Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)

Von Friedrich Engel-Janosi

Wenn in den bisher erschienenen Bänden unserer Publikation darauf hingewiesen werden mußte, daß es ihnen an einem zentralen, den einzelnen Band beherrschenden Thema eigentlich mangelte, so verhält es sich dieses Mal anders: Die Februarverfassung vom Jahre 1861, der Kampf um diese erste ins Leben getretene Verfassung Österreichs beherrschen die Ausführungen und die Dokumentation des vorliegenden Bandes, wie wichtig auch andere gelegentlich behandelte Fragen (nicht zuletzt in diesem Fall auch außenpolitische), im historischen Zusammenhang gesehen, sein mögen.

Die unmittelbare Vorgeschichte der Diskussion des Verfassungsentwurfes in den Ministerkonferenzen erwies sich aufgrund der persönlichen Aufzeichnungen des Vaters der Verfassung, des Staatsministers Anton v. Schmerling, als derart neu und aufschlußreich, daß ich glaubte, größere Abschnitte von ihr im Wortlaut wiedergeben zu sollen1.

Nach den schweren, wenn auch zunächst nicht katastrophalen Niederlagen des Feldzugs von 1859 stellten bereits kaiserliche Kundgebungen des Sommers dieses || S. 10 PDF || Jahres, wie das Laxenburger Manifest vom 15. Juli, längst überfällig gewordene Reformen in Aussicht. Während in den Besprechungen der adeligen Ratgeber des Kaisers jene Gedanken Form gewannen, denen das Diplom vom 20. Oktober 1860 Ausdruck verleihen sollte, trat in den Ministerkonferenzen die katastrophale finanzielle Lage der Monarchie immer mehr und immer drängender in den Vordergrund2, und, als man sich im Frühjahr 1860 zur Einberufung des verstärkten Reichsrates entschloß, nannte dessen Präsident, Erzherzog Rainer, die Regelung des österreichischen Staatshaushaltes „die größte und wichtigste der Aufgaben“; aufgrund einer erregten Debatte in der Ministerkonferenz erging am 17. Juli d. J. das kaiserliche Handschreiben an den Erzherzog, daß künftig „die Einführung neuer oder die Erhöhung bestehender Steuern und die Aufnahme neuer Anleihen nur mit Zustimmung des verstärkten Reichsrates“ erfolgen dürfen. Die vier Monate danach verliehene Oktoberverfassung widersprach dieser Ansicht nicht, brachte sie aber ihrer Lösung nicht näher. Als sich die Undurchführbarkeit dieser Verfassung erwies und die Beratungen zu ihrer „Reform“ eingesetzt hatten, war es der neue Finanzminister, Ignaz v. Plener, der auf der dringenden Notwendigkeit eines entscheidenden Schrittes bestand. Immerhin, Plener war nach dem plötzlichen Tode Brucks noch von dem polnischen Grafen Gołuchowski in die Regierung gebracht worden, auf den das heute beliebte Prädikat „feudalistisch“ wohl mit Recht angewendet wird. Im Winter 1860 war es klar geworden, daß Gołuchowskis Schöpfung, das Oktoberdiplom, im ganzen Reiche, nicht etwa nur in Ungarn, auf Widerstand stieß.

Das Ministerium Erzherzog Rainer - Schmerling - Retrodigitalisat (PDF)

Am 13. Dezember ernannte der Kaiser nicht ohne Mithilfe seiner ungarischen Berater Anton v. Schmerling zum Staatsminister. Das Präsidium und die Leitung der auswärtigen Politik waren seit 14. Mai 1859 in den Händen Graf Rechbergs, der auch Minister des kaiserlichen Hauses war, eine keineswegs einflußlose Funktion. Schmerling, der zeit seines Lebens im Keime der liberale niederösterreichische Landstand des Vormärz geblieben ist, war Altliberaler, durchaus Zentralist, Großösterreicher mit starken deutschnationalen Gefühlen, die er während des Revolutionsjahres 1848 als Minister Erzherzog Johanns zu betätigen Gelegenheit gefunden hatte. Rechberg, Schüler Metternichs, der den Altkanzler ins Exil begleitet hatte, übernahm von diesem die politischen Grundanschauungen, wozu der Glaube an eine gemeinsame Vorherrschaft von Österreich und Preußen in den deutschen Fragen gehörte. Zum Nachfolger des Grafen Buol berufen, stand es für ihn seit dem Ausgang des Feldzugs von 1859 fest, daß sich die Habsburgermonarchie in keinen neuen Krieg einlassen dürfe, bevor nicht ihre inneren Schwierigkeiten beseitigt wären; die äußere Politik hatte für ihn vor allem die Aufgabe, von Österreich einen Krieg so lange fernzuhalten, bis die notwendig gewordene innere Neuorganisierung durchgeführt worden sei.

|| S. 11 PDF || Wenn von Schmerling gesagt werden konnte, daß ihm Schwung fehlte3, so dürfte dies einer der wenigen Züge gewesen sein, die er mit dem Außenminister gemeinsam hatte. Rechbergs Haltung auf seinem früheren Posten als Bundestagsgesandter in Frankfurt hat seinem dortigen Rivalen, Herrn v. Bismarck, einen Grad von Achtung abgenötigt, die dieser dessen beiden Vorgängern, Friedrich Thun und vollends Anton Prokesch, nachdrücklich versagt hatte; dies hinderte freilich nicht, daß es zwischen den Vertretern der beiden deutschen Großmächte beinahe zu einem Duell gekommen wäre4. In seinen Ansichten über die innenpolitischen Fragen der Monarchie stand Graf Rechberg den beiden ungarischen Mitgliedern des Ministeriums, dem Hofkanzler, Baron Vay, und dem Minister ohne Portefeuille, Graf Szécsen, am nächsten, ohne sich bei gemeinsamer, sehr konservativer Einstellung mit ihnen zu identifizieren. Klar — auch nach außen hin — war der volle Gegensatz zu Schmerling und damit auch zu dessen verläßlichem Helfer, dem als Innenminister fungierenden Joseph v. Lasser, den der Staatsminister seinen Freund nannte5. Schon am 30. Jänner 1861 schrieb Rechberg an seinen Bruder über die Schwierigkeit, „mit Kollegen zu arbeiten, die mich los sein wollen und denen ich ein Hindernis bin6“.

Mit der Berufung Schmerlings war das Ministerium — was nicht verborgen blieb — völlig gespalten, und zu dem Gegensatz der Anschauungen kam noch der Gegensatz der Charaktere zwischen dem sehr selbstbewußten Staatsminister und dem empfindlichen, keineswegs über ungewöhnliche Selbstbeherrschung verfügenden Ministerpräsidenten. So hat der Brief, den Rechberg an Alexander Graf Mensdorff schrieb, innere Glaubwürdigkeit, daß er dem Kaiser diesen als seinen Nachfolger im Präsidium vorgeschlagen, Schmerling sich aber geweigert habe, unter dem Vorsitz Mensdorffs zu arbeiten, worauf der Kaiser am 4. Februar 1861 Erzherzog Rainer auf diesen Posten berief7.

Der Erzherzog hatte bereits als Präsident des Verstärkten Reichsrates im Frühjahr und Sommer 1860 Proben seines Geschicks bei der Lenkung von mitunter auch || S. 12 PDF || ungebärdigen politischen Versammlungen abgelegt, so wie er auch späterhin alle Interessen und Sympathien für kulturelle Manifestationen des Liberalismus bezeigte, die sich mit einem Mitglied des Erzhauses als verträglich erwiesen.

Schmerling über die Verfassungsfrage - Retrodigitalisat (PDF)

Anton v. Schmerling schildert in seinen „Denkwürdigkeiten“ eingehend, wie es zur Abfassung der sogenannten Februarverfassung kam8.

„Den ersten Anstoß, um überhaupt die Verfassungsfrage im Ministerrat zu besprechen, gab der Finanzminister, Herr v. Plener. Er machte aufmerksam, daß er genötigt sei, eine Creditoperation vorzunehmen, und daß dies nur möglich sei, wenn ein Reichsrat bestünde, der seine Zustimmung erteile, denn im Oktoberdiplom sei die ausdrückliche Bestimmung enthalten, daß die Aufnahme neuer Anleihen, d. h. die Durchführung einer Creditoperation, nur unter Mitwirkung des Reichsrates zu erfolgen habe9. Diese hingeworfene Bemerkung genügte, um zum ersten Male — es war am 5. Jänner 1861 — die verschiedenen Meinungen zum Ausdruck zu bringen.“ Tatsächlich setzte Plener mit dieser „hingeworfenen Bemerkung“ nur seinen Kampf um eine Verfassung für Österreich fort, den er in den Beratungen um das Oktoberdiplom mit viel Energie begonnen hatte. „Herr v. Plener selbst, der, soviel mir bekannt, sich in liberalen Kreisen bewegte und hauptsächlich mit dem Eigentümer der damals sehr mächtigen ,Presse‘, Herrn August Zang, in beständigem Verkehre stand, stellte geradezu den Antrag, man möge die Märzverfassung wieder ins Leben rufen10. Ich erinnere mich, daß diese Idee auch von anderen Männern gehegt wurde. So hatte ich einen sehr geistreichen Freund, der sich sehr viel mit Politik befaßte und der, als ich ins Ministerium trat, mir einen Brief schrieb, worin er seine Ansicht über die nun einzuschlagenden Wege aussprach, die darin gipfelte, er erwarte von mir, daß ich sofort in den sogenannten deutsch-österreichischen Ländern die Märzverfassung einführen, in Ungarn aber die 1848er Gesetze zur Geltung bringen würde. Herr v. Plener hat bei seinen Anträgen gleich den anderen Männern nicht darauf Bedacht genommen, daß der Märzverfassung als Grundlage die Einheit des Reiches gegeben war und damals von Dualismus, der durch das Oktoberdiplom eingeführt worden ist, noch keine Rede war. Mein oben zitierter Freund schien nicht nur allein das, sondern insbesondere den Umstand zu übersehen, daß gerade die 1848er Gesetze den entschiedenen Riß zwischen Ungarn und den anderen Teilen Österreichs zum Ziele hatten; freilich, fügte Herr v. Plener bei, würde es genügen, diese Märzverfassung nur in der westlichen Reichshälfte einzuführen und dann eine angemessene Verbindung mit Ungarn zu suchen.“ Wie charakteristisch ist dieser Satz für die geistige Einstellung des österreichischen Frühliberalismus || S. 13 PDF || und für die Haltung des Finanzministers während der folgenden Beratungen über die Februar­verfassung. Schmerling fährt fort: „Dieser Antrag genügte schon, um bei dem Grafen Rechberg eine große Erregung herbeizuführen.“ Die Einführung einer „eigentlichen Konstitution“ sei nicht in den Absichten des Kaisers; Österreich sei dafür noch nicht reif, und durch die Märzverfassung würde das Reich noch mehr gespalten als durch das Oktoberdiplom. Der Polizeiminister wendete ein, daß eine mit Zustimmung des Reichsrates aufgenommene Anleihe von Ungarn nicht anerkannt werden würde; die nächste und wichtigste Aufgabe sei, in Ungarn Ordnung zu schaffen. Erst wenn dies geschehen, könne man an die Verfassungsfrage herantreten. Schmerling, überzeugt, daß „es sich nicht werde vermeiden lassen, eine förmliche Verfassung für die westliche Reichshälfte zu geben“, berief sich auf den zweiten Absatz des Artikels III des Oktoberdiploms, der einen gemeinsamen legislativen Körper der westlichen Länder der Monarchie ins Auge fasse, und darauf, „daß gerade in diesem Körper eine Menge der wichtigsten gesetzgebenden Akte durchgeführt werden könnte“. Dies war die Geburtsstunde des „engeren Reichsrates“ des Februarpatentes. Der Staatsminister räumte ein, daß in diesem Absatz 2 des Artikels III von Creditoperationen, derentwegen die Anregung des Finanzministers erfolgt war, nicht die Rede sei; ihm ging es um die Idee der Schaffung des „engeren“ und des „weiteren“ Reichsrates. „Vor allem habe ich das größte Gewicht darauf gelegt, einen Organismus zu schaffen, der ein Gegengewicht gegen den ungarischen Landtag bilden könne; denn daß dieses [sic!] die 17 Landtage in den deutsch-slawischen Ländern es nicht sein würden, die den Ungarn imponieren würden, war mir klar. Mein Gedanke, der sich Pleners Anträgen näherte, wurde von Minister Lasser auf das kräftigste unterstützt.“ Dieser wies darauf hin, daß der von Schmerling ins Auge gefaßte Repräsentativkörper „bedeutend genug [sein werde], um mit demselben dem Übermut der Ungarn entgegenzutreten“. Hier lag bei Lasser wie bei Schmerling der wirksamste Kern des Verfassungsplanes, im Vergleich zu dem sich der Antrag Pleners beinahe wie ein Vorwand ausnimmt.

Aber weder in dieser Sitzung noch am 15. Jänner wurde ein Resultat in der Ministerkonferenz erreicht. Wir sehen aber, daß der Titel der ersten sehr lesenswerten, wenn auch gelegentlich sehr simplifizierenden Darstellung der Periode, Walter Rogges „Der Kampf um ein Reichsparlament11“, einer Korrektur bedürftig ist: Nicht der „weitere“, sondern der „engere Reichsrat“ stand an der Wiege von Herrn v. Schmerlings Verfassungswerk12.

|| S. 14 PDF || Die Spaltung der Ansichten in der Ministerkonferenz ließ es dem Staatsminister „ungemein schwer“ erscheinen, „inmitten der Minister selbst zu einem Endergebnis zu gelangen. Das gab dann auch den Anlaß, daß ich in zwar nicht sehr konstitutioneller Weise, aber doch in einer Art, die zu einem Resultat führte, die Angelegenheit in Behandlung nahm, und zwar dadurch, daß ich mit dem Kaiser selbst in unmittelbare Berührung trat, ihm meine Anschauungen mitteilte und von ihm endlich die Billigung der von mir gestellten Anträge empfing …13“. Schmerling nimmt an, daß der Monarch durch die ihm stets vorgelegten Ministerratsprotokolle über den Gang der dort geführten Diskussionen intormiert war14. „Kurz, eines Tages, als ich ohnehin Gelegenheit hatte, mich dem Kaiser vorzustellen, richtete er mit einer gewissen Befangenheit an mich die Frage, was ich eigentlich in der Verfassungsangelegenheit beabsichtige und wo ich mit derselben hinauswolle. Er ist offenbar von Rechberg mit einer Art Besorgnis erfüllt worden, daß ich entweder die Märzverfassung, die man als eine höchst liberale, beinahe radikale Institution betrachtete, wieder ins Leben rufen wolle oder auf ähnlicher Grundlage ein System aufbauen wolle, wodurch er, wie er besorgte, in den Prärogativen der Krone in hohem Grade gefährdet werden würde. Insbesondere glaube ich, daß ihn der Gedanke beunruhigen mußte, daß die sogenannten Grundrechte, die als ein Anfang der Märzverfassung proklamiert worden waren und die alles dasjenige enthalten, was als Zugeständnis an den Liberalismus muß angesehen werden, daß das auch von mir begehrt werden würde. Darunter befanden sich einige Dinge, die, wie ich weiß, dem Kaiser in hohem Maße verletzend erschienen, besonders, weil dadurch die große religiöse Frage eigentlich indirekt in Fluß geraten wäre. Ich empfing den Eindruck, als ob der Kaiser mit Mißtrauen gegen mich erfüllt wäre, und fand es nötig, ihn darüber zu beruhigen. Ich erklärte ihm, daß, wie mir die Situation im Ministerrate bekannt geworden sei, der Entwurf einer Verfassung auf unendliche Schwierigkeiten stoßen würde; man würde beinahe über jeden einzelnen Punkt desselben sich in weitläufige Debatten einlassen. Graf Rechberg und die Ungarn würden alles bekämpfen, was einer eigentlichen Verfassung ähnlich sehe, und wenn es mir endlich gelingen würde, nach maßlosen Schwierigkeiten zu diesem Resultat zu gelangen, wäre ich nicht sicher, ob der Entwurf sich der Zustimmung des Kaisers erfreuen würde. Ich erlaubte mir, dem Kaiser mit aller Offenheit den Vorschlag zu machen, der allerdings über den konstitutionellen Rahmen hinausging, der mir aber unter den gegebenen Verhältnissen allein angemessen erschien, der aber auch vom Kaiser sehr beifällig aufgenommen wurde. Dieser Vorschlag ging || S. 15 PDF || nämlich dahin, in der ganzen Angelegenheit das größte Gewicht auf die kaiserliche Entscheidung zu legen und daher den Kaiser als Schöpfer der neuen Verfassung hinzustellen. Ich habe dem Kaiser vorgeschlagen, daß er mir gestatte, die Grundzüge der Verfassung, wie ich sie entwerfe, ihm unmittelbar vorzulegen, zu erläutern und womöglich seine Zustimmung zu erlangen und, wenn ich gewiß wäre, daß die von mir aufgestellten Prinzipien der kaiserlichen Zustimmung sich erfreuten, erst dann den ganzen Gegenstand in die Ministerkonferenz zu bringen. Der Kaiser war, wie gesagt, mit dieser Proposition zufrieden, weil ihm dadurch der bedeutendste Einfluß auf die ganze Angelegenheit in die Hand gegeben war und es ihm sehr zusagen mußte, zuerst von meinen Absichten und Ideen unterrichtet zu sein und nicht dieselben erst durch die Ministerkonferenzprotokolle oder aus dem Munde des Grafen Rechberg zu erfahren. Ich habe mich, nachdem die Audienz beim Kaiser vorüber war und nachdem mein Plan von ihm die Billigung erhielt, sofort an die Zusammenstellung jener Prinzipien gemacht, die mir als notwendig vorgeschwebt hatten und worüber ich bereits mit meinem Freund Lasser, der mein volles Vertrauen hatte, und mit dem Sektionsrate Perthaler15 zur Finalisierung gelangte. Dieser Doktor Perthaler, dem in dieser Angelegenheit großes Verdienst zukommt, war ein scharf denkender, umsichtiger und mit den österreichischen Verhältnissen sehr vertrauter Mann.“

Nachdem Schmerling Staatsminister geworden war, hatte er Perthaler in sein Ministerium berufen, wo dieser an den Entwürfen der Landes- und Landtagswahlordnungen, aber auch an den Vorbereitungen für ein Reichsratsstatut arbeitete. „Lasser, er und ich haben binnen zwei Tagen die Hauptprinzipien der sogenannten Reichsvertretung, wie sie damals genannt wurde, in beiläufig zwanzig Grundsätzen entworfen, die als Grundlagen der Verfassung gelten konnten. Dieser Brouillon — denn mehr war es nicht — wurde zum Gegenstand meiner Vorträge beim Kaiser gemacht und bei der Wichtigkeit der Sache und bei der Bedeutung und dem Interesse, das der Kaiser demselben widmete, war ich durch mehrere Tage beschäftigt, Sr. Majestät umständlich alle Punkte auseinanderzusetzen, auf welchen meiner Meinung nach die Reichsvertretung zu basieren war. Die Hauptfrage betraf die Zusammensetzung des Reichsrates und seine Kompetenz. Bei der Frage der Zusammensetzung des Reichsrates habe ich mir dadurch bei Sr. Majestät ein sehr großes Entgegenkommen und Vertrauen in meine Anschauungen geschaffen, daß ich die ihn überraschenden Ideen eines Zweikammersystems und insbesondere eines sogenannten Herrenhauses, welches ganz von der Regierung geschaffen würde, entwickelte. Er erblickte darin eine gewisse Garantie für meine wirklich konservativen Prinzipien, welche ihn bestimmten, die weiteren Partien des Verfassungsentwurfes, in welchem sehr viele liberale Bestimmungen enthalten waren, beifällig aufzunehmen. Alle Bestimmungen wurden von dem Kaiser genau geprüft, viele Einwendungen vorgebracht, die ich in der Lage war zu entkräften oder den Kaiser darüber zu beruhigen. Nachdem in dieser Weise die mir gewährte || S. 16 PDF || Konferenz durch mehrere Tage fortgesetzt worden war, hat der Kaiser dem Ganzen seine Zustimmung erteilt und nur mich angewiesen, den von mir verfaßten Entwurf ihm zu übergeben, um nochmals eine reifliche Prüfung desselben vornehmen zu können. Ich weiß nicht, ob der Kaiser selbst sich mit dieser Prüfung befaßt oder den Entwurf irgendwem mitgeteilt hat; kurze Zeit darauf erhielt ich den Entwurf aus der Hand des Kaisers zurück mit der Erklärung, daß er denselben im großen und ganzen genehmige, mich anwies, denselben in eine präzise Form zu bringen und dann der Beratung der Ministerkonferenz zu unterwerfen, wobei der Kaiser noch ausdrücklich mir beifällig bemerkte: ,Nun ist es Ihre Sache, nachdem Sie meine Zustimmung erhalten, die Angelegenheit auch in der Ministerkonferenz durchzubringen.‘ Die Beratung über den von mir ausgearbeiteten Verfassungsentwurf fand in nicht weniger als fünf Ministerkonferenzen statt, und man wird es bei der Wichtigkeit des Gegenstandes begreiflich finden, daß eine so umfassende und eingehende Beratung des Entwurfes vorgenommen wurde16.“

Schmerling schließt diesen Abschnitt mit dem Satz, „daß die Hauptgrundsätze des Entwurfs durchaus angenommen wurden und daß ich eine große Befriedigung empfand, daß all dasjenige, was sich des Beifalls des Kaisers zu erfreuen hatte, auch in der Ministerkonferenz keinerlei Widerstand begegnete und zum Beschluß erhoben wurde17“.

Die Bedeutung, die der Kaiser den in diesem Band publizierten Ministerratsprotokollen beimaß, ist auch daraus zu ersehen, daß er trotz des mit Schmerling hergestellten Einverständnisses über die Grundzüge der neuen Verfassungsgesetze nicht nur den Beratungen der Minister relativ häufig präsidierte, sondern auch in die Diskussion kräftig und manchmal entscheidend eingriff. Die Themen der ersten Ministerkonferenzen sehen sich wie Vorpostengeplänkel an: die Ermahnung des Kaisers zur Eintracht in der Konferenz bei der ersten Zusammenkunft, während jeder an der politischen Lage der Monarchie halbwegs Interessierte wußte, daß Eintracht zwischen den Mitgliedern des Ministeriums eben nicht existierte. Die anderen Konferenzen fanden unter dem Vorsitz Erzherzog Rainers statt. In diesen wurden Themen wie z. B. die Einschaltung eines Zeitungsartikels über die Eintracht im Ministerium, die Einhebung der Steuern in Ungarn unter Zuhilfenahme von Militär, die Titulatur Erzherzog Rainers als Vorsitzender des Ministerrates, aber auch eine Reihe von Detailfragen der Entwürfe der Landesstatuten diskutiert.

Die Diskussion des Reichsratsstatuts - Retrodigitalisat (PDF)

Mit 9. Februar beginnt die Reihe jener Ministerberatungen über das Statut der Reichsvertretung, deren wesentlicher Inhalt zwischen dem Kaiser und dem || S. 17 PDF || Staatsminister bereits vereinbart worden war. Sie sind in unserer Publikation als Nr. 7 zusammengefaßt und währten vom 9. bis 15. Februar 1861 18, wobei Erzherzog Rainer den Vorsitz führte. In einem anderen Sinn, als Kecskeméthy und der ihn zitierende Josef Redlich meinten, sollten sich nun die Worte des ungarischen Autors über Schmerling bewahrheiten: „… was er wollte, das erreichte er auch, denn er war faktisch das Haupt des Kabinetts geworden19.“

Für die Beurteilung der fünf entscheidenden Ministerkonferenzen verbleibt freilich ein ärgerlicher Ungewißheitskoeffizient: Wir wissen nicht, ob oder inwieweit die beiden Kontrahenten, der Kaiser und der Staatsminister, anderen Teilnehmern an den Konferenzen von ihrem Übereinkommen etwas mitgeteilt haben, doch ist anzunehmen, daß Schmerling seinen „Freund“ und Vertrauten Lasser von dem „Interesse“ des Monarchen an dem Verfassungsentwurf informiert haben wird, und das Lob, das Josef Redlich der Geschicklichkeit des Staatsministers „in der Führung des Ministerrates gerade in diesen Verhandlungen20“ spendet, ist, da die Wiese mindest zur Hälfte bereits „gemäht“ war, einigermaßen übertrieben. Die Polemik, in die sich Graf Rechberg, der weithin als der Vertraute des Kaisers angesehen wurde, in der ersten Sitzung21 über die Verwendung der Worte „Reichsvertretung“ und „Reichsrat“ im Verfassungsentwurf, einem Werk, das er als „weder Fisch noch Fleisch“ bezeichnete, einließ, läßt nicht darauf schließen, daß der frühere Ministerpräsident über die Tragweite des Übereinkommens genaue Mitteilungen erhalten hatte. Auffallen muß, worauf schon Redlich hingewiesen hat22, wie positiv die beiden ungarischen Teilnehmer an der Konferenz, Szécsen und Vay, in dieser ersten Beratung dem Schmerlingschen Entwurf gegenüber eingestellt waren; wie optimistisch haben sie, besonders Vay, dessen Chancen in Ungarn beurteilt. Sie sollten bald eines Besseren oder in diesem Fall eines Schlechteren belehrt werden. Schon in der zweiten Konferenz23 mußte die Frage der Entsendung der Vertreter in den Reichsrat die Einigkeit der Stimmung in der Konferenz bedrohen. Während Graf Szécsen für das Verhalten des ungarischen Landtages auf das Sprichwort verwies, daß man die Pferde wohl zum Wasser führen, aber nicht zum Trinken zwingen könne, gab Baron Vay zunächst noch seinem lebhaften Wunsch Ausdruck, „daß der Reichsrat der ganzen Monarchie baldmöglichst zustande komme“, setzte aber fort: „… eben deswegen müsse er dringend ersuchen, aus demselben [sic!] alle Bestimmungen zu entfernen, welche man in Ungarn als dem gesetzlichen Wege vorgreifende Oktroyierungen betrachten würde“; der Satz verwies auf den Weg, auf die Notwendigkeit des „Traktierens“.

Und nun ergriff der Staatsminister das Wort, und man kann sagen, daß das Bildhafte des Ausdrucks dem tatsächlichen Vorgang entsprach. „Am 20. Oktober sei || S. 18 PDF || die ungarische Verfassung nicht in ihrer Gänze und nicht unbedingt wiederhergestellt worden. Die im kaiserlichen Diplome ausgesprochenen Beschränkungen seien kein Gegenstand einer weiteren landtäglichen Diskussion oder des sogenannten Paktierens. Der Landtag hat selbst nicht die Befugnis, über Annahme oder Ablehnen des Diploms zu deliberieren … Diesen Standpunkt müsse man gehörig festhalten.“ Von nun an wußten also die ungarischen Mitglieder der Ministerkonferenz, daß die Schmerlingsche Interpretation des Oktoberdipolms Fleisch war und Fleisch meinte. Die Opposition war mäßig; sie beschränkte sich auf den Wahlmodus in den Reichsrat. Sie verstärkte sich in der dritten Konferenz24 und konzentrierte sich auf das Recht des Paktierens. Szécsen formulierte nun: „[Ungarn] direkt und ohne Beachtung seiner eigentümlichen politischen Berechtigung zum Zusammengehen mit Österreich zu bewegen, wäre jetzt, nachdem der dazu vielleicht günstige Moment der Überwindung faktischer Empörung im Jahre 1849 längst vorüber, ein wirklich vergebliches Bemühen.“ Die zahlreichen nachträglichen Korrekturen in dem reichlich gequälten Wortlaut des letzten Drittels des Satzes sind zu beachten. Der vorsichtige Hinweis des geistigen Führers der Altkonservativen auf die vom Standpunkt des Gesamtstaates versäumte Gelegenheit vom Jahre 1849 ist immerhin beachtenswert. Darum geht von nun an der Kampf im Ministerrat: um das unverlierbare Recht Ungarns auf die eigene Verfassung, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß der Erste ungarische Kanzler seit dem 12. Februar an den Sitzungen nicht mehr teilnahm. In dieser Sitzung hatte der Staatsminister in der Diskussion über den Titel der Zentrallegislative ausgerufen: „Es gibt ein Reich Österreich! Man spreche es aus, und Ungarn soll erkennen, daß es einen Teil dieses Reiches bildet!“

Wie eine Antwort auf diesen Ausruf klingt die Rede, mit der Graf Szécsen die Konferenz vom 16. Februar eröffnete, indem er die ungarischen „Bedenken“ gegen den Schmerlingschen Verfassungsentwurf noch einmal zusammenfaßte: Die Grundlage für die Verbindung der Länder diesseits und jenseits der Leitha ist die Dynastie — nur diese, so daß, „wenn die Dynastie“ — heißt es im Protokoll der Rede — „nicht mehr bestünde, was Gott verhüte, weder in jenen Ländern noch in Ungern eine Verpflichtung zum Zusammenhalten anerkannt werden würde“; daher die Forderung nach der Anerkennung der Selbständigkeit Ungarns und nach Eliminierung alles dessen aus dem Februarpatent, was dieser Selbständigkeit widerspricht. Sollte die Regierung auf dem diskutierten Entwurf beharren, so muß sie sich „auf einen ernsten Widerstand“ Ungarns gefaßt machen. Was über das Oktoberdiplom hinausgeht, müsse aus dem Patent beseitigt und der Verständigung mit dem ungarischen Landtage überlassen werden.

Rechberg und Schmerling am 16. Februar 1861 - Retrodigitalisat (PDF)

Die folgende Rede des Außenministers legte die Schwere der die Monarchie bedrückenden Probleme bloß: Es war — so begann Graf Rechberg seine Ausführungen || S. 19 PDF || — die Lage in Ungarn, die Österreich zum Frieden von Villafranca und damit zum Verlust der Lombardei gezwungen hatte. Die Lösung der ungarischen Frage war nun zum wichtigsten Problem geworden; wenn das gegenwärtige System fortgesetzt werde, könne erst in entfernter Zukunft ein Erfolg erzielt werden, und überdies sei dieser Weg mit großen Gefahren verbunden. Denn die Geschichte habe gelehrt, meinte Graf Rechberg, „es habe Ströme von Blut gekostet, ehe es England gelang, sich Schottland und Irland dienstbar zu machen. Jedenfalls bedürfe es zur Durchführung eines solchen Systems tiefer Ruhe von außen“. Aber — und damit kam Rechberg zum Kern seiner Politik — ein längerer Friede sei für Österreich gegenwärtig nicht zu erwarten; die Verhältnisse kündeten vielmehr schwere Stürme von außen für die nahe Zukunft an. Daher habe sich die österreichische Regierung entschlossen, das Beispiel der Kaiserin Maria Theresia zu befolgen, und „diese Idee führte zur Erlassung des kaiserlichen Diploms vom 20. Oktober“. Er, Rechberg, könne nur wünschen, daß es ausgeführt werde; aber dazu müßten alle Regierungsakte mit diesem Erlaß in Einklang stehen; deshalb stimmte er „im wesentlichen“ mit Szécsen, daß aus dem Reichsratsstatut alles entfernt werde, was mit dem Diplom nicht in Einklang sei. Solle ein anderer Weg eingeschlagen werden, „so müßte die prinzipielle Genehmigung des Kaisers dazu eingeholt werden“. Der Staatsminister erklärte, er könne in dem Reichsratsstatut weder einen Widerspruch zu dem Diplom noch eine Verletzung der ungarischen Verfassung erblicken. „Ob man Ungern schmeichelt oder diese seine Empfindlichkeit verletzt, der Erfolg ist, wie die Erfahrung lehrt, der gleiche.“

Nun wichen Rechberg und Szécsen zurück und erklärten, keine meritorische Änderung des Statuts zu verlangen; ihr Hauptangriff richte sich gegen die Bezeichnung „Reichstag“, die an den nach ungarischen Begriffen unmöglichen „Reichstag“ der Märzverfassung 1849 erinnere. Dieser Wunsch wurde auch vom Kriegs- und vom Handelsminister unterstützt. Hingegen stellte sich Minister Lasser scharf an die Seite Schmerlings: Es handle sich im Verhältnis der beiden Ländergruppen nicht um eine Personal-, sondern um eine Realunion. Über den Staatsminister noch hinausgehend, schloß er in einem in diesen Konferenzen bis dahin noch nicht vernommenen Ton mit der Drohung: „Möge … Ungern, insbesondere aber dessen Adel … eher einlenken, bevor Elemente gegen ihn sich kehren, die bisher von der Regierungsgewalt niedergehalten worden sind. Nicht eine politische, sondern eine soziale Revolution wäre in Ungarn zu besorgen.“ Ohne auf diese Drohung zurückzukommen, betonten auch der Finanz- und der Handelsminister die Idee der Reichseinheit, wobei Herr v. Plener nicht unterließ, neuerlich seinem Bedauern Ausdruck zu geben, daß die Idee einer einheitlichen Reichsverfassung, wie sie im März 1849 versucht worden war, nicht zur Ausführung gelangte. Er gebrauchte scharfe Worte gegen weitere Konzessionen an die Ungarn: „Will Ungern im Ernst sich an Österreich anschließen, so wird es an der Gesamtvertretung teilnehmen, ohne sich an deren Namen25 zu stoßen. Will es nicht, wie es den Anschein hat, so liegt eben auch nichts an dem Namen. Es || S. 20 PDF || muß dann der Kampf mit Ungern, der tatsächlich mit den Beschlüssen der Komitate bereits begonnen hat, mit dem Beistande der übrigen Völker 26 ausgefochten werden, und dann ist es gewiß besser, diesen zu gewähren, was ihnen gefällt, als weitere Konzessionen für Ungern zu machen, für welche dieses sowenig als für das bisher Gegebene erkenntlich sein würde.“ Ähnlich, wenn auch gedämpfter, äußerten sich Graf Wickenburg, der Handelsminister, und der Justizminister, Freiherr v. Pratobevera. Eine Übereinstimmung wurde in dieser Konferenz nicht erzielt.

Die erste Kammer - Retrodigitalisat (PDF)

Da Schmerling in seinen „Denkwürdigkeiten“ nachdrücklich erwähnt, daß es der Vorschlag einer ersten Kammer in der Reichsvertretung war, der ihm das Vertrauen des Kaisers in seine „wirklich konservativen Gesinnungen“ gewann, soll dieser kurz dargelegt werden27. Wenn der Staatsminister von den Kaiser „überraschenden Ideen eines Zweikammersystems und insbesondere eines sogenannten Herrenhauses“ spricht, „welches ganz von der Regierung geschaffen würde“, so sei vermerkt, daß auch die Verfassungsentwürfe der Revolutionsjahre ein solches System gekannt haben. Die Verfassung vom April 1848 sah einen Senat vor, der sich zusammensetzte aus den volljährigen Erzherzogen, aus vom Kaiser auf Lebensdauer ernannten Mitgliedern, deren Anzahl nicht begrenzt war, und schließlich aus 150 Mitgliedern, die von den größten Grundbesitzern des Staates aus ihrer Mitte für die Dauer der Legislaturperiode gewählt werden sollten; der Kremsierer Entwurf bestimmte eine Länderkammer, gebildet von je sechs Abgeordneten jedes Reichslandes und je einem durch den Kreistag zu wählenden Abgeordneten jedes Kreises; die Märzverfassung ordnete an, daß ein Oberhaus aus den Abgeordneten jedes Kronlandes gebildet werde, deren Zahl die Hälfte der Abgeordneten des Unterhauses betragen sollte. Nach dem Entwurf, den Schmerling im wesentlichen mit dem Kaiser vereinbart hatte, sollte die erste Kammer, die nach der Entscheidung Franz Josephs Herrenhaus genannt wurde, bestehen aus den großjährigen Prinzen des kaiserlichen Hauses, den großjährigen Häuptern der inländischen, durch ausgedehnten Grundbesitz hervorragenden Adelsgeschlechter, denen der Kaiser die erbliche Reichsratswürde verlieh, den Erzbischöfen und Fürstbischöfen und jenen „ausgezeichneten Männern, welche sich um Staat oder Kirche, Wissenschaft oder Kunst verdient gemacht haben“ und die der Kaiser als lebenslängliche Mitglieder in das Herrenhaus berief. Das unbegrenzte Ernennungsrecht der Krone stand für Schmerling im Zentrum28. || S. 21 PDF || Er war überzeugt, daß es unter den gegebenen Umständen unerläßlich sei, dieses Recht der Krone zu wahren, teils um für das Oberhaus die zur Gewinnung des moralischen Gewichtes und für eine gedeihliche Geschäftsführung „nötigen hervorragenden Kapazitäten zu erlangen, teils auch um der Regierung in gewissen Fällen die Majorität im Oberhause verschaffen zu können29“. Der Staatsminister setzte seine Ansicht gegen Angriffe von Rechberg, Szécsen und Mecséry durch, die vor der Gefahr von Pairsschüben warnten, wie man „in Frankreich und neuerlich in Preußen“ beobachten konnte, daß „ein Ministerium im Drange des Augenblicks das Ansehen des Oberhauses durch solche Mißbräuche bleibend schwächen kann“.

Die zweite Kammer - Retrodigitalisat (PDF)

Schon bei den ersten Beratungen der Minister über die Februarverfassung am 10. Februar verkündete Schmerling, daß im Haus der Abgeordneten „jeder Kreis, jedes Komitat — auch das kleinste — mindestens einen Deputierten haben“ werde, doch war das Wahlrecht keineswegs gleichmäßig verteilt. Insofern wurde die Aussage im Artikel III des Februarpatentes verwirklicht, „die Rechte und Freiheiten der getreuen Stände dieser Königreiche und Länder nach den Verhältnissen und Bedürfnissen der Gegenwart umzubilden“. Es ist bekannt, daß der Staatsminister die Wählerschaft — keineswegs die gesamte Bevölkerung — in „Umbildung“ der früheren Stände in vier Kurien einteilen ließ: Großgrundbesitz, Handelsstand, städtische und ländliche Bevölkerung, zum Unterschied von den Bestimmungen der Märzverfassung 1849 und der ungarischen Verfassung 1848. Eine sorgfältig ausgearbeitete Wahlgeometrie sorgte dafür, daß die städtische Bevölkerung vor der Landbevölkerung und die deutschen und italienischen Bezirke vor den slawischen im Wahlrecht bevorzugt wurden. Der Einspruch, daß in Dalmatien die slawische Bevölkerung zum Unterschied von der „sehr aktiven“ italienischen absolut verläßlich war, verhallte ungehört.

Kompetenz des Reichsrates - Retrodigitalisat (PDF)

In der Sitzung am 11. Februar verlangte Graf Rechberg mit großem Nachdruck, „die Gegenstände genau bezeichnet zu sehen, über welche sich die Wirksamkeit des Reichsrates nicht zu erstrecken“ habe, worunter er besonders alle diplomatischen Verhandlungen verstanden wissen wollte, „wo das Eingreifen einer aus so verschiedenen Nationalitäten zusammengesetzten politischen Korporation von unberechenbaren Nachteilen“ sein könnte. Der Staatsminister und Szécsen wiesen darauf hin, daß der Verfassungsentwurf die auswärtige Politik von der Kompetenz des Reichsrates ausschloß. Anläßlich der Beratung des § 18 kam am 12. Februar || S. 22 PDF || die Frage der Verantwortlichkeit der Minister zur Diskussion, worüber die Konferenzmitglieder verschiedene Ansichten hatten; zu einem Beschluß kam es nicht, und weder im Entwurf noch in der endgültigen Fassung findet sich eine Erwähnung der Ministerverantwortlichkeit.

Das Notverordnungsrecht - Retrodigitalisat (PDF)

In der Konferenz vom 12. Februar wurde die erste Lesung des Verfassungsentwurfes beendet. Drei Tage später begann die zweite Lesung. Bei der Besprechung des § 12 bemerkte der Finanzminister, „er vermisse im Statute eine Bestimmung, wodurch die Regierung ermächtigt wird, in dringenden Fällen selbständig Gesetze und Maßregeln, welche in den Wirkungskreis des Reichstages fallen, zu erlassen oder zu verfügen“. Szécsen erwiderte — sehr bezeichnend für die Einstellung der ungarischen Altkonservativen —, daß die Berechtigung „zu derlei Oktroyierungen in der dringenden Notwendigkeit [liege], [sie] sei somit selbstverständlich. Man müsse daher erwägen, ob es nicht besser wäre, solche Ausnahmsfälle, um nicht das Vertrauen zu schwächen, im Statute gar nicht zu berühren“. Darauf entgegnete Herr v. Plener, „daß eine solche ausdrückliche Bestimmung, welche auch in den meisten Verfassungsurkunden der deutschen Staaten enthalten ist, der Regierung eine sehr nützliche Stütze gewährt, um im Drange des Augenblicks Abhilfe treffen zu können, ohne sich dem Vorwurfe eines ungesetzlichen Vorganges auszusetzen“. Der Finanzminister machte sich wahrlich keiner Übertreibung schuldig, wenn er solch eine Bestimmung als eine „sehr nützliche Stütze“ der Regierung bezeichnete. Was wäre aus den österreichischen Regierungen, die späteren Jahre von Herrn v. Schmerling eingeschlossen30, geworden, ohne die „sehr nützliche Stütze“ des § 13 der Februarverfassung, des § 14 der späteren österreichischen Verfassung, die man sich nun in die Welt zu setzen anschickte. Und wie oft hat sich dieser „Drang des Augenblicks“ von 1861 bis 1918 bei den österreichischen Regierungen geltend gemacht! „Graf Rechberg fand gleichfalls diesen Vorbehalt, und zwar insbesondere zu Finanzmaßregeln, nötig.“ Dem Außenminister gebührt das Verdienst, daß er auf diesen Punkt schon in der Konferenz vom 12. Februar hingewiesen hatte. „Minister v. Lasser glaubte, es könnte der gewünschte Ausspruch dem § 18 indirekt, und zwar beiläufig in folgender Weise, beigefügt werden, daß, wenn dringende Maßregeln ohne Mitwirken des Reichstages getroffen werden, der betreffende Minister die Gründe seines Vorgehens dem Reichstage darzulegen hat. Die Konferenz war mit der Aufnahme einer ähnlichen Bestimmung einverstanden, welche der Staatsminister aber an den § 12 anzuknüpfen gedenkt.“ Schmerling besann sich eines Besseren; und so entstand der § 13 der Februarverfassung, der im § 87 der Märzverfassung ein unbeholfenes und unvollkommenes Vorbild hatte.

|| S. 23 PDF || Der Text des § 13 der Februarverfassung lautet: „Wenn zur Zeit, als der Reichsrat nicht versammelt ist, in einem Gegenstande seines Wirkungskreises dringende Maßregeln getroffen werden müssen, ist das Ministerium verpflichtet, dem nächsten Reichsrate die Gründe und Erfolge der Verfügung darzulegena .“ Es steht uns leider keine Quelle zur Verfügung, die uns ermöglicht, zu verfolgen, wie sich aus dem Antrage Pleners dieser Text entwickelt hat. Der Wortlaut des „Notparagraphen“ des Staatsgrundgesetzes von 1867, § 14, ist wesentlich detaillierter31; er verleiht „solchen Verordnungen“ unter gewissen Bedingungen „provisorische Gesetzeskraft“. Schmerlings Entwurf, der dem Ministerrat vorgelegt war, hatte 20 Paragraphen, die publizierte Februarverfassung hat 21 Paragraphen; sie ist um § 13 vermehrt.

Die Entscheidung des Kaisers vom 22. Februar 1861 - Retrodigitalisat (PDF)

Noch einmal, am 22. Februar, kam das Statut für die Zentrallegislative vor die Minister, diesmal in einer Konferenz, der der Kaiser präsidierte. Zunächst beseitigte der Monarch ein Hauptgravamen der ungarischen Minister und bestimmte als „Namen“ für die Legislative „Reichsrat“ anstelle von „Reichstag“, das Wort, das die Ungarn an die von ihnen verpönte Märzverfassung erinnerte. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß zwischen den Sitzungen vom 16. und vom 22. Februar persönliche Interventionen dieser Ratgeber bei Franz Joseph stattgefunden hatten; eine vollständige Quelle für den Ablauf der Ereignisse sind die Ministerratsprotokolle nicht.

Rechbergs Appell für eine stärkere Berücksichtigung der grundbesitzenden Bevölkerung gegenüber der ständischen blieb vergebens; ebenso Szécsens neuerlicher Angriff gegen die in § 7 vorgesehene Möglichkeit direkter Wahlen, welche seiner Meinung nach „eigentlich schon den Bruch mit Ungarn“ ausspreche. Die stärksten Worte in dieser Konferenz fand wiederum der Finanzminister, der auf die drängende Notwendigkeit verwies, „für den Staatsschatz, der sich der Erschöpfung nähert, neue Quellen zu eröffnen“, da sonst mit dem finanziellen „auch der politische Ruin unvermeidlich“ sei, und in Anbetracht der finanziellen Notlage des Reiches ginge „während der Deliberationen des ungarischen Landtages“ Österreich zugrunde. Aber der Monarch sah eine Gefahr von anderer Seite drohen: Er befürchtete, daß infolge der im Entwurf des Statuts erweiterten finanziellen Kompetenz des Reichsrates eine „regierungsfeindliche Majorität … der Armee und der Administration den Lebensnerv durch Zurückweisung des Budgets, Verweigerung von Steuern etc. wird abschneiden wollen, … diesen Gefahren muß im Statute vorgebeugt werden“. Das Protokoll vermerkt: „Der Staatsminister übernahm es, die diesfällige Berichtigung vorzunehmen.“ Demzufolge wurde im § 10 als vorletzter Absatz die Bestimmung eingefügt, daß die Steuern etc. nach den bestehenden Gesetzen eingehoben werden, „insolange diese nicht verfassungsmäßig geändert werden“.

|| S. 24 PDF || Graf Szécsen fand dann noch Gelegenheit, den in den §§ 10 und 11 verwendeten Ausdruck „Reichsangelegenheiten“ zu beanstanden, und der Kaiser gestattete, „daß … ein anderer Ausdruck von gleicher Bedeutung gebraucht werde“; demzufolge wurde im § 10 das Wort „Reichsangelegenheiten“ gestrichen. Auf das Notverordnungsrecht des eben ins Leben tretenden § 13, der „sehr nützlichen Stütze“ für die kommenden Regierungen Österreichs, wurde von keiner Seite Bezug genommen. Noch wurde verfügt, daß „der kaiserliche Erlaß, womit das Reichsratsstatut hinausgegeben wird, … gemäß Ah. Anordnung nicht als kaiserliches Patent zu bezeichnen“ war.

Unter diesen Auspizien wurde das „Grundgesetz über die Reichsvertretung“ vier Tage später publiziert; hier, in dieser Zusammensetzung, war die Verwendung „Reich“ noch toleriert worden. Unter den Unterschriften auf dem Patent findet sich von den ungarischen Ministern nur die des Grafen Szécsen, die der beiden ungarischen Hofkanzler fehlen. Der von Schmerling, Plener und Lasser in den Ministerberatungen wiederholt und stolz verkündete Reichsgedanke und Reichsglaube hatte durch die letzten Entscheidungen des Kaisers eine unübersehbare weitere Schwächung erfahren, die den Weg zu den Entschlüssen von 1867 andeutete.

Unsere Kenntnis der Hintergründe des Februarpatentes und damit der Rolle des Kaisers und wohl auch der Persönlichkeiten Pleners und Rechbergs ist durch den Aufsatz Fritz Fellners und die nähere Betrachtung der „Denkwürdigkeiten“ Schmerlings gegenüber dem großen Werk Josef Redlichs nicht unwesentlich erweitert worden; aber in zwei Hauptpunkten ist diesem auch heute zuzustimmen: „Schmerling und seine Ministerkollegen hatten guten Grund, den Gedanken an einen Erfolg der ,Transaktionspolitik‘ Szécsens und Vays abzulehnen: nicht bloß wegen der immer bedrohlicher sich gestaltenden Widerstandsbewegung im Lande, sondern wegen der prinzipiell mangelhaften Grundlage für ein ,Transigieren‘ in der Weise, wie Szécsen das immer wieder in unklaren Wendungen andeutete … auf einer Grundlage aber, die von der formellen Reichseinheit absah, was für Schmerling ebenso wie für Plener und Lasser ein unvorstellbarer Gedanke war32“; und zweitens: „Wie in Österreich die historisch fundierte Macht der Bürokratie den mit dem Oktoberdiplom vom böhmischen Hochadel unternommenen Versuch erfolgreich abwehrte, so hat die ungarische Gentry mit sicherem politischen Instinkt auch schon den Anfang zu solcher ,Transaktionspolitik‘ der Magnatenfraktion mit Entschiedenheit abgelehnt und dadurch erst recht sich die Zukunft und die eigene Machtentfaltung gesichertb “ — wir fügen hinzu: für die nächste Periode der Geschichte Ungarns.

Es wird nicht notwendig sein, die anderen in unserem Band besprochenen Agenden des Ministerrates an dieser Stelle so ausführlich zu besprechen wie deren Hauptthema, das Februarpatent Anton v. Schmerlings; manchen von ihnen aber kommt eine klare Bedeutung für die Geschichte der Donaumonarchie zu. Das || S. 25 PDF || gilt zunächst von dem Versuch Szécsens, im Sinne einer „Transaktionspolitik“ die auf den 29. April 1861 einberufenen Landtage Ungarns, Kroatiens und Siebenbürgens durch ein ausdrückliches Provisorium zu bewegen, Abgeordnete zum Reichsrat nach Wien zu entsenden. Immerhin konnte der Antragsteller, dieses Mal mit einiger prophetischer Gabe ausgestattet, nicht umhin, seinem Antrag hinzuzufügen, daß er sich für dessen Erfolg nicht verbürgen könne. Eine längere Diskussion entwickelte sich zu dem Zweck, das von Szécsen vorgeschlagene, von ihm dann zurückgezogene, vom zweiten Hofkanzler aber wieder aufgenommene Provisorium den sehr verschiedenen Interessen dies- und jenseits der Leitha anzupassen, bis es sich im schließlichen Ergebnis als ein voraussehbarer Fehlschlag erweisen sollte.

Die kaiserliche Ansprache vom 28. Februar 1861 - Retrodigitalisat (PDF)

Den Ministerrat vom 28. Februar 1861 und damit die Diskussion über die Februarverfassung beschloß der Kaiser mit einer Ansprache, in der er den Ministern nach dem Wortlaut des Protokolls eröffnete, „daß Allerhöchstdieselben mit den am 26. d. M. erlassenen Staatsgrundgesetzen bereits die äußerste Grenze der nach der Ah. Willensmeinung zulässigen Beschränkung der souveränen Macht erreicht haben“. Der Monarch forderte deshalb von allen Ministern das feierliche Versprechen, daß sie mit allen Kräften „den Thron gegen die Abnötigung weiterer Zugeständnisse … verteidigen werden“. Die Unterzeichnung dieses Protokolls wird als das abgelegte feierliche Versprechen des vom Kaiser in Anspruch genommenen tatkräftigen Schutzes und Beistandes gelten. Alle Minister mit Einschluß Baron Vays unterschrieben am 1. März, und dieses Mal erfuhr die stereotype Formel, mit der Franz Joseph die Protokolle der Ministerkonferenzen zur Kenntnis nahm, eine Abänderung und lautete: „Die Unterzeichnung dieses Protokolls von allen Mitgliedern des Ministerrates dient mir zur Kenntnis. Wien, den 9. März 1861. Franz Joseph.“ Es ist bemerkenswert, daß dieses Mal der Kaiser den sonst eher noch verpönten Ausdruck „Ministerrat“ gebrauchte.

Wenn man die Ansprache vom 28. Februar 1861 mit jener vergleicht, die der Monarch nach dem Tod von Felix Fürst Schwarzenberg am 14. April 1852 an seine Minister gehalten hatte, ergibt sich, welch beträchtliche Strecke Österreich auf dem Weg zur konstitutionellen Monarchie in diesen 13 Jahren zurückgelegt hatte33 von dem Prinzip und den „Grundsätzen der rein monarchischen und einheitlichen Gestaltung der Monarchie“, zu denen Franz Joseph sich damals bekannt hatte, und in der er erklärt hatte: „[Ich] werde die Geschäfte der verschiedenen Ministerien ausschließlich in meinen Händen konzentrieren.“

Das Budget für 1862 - Retrodigitalisat (PDF)

Am 3. März, in der 22. Ministerkonferenz des neuen Ministeriums, kam jener Gegenstand auf die Tagesordnung, der eigentlich die österreichische Verfassungsfrage hatte akut werden lassen: die „Zustandebringung des dem Reichsrate vorzulegenden Budgets für 1862“ — genauer, die Notwendigkeit, dieses Budget vom Reichsrat genehmigen zu lassen. Die Beratung war erstaunlich kurz, und das Resultat entsprach der Dauer der Beratung. Freilich sollte dieses Thema noch sieben weitere Ministerkonferenzen beschäftigen. Herr v. Plener erklärte: „Der Reichsrat soll Mittel für die finanziellen Übel schaffen. Da ist es allerdings vor allem nötig, diese Übel, das ist die Finanzlage, genau kennenzulernen.“ Aber eben dies zu tun, sei er außerstande, „wo sowohl über die Einnahmen als die Ausgaben des Staates eine so große Ungewißheit schwebt“. Der Minister mußte sich also auf die Erklärung beschränken, daß man sich für jetzt „leider durch Auskunftsmittel beinahe von einem Tage zum anderen helfen [müsse], aber bei Wiederkehr normaler Verhältnisse im In- und Auslande werde auch das Gleichgewicht im Staatshaushalte hergestellt werden können“. Dann setzte er fort: „Diese Beruhigung muß man im Interesse des Staatskredits geben, und das Ausland erwartet den Nachweis darüber.“ Um diesen geben zu können, ersuchte nun Plener, ihm „fördersamst“ die benötigten Budgetdaten zukommen zu lassen, und diese wurden ihm „allseitig nach Tunlichkeit“ zugesichert. Dabei verblieb es zunächst34.

Die Stellung Kroatiens und Siebenbürgens - Retrodigitalisat (PDF)

Mit dem Ministerrat vom 7. März wurde die Diskussion über die Stellung Kroatiens zu Ungarn wiederaufgenommen. Der Präsident des kroatisch-slawonischen Hofdikasteriums trat dem Antrag des ungarischen Hofkanzlers entgegen, dem zufolge die Stände Kroatiens und Slawoniens durch königliche Reskripte zum ungarischen Landtag einzuberufen seien, und berief sich auf das Oktoberdiplom, das vorsah, das Verhältnis Kroatiens zu Ungarn vorerst durch freie Verhandlungen zwischen den beiden Königreichen zu regeln. Die Frage war heikel genug, um die nächste Sitzung hierüber am 15. März vom Kaiser präsidieren zu lassen. Hier trat Baron Vay von seiner Forderung vom 7. März zurück.

Komplizierter gestaltete sich die Diskussion am 14. März über die Organisation des siebenbürgischen Landtags, in der der siebenbürgische Hofkanzler vorschlug, auf die Zustände zurückzugehen, die im Lande vor 1848 geherrscht hatten. Die Absicht Baron Keménys war, dafür Sorge zu tragen, daß — wie sein Bericht sagte — „mehr die Intelligenz und der Besitz als die rohe Volksmasse repräsentiert werden“. Dieses Ziel sollte durch Einführung eines „mäßigen“ Zensus von 8 fl. und 40 Kreuzern erreicht werden; dieser hätte nach der Berechnung des siebenbürgischen Hofkanzlers zur Folge, daß „von den Bewohnern von 156.726 || S. 27 PDF || früher untertänigen, nunmehr entlasteten Ansässigkeiten“ nur 5070 Personen wahlberechtigt würden, „eine Zahl, welche ich im Hinblick auf die numerische Bedeutendheit der emanzipierten Volksklasse nicht für übertrieben halten zu sollen glaube“. Solches Vorgehen vorausgesetzt, ließ sich Baron Kemény zu dem Satz hinreißen: „In ganz Europa gibt es kein konstitutionelles Land, dessen landtägliche Organisierung und Verfassung der Aufrechterhaltung der Rechte der Krone günstiger wären als die siebenbürgische.“ Aus irgendwelchen Gründen unterließ es der siebenbürgische Hofkanzler, zu definieren, was er unter „konstitutionelles Land“ verstand.

Szécsen erklärte sich mit den Ausführungen Keménys einverstanden, der Staatsminister, nachdrücklich unterstützt von Lasser und Plener, griff sie heftig an; sie beriefen sich auf die kaiserlichen Erlässe und fanden, daß der siebenbürgische Hofkanzler die deutliche Erklärung des Monarchen, der romanischen Bevölkerung eine ihrer Zahl und Bedeutung entsprechende Vertretung zu geben, nicht beachte. Dieses Mal trat Graf Rechberg nicht an die Seite der ungarischen, sondern an die der deutschen Minister. Der Handelsminister und der Präsident des Staatsrates hatten zwei gesonderte Meinungen, die sich aber von dem Antrag Keménys deutlich unterschieden. Das Protokoll vermerkt: „Bei diesen prinzipiellen Differenzen behielten sich Se. k. k. Hoheit vor, die Ah. Entscheidung Sr. Majestät einzuholen.“ So trat am 21. März unter dem Vorsitz des Kaisers ein engeres Komitee der Konferenz zusammen; ihm gehörten der Polizei-, der Staatsminister, Szécsen und der siebenbürgische Hofkanzler an. Für die Ausarbeitung der Verfassung dieses — wie sich Graf Szécsen laut Protokoll ausdrückte — „höchst eigentümlich konstituierten und sich in dieser uralten Eigentümlichkeit gefallenden Landes … müsse man sich hüten, von Regierung wegen die sozialen Verhältnisse umstürzen und aus übelverstandener Humanität die große Masse der Ungebildeten über die Gebildeteren [sic!] stellen zu wollen“. Die Anträge hielten sich zum Glück von diesem Fehler frei und entsprachen „allen Forderungen der Billigkeit gegenüber den Romanen“. Nach einer Diskussion zwischen dem Staatsminister und dem siebenbürgischen Hofkanzler, die ihre Argumente aus der Konferenz vom 14. März wiederholten, erklärte der Kaiser, daß er demnächst die Organisierungsanträge Baron Keménys erledigen werde.

Lebhafter noch gestaltete sich die Konferenz am 27. März, als die Reorganisation der Gerichtsbehörden von Siebenbürgen auf der Tagesordnung stand und Lasser die durch die Rückkehr zum alten System zu erwartende Preisgabe „der sächsischen und noch mehr der walachischen Nation aufs tiefste“ beklagte; Siebenbürgen werde durch einen solchen Entschluß den gleichen anarchischen Zuständen, wie sie derzeit in Ungarn herrschten, entgegengeführt. Der Finanzminister und der Präsident des Staatsrates schlossen sich vollständig den Ausführungen Lassers an. Aber wiederum überwogen die Anträge des Präsidenten der siebenbürgischen Hofkanzlei, der noch zu Protokoll gab, daß „die romanische Nation bei Besetzung der Richterstellen ihre Berücksichtigung finden werde“.

Wieder wurde die siebenbürgische Frage am 26. April zum Anlaß einer über den staatsrechtlichen Bereich hinausgehenden und in die soziale Struktur reichenden Diskussion zwischen den Teilnehmern am Ministerrat. Die Vorschläge der || S. 28 PDF || Ungarn schoben das Zusammentreten des siebenbürgischen Landtags in eine unbestimmte Ferne, während der Staatsminister und seine Anhänger im Namen des Heils der Monarchie, worunter vor allem die drängenden Finanzfragen zu verstehen waren, für Maßnahmen eintraten, die die schnellste Einberufung des Landtags ermöglichen sollten. Das Reich gelte ihm mehr als Ungarn und Siebenbürgen, bekannte Herr v. Plener. Wiederum ergaben sich Mahnungen in der Konferenz, daß die Angelegenheit der Rumänen Siebenbürgens mehr noch eine soziale als eine politische Frage sei. Auch dieses Mal gelangte die Ministerkonferenz zu keiner Entscheidung, und Erzherzog Rainer behielt sich wiederum vor, die kaiserliche Entscheidung einzuholen. Die Aussichten für die Einberufung des Landtags von Siebenbürgen in der nächsten Zeit blieben also trübe.

Die Einberufung des ungarischen Landtags - Retrodigitalisat (PDF)

Aber die Hauptfrage für das Gelingen der Februarverfassung betraf die Aussichten ihrer Durchführung in Ungarn und damit vor allem die Einberufung des ungarischen Landtags. Die Diskussionen hierüber begannen am 11. Februar. Eine spezielle Bedeutung kam der engeren Konferenz vom 18. und 19. März35 zu, die über 13 Fragen, welche der Kaiser in diesem Zusammenhang vorgelegt hatte, beriet, um den von der Regierung unter „den verschiedenen Eventualitäten einzuhaltenden Gang schon vorläufig reiflich zu erwägen und festzustellen …, da die folgenschwere Wichtigkeit der zu fassenden Beschlüsse es nötig macht, dieselben bis zu ihren letzten Konsequenzen zu verfolgen und zu besprechen“.

Der ungarische Hofkanzler, der als erster sprach, empfahl dringend, nur moralische Mittel, nicht materielle Gewalt anzuwenden. „Der Weg des Traktierens ist langsam“, versicherte er, „aber auf demselben hat man in Ungarn unter den früheren Regierungen vieles durchgesetzt, was anfangs unerreichbar schien.“ Diese Ansicht noch verstärkend, nannte Herr v. Szőgyény, der zweite ungarische Hofkanzler, das Festhalten an dem Diplom vom 20. Oktober, das aus dem Geiste der Pragmatischen Sanktion hervorgegangen sei, die Bedingung des Fortbestandes der Monarchie. Als auch er für die Politik des Paktierens plädierte — „gelingt es nicht bei dem nächsten, so wird es so wie die Pragmatische Sanktion bei einem der folgenden Landtage zu erreichen sein“ —, entgegnete Graf Rechberg scharf, daß Ungarn sich den kaiserlichen Bedingungen zu fügen habe; auch Schmerling sprach sich für eine schärfere Gangart gegenüber dem ungarischen Landtag aus. Der siebente Fragepunkt konnte noch größere Wichtigkeit für sich beanspruchen. Er betraf die selbständige Stellung der ungarischen Minister, und Baron Vay vertrat die Ansicht, daß in Angelegenheiten, in denen eine genauere Kenntnis der ungarischen Verhältnisse maßgebend sei, die Entscheidung nach der Majorität „zum Nachteil der höchsten Interessen“ ausfallen würde. Schmerling entgegnete, || S. 29 PDF || daß die Feststellung der Grundsätze gemeinsam erfolgen müsse, in den Details sei Freiheit zu gewähren. Der Kaiser betonte, daß die Gemeinsamkeit der Beratungen in dem Ministerrat nicht auf die im Diplom als gemeinsam genannten Angelegenheiten beschränkt werden dürfe; am 19. März wiederholte Herr v. Szőgyény: „Die Grenze der Nachgiebigkeit ist durch das Diplom gegeben.“

Zwei Ministerkonferenzen waren der Textierung der Ansprache gewidmet, mit der der Judex Curiae, Graf Apponyi, den ungarischen Landtag eröffnen sollte. Als in der ersten, am 30. März abgehaltenen Konferenz der Finanzminister beanstandete, daß er in dem vorgelesenen Entwurf eine Berufung auf das Patent vom 26. Februar vermisse, erwiderte Graf Szécsen, „daß bei der gegenwärtigen Stimmung in Ungarn die Klugheit gebiete …, bei Berührung dieses Punktes sehr vorsichtig zu sein. Übrigens sei ja die Beschickung des Reichsrates nur ein Korollar des 26. Februar“. In den endgültigen Text der Rede wurde keine Erwähnung des Februarpatents aufgenommen36. Am 4. April wurde der nun fertiggestellte Text des Entwurfs der Eröffnungsrede verlesen; nach dem Vorschlag des Außenministers fand die Majorität der Minister „den Ton der Rede zu mild, fast demütig und von dem streng festzuhaltenden Standpunkte des 20. Oktober abweichend“. Erwähnung verdient, daß auf Szécsens Einwand, man müsse wohl die Beurteilung des Stiles des Entwurfes dem Monarchen überlassen, der meist schweigsame Kriegsminister erklärte, das ganze Ministerium sei für ein derartig wichtiges Aktenstück verantwortlich, mit welchem der Judex Curiae im Namen des Herrschers vor ganz Europa spreche. Der Staatsminister vermißte die genaue Abstimmung auf die kaiserlichen Manifeste vom 20. Oktober und 26. Februar; die ungarischen Minister versprachen entsprechende Korrekturen.

Die böhmische Krönung - Retrodigitalisat (PDF)

Ein Beratungsgegenstand, der aber zunächst nicht wiederaufgenommen wurde, fand die Mitglieder des Ministerrates in Einigkeit: es war die Frage der böhmischen Krönung. Auch solche Minister wie Lasser, die einräumten, daß sie bis zum 20. Oktober gegen jede Spezialkrönung gestimmt hätten, erklärten nun, seitdem die Krönung in Ungarn versprochen worden war, ihre Ansicht geändert zu haben. „Nun muß der ungrischen Krönung entweder eine Kaiserkrönung oder die Krönung bzw. herkömmliche Huldigung in den übrigen Ländern, wo sie sonst stattfand, gegenübergestellt werden. Es spricht dafür auch noch die politische Rücksicht, daß dadurch das dynastische Gefühl in den Völkern belebt und gestärkt wird37.“ Es war bezeichnend für die Einstellung der ungarischen Altkonservativen, daß auch Graf Szécsen dieser Ansicht beitrat; so wenig war bei ihnen eine dualistische Reichsauffassung ausgeprägt; Baron Vay freilich war bei dieser Sitzung nicht anwesend. Einen echten Einwand gegen die konsequente Durchführung der Idee Lassers machte nur der Finanzminister geltend, indem er erklärte, || S. 30 PDF || es widerstreite seinem dynastischen Gefühl, „daß der Kaiser in die einzelnen Länder herumreise, um sich krönen oder huldigen zu lassen“. Nur über die Modalitäten, wie der Antrag auf Krönung oder Huldigung seitens der Landtage erfolgen sollte, gingen die Ansichten in der Konferenz auseinander. Aber Erzherzog Rainer konnte auch bezüglich dieser Frage „konkludieren …, daß die Mehrheit der Konferenz sich für die bezügliche Ermächtigung des Statthalters, die Ah. Geneigtheit der Annahme [eines diesbezüglichen Antrags] auszusprechen, erklärt habe“.

Zwei Fragen der auswärtigen Politik vor der Ministerkonferenz - Retrodigitalisat (PDF)

a) Das preußische Bündnisangebot

Zwei Ministerräte in diesem Band, der am 6. April (Nr. 44) und der am 14. April (Nr. 49), beschäftigten sich ausschließlich mit Fragen der auswärtigen Politik. Beide fanden unter dem Vorsitz des Monarchen statt. Zur Beurteilung der Lage, in der die Versuche, das Februarpatent ins Leben zu rufen, gemacht wurden, ist es wichtig, die Blitzlichter, die die beiden Protokolle auf die gleichzeitigen Probleme der auswärtigen Politik der Monarchie werfen, ins Auge zu fassen. Im Gegensatz zu der häufig vertretenen Ansicht, daß die Ministerkonferenzen in der absolutistischen Periode nach dem Tod des Fürsten Schwarzenberg auf die auswärtige Politik der Habsburgermonarchie keinerlei Einfluß ausgeübt haben, zeigen deren Protokolle vom April 185938, welch vollgerütteltes Maß an Mitverantwortung auf diese Ratgeber des Kaisers fällt und sie schwer belastet. Nach der heute unverständlichen optimistischen Einschätzung der Lage Österreichs durch den damaligen Außenminister fällt die geradezu schneidige Unterstützung auf, die er, Graf Buol, beim Finanzminister, Freiherr v. Bruck, fand und die in vollem Gegensatz zu der Haltung steht, die dessen Nachfolger, Herr v. Plener, bei jenem kritischen Anlaß im Jahre 1861 bekundete. Auch die Haltung des Innenministers, Freiherr v. Bach, kann wahrlich nicht als pazifistisch bezeichnet werden. Zögernde oder wenigstens vorsichtige Stimmen waren lediglich von den beiden militärischen Teilnehmern, dem Generaladjutanten, Graf Grünne, und dem FZM. Freiherr v. Hess, zu vernehmen, wobei Grünne in der letzten Sitzung, als die Würfel tatsächlich bereits geworfen waren, zu einem ebenso massiven wie berechtigten Angriff gegen den oberflächlichen Optimismus vorging, dem sich Buol in den vorangegangenen Konferenzen hingegeben hatte. Ebensowenig ist die Ansicht haltbar, daß der damals 29jährige Monarch sich damit begnügt hätte, die Ansichten und Entschlüsse seiner Ratgeber lediglich zu genehmigen: In den drei Konferenzen vom 6., 19. und 27. April 1859 bremste Kaiser Franz Joseph mit keinem Worte den kriegerischen Eifer seiner || S. 31 PDF || Zivilminister sowie er auch keine Äußerung des Tadels fallen ließ, als sich die freundlichen Annahmen Graf Buols als Luftblasen erwiesen. Das Hauptproblem dieser Konferenzteilnehmer scheint gewesen zu sein — um die Worte des Außenministers vom 6. April zu gebrauchen: „Der Angelpunkt der Frage liegt offenbar jetzt darin: Kann Österreich ohne Vorwurf der Schwäche in seiner Nachgiebigkeit und Geduld noch weiter zurückgehen?“, und wie das Protokoll der gleichen Sitzung vermerkt: „Se. Majestät der Kaiser geruhten, die erheblichen politischen Vorteile hervorzuheben, welcher jene sich erfreuen, die einen energischen Schritt zuerst machen. Se. Majestät glauben, die Kooperation von Deutschland und Preußen für Österreich in Aussicht stellen … zu können.“ Diese Diskussionen und die zwei Monate darauf folgenden Katastrophen von Magenta und Solferino konnten nicht völlig vergessen sein, wenn nun zwei Jahre danach wieder Probleme der auswärtigen Politik vor den Ministerrat gebracht wurden, Probleme, die wieder jene Fragen betrafen, die als das Kernproblem der auswärtigen Politik der Monarchie zu bezeichnen sind und die der Kaiser im Jahre 1859 so irrig als „die Kooperation von Deutschland und Preußen für Österreich“ in Aussicht stellen zu können vermeint hatte. Man wird unschwer einsehen, daß der Monarch vor dem Beginn der Diskussion über diese Schicksalsfrage der Monarchie die Verschwiegenheitspflicht der Mitglieder des Ministerrates dringend und drängend in Erinnerung brachte: Sie sei in der letzten Zeit wieder vielfach gebrochen worden, und sogar genaue Abstimmungsziffern seien in den Zeitungen — man sprach damals in solchem Zusammenhang gern von „Gazetten“ — zu lesen gewesen. Wem solches Verschulden zuzuschreiben war, ist nicht ersichtlich; man erinnert sich, daß Schmerling der intimen Beziehungen des Finanzministers zu dem Herausgeber der Presse, Zang, Erwähnung getan hat, aber zu dem Charakterbild Pleners würde ein solches leichtfertiges Vorgehen wenig passen. Immerhin möchte ein derartiger Bruch der Verschwiegenheit, den Franz Joseph zeit seines Lebens als unerträglich empfand, ein mitbestimmendes Motiv gewesen sein, die Ministerkonferenz mit Fragen der auswärtigen Politik selten zu befassen.

Das österreichisch-preußische Übereinkommen von Teplitz im Juni 1860 konnte als ein Erfolg Österreichs angesehen werden, der nicht zuletzt ein Erfolg Rechbergs war und die Stellung des Außenministers beim Kaiser und im Ministerium gestärkt haben müßte. Der weitere Ausbau war Militärbesprechungen überwiesen worden, die im Februar 1861 völlig ins Stocken geraten waren39. Wie der Monarch dem unter seinem Vorsitz abgehaltenen Ministerrat am 6. April 1861 mitteilte, hatten diese Besprechungen ergeben, „daß ohne vorläufige Feststellung einer genauen politischen Basis das vorgesteckte Ziel nicht erreicht werden könne“. Zu diesem Zweck hatte Preußen kurz zuvor den Entwurf eines Defensivbündnisses übersandt, das den Gegenstand der Beratungen der Minister bilden sollte40. Bereits der erste Bericht des österreichischen Gesandten in Berlin hatte hervorgehoben: „Schon bei der ersten Lesung erscheint mir derselbe [der Entwurf Preußens] vollkommen unannehmbar, indem er im Hauptgedankengang unserem || S. 32 PDF || Standpunkt geradezu widerspricht … sowohl die militärische als die politische Doppelleitung — der Dualismus im vollen Sinne des Wortes — ist in dem Entwurfe ausgeprägt41.“ Nun unterzog der Außenminister den preußischen Entwurf einer eingehenden Analyse, mit dem Ergebnis, daß diese Vorschläge weder dem Interesse noch der Würde Österreichs entsprächen, daß aber an den Vereinbarungen von Teplitz festzuhalten wäre. Der Kriegsminister fand den von Rechberg verlesenen Entwurf einer Antwortdepesche nicht genügend scharf, die übrigen Mitglieder des Ministerrates aber stimmten für dessen unveränderte Annahme.

b) Die Frage der Kriegsgefahr im Frühjahr 1861

Acht Tage später, am 14. April, wurde ebenfalls unter dem Vorsitz des Kaisers ein engerer Ministerrat abgehalten, an dem nur Erzherzog Rainer, Rechberg, Degenfeld und Plener teilnahmen. In Rechberg hatte sich immer stärker die Überzeugung gefestigt, daß Österreich schließlich die Kriege im Norden und im Süden werde führen müssen; Aufgabe der Außenpolitik sei es, diese Entscheidung so lange hinauszuschieben, bis die Reorganisation im Inneren durchgeführt sei. Der Ministerrat vom 6. April war mit einer Phase des preußischen, des nordischen, Problems befaßt worden; am 14. April stand das südliche, das sardinisch-italienische, auf der Tagesordnung: Die Festung Gaeta hatte am 13. Februar d. J. kapituliert und damit den Untergang des Königreichs Neapel, die Vernichtung der Bourbonenherrschaft in Italien besiegelt42. Schon als sich Franz II. Anfang September nach Gaeta einschiffte, hatte er zum österreichischen Gesandten, der ihm Mut zuzusprechen versuchte, gesagt: «Non, non; je ne sais que trop bien que tout à cette heure est fini43.» Die Frage, die sich dem Ballhausplatz stellte, war weniger, ob dieses Schicksal als endgültig anerkannt würde, sondern ob damit der Prozeß der politischen Einigung der Apenninenhalbinsel wenigstens vorläufig zu einem Abschluß gelangt war oder ob der Eroberung des südlichen Königreiches nunmehr der Angriff auf die nordöstliche Provinz, auf Venetien, folgen sollte. „Italien frei von den Alpen bis zum Meer“ war der Schlachtruf, mit dem die französischen Divisionen im Jahre 1859 ins Feld gezogen waren. Würde die Allianz vom Jahre 1859 im Frühjahr 1861 Wiederaufleben? Im Ministerrat vom 14. April referierte Graf Degenfeld über die Bedenken, welche der in Venetien kommandierende FZM. Benedek über die Mittel geäußert hatte, welche ihm zur Abwehr eines Angriffs durch die vereinigten Streitkräfte von Sardinien und Frankreich zur Verfügung stünden. In seinem Bericht erklärte sich Benedek für verpflichtet, die Verantwortung für die Folgen des Angriffs von seiten dieser numerisch weit überlegenen Streitmacht abzulehnen. Wer die Quellenlage und die psychologische Verfassung der Protagonisten knapp vier Wochen nach der Proklamation des Königreichs Italien kennt, wird nicht in Abrede stellen, daß ein solcher || S. 33 PDF || Angriff im Bereich der Möglichkeit lag. Graf Degenfeld stimmte, nachdem er Informationen des Evidenzbüros eingeholt hatte, der Beurteilung der Lage durch Benedek zu; die Gefahr lag seiner Ansicht nach darin, daß Frankreich imstande war, „binnen 20 Tagen seine Truppen bis an den Mincio vorzuschieben“. Auch er könne in einem solchen Fall die Verantwortung nicht übernehmen. „Die Hauptfrage sei dermal, ob binnen drei Monaten ein Krieg bevorsteht“, eine Frage, zu deren Beantwortung die genaue Kenntnis der außenpolitischen Lage erforderlich sei. Graf Rechberg erwiderte, daß die Absichten Napoleons III. völlig undurchsichtig seien. Er persönlich wäre der Ansicht, daß die Wahrscheinlichkeit eines Krieges mit Frankreich seit der Zusammenkunft der drei Souveräne von Österreich, Preußen, Rußland in Warschau, des in den Worten des russischen Kanzlers gerühmten „coup d’olivier dans l’eau“, im Herbst vorangegangenen Jahres nicht größer, ja selbst vielleicht etwas geringer geworden sei. Sardinien allein werde wohl keinen Angriff auf Österreich unternehmen. Hierauf ersuchte der Finanzminister, in Berücksichtigung der finanziellen Lage der Monarchie derzeit keine „auffallenden Kriegsvorbereitungen“ zu machen und „die nötigen Verstärkungen in Italien … aus den deutsch-slawischen Provinzen“ vorzunehmen.

Aufgrund dieser Auskünfte beschloß der Kaiser, an Benedek im beruhigenden Sinne schreiben zu lassen, jedoch ohne ihm Verstärkungen zu schicken. „In bezug auf die Entblößung der deutsch-slawischen Kronländer von Truppen sei die äußerste Grenze beinahe schon erreicht.“ Es sollten immerhin noch fünf Jahre vergehen, ehe der gefürchtete Doppelangriff auf die Monarchie erfolgte: Dieser Zeitraum war ihr zur Lösung ihrer innerpolitischen Probleme eingeräumt.

Uns aber gewährt der Kampf um die Februarverfassung als Lohn für einige Mühe Einblick in die geistige Einstellung — man ist beinahe versucht, mit Lytton Strachey zu sagen: „the state of mind“ — nicht nur von Männern wie Szécsen und Vay, sondern auch von Rechberg sowie von Schmerling, Ignaz v. Plener und Lasser und nicht zuletzt vom damals 30jährigen Monarchen von Österreich, wozu auch die überraschend leidenschaftliche Ablehnung der Vorgänge in Ungarn durch altösterreichische Mitglieder dieses Ministeriums gehören mag.