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Nr. 6 Ministerrat, Wien, 31. Juli 1914

RS.; P. Uebelhör; VS. Stürgkh; BdE. und anw. (Stürgkh 31. 7.), Georgi, Hochenburger, Heinold, Forster, Hussarek, Trnka, Schuster, Zenker, Engel, Morawski; außerdem anw. Simonelli, Deschka.

KZ. 52 – MRZ. 35

Protokoll des zu Wien am 31. Juli 1914 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz, des Herrn Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh.

I. Erlassung einer kaiserlichen Verordnung, mit welcher für die Dauer der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse Bestimmungen über die Versorgung der Bevölkerung mit unentbehrlichen Bedarfsgegenständen getroffen werden

I. ℹ️ Der Minister des Innern berichtet, dass seit Beginn der kriegerischen Verwicklungen im Süden der Monarchie sowohl auf einzelnen Märkten als auch in Geschäftsläden in mehreren Verwaltungsgebieten eine geradezu unerhörte und durch nichts gerechtfertigte Preissteigerung unentbehrlicher Konsumartikel stattgefunden habe1.

Durch dieses eigennützige Treiben der Produzenten und Geschäftsleute werde die Bevölkerung in höchstem Maße beunruhigt und der Notstand, den ohnehin jeder Krieg im Gefolge hat, in einer unverantwortlichen Art und Weise verschärft. Um der mit der Preistreiberei verbundenen Ausbeutung der Bevölkerung seitens der Produzenten und Geschäftstreibenden vorzubeugen und die Approvisionierung insbesondere in größeren Städten auch in dieser ernsten Zeit zu sichern, sei die Erlassung einer kaiserlichen Verordnung unumgänglich notwendig, die es nach dem Muster des Gesetzes betreffend die Kriegsleistungen vom 26. Dezember 19122 ermöglicht, auch die Approvisionierung der Zivilbevölkerung für die Dauer des Krieges zu sichern und der Gefahr einer übermäßigen Preissteigerung zu begegnen3.

Der Minister des Innern erbitte sohin die Zustimmung des Ministerrates zur Erwirkung der Erlassung einer kaiserlichen Verordnung, mit welcher für die Dauer der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse Bestimmungen über die Versorgung der Bevölkerung mit unentbehrlichen Bedarfsgegenständen getroffen werden. Diese Verordnung verfolge zunächst den Zweck, den beunruhigenden Gerüchten über Mangel an Lebensmitteln den Boden zu entziehen und behördlich feststellen zu können, ob und in welcher Menge unentbehrliche Bedarfsgegenstände, die zur Befriedigung notwendiger Lebensbedürfnisse für Menschen und als Nahrungsmittel für Haustiere dienen, sowie Sachen, aus denen diese Bedarfsgegenstände erzeugt werden, im Inlande vorrätig sind. Zu diesem Behufe sollen Erzeuger, Händler und Verkehrsunternehmungen, die unentbehrliche Bedarfsgegenstände vorrätig oder in Verwahrung halten, verhalten werden, über Anordnung der politischen Landesbehörde die Menge und Gattung ihrer Vorräte bei der politischen Bezirksbehörde anzuzeigen. Können die unentbehrlichen Bedarfsgegenstände anderweitig nicht beschafft werden, so sollen die Besitzer von Vorräten an unentbehrlichen Bedarfsgegenständen verpflichtet werden, diese Waren über Anordnung der politischen Landesbehörde gegen eine vorläufig im administrativen Wege festzusetzende Vergütung für die Zwecke der Approvisionierung zu überlassen. Um zu vermeiden, dass die Vorräte, die für die Verpflegung der Truppen in Aussicht genommen sind, für die Zwecke der Approvisionierung der Zivilbevölkerung herangezogen werden, hat die politische Landesbehörde vor ihrer Verfügung über die vorhandenen Vorräte mit den militärischen Behörden das Einvernehmen zu pflegen. Über Vorräte an Bedarfsgegenständen, die sich in Verwahrung einer öffentlichen Verkehrsunternehmung befinden, und etwa zur Versorgung von großen Städten bestimmt sind, kann die politische Landesbehörde nur nach eingeholter Genehmigung oder über Weisung des Ministeriums des Innern verfügen, damit einer Störung in der Approvisionierung dieser Städte vorgebeugt werde. Wer die Pflicht zur Auskunft über seine Vorräte verletzt, macht sich einer im administrativen Strafverfahren zu verfolgenden Übertretung schuldig. Wer hiegegen die Pflicht verletzt, seine Vorräte an unentbehrlichen Bedarfsgegenständen für die Approvisionierung der Zivilbevölkerung zu liefern, oder die Lieferung als Unterlieferant, Vermittler etc. vereitelt, seine Vorräte verheimlicht, in Ausnützung der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse für unentbehrliche Bedarfsgegenstände offenbar übermäßige Preise fordert, oder in Absicht, den Preis dieser Gegenstände auf eine übermäßige Höhe zu treiben, die Gegenstände aufkauft und deren Erzeugung im Handel einschränkt oder ein Mittel der Irreführung anwendet, um eine Teuerung von diesen Gegenständen zu bewirken, wird gerichtlich, und zwar im Allgemeinen wegen Vergehens, mit strengem Arrest von einem Monat bis zu einem Jahre bestraft. Neben der Freiheitsstrafe kann in diesen Fällen auch eine Geldstrafe verhängt, der Verfall der dem Täter gehörigen Vorräte zugunsten des Staates für die Zwecke der Versorgung der Bevölkerung ausgesprochen und auf den Verlust der Gewerbeberechtigung erkannt werden. Um die Härten dieser Bestimmungen je nach Gestaltung der tatsächlichen Verhältnisse gegenüber den produzierenden Kreisen mildern zu können, soll der Regierung in § 11 die Ermächtigung eingeräumt werden, diese kaiserliche Verordnung ganz oder teilweise für alle im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder oder nur für einzelne Verwaltungsgebiete außer Kraft zu setzen.

Nach einer längeren Debatte, an der sich nahezu sämtliche Minister beteiligten, erteilt der Ministerrat die erbetene Zustimmung4.

II. Erlassung einer kaiserlichen Verordnung betreffend Stundung privatrechtlicher Forderungen

II. ℹ️ Der Ministerpräsident erinnert daran, dass sich der Ministerrat bereits gelegentlich der Beschlussfassung über die Erlassung wechselrechtlicher Moratorien in der Sitzung vom 27. Juli d. J. und sodann aufgrund einer Anregung der ungarischen Regierung heute neuerlich in einer Vorbesprechung mit der Frage der Erlassung eines allgemeinen Moratoriums beschäftigt habe5.

Der Ministerrat sei in Gemäßheit der eingehenden Darlegungen des Justizministers, denen sich auch der Handelsminister, der Minister des Innern und der Leiter des Finanzministeriums angeschlossen haben, zu der Anschauung gelangt, dass von der Erlassung eines allgemeinen Moratoriums, wenn irgend möglich, abzusehen sei und die erforderlichen Verfügungen zur Sicherung einer ruhigen Abwicklung des Geschäftsverkehres auf die wechselrechtlichen Moratorien sowie auf die Statuierung von Kündigungsfristen für Geldeinlagen bei Kreditinstituten zu beschränken wären. Der Leiter des Finanzministeriums habe es übernommen, diese Anschauung bei den in Aussicht genommenen Besprechungen mit dem ungarischen Finanzminister und den Delegierten der Oesterreichisch-ungarischen Bank zu vertreten. Er ersuche ihn nunmehr, über das Ergebnis dieser Besprechungen zu berichten.

Der Leiter des Finanzministeriums berichtet, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, dem Standpunkte der österreichischen Regierung zum Durchbruche zu verhelfen. Der ungarische Finanzminister habe erklärt, dass die Erlassung eines allgemeinen Moratoriums eine unbedingte Notwendigkeit sei, soll nicht eine finanzielle Katastrophe eintreten. Diese Maßnahme sei auch von der Oesterreichisch-ungarischen Bank mit allem Nachdrucke befürwortet worden. Was erreicht werden konnte, sei lediglich das Zugeständnis gewesen, dass das zu erlassende Moratorium ein möglichst kurzfristiges sei. Unter dem Zwange dieser Verhältnisse müsse er seinen früher eingenommenen Standpunkt revidieren und beantrage nunmehr die Erlassung eines kurzfristigen allgemeinen Moratoriums6.

Der Ministerpräsident bemerkt, dass er bei den vorerwähnten Besprechungen gleichfalls den Eindruck gewonnen habe, dass ein allgemeines Moratorium unvermeidlich sei. Unter diesem Eindrucke und mit Rücksicht auf die besondere Dringlichkeit der Sache habe er sich veranlasst gesehen, im kurzen Wege die Ah. Genehmigung einzuholen, dass vorbehaltlich der Zustimmung des Ministerrates ein kurzfristiges allgemeines Moratorium kundgemacht werde.

Der Justizminister legt hierauf dem Ministerrate den Entwurf einer kaiserlichen Verordnung betreffend eine Stundung privatrechtlicher Forderungen vor und erbittet unter nochmaliger Hervorhebung aller gegen eine solche Maßnahme sprechenden Bedenken, die nur durch die bestehende Zwangslage zum Stillschweigen gebracht werden können, die Zustimmung des Ministerrates zur Erwirkung der Erlassung dieser kaiserlichen Verordnung. Durch § 1 der Verordnung werden vor dem 1. August 1914 entstandene privatrechtliche Geldforderungen, wenn sie vor diesem Tage fällig geworden sind, bis zum 14. August 1914, wenn sie zwischen dem 1. und 14. August fällig werden, auf 14 Tage vom Fälligkeitstage an gestundet. Ausgenommen sind von der Stundung gewisse Forderungen, die mit Rücksicht auf den Gläubiger eine begünstigte Behandlung verlangen, und zwar die Rückforderung von Beträgen bis zu 200 K aus Einlagen bei Kreditinstituten oder Forderungen gegen sie aus laufender Rechnung, Forderungen aus Dienst- und Lohnverträgen, Forderungen aus Mietverträgen, Rentenforderungen und Ansprüche auf Leistung des Unterhaltes sowie Ansprüche auf Zahlung von Zinsen und Kapitalsrückzahlungen aus Staatsschulden und staatsgarantierten Verpflichtungen. Weitere Ausnahmen sollen durch Verordnung festgesetzt werden können. Auf Schuldverbindlichkeiten des Staates oder gegen den Staat, die dem öffentlichen Rechte angehören, findet die Verordnung keine Anwendung.

Nach einer kurzen Debatte, in der sich der Ackerbauminister, der Unterrichtsminister und der Eisenbahnminister im Sinne der Ausführungen des Justizministers aussprechen, erteilt der Ministerrat die erbetene Zustimmung7.

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen. Wien, am 14. Oktober 1914. Franz Joseph.