für eine konservative Institution, die damals schon längst veraltet war, eintraten.
Die Sachlage stellt sich freilich anders dar, wenn man die Haltung dieser Minister in Verbindung mit ihrer allgemeinen politischen Linie sieht. Dem Unterrichtsminister ging es unbestritten, wie oft zitiert, um die Wissenschaftlichkeit der Universitäten, aber ebenso um die Heranbildung einer neuen Generation, die dem österreichischen Gesamtpatriotismus im christlich-konservativen Sinn verpflichtet war138. Das hoffte er, durch christlich-konservative Professoren, die er durch eine entsprechende Berufungspolitik, wie er sie bis dahin ohnehin praktiziert hatte, an österreichische Universitäten band, zu erreichen. Er beabsichtigte damit, die liberalen und die nationalen Elemente auszuklammern. Die Doktorenkollegien jedoch, die sich hauptsächlich aus Repräsentanten der freien Berufe zusammensetzten, konnte er nicht im selben Maße im Griff haben. Als solche hatten sie sich in der Regel als ein verläßliches Instrument der berufsorientierten Wissenschaft erwiesen139. Eine hauptsächliche Ausrichtung auf Berufsausbildung, ohne die Gesamtbildung des Menschen zu berücksichtigen, stand aber dem neuhumanistischen Humboldtschen Bildungsideal, dem Thun verpflichtet war, diametral entgegen.
Die Gesellschaftspolitik Innenminister Bachs dagegen war offensichtlich auf die Ausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft ausgerichtet, in der eine Schicht den || S. 35 PDF || Ton angab, die sich aus „Bildung und Besitz“ zusammensetzte. Tatsächlich finden wir, wie bereits erwähnt, in den Doktorenkollegien in erster Linie Vertreter der freien Berufe, Ärzte und Rechtsanwälte, sowie auch des hohen Beamtentums, die dem sogenannten Bildungsbürgertum angehörten. Bildung war ein wesentliches Vehikel bürgerlicher Emanzipation. In den Doktorenkollegien hatte sich ein fester Bestandteil einer gebildeten bürgerlichen Gesellschaft formiert und mochte aus diesen Gründen von Bach unterstützt worden sein. Im übrigen gingen in der gesamten Öffentlichkeit die Meinungen über die künftige Organisation der Universität quer durch die Weltanschauungen und die Parteiungen140. Zum Teil mag das wohl auf einem aus der österreichischen Tradition kommenden Mißverständnis beruht haben: Denn bis zum Jahre 1848 waren es tatsächlich nicht die Professoren, sondern die Doktoren gewesen, die — außeruniversitär — in Hofinstituten, in Museen, in der staatlichen Industrie etc. die wissenschaftliche Forschung betrieben hatten. Die Vorstellung von einem forschenden Professor oder einem lehrenden Wissenschaftler, jedenfalls von einem die Lehre und Forschung vereinigenden Universitätslehrer, mochte der gebildeten Elite in Österreich unbegreiflich, das Humboldtsche Modell daher unverständlich gewesen sein. In diesem Licht gesehen, paßten die Vorstellungen von Bildungspolitik, so unerklärlich sie uns heute auch erscheinen mögen — das trifft besonders auf die Thuns zu —, recht gut in den Rahmen der gesellschaftspolitischen Ideale, von denen in dieser Epoche geträumt wurde. Die Chancen der Verwirklichung waren am Ende in jedem Fall gering.
Die Ah. Entschließung vom 25. Juni 1856, durch die der Kaiser die Richtlinien für das künftige Statut der Universität Wien vorzeichnete141, erfolgte nicht im Sinne Thuns: Den nichtlehrenden Doktoren wurde indirekt (durch Wahlmänner bei der Dekanatswahl) im Vergleich mit Thuns Vorschlägen weit mehr Macht zugebilligt, und — der gravierendste Unterschied — an die Spitze der Fakultäten sollten wieder Studiendirektoren treten.
Das dürfte der Grund dafür gewesen sein, daß Thun zeit seines Amtes als Unterrichtsminister keine weiteren Vorschläge mehr für ein definitives Statut für die Universität Wien erstattete142, obwohl er vom Kaiser eindringlich dazu gemahnt wurde143. Er beließ es beim alten, verlängerte das „Provisorische Gesetz“ von 1849 Jahr für Jahr144 und rettete damit sein Reformwerk.
|| S. 36 PDF || Aus den Protokollen des vorliegenden Bandes wird deutlich, daß die Regierung des neoabsolutistischen Jahrzehnts Im Inneren gar nicht so einheitlich war, wie sie nach außen hin erschien.
Der Ministerkonferenz, die in der Öffentlichkeit immerhin als Repräsentant dieses Regimes galt und für dieses schließlich auch verantwortlich gemacht wurde, waren allerdings wichtige Kompetenzen entzogen. Inoffizielle Kreise und Instanzen spielten bei der Entscheidungsfindung, wie gezeigt werden sollte, eine wichtige Rolle, so auf militärischem, außenpolitischem, finanzpolitischem und kirchenpolitischem Gebiet. Wir können mit einiger Sicherheit den Schluß ziehen, daß sich die Minister ihrer eigenen untergeordneten Stellung und der Scheinfunktion der Ministerkonferenz wohl bewußt waren. Sie nahm ihre politische Ohnmacht hin, wurde jedoch — so scheint es — gerade durch sie provoziert, neben diesen Einflüssen oder gegen sie eine Haltung zu demonstrieren, die der einer Hüterin der „Verfassung“ gleichkam. Die Debatte über Freiheit und Gleichheit der Religionsausübung im Zusammenhang mit dem Abschluß des Konkordats, in der die Ministerkonferenz mehrheitlich gegen die Forderung des Heiligen Stuhls für die Gleichbehandlung der gesetzlich anerkannten Religionen eintrat, wie das im Silvesterpatent verankert war145, ist in diesem Rahmen zu sehen.
Die weltanschauliche Komponente kommt in den Diskussionen der Ministerkonferenz in diesen Krisenjahren stärker zum Ausdruck. Von der politischen Machtausübung weitgehend ausgeschaltet, nahm sie jedoch — vielleicht gerade deshalb — sehr wohl die Möglichkeit wahr, ihren Einfluß dort geltend zu machen, wo dies dem Anschein nach nicht mit Fragen der sogenannten großen Politik, der sich das allgemeine Interesse dieser Zeit zuwandte, verbunden war wie bei der Gestaltung der Bildungsinstitutionen. Die Folgen der Reformen waren letztlich weitreichend. Form und Intensität, mit der diese in der Ministerkonferenz verfochten oder bekämpft wurden — mit traditionellen (josephinischen) oder modernen gesellschaftspolitischen Argumenten, die sich, wie dargelegt, sonderbar mischten —, sind schließlich kennzeichnend für die Geisteshaltung des neoabsolutistischen Jahrzehnts. Gleichzeitig kündigen sie auch die Auseinandersetzung von Parteiideologien der sechziger Jahre an, die sich gerade an gesellschaftspolitischen Themen, wie Kirche, Schule und Staat in ihrer wechselseitigen Beziehung, entzündeten.
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Der Kommentar wurde im allgemeinen so gestaltet wie jener zum ersten und zum zweiten Band des Ministeriums Buol-Schauenstein146. Es wurden dieselben Aktenbestände und Archive, d. h. in erster Linie die Wiener Archive, herangezogen. Da die Agenden der Militäradministration weiterhin der Beratung der || S. 37 PDF || Ministerkonferenz entzogen blieben, mußte das Material des Kriegsarchivs, wie bereits für den zweiten Band dieses Ministeriums, nur für wenige Themen in Anspruch genommen werden. Die Akten des Innenministeriums im Allgemeinen Verwaltungsarchiv werden derzeit als Brandakten (Justizpalastbrand von 1927) restauriert und konnten daher nicht eingesehen werden. Dagegen wurde im Zusammenhang mit dem Konkordat und der Universitätsreform das Material des Erzbischöflichen Diözesanarchivs Wien benützt.
Für Fragen, die ungarische Belange betreffen, wurden auch diesmal die Akten des Ungarischen Staatsarchivs (Magyar Országos Lévéltár) und des Ungarischen Kriegsarchivs (Magyar Hadtörtélnemi Lévéltár) in Budapest herangezogen. Hinsichtlich dieser Themen wäre noch das Hauptwerk über den Neoabsolutismus in Ungarn von Albert Berzeviczy zu erwähnen147, dessen Benützung sich für Angelegenheiten des ungarischen Neoabsolutismus von selbst versteht und das daher nicht ausdrücklich an allen zutreffenden Stellen zitiert wurde.
Für die Heranziehung der Bezugsakten, für die Zitierweise und die Schreibung der Eigen- und der Ortsnamen gelten dieselben Regeln wie im ersten und im zweiten Band des Ministeriums Buol-Schauenstein. Es soll dazu aber noch einmal bemerkt werden, daß sowohl in den verschiedenen Jahrgängen des Staatshandbuches als sogar auch im selben Band ein und derselbe Name verschieden geschrieben wird. Selbst die eigenhändigen Unterschriften differieren in der Schreibweise (z. B. Stroßmayer, Strossmayer, Strossmair).
Die Ah. Entschließungen wurden im Kommentar dann nicht angeführt, wenn sie dem Antrag der Ministerkonferenz entsprachen und ohne irgendwelche gravierenden Änderungen durchgeführt wurden.