Nr. 22 Ministerrat, Wien, 12. Oktober 1914
RS.Reinschrift; P. Ehrhart; VS.Vorsitz Stürgkh; BdE.Bestätigung der Einsicht und anw.anwesend (Stürgkh 12. 10.), Georgi, Hochenburger, Heinold, Forster, Hussarek, Trnka, Schuster, Zenker, Engel, Morawski.
Protokoll des zu Wien am 12. Oktober 1914 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh.
I. Erwirkung einer kaiserlichen Verordnung betreffend Abänderung der bisher getroffenen Stundungsanordnung
[I.] ℹ️ Der Justizminister erbittet die Zustimmung des Ministerrates zur Erwirkung einer kaiserlichen Verordnung aufgrund des § 14 des Staatsgrundgesetzes, womit die Regierung zur Abänderung von Bestimmungen der kaiserlichen Verordnung vom 27. September 1914, RGBl. Nr. 261, über die Stundung privatrechtlicher Forderungen ermächtigt wird, und zur Erlassung von Gesamtministerialverordnungen, womit Bestimmungen der zuletzt genannten kaiserlichen Verordnung geändert werden1.
Nach Erscheinen der kaiserlichen Verordnung vom 27. September 1914 seien Stimmen laut geworden, welche darauf hinwiesen, dass die infolge der kriegerischen Ereignisse eingetretenen wirtschaftlichen Verhältnisse in Galizien und in der Bukowina eine Änderung der Stundungsanordnung für jene Gebiete dringend nötig machen2. Angesichts der gegebenen Sachlage sei es namentlich ausgeschlossen, dass die dortigen Schuldner die ihnen nach § 1 Absatz 2 der letzten Stundungsanordnung obliegende Verpflichtung, ein Viertel der gegen sie bestehenden Forderungen, mindestens aber einen Betrag von 100 K, zu zahlen, erfüllen können. Ähnliche Schwierigkeiten bestünden auch hinsichtlich der Forderungen gegen Versicherungsanstalten, der Forderungen aus laufender Rechnung und aus Einlagen gegen Kassenscheine und aus Einlagebüchern. Im Allgemeinen seien die von den Vertretern der galizischen Interessentenkreise geäußerten Wünsche dahin zusammenzufassen, dass sie auf Wiederherstellung der sachlichen Bestimmungen der Stundungsanordnung vom 13. August 1914 bei Aufrechthaltung jener Bestimmungen der Stundungsanordnung vom 27. September 1914 hinauslaufen, die weitere Begünstigungen für den Schuldner, wie zum Beispiel das richterliche Stundungsrecht und dergleichen, festsetzen3. Den vorgebrachten Beschwerden und Wünschen könne die Berechtigung nicht abgesprochen werden und man hätte ohne Weiters schon gelegentlich der Verfassung der letzten Stundungsanordnung darauf Bedacht genommen, wenn sie zeitgerecht bekanntgegeben worden wären, was jedoch ungeachtet der gebotenen Gelegenheit nicht geschehen ist. Der sprechende Minister möchte es auch jetzt grundsätzlich befürworten, in einer Sonderbestimmung für Galizien und die Bukowina grundsätzlich die volle Stundung aller Verbindlichkeiten von Schuldnern in diesen Gebieten auszusprechen. Die Ausnahmen von dieser allgemeinen Stundungsanordnung wären im Wesentlichen dieselben wie in der kaiserlichen Verordnung vom 13. August 1914, nur seien für Wechsel und Schecks gewisse besondere Bestimmungen hinsichtlich des Wohnortes des Wechselschuldners notwendig. Von Bedeutung sei es ferner, in der für Galizien und die Bukowina zu erlassenden Sonderverordnung ein richterliches Stundungsrecht auch für alle der Regel nach von der Stundung ausgenommenen Forderungen zu statuieren. In einer längeren Erörterung, an der sich neben dem sprechenden Minister der Ministerpräsident, der Leiter des Finanzministeriums, der Ackerbauminister, der Eisenbahnminister und Sektionschef v. Morawski beteiligen, wird die Absicht gebilligt, für Galizien und die Bukowina Sonderbestimmungen im beantragten Sinne zu erlassen4.
Der Justizminister führt des Weiteren aus, dass auch aus den westösterreichischen Wirtschaftskreisen Beschwerden gegen die letzte Stundungsanordnung vom 27. September 1914 laut geworden sind und zwar Beschwerden, die sich vorwiegend, ja fast ausschließlich gegen den § 1 Absatz 2 über den sogenannten Abbau des Moratoriums richten. In dieser Beziehung sei hervorzuheben, dass im Laufe der jener Stundungsanordnung vorangegangenen Vorverhandlungen mit Interessenten von letzteren sogar Anträge auf einen viel weiter gehenden Abbau, und zwar gerade aus Handels- und Gewerbekreisen, gestellt worden seien, und dass gerade das Justizministerium es war, das vorläufig noch eine gewisse Zurückhaltung anempfehlen zu müssen glaubte. Umso auffallender sei es, dass nun gerade aus diesen Kreisen trotz des im § 1 Absatz 2 unternommenen, nur beschränkten Abbaues gegen diese Stellung genommen werde5. Eine gewisse Berechtigung könne aber allerdings dem Wunsche nach Beseitigung der Mindestgrenze von 100 K nicht abgesprochen werden, weil Schuldner, die eine größere Anzahl kleinerer Forderungen, die sich unter 100 K oder nicht weit über 100 K bewegen, zu erfüllen haben, gezwungen werden, volle oder fast volle Zahlung zu leisten, während Schuldner, welche große Verbindlichkeiten zu erfüllen haben, verhältnismäßig glimpflicher wegkommen. Der sprechende Minister möchte daher vorschlagen, abgesehen von Wechseln und Schecks, für welche besondere Gesichtspunkte in Betracht kommen, die Mindestgrenze von 100 K fallen zu lassen, was dann allerdings auch gewisse Fassungsänderungen im § 15 der kaiserlichen Verordnung vom 27. September 1914 zur Folge hätte. Aus beteiligten Kreisen sei weiters der Wunsch laut geworden, Erleichterungen in der Zahlung der Anfang November 1914 fällig werdenden Bestandzinse für Mieträume, die vorwiegend als Geschäftsräume verwendet werden, zu gewähren, auf welchen Wunsch der sprechende Minister einzugehen bereit wäre. Außerdem glaube er, eine Abänderung des § 2 Punkt 10 der letzten Stundungsanordnung, wonach der Verkauf eines Pfandstückes nicht früher als sechs Monate nach Ablauf der ursprünglich bestimmten Verfallszeit vorgenommen werden dürfe, in der Richtung beantragen zu sollen, dass diese Frist nur für die gewerblichen Pfandleiher, nicht auch für die Pfandleihanstalten Geltung haben solle, da die Organisationsbestimmungen der letzteren ohnedies die erforderlichen Kautelen biete. In der sich an diese Darlegungen knüpfenden längeren Diskussion, an der sich außer dem sprechenden Minister der Ministerpräsident, der Eisenbahnminister, der Ackerbauminister und der Leiter des Finanzministeriums beteiligen, finden die Vorschläge des Justizministers im Allgemeinen volle Billigung. Der Ministerrat spricht sich jedoch über eine Anregung des Leiters des Finanzministeriums, die auch der Ministerpräsident zur seinigen macht, dahin aus, im § 1 Absatz 2 nicht nur für alle Forderungen mit Ausnahme von Wechseln und Schecks die Mindestgrenze von 100 K fallen zu lassen, sondern außerdem zu bestimmen, dass die am 14. Oktober 1914 fällig werdenden Vierteile des alten Forderungsstockes nicht auf einmal, sondern in zwei Teilbeträgen, nämlich 10% der Gesamtforderung am 14. Oktober, die restlichen 15% aber einen Monat später zu bezahlen sind. Ferner entscheidet sich der Ministerrat dahin, die angeregte Begünstigung für die Bestandzinse dermalen nicht zu gewähren6.
Nachdem sohin über den Inhalt der zu treffenden Verordnungen volle Übereinstimmung erzielt erscheint, möchte der Justizminister auf die formale Seite der Angelegenheit übergehen. In dieser Beziehung befürwortet er, um nicht an Ah. Stelle mehrere Verordnungsentwürfe unterbreiten zu müssen, die Erwirkung einer als Rahmenverordnung gedachten kaiserlichen Verordnung, in der die Ermächtigung gegeben werden soll, für solche Gebiete, in denen oder in deren Nähe sich kriegerische Ereignisse abspielen, Sonderbestimmungen auf dem Gebiete des Stundungsrechtes zu erlassen, sowie die weitere Ermächtigung, Ausnahmen von der Bestimmung des § 1 Absatz 2 der kaiserlichen Verordnung vom 27. September 1914 festzusetzen. Diese letztere Ermächtigung müsse deshalb eingeholt werden, weil in der letzten Stundungsanordnung eine so weitgehende Befugnis, die übrigens damals, insoweit die Sachlage zu überblicken war, auch nicht notwendig erschien, nicht vorgesehen ist. Unter der Voraussetzung des Erfließens der besprochenen kaiserlichen Verordnung wären die Sonderbestimmungen für Galizien und die Bukowina einerseits und die für ganz Österreich geltenden Abänderungen der kaiserlichen Verordnung vom 27. September 1914 anderseits in je einer gesonderten Gesamtministerialverordnung zu erlassen. Dieser Vorschlag findet allseitige Zustimmung.
Der Justizminister erhält sohin die erbetene Zustimmung des Ministerrates aufgrund der anverwahrten Fassung der bezüglichen Entwürfea,7.
Wien, am 12. Oktober 1914. Stürgkh.
Ah. E.Allerhöchste Entschließung Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen. Wien, am 19. Dezember 1914. Franz Joseph.