Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)

Von Waltraut Heindl

Veränderungen in der Ministerkonferenz - Retrodigitalisat (PDF)

Das Jahr 1855 war für die Ministerkonferenz ein Jahr der Veränderungen. Zu Beginn des Jahres wurde das Finanzressort neu besetzt. Finanzminister Andreas Freiherr v. Baumgartner, der seinen Rücktritt schon früher erfolglos dem Kaiser angeboten hatte, verlangte nun energisch seine Entlassung und trat am 14. Jänner 1855 endgültig zurück1. Er war verzweifelt über sein Scheitern, eine Besserung der Finanzlage des Staates herbeizuführen, und verbittert über die Rolle, die man ihm beim Eisenbahngeschäft zugespielt hatte2. Das Vertrauen des Kaisers in ihn war erloschen3. Karl Freiherr v. Bruck trat am 10. März 1855 die Nachfolge im Finanzressort an. Bruck genoß große Bewunderung – etwa beim Kaiser und den Militärs Hess und Coronini –, stieß aber auch auf Ablehnung von seiten des Reichsratspräsidenten Carl Friedrich Freiherrn v. Kübeck oder des Ministers des Inneren Alexander Freiherr v. Bach. Sein Ruf gründete sich auf die ihm nachgesagten finanzpolitischen Talente. Seine grandiosen Mitteleuropaprojekte, in deren Rahmen er Österreich die entscheidende Rolle zudachte4, besaßen in manchen Kreisen große || S. 10 PDF || Attraktion – kein Wunder, daß er sich der Wertschätzung des jungen Kaisers erfreute! Kübecks Einfluß war im Abnehmen begriffen5. Er war alt und krank und starb am 11. September 1855. Ein profilierter Gegner der Ministerkonferenz6 – und dies wog umso mehr, als er zeitweise das unumschränkte Vertrauen des jungen Monarchen besessen hatte – fiel somit weg. Damit war aber auch ein wichtiger Faktor gegen die Berufung Brucks ausgeschaltet. Bach, ein anderer einflußreicher Gegner Brucks, hatte sich durch den Eisenbahnverkauf und die Praktiken bei der Emission der Nationalanleihe7 kompromittiert und konnte die Berufung Brucks nicht mehr verhindern. Der Einfluß Kübecks und Bachs reichte aber immerhin noch so weit, eine Trennung des Finanz- und Handelsressorts, die unter der Ägide Baumgartners personell unter seiner Leitung vereinigt gewesen waren, zu bewerkstelligen8. Das Handelsministerium wurde am 7. Februar 1855 mit Georg Graf Toggenburg, der bis dahin Statthalter Venetiens gewesen war, besetzt9. Damit bestand die Ministerkonferenz wieder aus sechs Ministern. Zwischen 1848 und 1852 hatte es zeitweise bis zu zehn Ressorts gegeben, 1854 dagegen war die Ministerkonferenz auf fünf Mitglieder reduziert10. Toggenburg sollte sich jedoch, wie wir aus den vorliegenden Protokollen ersehen, in keiner Weise als Widerpart Brucks erweisen, sondern er fügte sich den handelspolitischen Vorstellungen des Finanzministers11. Bruck zeigte sich sowohl in der Öffentlichkeit wie in der Ministerkonferenz als ein dynamischer und durchschlagskräftiger Mann. Er hatte fast zu jedem Thema eine Meinung und äußerte sie dezidiert. Selbstverständlich beherrschte er den Komplex der Wirtschafts-, Finanz- und auch, wie gesagt, der Handelspolitik, verstand es gleichzeitig aber auch, über sein Ministerium hinauszugehen und sich, indem er die Interessen der Wirtschafts- und Finanzpolitik überall wahrnahm, Einflußnahme in andere Ressorts zu sichern.

Brucks größte Stärke aber lag – so meint Harm-Hinrich Brandt, der der Finanzpolitik Österreichs in der Periode des Neoabsolutismus die bis jetzt umfangreichste Darstellung widmete12 – in der „Technik der virtuosen Immediatbeeinflussung des jungen Kaisers“, wie sie von den Militärs entwickelt und teilweise auch von Kübeck || S. 11 PDF || und Bach ausgeübt wurde. Harm-Hinrich Brandt urteilt: „Der unmittelbare Zugang zu Franz Joseph war seine Stärke, hier vor allem konnte er die von seiner Person ausgehende Überzeugungskraft voll entfalten.“13 Die Desintegration der Regierungstätigkeit jedoch, so meint Brandt, habe auf diese Weise entscheidende Fortschritte gemacht14.

Mit dem Amtsantritt Brucks kommen auch in der Ministerkonferenz die wirtschafts- und finanzpolitischen Themen voll zum Tragen, ja sie beherrschen im eigentlichen die Ministerkonferenzen und die Ministerkonferenzprotokolle. Zwei Schwerpunkte springen, gehen wir von der Häufigkeit und der Bedeutung der in diesem Band abgehandelten Gegenstände aus, ins Auge: das sind erstens, wie erwähnt, die Fragen, die Wirtschaft, Handel und Finanz betreffen, und zweitens jene der Religion, vor allem der katholischen Religion, die eigentlich alle dem Abschluß des Konkordats vom 18. August 1855 entsprangen.

Vergleichen wir die Themenschwerpunkte des vorliegenden Bandes mit jenen der bereits früher aus dem Ministerium Buol-Schauenstein publizierten, so ergibt sich jeweils ein erstaunlich anderes Bild. Im ersten Band (14. April 185213. März 1853)15 war die organisatorische Umwandlung des ehemals konstitutionellen Ministerrates in eine Ministerkonferenz ein wichtiges Thema und signifikant für die verfassungsrechtliche Stellung der neuen Ministerkonferenz im Staatsgefüge sowie für die allgemeine Verfassungsstruktur des neoabsolutistischen Österreich. Dieses Thema, dann die Durchführung der Grundentlastung und das Problem der „Bestrafung“ der ungarischen Revolutionäre von 1848 waren in dieser Zeit von großer Bedeutung, also Probleme, die wir als unmittelbare Folgen des Revolutionsjahres qualifizieren können. Im zweiten Band (15. März 18539. Oktober 1853) rückten bereits andere Fragen, die der sogenannten „Neugestaltung Österreichs“16, in den Vordergrund und überflügelten an Bedeutung jene der Folgeerscheinungen des Revolutionsjahres17. Vor allem die Verwaltungsreform und die Schaffung eines modernen Verwaltungsapparates nahmen in diesen Jahren die Zeit der Minister in Anspruch und fanden in den Ministerkonferenzprotokollen einen entsprechenden Niederschlag. Im dritten Band (11. Oktober 185319. Dezember 1854)18 standen weiterhin die Versuche, das bürokratische System auszubauen, und – als zweiter großer Schwerpunkt – die Reform der Studien und der Universitätsorganisation im Mittelpunkt. Neben der Grundentlastung bildete die Universitätsreform die zweite eigentliche Errungenschaft der 48er Revolution. Daneben beschäftigte ein ganz anderes Hauptthema, das sich ab 1853 wie ein roter Faden durch die Protokolle zieht, die Ministerkonferenz: die Bewältigung einer akuten Krisensituation des || S. 12 PDF || Staates, die bedingt war durch den Krimkrieg, Mißernten, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsprobleme. Die Krise blieb auch in den Jahren 1855 und 1856 akut. Die beiden Schwerpunktthemen, die den vorliegenden Band kennzeichnen, scheinen zugleich signifikant für jene Grundtendenzen zu sein, die diesen kurzen historischen Zeitraum beherrschten. Einerseits haben wir es mit einer dynamischen Phase, zumindest mit dem energisch anmutenden Versuch zu tun, die vorrangigen Wirt­schaftsprobleme zu lösen und den institutionellen Rahmen der neuen liberalen Wirtschaftsgesell­schaft anzupassen, d. h. wirtschaftliche Modernisierung durchzuführen. Andererseits war, politisch gesehen, durch das „Bündnis von Thron und Altar“, das durch das Konkordat zwischen Österreich und dem päpstlichen Stuhl zustande kam, und die Konzessionen, die Österreich der katholischen Kirche machte, das absolutistische System mehr denn je zementiert. Die politisch reaktionären Tendenzen, die seit dem Silvesterpatent verfolgt wurden19, hatten in den Augen der Zeitgenossen einen Höhepunkt erreicht. Kirche und Staat halten sich vereint, sowohl gesellschaftlich wie politisch gerade jene liberalen Tendenzen zu unterbinden, die von der ökonomischen Perspektive her Österreichs Zukunft „neu gestalten“ sollten20. Daß diese Spannung im Staatsgefüge schließlich zum Scheitern des neoabsolutistischen Systems führen mußte, war den Mitgliedern der Ministerkonferenz damals kaum deutlich bewußt. Zumindest äußerte keiner der Minister in den offiziellen Sitzungen solche Gedanken21. Auch dem neuen Finanzminister Bruck, auf den manche Hoffnungen gesetzt wurden und der den Kurs des Wirtschaftsliberalismus forcierte, scheinen die Konsequenzen nicht in vollem Umfang bewußt gewesen zu sein.

Selbstverständlich kommt neben den beiden genannten Schwerpunkten in den in diesem Band protokollierten Ministerkonferenzen wieder die gesamte bunte Palette der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit zum Vorschein. Einen geradezu dominierenden Raum nehmen – fast liegt das Wörtchen „natürlich“ nahe – die Themen Bürokratie und Verwaltung ein. Die große Verwaltungsreform war jedoch abgeschlossen22. Die bedeutendsten Verwaltungsfragen, die in den Ministerkonferenzen des vorliegenden Bandes zur Sprache kommen, betrafen das lombardisch-venezianische Königreich. Es handelte sich um die Erneuerung der Zentralkongregationen23 und vor allem um die Reform der Zivilabteilung des Generalgouvernements24, die geschaffen worden war, um den greisen Feldmarschall Radetzky zu || S. 13 PDF || entmachten und die diffizilen Verhältnisse dieser Provinz neu zu ordnen. Außer diesen wichtigen Themen25 finden wir in der stattlichen Reihe der Tagesordnungspunkte, die Bürokratie und Verwaltung betrafen, viele Diskussionen über Pensionen, Besoldungen, Regresse, Zulagen, Gnadengaben, Erziehungsbeiträge, Uniformen und Auszeichnungen für Beamte – also Privilegien für diese von den anderen Bevölkerungsschichten abgehobene Berufsgruppe. Ihr Ansehen war für das neoabsolutistische Regime so wichtig26, daß man die Arreststrafe als Disziplinarmittel abschaffen wollte27. Doch gehörten diese bürokratischen Fragen zur Alltagsroutine der Regierung und lösten (außer im Falle der Verhängung der Arreststrafe für Beamte) kaum große Differenzen aus.

Auch die Fragen der Gesetzgebung stehen in dem hier behandelten Zeitraum in einem eher bescheidenen Ausmaß zur Debatte28. In vieler Hinsicht, auch in bezug auf gesellschaftliche Themenstellungen, ist das „Gesetz über die Stellvertretung für den Militärdienst“29 wichtig, dessen Ausarbeitung den Militärs vorbehalten blieb. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch der Themenkreis „Grundentlastung und Grundablöse“, ehemals Frage erster, nun zweiter Ordnung30, da sie im Prinzip bereits früher gelöst worden war. Ein in den Ministerkonferenzen der vergangenen Jahre breit abgehandeltes Thema des Justizwesens, das viel Zeit für sich beansprucht hatte, verliert nun offensichtlich an Bedeutung: die Begnadigung (bzw. Nichtbegnadigung) der Revolutionäre des Jahres 1848. Die Spuren des Jahres 1848 werden damit langsam getilgt. Schwerwiegende Probleme, wie die Güterkonfiskationen in Ungarn31 und in den italienischen Provinzen32, beschäftigten wohl noch die Ministerkonferenz, große Namen der Revolution wie Anton Füster, Joseph Goldmark und Ernst v. Violand tauchen noch auf, und das Verfahren in contumaciam gegen sie steht zur Debatte33, aber das Problem 1848 im allgemeinen beschäftigt zusehends weniger die Ministerkonferenz.

Auch große Probleme des Unterrichtswesens standen nun, da sowohl die Reform der Universitätsstudien als auch der Universitätsorganisation durchgeführt wurde, nicht mehr zur Debatte. Sieht man von der Erstellung des neuen juridischen Studienplans34 und den üblichen Fragen der Besetzung von Lehrkanzlen etc. ab, || S. 14 PDF || bereitete das Unterrichtswesen Minister Thun-Hohenstein kaum Probleme. Er konnte sich voll und ganz den Konkordatsfragen zuwenden.

Krieg, Wirtschaftskrisen und die Versuche der Krisenbewältigung (Sanierung der Währung und Gründung der Credit-Anstalt) - Retrodigitalisat (PDF)

Bekanntlich kamen in der Ministerkonferenz Fragen der „großen Außenpolitik“ – ein Reservat des Kaisers und daher anderen, nicht institutionalisierten, sondern vom Kaiser willkürlich zusammengestellten Gremien vorbehalten35 – kaum zur Sprache36. So ist es nur signifikant, daß von den bedeutenden Entscheidungen, die Österreich im Laufe des Krimkriegs zu fällen hatte, keine von der Ministerkonferenz beraten wurde. In dem Zeitraum 1855/56, in dem der Krimkrieg in eine entscheidende Phase trat, wurde der Ministerkonferenz nur eine Frage auf „Ah. Befehl“ zur Kenntnis gebracht: Das waren die russischen Friedensvorschläge als Antwort auf die von Österreich überreichten Friedensvorschläge, die allerdings in der für Rußland recht peinlichen Form eines Ultimatums gestellt worden waren37. Allerdings werden in den vorliegenden Protokollen der Ministerkonferenz Begleitund Folgeerscheinungen jenes Krieges sehr deutlich. Sie waren es schließlich, die zumindest teilweise die wirtschaftliche Krise des Staates vorantrieben und das österreichische Budget schwer belasteten.

Durch den Status der Neutralität, den Österreich im Krimkrieg wahrte, waren bereits 1854 Verbote erlassen worden, Waffen, Blei, Schwefel, Salpeter, Schmiedeeisen, Stahl und Sensen an kriegführende Staaten zu liefern38. 1855 stellte sich ein anderes Problem: Der Vorrat an Pferden in der Monarchie wurde gefährlich knapp, da Sardinien und England Pferde ankauften39; Preußen hatte bereits ein Ausfuhrverbot für Pferde erlassen40, und auch in Österreich wurden solche Maßregeln erwogen. Offensichtlich waren aber die Rücksichten auf England stärker, denn man verzichtete auf das Pferdeausfuhrverbot41. Ein anderes Ausfuhrverbot wurde allerdings erlassen: Es betraf die Lieferung von Salpeter, Schwefel und Blei, also Waffen, || S. 15 PDF || in den kriegführenden Staat Rußland, die bis November 1855 nicht eingestellt worden war und von den Westmächten „mißliebig“ betrachtet wurde42.

Die Bevölkerung in Galizien und Siebenbürgen wurde durch den Krieg von Versorgungsproblemen, besonders was Fleisch anbelangt, betroffen. Weil sich die Ernährung der kaiserlichen Truppen in diesen Gebieten und in den Donaufürstentümern bereits problematisch gestaltete, erwog die Militärverwaltung die Ausfuhr von Schlachtvieh, was aber von der Ministerkonferenz abgelehnt wurde43. Kurz darauf änderten die Minister ihre Meinung und nahmen zur Kenntnis, daß die Zustände in Galizien so katastrophal waren, daß sie bereit waren zuzustimmen, die dort mobilisierte Armee auf den Friedensfuß zu setzen44 – kurz nachdem der Kaiser die Armee in Galizien inspiziert hatte45.

Die finanziellen Belastungen der mobilisierten Armee sollten sich im Laufe des Jahres 1855 überhaupt als unhaltbar erweisen. Der Trinkspruch Finanzminister Brucks anläßlich eines Festmahls zu Ehren einiger Generäle „Gott erhalte die österreichische Armee, ich, der Finanzminister, kann’s nicht mehr“, ist zwar nicht bewiesen46, doch falls er erfunden worden wäre, wäre er gut erfunden worden. Es war Bruck, der dem Kaiser „zum Behufe der Regelung des Staatshaushaltes die dringende Notwendigkeit dargestellt hatte, den vom Armeeoberkommando ursprünglich mit 151 Millionen Gulden veranschlagten Militäraufwand für 1856 auf den Betrag von 120 Millionen Gulden zu ermäßigen“47. Eine von Brucks Bedingungen, die er bei Übernahme des Portefeuilles gestellt hatte, war, die Armee zu reduzieren und den Kostenaufwand für das Heer auf 110 Millionen Gulden zu senken48. Bruck setzte sich gegen die Proteste der Militärs durch49. Schließlich war er auch berufen worden, weil man in ihn die größten Hoffnungen gesetzt hatte (die ebenso große Skepsis, die ihm von mancher Seite entgegengebracht wurde, wurde bereits erwähnt50), daß er fähig wäre, die wirtschaftlichen Verhältnisse Österreichs in Ordnung zu bringen und besonders das Budget zu sanieren. Bruck war, bevor er die Berufung zum Finanzminister erhielt, kaiserlicher Internuntius in Konstantinopel gewesen, hatte sich also an einem der Schalthebel der Außenpolitik befunden. || S. 16 PDF || Er stammte ursprünglich aus Nordwestdeutschland und war Protestant – Tatsachen, die vor allem im späteren Intrigenspiel um Bruck von nicht unerheblicher Bedeutung sein sollten.

Die Wirtschaftskrise war jedoch nicht nur eine Folge der teuren militärischen Operationen. Weitere Ursachen für die katastrophale Lage, in der sich der Staat nach einer kurzen Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs befand, wurden bereits in der Einleitung des zuletzt publizierten Bandes der Ministerratsprotokolle des Ministeriums Buol-Schauenstein beschrieben51 und brauchen an dieser Stelle nur kurz wiederholt werden. Zu den Ursachen, die den ökonomischen Niedergang beschleunigten, zählten: 1. Mißernten, die in der Lombardei, Venetien, Dalmatien, Krain, Istrien, Teilen der Militärgrenze, Tirol und in einigen Gebieten Galiziens stattgefunden hatten. In Lombardo-Venetien vernichteten außerdem eine Seidenraupenkrankheit und eine Traubenkrankheit auf Jahre hinaus die Ernte. 2. Eine schwere Strukturkrise der Hausindustrie (Spinnerei, Weberei, Handwerk) herrschte im Riesengebirge und brachte dort Arbeitslosigkeit und Hunger. 3. Der Ausbau der Infrastruktur des Staates, der in diesen Jahren kräftig vorangetrieben wurde – dazu zählen Maßnahmen wie die Durchführung der Grundentlastung, der Ausbau des neuen Verwaltungs­apparates, der Bau von Straßen und Eisenbahnen –, verschlangen, das stellte sich in diesen Jahren heraus, höhere Summen, als der Staat verkraften konnte. 4. Hinzu kam, daß sich in diesen Jahren eine „Eisenkrise“ anbahnte. Die Einnahmen aus der staatlichen Bergbauproduktion sanken – von 28.423 Gulden Konventionsmünze im Jahre 1852 auf 23.708 Gulden Konventionsmünze im Jahre 185852. Die Probleme wurden gerade in dieser Hinsicht durch die Kriegssituation verschärft. Die vorher beschriebenen Verbote von Waffenlieferungen schufen Absatzschwierigkeiten für das heimische Eisen – die wichtigste Ausfuhr in die russischen und osmanischen Staaten am Balkan und in der Levante war davon betroffen –, was die heimische Industrie schwer schädigte. In welch schwieriger Lage sich das österreichische Unternehmertum und der Handel befanden, zeigt auch die Krise des Triester Lloyd, der früher florierenden Schiffahrtsgesellschaft, die nun mit einer Million Gulden jährlich – auf zehn Jahre hinaus – subventioniert werden mußte, als „Entschädigung für den von derselben im öffentlichen Interesse zu leistenden Kommunikationsdienst und zum Behufe der Konsolidierung ihrer Unternehmung“53, wie die offizielle Rechtfertigung hieß. 5. Die gesamteuro­päische Marktlage und die bereits erwähnte Versorgung in verschiedenen österreichischen Gebieten gestalteten sich problematisch. Damit sind die sozialen Folgen berührt, die duch die ökonomischen Schwierigkeiten verursacht wurden. Die Getreidepreise stiegen sprunghaft an und erreichten in diesen Jahren in Österreich den höchsten Stand des Jahrhunderts. Sie waren höher als in den Jahren der Weltwirtschaftskrise || S. 17 PDF || nach 1857: Ein niederösterreichischer Metzen Weizen kostete 1851 3 fl. 38 Kreuzer, 1853 4 fl. 55 Kreuzer und 1857 4 fl. 43 Kreuzer54. Die Teuerung war bedingt durch die Spekulationen französischer Getreidehändler in Modena, Parma, Piacenza. In der Lombardei herrschte bereits im Spätsommer 1854 ein Mangel an Lebensmitteln. In weiterer Folge kam es zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit. Diese Tatsache war für die Regierung alarmierend. Der Schock von 1848 war noch zu frisch, die Angst vor neuerlichen sozialen Unruhen zu groß, als daß man gewagt hätte, energische Maßnahmen zu ergreifen, etwa die defizitär gewordenen staatlichen Bergbaubetriebe zu schließen und damit die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Dementsprechend gravierend war die Misere des Staatshaushaltes. Das Defizit des Staates stieg exorbitant, zum Teil verursacht durch die Erhöhung des Militärbudgets im Krimkrieg. Das Militärbudget betrug 1854 115 Millionen + 96,5 (Nachtragshaushalt) Millionen Gulden Konventionsmünze, 1855 114,2 Millionen + 69,9 Millionen + 53,3 Millionen Gulden (Nachtragshaushalt) und fiel 1856 auf 125 Millionen Gulden zurück55. Das Nettodefizit des Staates stieg von 50,23 Millionen Gulden im Jahre 1853 auf das exorbitante Ausmaß von 124,52 Millionen Gulden im Jahre 1854 und fiel 1855 auf 116,38 Millionen Gulden zurück. Das laufende Bruttodefizit betrug 1853 83,06 Millionen Gulden, 1854 162,48 Millionen Gulden und stieg 1855 sogar auf 169,90 Millionen Gulden; erst 1856 erreichte es wieder einen tieferen Stand von „nur“ 89 Millionen Gulden. Die Gesamtschuld des Staates schätzt Harm-Hinrich Brandt, der beste Kenner der neoabsolutistischen Finanzen, vor Beginn der kriegerischen Maßnahmen im Jahre 1854, als man noch von einem Normalbudget sprechen konnte, bereits auf 283 Millionen Gulden Konventionsmünze56. Dies bedeutet also, daß die Krise des Staatshaushaltes nicht (nur) eine Folge der österreichischen Politik im Krimkrieg war, sondern daß umgekehrt die Krise des Staatshaushaltes die österreichische Neutralitätspolitik im Krimkrieg weitgehend bestimmte. Die enormen Anstrengungen, die Österreich machte, den Krieg zu verhindern und Friedenspolitik zu betreiben, lagen also in seinem ureigensten, zu einem guten Teil in seinem finanziellen Interesse. Jeder Krieg hätte eine finanzielle Katastrophe für Österreich bedeutet, wenn schon der Neutralitätsstatus und der der bewaffneten Neutralität, den man schließlich und endlich wählte, nicht mehr finanzierbar war. Eine andere Frage wäre daher, ob man angesichts der Verhältnisse Österreich noch die Qualität einer Großmacht im klassischen Sinn zubilligen kann. Analysieren wir die genannten Ursachen der Krise, so stellt sich heraus, daß die Mehrheit derselben, nämlich die Krise der verschiedenen Zweige der Industrie, des Ausbaus der Infrastruktur etc., auf die Schwäche der inneren Struktur zurückzuführen ist. Die notwendige Modernisierung dieses zwar riesigen, aber doch wirtschaftlich zurückgebliebenen Reiches mit so verschieden entkrise || S. 18 PDF || wickelten Strukturen jedoch, durch die die innere Schwäche überwunden worden wäre – und hier sind wir beim nächsten Dilemma – kostete Geld.

Die Maßnahmen, die die Regierung schrittweise zur Bekämpfung der Krise erwog und die teilweise auch ausgeführt wurden, sind als klassisch zu bezeichnen. Sie wurden bereits 1853 und 1854 in Angriff genommen. Man beschritt vorerst Wege der Kapitalbeschaffung57. Zunächst versuchte man, die Staatseinnahmen durch Steuern zu steigern: Eine Erhöhung der Einnahmen war jedoch nur bei der Tabaksteuer, und hier vor allem in Ungarn, zu erwarten. Dies genügte nicht. Verschiedene Projekte, die erwogen wurden, etwa die Kolonisierung der Krondomänen in Ungarn, waren Langzeitprojekte und ließen für die nächste Zukunft keine Einnahmen erwarten.

Man schritt zur nächsten Möglichkeit der Geldbeschaffung, der der Kapitalaufnahme, und zwar zuerst durch Auslandsanleihen, die Österreich 1853 in London tätigte. Einer weiteren Aufnahme von Auslandsanleihen stand jedoch die restriktive Judenpolitik der neoabsolutistischen Regierung entgegen. Erst 1853 hatte man die Besitzfähigkeit der Juden, die 1848 zugestanden worden war, wieder eingeschränkt. Also versuchte man als dritten Schritt eine öffentliche Kapitalaufnahme im Inland durchzuführen. Im Juli 1854 wurde eine sogenannte Nationalanleihe aufgelegt. Durch eine Reihe von Erleichterungen und durch sanfte Zwangsmaßnahmen gegenüber manchen Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel gegenüber den Beamten, brachte diese erste österreichische „Nationalanleihe“, die so genannt wurde, um an die patriotische Gesinnung der Bevölkerung zu appellieren, einen mageren Gewinn, der jedoch bei weitem nicht reichte. Die vierte Gegenmaßnahme gegen den leeren Staatssäckel bestand in der Geldbeschaffung durch den Verkauf staatlicher Güter, und zwar von Staatseisenbahnen und Bergwerken. Dies widersprach der gesamten Tradition der seit dem Vormärz betriebenen Eisenbahnbaupolitik, die den Bau der Eisenbahnen allein dem Staat vorbehielt. Die Situation war jedoch aussichtslos: Der Staat brauchte nicht nur das Geld aus dem Erlös dieser Bahnen, er konnte sich auch den weiteren Ausbau nicht mehr leisten. Dieser aber war aus militärischen und wirtschaftlichen Gründen für die Erweiterung der Infrastruktur des Staates wichtig. Die halbfertigen Eisenbahnen waren völlig unproduktiv. Die schließlich ausgehandelte Verpachtung an die französische Gesellschaft Crédit mobilier auf 90 Jahre kam einem Verkauf gleich. Der ausgehandelte Kaufpreis von 65½, Millionen Gulden war niedrig, zieht man in Betracht, daß die Baukosten bereits 94 Millionen Gulden betragen hatten. Daneben wurden noch Kohlengruben im Banat und in Böhmen um 11 Millionen Gulden verkauft. Unter den Verpflichtungen, die die Gesellschaft einging, war auch die Zusage, die Bahnlinie von Szegedin nach Temesvár bis zum Jahr 1857 fertigzustellen. Dieser Verkauf und die Nationalanleihe deckten gerade den „ao. Bedarf des Dienstes“ des laufenden Verwaltungsjahres.

In dieser Krisensituation wurde Karl Freiherr v. Bruck vor allem wegen, wie bereits erwähnt, der allgemeinen Sanierung zum Finanzminister berufen. Im Juli 1855 || S. 19 PDF || legte er seinen weitreichenden Plan zur Währungssanierung (in der damaligen Sprache „Verbesserung der Valutaverhältnisse“) vor58. Er gab damit der Währungssanierung eindeutig den Vorzug vor der Haushaltssanierung59. Bruck ging von folgender Basis des Budgetdefizits aus: Das Defizit für 1856 berechnete er mit 95 Millionen Gulden Konventionsmünze, für 1857 mit 85 Millionen Gulden, für 1858 mit 75 Millionen Gulden (Gesamtsumme: 225 Millionen Gulden) – allerdings unter der Voraussetzung, daß das Militärbudget nur – wie versprochen60 – 100 Millionen Gulden betrage (das allerdings erst 1859 auf diese Summe sank) und die Zinsen für die Staatsschuld 100 Millionen, die Verwaltungsauslagen 110 Millionen, und die Kosten für den Eisenbahnbau 20 Millionen Gulden nicht überstiegen. Der Finanzminister rechnete außerdem, mit den Einnahmen von 150 Millionen aus der Nationalanleihe das Defizit auf 105 Millionen zu reduzieren. Diesen verbleibenden Rest hoffte er aus „sonst sich hebenden Einnahmen“ zu decken. Er führte die Erzielung höherer Einnahmen besonders in Ungarn, die Verpachtung, d. h. den neu vereinbarten Verkauf italienischer Staatseisenbahnen61, eine „mäßige“ Erhöhung der Steuer, die Herabsetzung der Zinsen der Staatsschuld und die Heranziehung der Reserven aus dem Tilgungsfonds an. Das hieß: Für die Sanierung der Nationalbank blieb so gut wie nichts übrig. Als das dringendste Problem erschien Bruck jedoch, wie schon gesagt, die Währungssanierung62. Diese bedeutete für Bruck die Wiederherstellung des Metallstandards, also der vollen Einlösepflicht der Notenbank. Durch die Zuführung von Metallgeld sollte die Nationalbank die Notendeckung garantieren. Bruck sprach von 150 Millionen Barmittel, die zur Verfügung standen, denen ein Notenumlauf von ca. 400 Millionen Gulden gegenüberstand63. Ein großer Teil des Notenumlaufs beruhte eben auf den uneinbringlichen Forderungen an den Staat, die durch den Erlös aus dem Verkauf der Staatsgüter, vor allem der landwirtschaftlichen64, in der Höhe der Schuld von 155 Millionen Gulden der Nationalbank zugeführt werden sollten, um ihre Metallreserven zu verbessern. Ein wesentlicher Faktor in diesem Unternehmen sollte eine Hypothekenbank – von Bruck wurde eindeutig eine zentrale statt mehrerer regionaler Banken bevorzugt – sein, deren Gründung Bruck gleichzeitig vorschlug. Ihr war die Aufgabe zugedacht, die wichtigen Verkaufstransaktionen durchzuführen. Außerdem sollte sie mit 100 Millionen Gulden, also sehr reichlichem Gründungskapital, versehen werden, wovon – solange nicht private Interessenten die Anlagemöglichkeit nutzten – 75 Millionen Gulden, also drei Viertel, als Silberdarlehen zu einer Verzinsung von 5% zur Verfügung gestellt werden sollten. Da die Gründung einer solchen Hypothekaranstalt Zeit in Anspruch nahm, wurden Übergangsmaßregeln || S. 20 PDF || vorgeschlagen: Die Domänen selbst sollten sofort der Nationalbank übertragen werden, die in den Genuß der Wirtschaftserträge kommen, dafür aber auch die Verwaltung und die Beamten übernehmen sollte. Diese hätten jedoch – ein großes Problem, vor allem für Bach65 – Staatsbeamte zu bleiben. Dem Staat blieben nach Brucks Plan weitreichende Rechte gewahrt: die Vorkaufsrechte nach dem Schätzwert, Einfluß durch einen „Hofkommissär“ in einem Verwaltungskonsortium und Kontrolle durch einen lf. Finanzkommissär. Brandt konstatiert, daß von einer echten Eigentumsübertragung keine Rede sein konnte, und stellt die Maßnahme „in die frühstaatliche Tradition der Spezialhypotheken für besonders sicherungsbedürftige Teile der Staatsschuld“66.

Das Währungssanierungsprogramm Brucks stieß auf wenig Gegenliebe. Vor allem Bach erwies sich als einer der heftigsten Kritiker des Planes des Finanzministers67. Er war zwar ein Gegner des Zwangskurses68 (und durch die Währungsrestauration wäre eine sofortige Auflockerung des Zwangskurses eingetreten69). Doch war er – ebenso wie die anderen Kritiker – besonders skeptisch gegenüber der von Bruck in Aussicht gestellten Entschuldung durch den Güterverkauf und gegenüber der Überbrückungsaktion durch das Silberdarlehen der Kreditanstalt70.

Das große Währungsprogramm Brucks wurde nicht verwirklicht. Staatsgüter im Wert von 150 Millionen Gulden wurden zwar an die Nationalbank übertragen, doch niemals verkauft. Die Tilgungen von 15 Millionen Gulden, die sich unter diesem Titel in den Bankabschlüssen von 1856 bis 1860 finden, stammen, wie Brandt genau beschreibt, nur mit 4 Millionen Gulden aus Verkäufen, mit 11 Millionen aus den Wirtschaftserträgen71.

In Brucks Plan, die Währung zu sanieren, war auch der Abschluß der Münzkonvention mit dem deutschen Zollverein miteingeschlossen, die zugleich den großdeutschen Plan der wirtschaftlichen Einigung vorantreiben sollte72. Verwirklicht wurde auch der Plan, eine zentrale Hypothekaranstalt ins Leben zu rufen. Die Credit-Anstalt wurde gegründet73. Diese Gründung war mit der Währungssanierung eng verknüpft. Das neue Kreditinstitut sollte ursprünglich, wie gesagt, beim Verkauf der Staatsgüter behilflich sein, die Finanzierung des Güterabsatzes gewährleisten und zum Teil als Hypothekaranstalt dienen. Dieser Plan stieß jedoch weder bei der Regierung noch bei den Finanzgruppen, die sich um den Auftrag bewarben, || S. 21 PDF || auf Gegenliebe. Vor allem die Koppelung mit dem Hypothekargeschäft wurde von seiten des Reichsrates heftig kritisiert74. Die Bedenken der Finanzgruppen gegen die Bereitstellung der Summen für die Nationalbank in einer derartigen Größenordnung, die in ihrem Ertrag noch dazu so zweifelhaft waren75, sind verständlich. Der Bankplan wurde schließlich in einem weit bescheideneren Umfang verwirklicht, als Bruck vorgehabt hatte. Die Finanzgruppen, die sich für das Geschäft interessierten, waren eine unbedeutende Berliner Gruppe, dann das Haus Rothschild und das in Österreich bereits eingeführte Haus Pereire (Crédit mobilier). Die Bedingungen der beiden rivalisierenden Hauptgruppen (Rothschild und Pereire) sind im Ministerratsprotokoll vom 9. Oktober 1855 genau festgehalten76. Rothschild hatte schließlich – und dies ist für die weitere Entwicklung wichtig – angesehene Vertreter des böhmischen Hochadels, die Fürsten Schwarzenberg, Fürstenberg und Auersperg und den Grafen Chotek, sowie die Finanzhäuser Haber und Lämel gewonnen. Wichtig war dies insofern, als der französische Crédit mobilier der Brüder Pereire durch die Tatsache, daß er die österreichischen Staatsbahnen und Kohlengruben gekauft hatte, bereits als bedrohliche „Überfremdung“ durch ausländisches Kapital empfunden wurde. Das Haus Rothschild dagegen galt durch seine lange Ansässigkeit in Österreich und durch die geschickte Verknüpfung mit dem österreichischen Feudaladel als „gut österreichisch“. Finanzminister Bruck, Innenminister Bach, Justizminister Krauß, aber auch Außenminister Buol, der aus außenpolitischen Gründen im Grunde französisches und englisches Kapital in Österreich favorisierte, und der Kaiser selbst entschieden sich für die Rothschild-Gruppe. Zum ersten Mal wurden in der Ministerkonferenz patriotische Töne laut77. Allerdings mußte, wie bereits erwähnt, der Plan Brucks, die neue Credit-Anstalt auch als Hypothekaranstalt einzurichten, fallengelassen werden – der Widerstand von verschiedensten Seiten war zu groß. Der Hypothekardienst verblieb weiter bei der Nationalbank78, die damit die Hauptaufgabe erhielt, die österreichische Valuta zu sanieren.

Die Entscheidung für die Rothschild-Gruppe war also nicht nur finanzpolitisch, sondern auch allgemein politisch motiviert. Die neugegründete Credit-Anstalt (31. Oktober 1855) war von Anfang an ein betont österreichisches Unternehmen. || S. 22 PDF || Die Bedingungen waren: Das Gründungskapital betrug 100 Millionen Gulden, wovon 30 Millionen Gulden binnen drei Monaten, 30 Millionen Gulden in Raten spätestens bis 1856 eingezahlt werden mußten. Die Einzahlung der restlichen 40 Millionen Gulden blieb einem späteren Zeitpunkt vorbehalten.

Im ersten Verwaltungsrat waren unter anderem vertreten: die Fürsten Schwarzenberg und Auersperg, die Grafen Barkóczy, Zichy und Chotek, aus der Hochfinanz Anselm Freiherr v. Rothschild, Moriz Goldschmidt, Leopold Wertheimstein, die Bankfachmänner Lämel, Louis v. Haber und Eduard Wiener sowie die Industriellen Schöller, Hornbostel und der Beamte des Finanzministeriums Gustav Höfken, der Mitstreiter Brucks und gleichzeitig sein Landsmann und Glaubensgenosse. Außerdem wurde ein lf. Kommissär bestellt (der Finanzfachmann und Vertreter des Finanzministeriums Johann Anton v. Brentano). Der erste Direktor war der durch die Korruptionsaffäre im Krieg 1859 unrühmlich bekanntgewordene Franz Richter.

Dieser erste Verwaltungsrat spiegelt nicht nur die Gründersituation, sondern auch die finanziell-gesellschaftliche Elite des neoabsolutistischen Jahrzehnts wider79. Der persönliche Einfluß Brucks auf die Credit-Anstalt war weiterhin groß. Sie war nach Brandt „seine“ Bank. Groß war auch das direkte staatliche Aufsichtsrecht: Der lf. Kommissär konnte jeden Beschluß des Verwaltungsrates sistieren, der ihm die Interessen des Staates zu verletzen schien. Etatistische Vorstellungen, die in Österreich Tradition hatten, mengten sich in die Leitung dieses Unternehmens mit modernen innovativen Plänen in merkwürdiger Weise.

Die Credit-Anstalt war in mancherlei Hinsicht ein Novum ersten Ranges. Neu in Österreich war das industrielle Gründertum als solches. Neu war auch das Eindringen spezifisch industriekapitalistischer Interessen in die Entscheidungsbereiche des staatlichen Apparates. Dies ging so weit, daß die Grenzen zwischen staatlicher und privatwirtschaftlicher Sphäre aufgehoben wurden. Bruck selbst war es, der diese Vermengung durch persönliche Protektion förderte, indem er gesetzliche und vertragliche Begünstigungen erteilte, aktiv bei Kapitalbeschaffung intervenierte und an Börsenoperationen mitwirkte. Andererseits verlangte er von den Vertretern der Credit-Anstalt, finanzpolitische Egoismen zugunsten des Staates hintanzusetzen. Im eigentlichen hob er damit die Kategorien öffentlich-rechtlich und privatrechtlich auf und dachte sich Staat, Banken und Industrieunternehmen als eine Art einziges großes Kartell, das die Einzelinteressen koordinierte. Er selbst spielte dabei die Rolle des Koordinators. Ob in dieser Aufhebung der Grenzen der Schlüssel liegt, daß er ins schiefe Licht geriet, was schließlich zu seiner persönlichen Tragödie (er beging im Jahre 1861 Selbstmord) führte? Von seiten der Regierung und der hohen Bürokratie mehrten sich die Widerstände gegen die von Bruck praktizierte allzu enge Verflechtung von Regierungsmacht und privaten Kapitalinteressen. Sie brachte die traditionelle bürokratisch-obrigkeitsstaatliche Auffassung, daß die öffentlich-rechtliche Qualität aller staatlichen Verwaltungstätigkeit gewahrt werden müsse, ins Wanken und stellte im Grunde das (vormärzliche) staatliche || S. 23 PDF || Ideal in Frage, daß Staat und bürgerliche Erwerbsgesellschaft zu trennen seien. Bis dahin, so beschrieb Brucks engster Mitarbeiter im Finanzministerium und Verwaltungsaufsichtsrat der Credit-Anstalt, Gustav Höfken, in seinem unpublizierten Tagebuch, wären die Bedingungen des Kapitalmarkts und die Organisation des Kredits primitiv und vorsintflutlich gewesen. Die Nationalbank war bis dahin das einzige Kreditinstitut und beschränkte ihre Wirksamkeit auf die Reichshauptstadt, ohne in den Ländern Kreditquellen eröffnen zu können80. Die Praxis anderer Länder war Bruck ein glänzendes Vorbild. Frankreich und Deutschland boten nachahmenswerte Strategien für Bruck, den Spekulationsgeist in Österreich zu wecken, Privatkapital zu mobilisieren und damit Wirtschaftswachstum zu erreichen81. Die Gründung der Credit-Anstalt bedeutete also, daß eine wesentliche Rahmenbedingung für den Einbruch des Industrialismus auf effekten­kapitalistischer Basis nun auch in Österreich geschaffen wurde.

In diese Politik Brucks, staatlich-politische und private Interessen zu vereinen, paßt die Behandlung der Finanzierung des Eisenbahnbaus82, so wie sie sich in den Ministerratsprotokollen darstellt. Die Wendung zur Privatisierung der Eisenbahnen und des Eisenbahnbaus war bereits 1854 vollzogen worden – noch unter Finanzminister Baumgartner –, wobei der französischen Gesellschaft Crédit mobilier der Vorzug gegeben worden war83. Finanzminister Bruck versuchte dagegen, den Crédit mobilier aus dem Feld zu schlagen, die Gruppe Rothschild und die neugegründete Credit-Anstalt auch hier zu begünstigen.

Bezeichnend für seine Politik ist seine verärgerte Reaktion auf die neuen Anleihen, die der Crédit mobilier auf französischen Handelsplätzen, in Wien, London, Amsterdam auflegte, ohne die Bewilligung der österreichischen Regierung eingeholt zu haben, was im übrigen (so Bach) zumindest nicht gegen die Statuten der Gesellschaft war. Brucks Verhinderungsversuche hatten nur in bezug auf Wien Erfolg84. Der Ausbau der Bahnlinie Szegedin–Temesvár (Timişoara) wurde allerdings der „k. k. priv. österreichischen Staatseisenbahngesellschaft“ übertragen, in der der Crédit mobilier eine dominierende Stellung einnahm85. Für die Finanzierung des wirtschaftlich wichtigen Baus der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn ging die Rothschild-Gruppe unter Mithilfe der Credit-Anstalt – auf Veranlassung Brucks – eine Verbindung mit einem deutschen Konsortium ein, dem vor allem der deutsche Großkaufmann und österreichische Generalkonsul Ernst Merck angehörte86. Dies paßte in die Deutschlandpolitik Brucks87.

Das unvollendete lombardo-venezianische Eisenbahnnetz wurde verkauft und der Plan einer zentralitalienischen Eisenbahn, die mit den österreichischen Bahnen zu || S. 24 PDF || verbinden wäre88, wieder aufgenommen. Die Ausführung des Projekts wurde schließlich der „k. k. priv. südlichen Staats-, lombardisch-venezianischen und central-italienischen Eisenbahngesellschaft“, die sich unter der Dominanz des Hauses Rothschild formierte89, anvertraut – ein weiterer Schritt in der Privatisierung der Eisenbahnen. Im übrigen ähnelte der Vertrag, der abgeschlossen wurde, sehr stark dem mit dem Crédit mobilier im Jahr zuvor vereinbarten, der so vielfach kritisiert worden war.

Der Eisenbahnbau nahm unter Brucks Ägide einen hohen Stellenwert in der staatlichen Wirtschaftspolitik ein. Bruck trat für die Gewährung von Erleichterungen an die Eisenbahn­bauunternehmer ein (er förderte zum Beispiel die Aktienvermehrung der Brünn-Rossitzer-Eisenbahngesellschaft90). Neben den wichtigen wirtschaftlichen Motiven, die Infrastruktur des Reiches zu verbessern, lagen Brucks Finanzpolitik – das soll hier festgehalten werden – politische/außenpolitische Orientierungen zugrunde.

Der Bau der Westbahn, der Franz-Joseph-Orientbahn, der kroatischen Bahn, der siebenbürgischen Bahn, der Theißbahn und der Galizischen Carl-Ludwig-Bahn waren die wichtigsten Unternehmungen in diesen ersten Jahren der Ministerschaft Brucks91.

In dem Zeitraum, den die in diesem Band publizierten Protokolle dokumentieren, nehmen die Wirtschafts- und Finanzprojekte, wie gesagt, einen breiten Raum ein – bezeichnend für diese erste Zeit der Ministerschaft Brucks. Neben der in diesem Zusammenhang wichtigen Frage der Donauregulierung beim Eisernen Tor92, die jedoch in dem hier behandelten Zeitraum nicht weiter verfolgt wurde (im Themenkreis Leitharegulierung wurde nur finanzielle Beteiligung Österreichs von geringerer Bedeutung besprochen93), bildeten die Finanzierung der Verkehrswege und verkehrspolitischen Pläne Diskussionspunkte ersten Ranges. Bank- und Währungsthemen stehen, wie skizziert, in der Rangordnung der wirtschaftspolitischen Brisanz um nichts nach.

Das Handelsgesetz, das in diesem Band eingehend besprochen wurde, war noch von Finanz­minister Baumgartner vorgelegt worden, erhielt allerdings nie Gesetzeskraft94. Steuerprobleme, wie die Erhöhung der Rübenzuckersteuer95 und die Behandlung der Verzehrungssteuer in Tirol und Lombardo-Venetien96, waren im Rahmen der Wirtschaftspolitik Brucks von höchster Wichtigkeit, sie kamen aber in den in diesem Band publizierten Protokollen der Ministerberatungen nur am || S. 25 PDF || Rande zur Sprache. Die Differenzen um die Erhöhung der Rübenzuckersteuer – ein Gegenstand, der mit der Schiffahrt eng zusammenhing, weil die österreichische Finanzverwaltung den Standpunkt vertrat, daß die Rübenzuckersteuer den sinkenden Ertrag des Finanzzolls für Rohrzucker aufwiegen müsse97 – erreichten erst 1857 ihren Zenith; die Gleichziehung der Verzehrungssteuer in Tirol und Lombardo-Venetien mit den anderen Provinzen löste in der Ministerkonferenz nicht einmal eine Diskussion, dafür jedoch eine lange Ah. Entschließung aus, in der die Gewährung von Begünstigungen für die von der Traubenkrankheit befallenen Landesteile erwogen wurde98.

Das Stichwort Traubenkrankheit führt zu der Frage der Behandlung der sozialen Problematik in den Ministerkonferenzen. Außer einem Grundsteuernachlaß für die von der verheerenden Krankheit befallenen Güter der Weinbauern im Gebiet von Verona99, für die Bruck plädierte, und außer der Diskussion, in den Strafanstalten, besonders in den Anstalten für weibliche Sträflinge, die Zigarrenerzeugung einzuführen100 – sofern man dieses Thema dem sozialen Komplex zuordnen will, da die Gründe für diese Einführung, wie die Diskussion zeigt, nicht dem sozialen Fürsorgegedanken entsprangen –, kamen Fragen sozialer Natur in den Protokollen des hier vorliegenden Bandes nicht zur Sprache.

Kirche und Staat: Das Konkordat und die Folgen - Retrodigitalisat (PDF)

Das zweite Hauptthema, das die Ministerkonferenz in diesen Jahren beherrschte, betraf die Kirchen, wobei die Fragen der katholischen Kirche die der anderen an Bedeutung bei weitem übertrafen. Das Konkordat, das am 18. August 1855 zwischen Österreich und dem Heiligen Stuhl abgeschlossen worden war101, sicherte der katholischen Kirche die absolute Vorrangstellung im öffentlichen Leben, schränkte die staatliche Kontrollfunktionen ein und legte dem Staat beträchtliche Verpflichtungen gegenüber der katholischen Kirche auf, die teilweise sogar eine Reihe neuer gesetzlicher Lösungen notwendig machten. Viel zurückhaltender agierte der Staat gegenüber den anderen, „akatholischen“ (wie es in der damaligen Behördensprache, die einen strikten katholisch zentrierten Standpunkt verrät, heißt) Glaubensgemeinschaften, die sich seit 1848 um ihre konfessionelle Gleichstellung bemühten. Die den Juden 1848 zugesicherten Rechte wiederum wurden neuerlich beschränkt – etwa ihre Besitzfähigkeit sowie ihrer Anstellung als Staatsbeamte102. Die Protestanten und Griechisch-Orthodoxen reagierten nervös. „Beunruhigt“ durch das Konkordat, drängten vor allem die Protestanten AB. sowie HB. || S. 26 PDF || im ehemaligen Königreich Ungarn auf die Regelung ihrer Angelegenheiten103. Besonders diffizil war die Frage der Leitung der kirchlichen Angelegenheiten in diesen Ländern104. Die Verhandlungen dauerten jahrelang, und die Regelung erfolgte schließlich erst im Jahr 1859105. Die Frage der Leitung der Kirchen beider evangelischer Konfessionen war für die Regierung selbstverständlich von Wichtigkeit. Die Ernennung der Superintendenten – bis 1848 der Vereinigten Hofkanzlei eingeräumt – wurde von nun an dem Kaiser selbst vorbehalten106.

Ein anderes für Nichtkatholiken sensibles Thema war die Behandlung der „massenweisen“ Konversionen vom griechisch-katholischen zum griechisch-orthodoxen Glauben in der Großwardeiner Diözese in den Jahren 1848 und 1849. Im Zuge der Übertritte waren Kirchen, Pfarren und Schulen der griechisch-orthodoxen Kirche übergeben worden. Kultusminister Thun beabsichtigte die Frage in einem Verfahren eindeutig prokatholischen Sinnes zu lösen107, das für religiös Andersgläubige wenig Verständnis zeigte – kein Wunder, hatte man dem Heiligen Stuhl doch entsprechende Zusicherungen gemacht108.

Daß auch die Ministerkonferenz auf die Ausführung der Konkordatsbestimmungen, zu deren Anwalt sich der Minister für Kultus und Unterricht Thun gemacht hatte, äußerst empfindlich reagierte, zeigt bereits der erste Vorstoß Thuns in dieser Richtung. Der Kultusminister unterstützte den Antrag der Bischöfe des lombardisch-venezianischen Königreichs, die die Mithilfe des Staates bei der Bücherzensur in Anspruch zu nehmen gedachten: Bücher, die von den Bischöfen verboten oder auf dem von Rom erstellten „Index librorum prohibitorum“ gesetzt worden waren, seien, so lautete die Forderung der lombardisch-venezianischen Bischöfe, auch vom Staat zu verbieten. In der Praxis bedeute dies, daß die Polizeibehörden hätten eingeschaltet werden sollen, um den Buchhandlungen und Leihbibliotheken die Weisung zu erteilen, solche Bücher weder öffentlich anzukündigen noch zum Verkauf anzubieten109. Vier Gegner in der Ministerkonferenz (es waren Buol, Krauß, Bach, Bruck) stellten sich jedoch entschieden gegen diese Übergriffe der Bischöfe und des Heiligen Stuhls (die sie auch als solche bezeichneten) und traten für das Recht des Staates ein, nach eigenen Gesetzen und nicht nach kirchlichen zu urteilen.

Durch die Bestimmungen des Konkordats110 wurden vielfach die Beziehungen der katholischen Kirche zu den nichtkatholischen Kirchen, von katholischen Glaubensangehörigen || S. 27 PDF || zu Nichtkatholiken berührt. Gewichtige Bestimmungen waren in diesem Zusammenhang 1. die Beerdigung der „Akatholiken“ auf katholischen Friedhöfen und vor allem 2. die Frage der Mischehen.

Die Frage der Beerdigung der „Akatholiken“ auf katholischen Friedhöfen wurde in der Ministerkonferenz ohne Diskussion – bei der Vorliebe der Österreicher für das Zeremoniell des Leichenbegängniskults erstaunlich – abgehandelt111 und erledigt. Die Vorschläge des Kultusministers Thun klingen für uns restriktiv: „Akatholiken haben bei ihren Begräbnissen auf den Gebrauch von Kirchenglocken in der Regel keinen Anspruch“, für „Akatholiken“ seien eigene Friedhöfe zu errichten oder – falls dies nicht möglich wäre – die Beerdigungsstätten auf den katholischen Friedhöfen deutlich abzutrennen. Der nichtkatholische Seelsorger habe bei Begräbnissen auf katholischen Friedhöfen, wo ein nicht „förmlich abgetrennter Teil“ für Nichtkatholiken bestünde – im Grunde war dies nur dort möglich, wo „Akatholiken“ nur selten (etwa auf Reisen) verstarben –, die Beerdigung nach den Vorschriften für die Beerdigung von Katholiken vorzunehmen. Zweifelsfälle wären überall dem Ministerium für Kultus als höchste Instanz zur Entscheidung vorzulegen. Weit weniger harmonisch ging es in der Diskussion über das neue Ehegesetz zu112. Finanzminister Bruck verließ gleich zu Beginn der Sitzung unter Hinweis auf „seine bekannte konfessionelle Stellung“ (er war Protestant) die Beratung. Er hinterließ noch seinen persönlichen Wunsch, gemischte Ehen zu verbieten, der von den anderen, mit den diffizilen Verhältnissen der Monarchie besser vertrauten Mitgliedern der Ministerkonferenz mit deutlicher Distanz aufgenommen wurde. In Gebieten, wo Angehörige mehrerer Glaubensgemeinschaften so eng zusammenlebten wie etwa in Ungarn und Siebenbürgen, hätte ein Verbot der Mischehen, die dort Tradition hatten, gefährliche Empörung ausgelöst.

Die österreichische Ehegesetzgebung war in den Beziehungen zwischen Staat und katholischer Kirche seit dem Ehepatent Joseph II. vom 16. Jänner 1783 ein besonders heikles Problem. Der Staat betrachtete die Ehe seit damals nicht als Sakrament, sondern als bürgerlichen Vertrag, der demnach auch nach den bürgerlichen Gesetzen des Staates beurteilt wurde113. Der Staat hatte die Ehegesetzgebung sowie die Ehegerichtsbarkeit an sich gezogen. Dies wirkte sich in der Postulierung neuer Ehehindernisse (neben den bereits bestehenden wie Ehebruch, Gattenmord und Verurteilung wegen schweren Verbrechens) durch den Staat aus; als neue wurden Militärstand, Minderjährigkeit, Schwangerschaft der Braut „von einem Dritten“ || S. 28 PDF || genannt, Ehehindernisse, die von den von der Kirche aufgestellten (z. B. geistige Verwandtschaft114 oder Wahlverwandtschaft) deutlich differierten. Die Verschiedenheit der Ehehindernisse war ein sensibler Punkt der staatlichen und kirchlichen Gesetzgebung, genauso wie das Problem der Mischehe, bei der seit Joseph II. eindeutig die Katholiken bevorzugt wurden: War der Vater katholisch, mußten alle Kinder katholisch erzogen werden; war der Vater evangelisch, folgten die Söhne dem Vater, die Töchter der Mutter im Glaubensbekenntnis.

Die Eheschließung wurde nach dem josefinischen Eherecht Geistlichen anvertraut. Der Geistliche hatte sich dabei an das Staatsgesetz zu halten und konnte bestraft werden, wenn er sich weigerte, eine nach staatlichen Gesetzen gültige Ehe einzusegnen. Die Möglichkeit einer Zivilehe – 1848 mit Vehemenz verlangt und von der Kirche seit jeher mit Entschiedenheit bekämpft115 – bestand in Österreich nicht. Seit 1849 wirkten die österreichischen Bischöfe, allen voran der spätere Kardinal und Erzbischof von Wien Joseph Othmar Rauscher dahingehend, die staatlichen Ehegesetze im Sinne der katholischen Kirche zu verändern116. Die Bemühungen waren erfolgreich. Der politische Kurs nach der niedergeschlagenen Revolution von 1848 – darauf ausgerichtet, die konservativen Kräfte des Landes zu mobilisieren –, der betont katholisch eingestellte Kultusminister Leo Graf Thun-Hohenstein, schließlich auch der junge Kaiser selbst und besonders der Einfluß seiner Mutter Sophie bedeuteten günstige Voraussetzungen.

Seit Ende 1851/Anfang 1852 unterzog eine Kommission den Entwurf eines Ehegesetzes, der vom Kultusminister schon seinerzeit ausgearbeitet worden war, einer Revision. Die Mitglieder dieser Kommission waren neben Kultusminister Thun und Erzbischof Rauscher Reichsrat Anton Salvotti, Staats- und Konferenzrat Johann Freiherr v. Pilgram und Landrechtspräsident Carl Graf Wolkenstein117. Ziel war, sowohl die Satzungen des ABGB. als auch die religiösen Vorstellungen der Angehörigen der Glaubensgemeinschaften in diesen Entwurf einzuarbeiten. Gleichzeitig wurde Rauscher mit der Abfassung einer Instruktion für kirchliche Ehegerichte betraut. Die Vorlage eines solchen Entwurfs in Rom war eine wichtige Vorbedingung für die Einleitung der Konkordatsverhandlungen118, was wiederum voraussetzte, daß dieser Entwurf selbstverständlich vom Kaiser vorher genehmigt sein mußte. Die Behandlung dieses wichtigen, aber heiklen Punktes wirft ein bezeichnendes Licht auf die neoabsolutistische Regierungspraxis. Der Entwurf wurde zunächst von der Kommission ausgehandelt, dann vom Kaiser sozusagen vorsanktioniert und in Rom vorgelegt, ohne daß die Ministerkonferenz zu Rate || S. 29 PDF || gezogen worden wäre. In Rom stieß auch das neue Ehegesetz auf Bedenken119. Besonders die Instruktion für die geistlichen Gerichte betrachtete man – noch immer – als ein Bekenntnis zum Josefinismus, da sie auf die österreichischen Verhältnisse zugeschnitten war, daher Gedanken des ABGB. enthielt und nicht eine einfache Kopie der in der Gesamtverfassung der katholischen Kirche enthaltenen Gesetze darstellte. In der summarisch gehaltenen Antwort der Kurie auf die Ehefrage wurde vor allem die Beibehaltung der staatlichen Ehehindernisse kritisiert. Von Staatssekretär Kardinal Antonelli wurde die Einführung des Grundsatzes gefordert: Für Ehewerber, die im Gewissen verpflichtet seien, sich zu verehelichen, müßten die staatlichen Eheverbote ihre Verbindlichkeit verlieren. Auch die Rechte der Eltern bei der Eheschließung der Kinder wurden im päpstlichen Gegenentwurf viel stärker betont.

In Wien lehnte man dieses Ansinnen als unannehmbar ab. Der österreichische Klerus und Rom lenkten schließlich ein120. Materiell wurde auch von Österreich ein kleines Zugeständnis gemacht: Den geistlichen Gerichten wurde auch im Verfahren der Scheidung von Tisch und Bett die Zuständigkeit eingeräumt. Die Einigung zwischen Rom und Wien kam über Vermittlung Rauschers bereits im Mai 1855 zustande121. Die Beratung des Entwurfs über die Ehe der Katholiken im Kaisertum Österreich in der Ministerkonferenz fand am 11., 14., 18., 21. März und am 1. April 1856 122 statt, was im Grunde nichts anderes bedeutete, als daß die Minister keine Möglichkeit mehr hatten, Grundsatzentscheidungen mitzubestimmen, denn diese waren spätestens im Konkordat vom 18. August 1855 gefällt worden. Die Minister spielten im übrigen bei diesem Scheingefecht mit, das Dekorum einer Art von Konstitutionalismus zu wahren. Mag sein, daß sie die Ministerkonferenz als Forum benützen wollten, um ihre Ansichten dem Kaiser in dieser wichtigen Angelegenheit, in der er sie sonst nicht gehört hatte, zur Kenntnis zu bringen. Jedenfalls demonstrierten sie deutlich Zustimmung oder Opposition.

Lediglich Kultusminister Thun, von dem der Originalentwurf schließlich stammte, war mit dieser Angelegenheit im Detail befaßt worden. Der Minister des Äußern, Buol, und der Minister des Inneren, Bach, waren in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des „Kirchenkomitees“, dem die Prüfung der Konkordatsverhandlungen im allgemeinen zugewiesen worden war123, zumindest im Rahmen dieser Verhandlungen ein wenig und am Rande mit der Materie des Ehegesetzes vertraut. Die anderen Minister – Finanzminister Baumgartner bzw. Bruck, Justizminister K. Krauß und Handelsminister Toggenburg – wurden sozusagen erst post festum in den Prozeß der politischen Willensbildung eingebunden. Der konstitutionelle || S. 30 PDF || Wert der, wie wir aus dem Protokoll der Ministerkonferenz ersehen, mit Vehemenz vorgebrachten Willensäußerungen war gleich null; sie dienten höchstens zur persönlichen Rechtfertigung der einzelnen Minister bzw., wie bereits gesagt, zur Information des Kaisers. Karl Krauß, der sich in seiner Eigenschaft als Justizminister im besonderen übergangen gefühlt haben mochte, beteiligte sich tragend an der Diskussion. Im Grunde waren es dieselben Bestimmungen, die bereits Unwillen erregt hatten, sei es bei den Beratungen der Kommission, bei der Kurie oder in der Bischofskonferenz124 – die nun in der Ministerkonferenz wieder Stein des Anstoßes wurden. Über folgende Materie wurde noch einmal heftig diskutiert: die Rechte der Eltern bei Eheschließung der Kinder, die Ehetrennung (die sich im besonderen bei Konversion von einem Glaubensbekenntnis zum anderen kompliziert gestaltete) und die Ehehindernisse bzw. Eheverbote.

In der Diskussion, die sich in der Ministerkonferenz um diese Bestimmungen entspann, fühlte sich Justizminister Krauß offensichtlich berufen, die Rolle des Hüters des ABGB., also der staatlichen Gesetzgebung, einzunehmen und dieses gegen das kanonische Recht zu schützen. Offenbar waren seiner Auffassung nach viel zu viele Vorstellungen des kanonischen Rechts in das staatliche Ehegesetz eingeflossen, weswegen er gegen seinen eigentlichen Gegenspieler – den Kultusminister – Stellung bezog. Innenminister Bach ergriff geschickt fallweise für das ABGB. und fallweise für das kanonische Recht Partei, wobei er gerade in der letzteren Parteinahme mitunter erstaunlich weit ging. Handelsminister Toggenburg gab fast durchwegs Schützenhilfe für Krauß; Buol, der bei den Friedensverhandlungen in Paris weilte, und Bruck fehlten in den Besprechungen.

Ein gutes Beispiel für die Konstellation bildet der Streit um die Rechte der Eltern bei der Eheschließung minderjähriger Brautleute. Die Rechte der Eltern wurden im vorliegenden Entwurf – über das ABGB. hinausgehend – erweitert, und es wurde den Eltern zugestanden, im Falle der Verehelichung ihrer minderjährigen Kinder gegen den Willen der Eltern, den Kindern das Heiratsgut oder die Ausstattung zu entziehen. Darüber hinausgehend wurde dem Vater das Recht zugebilligt, den Unfolgsamen vollkommen zu enterben, der Mutter und den Großeltern, ihm den Pflichtteil zu entziehen125.

Der Justizminister wandte sich entschieden gegen diesen Vorschlag. Die Bestimmungen des ABGB. seien für den Staat (und auch für ihn) – so argumentierte er – ausschlaggebend, die nur dann den Eltern das Recht zusprächen, das Heiratsgut zurückzuhalten, wenn zuvor das Gericht die Mißbilligung der Ehe durch die Eltern als zu Recht bestehend erkannt hätte126. Die Voraussetzungen für die Enterbung selbst aber wären im ABGB. andernorts genau festgelegt; die hier angesprochene, || S. 31 PDF || nicht mit Bewilligung der Eltern geschlossene Ehe fiele nicht darunter. Das war eine klare Sprache zugunsten des ABGB. Thun widersprach und setzte sich – nicht im geringsten konzessionsbereit – für die von ihm vorgeschlagene Fassung nach dem kanonischen Recht ein. Bach versuchte zu vermitteln, was aber von beiden Kontrahenten abgelehnt wurde127.

Der Streit der beiden spitzte sich zu, und die Ansichten gingen besonders dort weit auseinander, wo es um die kanonischen und staatlichen Ehehindernisse bzw. Eheverbote ging. Ehebruch128, Gattenmord und Verurteilung zum Tod oder zu schwerem Kerker wegen schweren Verbrechens waren ausschließlich vom Staat anerkannte Ehehindernisse, während die Kirche, wie erwähnt, geistige oder Wahlverwandtschaft als Ehehindernisse erkannte129. Es wurde bereits darauf verwiesen, daß die Frage der Ehehindernisse einen besonders heiklen Punkt der Ehegesetzgebung darstellte, an dem sich bereits in den Vorverhandlungen die Geister geschieden hatten. Abgesehen von der Tatsache, daß der Staat Vorstellungen des kanonischen Rechts aufnehmen und die Kirche staatliche Gesetzesbestimmungen anerkennen sollte, hatte diese Frage auch weitreichende Folgen für die Staatsbürger, wie die Anerkennung der Gültigkeit der Ehe und der damit verbundenen Legitimität der Kinder, die einer solchen Ehe entstammten, der Erbberechtigung von Ehegatten und Kindern etc. Im vorliegenden Gesetzesentwurf wurde versucht, einen Kompromiß zu finden und staatlichen Gesetzen insofern Rechnung zu tragen, als man die unter Umgehung der staatlichen Gesetze geschlossenen Ehen zwar für gültig (nach den Kirchengesetzen) ansah, die „Sünder“, die ein staatliches Gesetz übertreten hatten, jedoch bestrafte, indem man die Ehepakte für ungültig erklärte und sowohl den Ehepartnern als auch den Kindern, die man für illegitim erklärte130, das Erbrecht absprach.

Die Empörung war groß. Allen voran der Justizminister, aber auch Bach und Toggenburg verteidigten das bürgerliche Recht, indem sie forderten, die entsprechende Bestimmung (§ 34) fallenzulassen, „weil durch diese Bestimmungen über die Rechtsfolgen der darin bezeichneten Ehe, die doch als eine gültige (nach dem vom Staat nun akzeptierten kanonischen Recht) anerkannt werden muß, ein neues, dem bürgerlichen Recht völlig fremdes Verhältnis, eine Art morganatische Ehe, geschaffen“ werde131. Die Diskussion bietet uns im Grunde dasselbe Bild wie die oben erwähnte über die Rechte der Eltern bei Abschluß einer Ehe ihrer minderjährigen Kinder gegen den Willen der Eltern. Thun zeigte sich – genauso wie Krauß – solange unnachgiebig, bis Bach einen, zumindest teilweisen Kompromißvorschlag fand, den auch Thun akzeptieren konnte132.

|| S. 32 PDF || Die Parteiung Thun - Krauß findet sich durchgehend in diesem Protokoll, auch im Falle der Bedingungen und Folgen der Trennung der Ehe133. Die Frage der Trennung gestaltete sich noch komplizierter, wenn Ehepartner, deren Ehe nach nichtkatholischem Ritus geschlossen wurde, zum katholischen Glauben übergetreten waren und von diesem wieder konvertierten134. Die Frage, ob eine solche Ehe als gültig oder ungültig anzusehen sei, beantworteten die „Hüter des staatlichen Kodex“, Krauß und Toggenburg, mit „gültig“ – mit der Begründung: „Warum sollten Personen, die nicht mehr Katholiken sind, noch dem kanonischen Kirchenrecht unterworfen sein“? Thun hingegen nahm den unbeugsamen Standpunkt des kanonischen Rechts ein: Personen, die einmal als Katholiken miteinander in Ehe gelebt hätten, unterstünden für immer den katholischen Gesetzen135. Thun machte sich auch zum kompromißlosen Anwalt der Kirche, als die Möglichkeit der staatlichen Ehetrennung für den Fall erwogen wurde, daß der Bischof mit der Trennung nicht einverstanden sei: Der Minister für Kultus befürchtete Konflikte zwischen der geistlichen und weltlichen Autorität, Krauß hingegen argumentierte, daß er die Erhaltung des Friedens in den einzelnen Familien als „höheres Gut“ erachte136. Die Konflikte der Ministerkonferenz über die Ehegesetze sind uns insofern neu, als die Protokolle in der Literatur seltsamerweise noch nie ausgewertet wurden. Sie bieten jedoch im allgemeinen das altgewohnte Bild. Die Parteiung in der Ministerkonferenz, auf die schon einige Male verwiesen wurde, zwischen den im „josefinischen“ Geist erzogenen Beamten und dem „neoständischen“ Thun137 finden wir verstärkt in der Debatte um das Ehegesetz, in der es für „Josefiner“ geradezu zwingend war, in der Frage des Staatskirchentums Stellung zu beziehen. Die staatskirchlichen Überzeugungen wurden im besonderen mit Konsequenz und Entschiedenheit, wie wir gesehen haben, von den Vertretern des vormärzlichen Beamtentums Krauß und Toggenburg vertreten. Letzte Rückzugsgefechte einer bereits versunkenen ideologischen Welt? Sehen wir das Konkordat als großes politisches Staatsprogramm, in dem sich Kirche und Staat in einem Bündnis zur Erhaltung der bisherigen Wertordnung, die ihnen von unschätzbarem ideellen Wert erschien138, miteinander verbrüderten, so ist der Abschluß jenes Ehegesetzes, in dem der Staat der Kirche so viele Zugeständnisse machte, eine verständliche Folge und Konzession. Wir können das Urteil Alphons Lhotskys, das dieser auf die Universitätsreform Thun-Hohensteins münzte, auch auf das „neue Ehegesetz“ anwenden: „Das Ende des Josefinismus“ in Österreich139.

Zum Kommentar - Retrodigitalisat (PDF)

Der Kommentar wurde im allgemeinen so gestaltet wie jener der bisher erschienenen Bände des Ministeriums Buol-Schauenstein. Es wurden dieselben Aktenbestände und Archive, d. h. in erster Linie die Wiener Archive, herangezogen. Da die Agenden der Militäradministration weiterhin der Beratung der Ministerkonferenz entzogen blieben, mußte das Material des Kriegsarchivs, wie bereits für den zweiten Band dieses Ministeriums, nur für wenige Themen in Anspruch genommen werden. Die Akten des Innenministeriums im Allgemeinen Verwaltungsarchiv werden derzeit als Brandakten (Justizpalastbrand von 1927) restauriert und konnten daher nicht eingesehen werden. Dagegen wurde im Zusammenhang mit den Konkordatsfragen das Material des Erzbischöflichen Diözesanarchivs Wien benützt.

Hinsichtlich der Themen, die Ungarn betreffen, wäre noch das Hauptwerk über den Neoabsolutismus in Ungarn von Albert Berzeviczy zu erwähnen140, das nicht ausdrücklich an allen zutreffenden Stellen zitiert wurde.

Für die Heranziehung der Bezugsakten, für die Zitierweise und die Schreibung der Eigen- und der Ortsnamen gelten dieselben Regeln wie in den vorhergehenden Bänden des Ministeriums Buol-Schauenstein. Es soll dazu aber noch einmal darauf hingewiesen werden, daß sowohl in den verschiedenen Jahrgängen des Staatshandbuchs als auch im selben Band ein und derselbe Name häufig verschieden geschrieben wird. Selbst die eigenhändigen Unterschriften differieren in der Schreibweise (z. B. Stroßmayer, Strossmaier).