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Nr. 9 Ministerrat, Wien, 5. August 1914

RS.; P. Ehrhart; VS. Stürgkh; BdE. und anw. (Stürgkh 5. 8.), Georgi, Hochenburger, Heinold, Forster, Hussarek, Trnka, Schuster, Zenker, Engel, Morawski.

KZ. 55 – MRZ. 38

Protokoll des zu Wien am 5. August 1914 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh.

I. Diskussion über Approvisionierungsfragen

I. ℹ️ Der Ministerpräsident möchte, ohne eine Beschlussfassung des Ministerrates in dieser Richtung provozieren zu wollen, die Tatsache zur Sprache bringen, dass sich in einzelnen Gebieten der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder ein Mangel an Approvisionierungsmitteln fühlbar mache.

Der Grund hiefür liege in der großen Menge des von militärischer Seite in Anspruch genommenen Approvisionierungsmaterials, wodurch sich das zur Verfügung stehende Gesamtquantum reduziere, ferner in dem Umstande, dass die Erschwerung beziehungsweise Sistierung des Güterverkehres auf den Bahnen eine bessere Verteilung des vorhandenen Quantums nicht recht gestatte1. Für Wien seien bereits ausreichende Vorkehrungen getroffen2. Ein empfindlicher Mangel mache sich aber nach den Berichten der Landeschefs dermalen in Galizien, Dalmatien und Tirol fühlbar3. Es werde notwendig sein, das Geeignete zur Abhilfe vorzukehren. Auf wesentliche Zufuhren aus dem Auslande könne man angesichts der kriegerischen Verwicklungen und der Erlassung von Ausfuhrverboten in den Nachbarstaaten nicht rechnen. Es bleibe also nur der Weg übrig, entsprechende Teile des im Inlande verfügbaren Quantums an die Mangel leidenden Punkte zu dirigieren. Der Handelsminister erwähnt, dass sämtliche österreichische Schiffe, welche Getreideladungen verfrachteten, zurückberufen seien4. Es bestehe also speziell in dieser Richtung die Hoffnung auf Vermehrung der Vorräte. Der Eisenbahnminister glaubt, dass man mit der Kriegsverwaltung wegen Freigebung entsprechender Züge ein Arrangement werde treffen können und müssen. Im Übrigen wird konstatiert, dass sämtliche Einleitungen, soweit sie nach der Sachlage möglich erscheinen, bereits im Zuge sind5.

II. Sicherung der Ernte und Feldbestellungsarbeiten

II. ℹ️ Der Ackerbauminister hebt hervor, dass sich gerade mit Rücksicht auf die vorerwähnten Umstände Maßnahmen hinsichtlich der diesjährigen Ernte mit besonderer Deutlichkeit als notwendig darstellen.

Er erbittet daher vom Ministerrate die Zustimmung zur Erwirkung einer kaiserlichen Verordnung wegen Erlassung von infolge des Kriegszustandes notwendigen Anordnungen zur Sicherstellung der Ernte- und Feldbestellungsarbeiten. Die Einbringung und Gewinnung der stehenden Ernte sowie die Vorbereitung der Felder für den Herbstanbau erheische rasche Maßnahmen zur Unterstützung jener landwirtschaftlichen Betriebe, die infolge der Mobilisierung von Arbeitskräften entblößt wurden. In der Folge dürfte sich noch die Notwendigkeit weiterer Verfügungen zur Sicherung der Ernte- und Feldbestellungsarbeiten in einzelnen landwirtschaftlichen Betrieben im Interesse der Allgemeinheit ergeben. Hiefür stelle sich der Verordnungsweg, weil der elastischeste, als der zweckmäßigste dar. Um aber nicht lediglich auf die freiwillige Mitwirkung angewiesen zu sein, sondern auch einen angemessenen Zwang ausüben zu können, sei es notwendig, eine gesetzliche Basis zu schaffen. Demgemäß beabsichtige er die in Rede stehende kaiserliche Verordnung zu erwirken, die für das Ackerbauministerium die Voraussetzungen zur Erlassung einer durchführenden Verordnung im Einvernehmen mit dem Ministerium des Innern bieten würde. Das Projekt, das er sohin in die Wege leiten wolle, bezwecke die Schaffung einer einschlägigen Organisation durch Bildung von Ernteausschüssen in den Gemeinden, welche Ausschüsse das eigentliche exekutive Organ zu bilden hätten, aber unter der Aufsicht der politischen Behörden stehen würden. Sache dieser Ernteausschüsse werde es sein, durch entsprechende Verteilung der Arbeitskräfte die planmäßige und erfolgreiche Durchführung der Ernte- und Feldbestellungsarbeiten zu sichern. Der Eisenbahnminister teilt mit, er habe grundsätzlich in Aussicht genommen, für die Erntearbeiter unter gewissen Voraussetzungen die freie Fahrt zu bewilligen.

Der Ministerrat erteilt dem Ackerbauminister die erbetene Zustimmung6.

III. Aufschub und Unterbrechung von Freiheitsstrafen während der Mobilisierung

III. ℹ️ Der Justizminister teilt mit, dass das Kriegsministerium die Anregung gegeben hat, für den Fall einer allgemeinen Mobilisierung eine Amnestie zu erwirken, um dadurch die Wehrmacht der Monarchie zu stärken, indem ihr Personen zugeführt würden, die ihr sonst durch den Strafvollzug entzogen wären, und um die Strafvollzugsorte zu entlasten.

Gegen eine Amnestie im gegenwärtigen Zeitpunkte ergeben sich aber insoferne Bedenken, als nicht daran gedacht werden könnte, jetzt etwa auch politische Verbrecher der Ah. Gnade zu empfehlen. Der Ausschluss der politischen Verbrechen von einer Amnestie würde aber dieses Bedenken nicht beheben, da sich unter den Sträflingen, die eine auch nur kurzzeitige Strafe zu verbüßen haben, Personen befinden können, die als staatsgefährlich bekannt sind. Es wäre ferner sehr bedenklich, gegenwärtig Personen die durch eine strafbare Handlung verwirkte Freiheit zu belassen oder wiederzugeben, die nicht gerade für die Sicherheit des Staates, aber für andere wichtige Rechtsgüter gefährlich sind. Die jedenfalls unerlässliche Ausnahme der schweren Verbrechen von einer Amnestie und selbst ihre Einschränkung auf Strafen kurzer Dauer würden diese Bedenken abschwächen, aber nicht beseitigen können. Denn weder die Art der strafbaren Handlung noch die Dauer der verhängten Strafe geben einen sicheren Anhaltspunkt für die Gefährlichkeit des Verurteilten. Sie müsste vielmehr Gegenstand einer Beurteilung in jedem einzelnen Falle sein. Eine solche aber ist unvereinbar mit einer Amnestieverfügung, deren Umfang von vornherein feststehen muss. Diese Erwägungen weisen umso mehr auf einen anderen Weg, als er es ermöglicht, die eingangs genannten Zwecke sicher zu erreichen, nämlich den Weg, den Vollzug von Freiheitsstrafen aufzuschieben oder zu unterbrechen, wenn er der Erfüllung der militärischen Dienstpflicht entgegensteht. Er ist bereits in § 401 b Strafprozessordnung vorgesehen7. Allein die Vorschrift, wonach der Vollzug der gegen eine Militär- (Landwehr-) Person verhängten Freiheitsstrafe, die sechs Monate nicht übersteigt, auf Verlangen der zuständigen Militär- (Landwehr-) Behörde zu verschieben oder zu unterbrechen ist, wenn der Verurteilte zur Dienstleistung einberufen wird, reicht für Kriegszeiten nicht aus. Wegen jedes einzelnen Verurteilten anzusuchen, würde eine unnötige Belastung der Militärbehörden bedeuten, ein allgemeines Ansuchen auch gefährlichen Elementen zugutekommen. Überdies ist § 401 b auf die Landsturmmänner nicht ausgedehnt.

Demnach empfiehlt es sich, die Strafprozessordnung durch eine kaiserliche Verordnung aufgrund des § 14 Staatsgrundgesetzes zu ergänzen. Der Vollzug jeder sechs Monate nicht übersteigenden Freiheitsstrafe, die jemand zu verbüßen hat, der laut einer Mobilisierungskundmachung zur Dienstleistung in der gemeinsamen Wehrmacht, in der Landwehr oder im Landsturm verpflichtet ist, ist für die Dauer der Mobilität oder bis zum früheren Ausscheiden des Verurteilten aus der militärischen Dienstleistung aufzuschieben. Dasselbe gilt für die Unterbrechung solcher Freiheitsstrafen, deren Vollzug bereits begonnen hat. Eines Ansuchens der Militärbehörde bedarf es in keinem der beiden Fälle. Verurteilte, die nach der Art oder dem Beweggrunde der strafbaren Handlung oder nach ihrem Lebenswandel für die Sicherheit des Staates oder des Eigentums gefährlich sind, sind von diesen Vorschriften ausgenommen. Dadurch, dass so – in den Strafanstalten vom Hauskommissär im Einvernehmen mit dem Leiter der Anstalt, sonst vom Präsidenten des Gerichtshofes oder Vorsteher des Bezirksgerichtes – die Frage der Gefährlichkeit besonders geprüft wird, werden die militärischen Interessen und die der Sicherheit gewahrt. Dem Ergebnisse nach steht diese Maßregel hinter der Wirkung einer Amnestie nur insoweit zurück, als der Verurteilte seiner Militärpflicht unter dem Drucke des Bewusstseins genügen muss, später die zuerkannte Strafe oder ihren Rest verbüßen zu müssen. Es ist nun gewiss moralisch von großem Werte, wenn den einrückenden Verurteilten die Aussicht eröffnet werden kann, dass sie sich einer Begnadigung würdig erweisen können. Deshalb soll ein Ah. Handschreiben erwirkt werden, in dem Se. Majestät erklären würde, in Aussicht zu nehmen, den Verurteilten ihre Strafe oder den Rest der Strafe nachzusehen, wenn sie ihre Dienstpflicht treu erfüllt haben werden. Die Sträflinge, deren Strafe unterbrochen wird, sollen von der nächsten Militärlokalbehörde übernommen werden, um sicherzustellen, dass sie die Unterbrechung nicht missbrauchen. Die Militärbehörde wird ihnen nach Tunlichkeit kurze Urlaube gewähren, damit sie der sonst wirksamen Frist zur Ordnung ihrer Angelegenheiten nicht verlustig gehen. Der § 401 a der Strafprozessordnung lässt die Unterbrechung des Vollzuges einer Freiheitsstrafe nur wegen wichtiger und dringender Familienangelegenheiten für die Dauer von höchstens acht Tagen zu. Gegenwärtig bedarf diese Vorschrift einer Ausdehnung. Wenn es sich um nicht gefährliche Sträflinge handelt, soll ihre Arbeitskraft jetzt dem allgemeinen Wohle nicht entzogen sein. Es soll deshalb für die Dauer des Kriegszustandes der Vollzug einer sechs Monate nicht übersteigenden Freiheitsstrafe unterbrochen werden können, wenn die Abwesenheit des Sträflings von seinem Geschäfte oder Erwerb seinen oder seiner Familie wirtschaftlichen Verfall herbeiführen würde, oder wenn die Arbeitskraft des Sträflings für die Volkswirtschaft dringend notwendig ist.

Der Justizminister erbittet sohin die Zustimmung des Ministerrates zur Erwirkung der Erlassung einer kaiserlichen Verordnung über den Aufschub und die Unterbrechung von Freiheitsstrafen sowie zur Erwirkung eines Ah. Handschreibens in dem vorbesprochenen Sinne. Nach einer kurzen Debatte, an der sich außer dem sprechenden Minister der Minister für Landesverteidigung, der Minister des Innern und der Ackerbauminister beteiligen, erteilt der Ministerrat die erbetene Zustimmung8.

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen. Wien, am 14. Oktober 1914. Franz Joseph.