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Nr. 82 Ministerrat, Wien, 13. Juni 1861 - Retrodigitalisat (PDF)

  • ℹ️ anwesend:
  • RS.; P. Ransonnet (RS. Klaps); VS. Kaiser; BdE. und anw. (Erzherzog Rainer 15. 6.), Rechberg, Mecséry, Vay, Degenfeld 16. 6., Schmerling, Lasser, Szécsen, Plener, Wickenburg, Pratobevera 20. 6., Lichtenfels; BdR. Erzherzog Rainer 26. 6.

MRZ. 868 – KZ. 1973 –

Protokoll des zu Wien am 13. Juni 1861 abgehaltenen Ministerrates unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers.

I. Behandlung der Protestantenfrage in Tirol; Interpellation darüber

Se . k. k. apost. Majestät geruhten, die Behandlung der Protestantenfrage in Tirol nochmals zur Beratung zu bringen1 und dabei insbesondere die Fragen zu stellen: 1. ob in der Ah. Erledigung, womit das Einschreiten des Tiroler Landtages, sofern es sich an den § 17 der Landesordnung knüpft2, abgelehnt und der Landtag auf § 19 gewiesen wird, nicht die Aussicht auf eine günstige Erledigung eines nach § 19, 1 a, zu stellenden Antrages zu eröffnen wäre, und 2. wie die Sache nach dem Einlangen eines solchen Antrages zu behandeln sein werde, und ob ohne Vernehmung des Reichsrates mit einer diesfälligen Ah. Entscheidung werde vorgegangen werden können.

Der Staatsminister entwickelte die bereits bei anderen Gelegenheiten dargelegten Gründe, warum das Patent vom 8. April d. J. ohne Mitwirkung des Reichsrates hinausgegeben werden konnte3 und dasselbe auch keiner nachträglichen Rechtfertigung im Sinne des Staatsgrundgesetzes, § 13, bedarf. Allein dessenungeachtet können jene Teile des Gesetzes, welche nicht bloß innere Angelegenheiten der evangelischen Kirche, sondern bürgerliche Rechte betreffen etc., nunmehr bloß mit Zustimmung des Reichsrates geändert werden. Wenn daher vom Tiroler Landtage eine Änderung dieser Art mit Berufung auf § 19 begehrt wird, so erübrigt nichts, als daß die Regierung darüber mit dem Reichsrate in Verhandlung trete.

Der Minister des Äußern stimmt völlig bei, daß zur Erlassung des Patents vom 8. April die Zustimmung des Reichsrates nicht nötig war, aber eben daraus ergebe sich die Konsequenz, daß die Regierung dasselbe auch ohneweiters modifizieren oder dessen Ausübung dort, wo sie nachteilig, ja staatsgefährlich werden kann wie in Tirol, sistieren könne. Die Mitwirkung des engeren Reichsrates scheine hiebei um so weniger nötig, als das Patent nicht für alle im engeren Reichsrate vertretenen Kronländer erlassen worden ist4. Wenn man alle landtäglichen || S. 126 PDF || Anträge auf Änderungen von Gesetzen an den Reichsrat leiten will, so wird man dadurch vielfache Verlegenheiten schaffen und in eine allzu zentralistische Form hineingeraten. Der Kriegsminister fand, daß man bei dem vom Staatsminister angedeuteten Wege vor Formen gar nicht zur Sache komme, und es scheine ihm bei den in Tirol bestehenden Verhältnissen eine politische Notwendigkeit, daß der Vollzug des Protestantengesetzes von Sr. Majestät schon jetzt sistiert werde.

Die übrigen Minister teilten jedoch die Meinung des Staatsministers, daß eine Änderung oder Sistierung des Patents dermal nur unter Mitwirkung des Reichsrates stattfinden könne. Der Finanzminister brachte in Anregung, ob es nicht angezeigt wäre, das vorliegende Einschreiten des Landtages mit dem Regierungsantrage auf Sistierung sofort an den Reichsrat zu bringen, statt es aus bloß formellen Gründen vorläufig zurückzuweisen und die Agitation zu verlängern. Der Wille des Landes sei ja schon jetzt auf unzweifelhafte Weise ausgesprochen, so daß man keines wiederholten Ausspruchs bedarf. Allein die Minister Ritter v. Schmerling, v. Lasser, Graf Wickenburga und Freiherr v. Pratobevera entgegneten, daß bei der jetzigen Stimmung des Abgeordnetenhauses und dem Mangel an politischem Mut bei den Gemäßigten sich kaum zehn Stimmen für die Sistierung aussprechen würden — ein Resultat, welches für das Land und die Regierung so unerwünscht wäre, daß man sich hüten müsse, es zu provozieren, beine Ansicht, deren Richtigkeit auch Minister Graf Szécsen nicht umhin kann anzuerkennen, obwohl er der Überzeugung ist, daß zur definitiven Lösung der Regierung doch kein anderer Ausweg übrigbleibt als der eines offenen Auftretens dem Reichsrat gegenüberb eine Ansicht, deren Richtigkeit auch Minister Graf Szécsen nicht umhin kann anzuerkennen, obwohl er der Überzeugung ist, daß zur definitiven Lösung der Regierung doch kein anderer Ausweg übrigbleibt als der eines offenen Auftretens dem Reichsrat gegenüber. Die vom Polizeiminister beantragte Sistierung des Gesetzes durch die Regierung allein im jetzigen Augenblicke, wo der Reichsrat versammelt ist, würde sich aber nicht rechtfertigen lassen und gerechte Reklamationen hervorrufen. Diese Stimmführer glaubten daher, Sr. Majestät den bereits im Ministerrate am 15. v. M. beschlossenen au. Antrag neuerdings gegenwärtig halten zu sollen, daß das Einschreiten des Landtages mit Berufung auf § 19 dilatorisch erledigt und auf Beruhigung der Gemüter im Lande hingewirkt werde. Über ein eventuell neues Einschreiten des Tiroler Landtages könnte die Regierung dann außer der Reichsratssession die Sistierung aussprechen, und wenn das Petitum des Tiroler Landtages gemäßigter ist als das jetzige, so dürfte es auch seinerzeit um so mehr Aussicht auf Erfolg im Reichsrate haben, wo bis dahin die jetzige Aufregung einer ruhigeren Anschauung gewichen sein wird. Staatsratspräsident Freiherr v. Lichtenfels teilte die Ansicht der Stimmenmehrheit und machte aufmerksam, daß die Erfüllung des Wunsches der Tiroler nicht bloß dem [sic!] Patente vom 8. April, sondern auch vielen weit älteren in Tirol kundgemachten Gesetzen derogieren würde und daher die Zustimmung des Reichsrates hiezu nicht entbehrt werden könne. Die formale Erledigung der Bitte wäre auch so zu fassen, daß dadurch keine Hoffnung auf die Gewährung eines Antrages nach § 19 erregt werde. || S. 127 PDF || Jedenfalls wäre aber jetzt Zeit gewonnen, was zunächst not tut. Daß unterdessen viele Protestanten sich in das ungastliche Land werden eindrängen wollen, sei nicht zu erwarten5.

Se. Majestät der Kaiser geruhten hierauf, den Staatsminister zu ermächtigen, daß er die Interpellation von Pfretzschner und Genossen im Sinne des Antrages der Stimmenmehrheit beantworte, ohne jedoch dabei von einer strengen Durchführung des Patents in Tirol zu sprechen. Die Sache erheischt nämlich eine vorsichtige Behandlung, indem man nicht einer bloß „gemachten“ Stimmung, sondern einem allgemeinen und tiefen Gefühle gegenübersteht6.

II. Auflösung der Pester Stadtrepräsentanz wegen ihrer beleidigenden Eingabe an den Landtag

Se. k. k. apost. Majestät geruhten, eine im „Pester Lloyd“ abgedruckte Eingabe der Pester Stadtrepräsentanz an den Landtag vorlesen zu lassen, welche gegen die exekutive Steuereintreibung gerichtet ist und sich dabei in maßlos beleidigenden Ausdrücken über das Regierungssystem und das k. k. Militär ergeht7. || S. 128 PDF || Das ungarische Generalkommando hat sich auch dadurch veranlaßt gesehen, diese Eingabe der Ah. Einsicht zu unterbreiten8, und Se. Majestät wünschen, daß ohne Verzug und energisch gegen die Repräsentanz eingeschritten werde.

Der ungarische Hofkanzler äußerte, er werde die Sache schleunigst untersuchen lassen, und wenn man einmal über die Hauptfrage der Adresse hinaus ist, wird auch dieser Gegenstand erledigt werden. Vor allem müsse man wohl den Tatbestand konstatieren und die Schuldigen ausmitteln, so wie dies bei ähnlichen Vorkommnissen von Seite der Komitate beobachtet wurde. Minister Graf Szécsen , dem Hofkanzler beitretend, glaubt, daß, wenn die Adresse des Landtages an Se. Majestät gelangt ist, über diese sowohl als über alle ähnlichen Eingaben unter einem das Verdammungsurteil ergehen und die Übertreter zur Strafe gezogen werden könnten. Die Bezeichnung des Landtages als eines souveränen durch die Pester Repräsentanz sei ganz unrichtig und begründe schon für sich einen Hochverrat. Der Kriegsminister findet dagegen, daß diese Eingabe mit der Adresse des Landtages nicht zusammenhänge und solche maßlose Beleidigungen daher ohne Verzug und offenkundig durch das Auflösen des Körpers zu ahnden wären. Der Polizeiminister erkennt in diesem Vorgange der Repräsentanz nur eine Folge der bedauerlichen Nachsicht, womit man die Beleidigungen des kaiserlichen Adlers behandelt hat, und erklärt sich so wie der Minister des Äußern für die Auflösung der Repräsentanz. Der Staatsminister spricht sich in gleichem Sinne aus, mit dem Bemerken, daß die Immunität des Landtages nicht die übrigen Korporationen bei ihren maßlosen Ausschreitungen schützen könne. Ein Aufschub wäre hier ganz am unrechten Orte.

Se. Majestät der Kaiser erkannten es als selbst für den Geist der Armee gefährlich, wenn das k. k. Militär offen und unter den Augen der leider ganz untätig bleibenden Gerichts- und politischen Behörden auf die empörendste Art wegen Vollziehung ihrer Dienstpflicht geschmäht wird. Man könne auch nicht einmal den Schein einer Duldung solcher Angriffe — und wäre es nur auf Tage — bestehen lassen. Allerhöchstdieselben finden daher nachdrücklichst zu befehlen, daß die Pester Stadtrepräsentanz durch die Statthalterei ohne Verzug aufgelöst werde. Die Führung der Geschäfte sei einem Kommissär zu übertragen9.

III. Annahme der Adresse des ungarischen Landtags

Se. k. k. apost. Majestät forderten den Ministerrat auf, sich über die Frage zu äußern, ob Allerhöchstdieselben die Adresse des ungarischen Landtages, in welcher nach den neuesten Beschlüssen mit offenkundiger hochverräterischer Intention der gebührende königliche Titel nicht gebraucht und demselben bei der Anrede der Ausdruck „Felséges Ur“ substituiert werden wird, Ah. entgegenzunehmen geruhen sollen10.

Minister Graf Szécsen schickt voraus, daß er auf die erschöpfende Beantwortung dieser wichtigen Frage heute nicht vorbereitet sei. Vorläufig glaube er, sich jedoch dafür aussprechen zu sollen, daß er zwar in abstracto für die Zurückweisung einer solchen Adresse stimmen würde, daß aber die Ah. Annahme oder Zurückweisung der Adresse nicht sowohl durch die Form ihrer Aufschrift als durch ihren Inhalt bedingt sein dürfte. Sei nämlich der wesentliche Inhalt von der Art, daß sich von der Ah. Annahme ein günstiges Resultat erwarten ließe, so dürfte über jene Form hinausgegangen werden. Bevor aber die Adresse — deren Inhalt wohl noch eine Änderung erfahren könnte — nicht definitiv festgestellt ist, kann man sich über diesen Punkt noch nicht aussprechen. Es müsse dabei auch die allgemeine politische Situation wohl ins Auge gefaßt werden, zumal es sich jetzt schon weniger um die Meinung Ungarns als um jene von ganz Europa handelt, welchem bewiesen werden soll, daß Se. Majestät alle gelinden Mittel Ungarn gegenüber erschöpft haben. Graf Szécsen glaubt übrigens, daß Se. Majestät über diese Frage auch das Gutachten Allerhöchstihrer dermal in Ungarn weilenden obersten Räte zu hören geruhen dürften. Der ungarische Hofkanzler fügte bei, daß die gemäßigte Partei sich von den letzten Beschlüssen entschieden abwende und Deák sein Mandat zurückzulegen beabsichtige. Der letzte Beschluß in der Titelfrage sei daher noch nicht maßgebend, zumal die Adresse noch durch die Obere Tafel gehen müsse.

Alle übrigen Stimmen waren des Erachtens, daß von dem Inhalte einer Adresse, die damit beginnt, Sr. Majestät den gesetzlich gebührenden Titel zu verweigern, || S. 130 PDF || nichts zu erwarten sei und daß deren Ah. Annahme ein Zeichen der Schwäche wäre. Se. Majestät würden dadurch von Allerhöchstihrer Würde etwas vergeben. Se. k. k. apost. Majestät geruhten, diese Meinung Allerhöchstihrer eigenen Gesinnung entsprechend zu erklären11.

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Franz Joseph. Laxenburgc, 24. Juni 1861. Empfangen 26. Juni 1861. Erzherzog Rainer.