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Nr. 210 Ministerkonferenz, Wien, 28. März 1854 — Protokoll II - Retrodigitalisat (PDF)

  • ℹ️ anwesend:
  • Sonderprotokoll; RS.; P. Wacek; VS. Buol-Schauenstein; BdE. und anw. (Buol 29. 3.), Thun, K. Krauß, Baumgartner; außerdem anw. Hartmann; abw. Bach. Vermerk Hartmanns: Gesehen, und [es] wurde von Sr. Exzellenz dem Herrn Chef der Obersten Polizeibehörde eine Bemerkung beigefügt.

MRZ. – KZ. 1238 1/2 –

Protokoll der am 28. März 1854 in Wien abgehaltenen Ministerkonferenz unter dem Vorsitze des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten und des kaiserlichen Hauses Grafen v. Buol-Schauenstein.

I. Gesuch der Wiener Judengemeinde um die Bewilligung zum Bau eines Bethauses in der Leopoldstadt

Der Minister des Kultus und des öffentlichen Unterrichtes referierte über das Anliegen der hiesigen Judengemeinde wegen Erbauung eines Bethauses in der Leopoldstadt.

Er bemerkte, daß die Juden zu diesem Zwecke schon vor zwei Jahren ein Haus in der Leopoldstadt gekauft haben. Die im Wege des hiesigen Statthalters über das erwähnte Gesuch der Juden vernommene Polizeioberdirektion erklärte sich für die Gewährung dieses Gesuches, und der Minister Graf v. Thun glaubte keinen Anstand nehmen zu sollen, die angesuchte Bewilligung zu erteilen, weil das zu erbauende Bethaus nur eine Filiale des hiesigen jüdischen Bethauses in der Seitenstettengasse sein soll, dieses letztere nur 1500 Menschen faßt, die Zahl der Juden hier schon im Jahre 1848 auf 4000 gestiegen ist und sich seitdem bis auf 14.000 vermehrt hat und die Juden zu ihrem Gottesdienste mehrere (jetzt schon 16) Privatbetstuben mieten mußten. Die Erbauung eines zweiten jüdischen Bethauses hier stelle sich auch schon aus dem Grunde als notwendig dar, um die nur schwer oder gar nicht zu überwachenden Privatbetstuben der Juden aufhören zu machen.

Als der Chef der Obersten Polizeibehörde FML. v. Kempen von dieser Bewilligung Kenntnis erhielt, ersuchte er den niederösterreichischen Statthalter, die Ausführung derselben zu sistieren. In der mit demselben darüber gepflogenen Rücksprache machte derselbe geltend, daß mit der Ausführung des erwähnten Baues innegehalten werden dürfte, bis Se. Majestät über die Besitzfähigkeit der Juden, deren Zahl nun schon hier in Wien so bedeutend gestiegen sei, im allgemeinen entschieden haben werden1, und daß zu einer solchen Bewilligung jedenfalls die Ah. Genehmigung Sr. Majestät einzuholen wäre, wie es auch bei dem Bau des ersten jüdischen Bethauses hier der Fall war2.

|| S. 202 PDF || Der Minister Graf Thun bemerkt, daß die Verhältnisse früher und itzt nicht ganz identisch seien. Damals handelte es sich nicht bloß um ein Bethaus, sondern auch um den Kauf eines Hauses dazu, welcher Kauf ohne Ah. Bewilligung nicht erfolgen konnte. Gegenwärtig sind die Juden bereits seit zwei Jahren im rechtlichen Besitze eines Hauses in der Leopoldstadt, welches nun die Bestimmung zu einem Bethause erhalten soll. Dieses Bethaus soll ferner nur eine Filiale des Bethauses in der Seitenstettengasse sein, und es sei nachgewiesen, daß die Zahl der hiesigen Juden sich seit dem Jahre 1848 ungemein vermehrt habe und daß ein Bethaus für dieselben durchaus nicht genüge. Der GM. v. Hartmann wiederholte in Vertretung des Chefs der Obersten Polizeibehörde3 dessen schon früher ausgesprochene Ansicht, daß die in der Rede stehende Angelegenheit bis zur definitiven Reglung der Besitzverhältnisse der Juden überhaupt aufgeschoben werden dürfte, weil erst dann werde beurteilt werden können, ob die Bitte der Juden ohne Anstand gewährt werden könne oder nicht. Ferner machte FML. v. Kempen auf den Umstand aufmerksam, daß religiöse Schwankungen und Neuerungen bei den Juden stattfinden, daß eine neue Sekte der orthodoxen gegenüber entstehe und sich ausbreite, welchem Beginnen durch den Bau eines zweiten Bethauses Vorschub geleistet würde, und daß endlich die Leopoldstadt nach und nach zu einem Ghetto umgestaltet würde, welches den Zuzug der Juden nach Wien ungemein befördern würde. Der Minister Graf Thun erinnerte dagegen, daß die religiösen Spaltungen unter den Juden allerdings unangenehm seien, daß aber die vielen Betstuben zur Bildung von Sekten viel mehr Anlaß geben als ordentliche Synagogen und daß durch Erbauung einer solchen die vielen Betstuben entfernt werden sollen — mit Beibehaltung von nur zwei Lokalitäten, einer in Roßau, wo die Juden ihr Spital haben, und einer in Fünfhaus, wegen der bedeutenden Entfernung von der Synagoge in der Stadt. Das Bedürfnis nach einer Filialsynagoge sei nachgewiesen, dieser Gegenstand stehe mit der Besitzfähigkeit der Juden in keiner Verbindung, und es sei nicht zu erwarten, und [es] könne kaum etwas [dazu] geschehen, daß die jüdische Bevölkerung hier je geringer werde, als sie im Jahre 1848 war.

Der Finanz- und Handelsminister , der Ansicht des Ministers Grafen Thun beistimmend, bemerkte, daß die Frage über die Zuständigkeit der Juden nach Wien und wer darüber zu entscheiden habe, ob sie hierher kommen dürfen oder nicht, nicht hierher gehöre, daß aber die Juden, welche auctore praetore sich bereits da befinden, in der Ausübung ihres Gottesdienstes nicht wohl gehindert werden können. Hier handle es sich auch nicht darum, daß sie erst einen Grund und Boden zu einer neuen Synagoge erwerben, den sie bereits seit zwei Jahren besitzen. || S. 203 PDF || Die gegenwärtige Frage stehe daher mit der Besitzfähigkeit der Juden, worüber erst Ah. Bestimmungen getroffen werden sollen, in keinem Zusammenhange4. Der Bau einer Synagoge in der Leopoldstadt werde auch kein Grund sein, der die Juden bestimmen dürfte, künftig mehr nach Wien zu ziehen, als es bisher der Fall war, da Judenbethäuser sich in näherer und fernerer Umgebung von Wien in zureichender Anzahl befinden. Der Finanzminister glaubte ferner, aufmerksam machen zu sollen, daß schon die letzte Maßregel bezüglich der Beschränkung der Besitzfähigkeit der Juden eine sehr nachteilige Wirkung auf die Finanzen und den Staatskredit geäußert habe und daß, würden auch bei der Gestattung eines neuen Bethausbaues für die Juden Schwierigkeiten gemacht, die einer Vexation nicht unähnlich sein würden, die Finanzen dieses gewiß wieder zu entgelten haben würden. Schwierigkeiten in der gedachten Beziehung würden auch der Zurücknahme der früheren toleranten Gesinnungen in Ansehung des Kultus der Juden gleichkommen5 und im allgemeinen einen ungünstigen Eindruck zurücklassen. Derselben Ansicht war auch der Justizminister . Nach seinem Dafürhalten haben die Besitzverhältnisse der Juden mit der Übung der Religion und dem Gottesdienste nichts gemein und stehen mit der gegenwärtigen Frage, da die Juden bereits ein Haus in der Leopoldstadt für ein neues Bethaus im rechtlichen Besitze haben, in keiner näheren Verbindung. Die zu erlassenden neuen Ah. Bestimmungen über die Besitzfähigkeit der Juden dürften wegen ihrer Allgemeinheit, und weil so viele spezielle Verhältnisse dabei zu berücksichtigen sein werden, wohl noch längere Zeit erwartet werden6. Die Juden, die sich bereits da befinden, müssen ihre Zuständigkeit hierher oder wenigstens die Bewilligung zum hierortigen zeitlichen Aufenthalte schon erwirkt haben, und da, wie vorkommt, ihre Zahl eine bedeutende ist, so dürfte ihnen der als notwendig erkannte Bau eines zweiten Bethauses hier nicht wohl versagt werden, zumal dadurch auch die vielen jüdischen Privatbetstuben beseitigt werden können. Der Umstand, daß eine neue Judensekte da besteht oder sich bildet, dürfte den Bau einer ordentlichen Synagoge nur noch erwünschter machen, weil nichts so sehr geeignet sein dürfte, den Sektengeist zu fördern, als die vielen Privatbethäuser. Daß sich hierdurch ein Ghetto in der Leopoldstadt bilden würde, sei nicht wohl anzunehmen, weil die Juden überall, wo sie wollten, Quartiere mieten können. In die Leopoldstadt würden sie sich nur ihres Gottesdienstes wegen begeben, ohne deshalb auch dort wohnen zu müssen. Endlich bemerkte der Justizminister, daß es für die Anhänger eines aim Staate zugelassenena Glaubensbekenntnisses nichts Verletzenderes geben könne, als wenn man ihnen nicht einmal gestatten will, ein für die Anzahl desselben als notwendig erkanntes Bethaus zu errichten. || S. 204 PDF || Der Vorsitzende Minister der auswärtigen Angelegenheiten bemerkte, daß aus dem Bau eines Filialbethauses in der Leopoldstadt keineswegs der Nachteil eines Ghettos für die gedachte Vorstadt zu besorgen sein dürfte. Synagoge und Ghetto seien zwei verschiedene Dinge, die eine zum Gottesdienste, das andere zur Wohnung bestimmt. Der Umstand, daß sich bei den Juden neue Sekten bilden, spreche um so mehr für die Erbauung einer ordentlichen Synagoge, weil nichts die Sektenentwicklung mehr befördern dürfte als Privatbetstuben oder Winkelsynagogen. Auch würde die Nichtgestattung des in der Rede stehenden Bethauses einer indirekten Zurücknahme der seit Kaiser Joseph in Österreich geltenden Toleranzgrundsätze7 gleichkommen, was einen höchst peinlichen Eindruck bei den Juden hervorbringen müßte.

Die Ministerkonferenz erklärte sich daher mit den Ansichten und dem Vorgange des Ministers Grafen Thun vollkommen einverstanden. Der GM. v. Hartmann behielt sich vor, diese hier entwickelten Ansichten zur Kenntnis des Chefs der Obersten Polizeibehörde FML. v. Kempen zu bringen. Würde derselbe nach Einsicht dieses Protokolls von seinen obigen Anständen abgehen, so läge nichts mehr im Wege, daß der Minister Graf Thun seiner oberwähnten Bewilligung weitere Folge gebe. Im entgegengesetzten Falle aber würde er die abweichenden Ansichten der Ah. Schlußfassung Sr. Majestät au. unterziehen8.

A[h]. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Franz Joseph. Wien, den 2. Mai 1854.