Nr. 427 Ministerrat, Wien, 29. Oktober 1882 – Protokoll II
RS.Reinschrift; P. Jaeger; VS.Vorsitz Taaffe; BdE.Bestätigung der Einsicht und anw.anwesend (Taaffe 29. 10.), Ziemiałkowski, Falkenhayn, Pražák, Conrad (10. 11.), Welsersheimb, Dunajewski, Pino; außerdem anw.anwesend Kraus.
KZ. 104 – MRZ. 83
Protokoll II des zu Wien am 29. Oktober 1882 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Ministerpräsidenten Grafen Taaffe.
I. Die Verhältnisse in Prag; Vorkommnisse im Landtage; Durchführung der Anordnungen bezüglich der Universität; Frage der Errichtung der böhmischen medizinischen Fakultät
[I.] Der ℹ️Ministerpräsident bringt zur Verhandlung die letzten Vorgänge sowie überhaupt die Zustände in Prag und ladet [den Statthalter vo]n Böh[men] Frei[he]rrn v. Kraus ein, hierüber zu berichten. Der Statthalter Freiherr v. Kraus macht zunächst Mitteilung über die Vorkommnisse im böhmischen Landtage. Der Landtag habe mit einer Rücksichtlosigkeit, wenn er nicht sagen wolle Gewalttätigkeit des Oberstlandmarschalls begonnen. ℹ️Denn obwohl damals schon beide Universitäten konstituiert und zwei Rektoren vorhanden waren, ließ der Oberstlandmarschall nur an den Rektor der deutschen Universität die Einladung zum Eintritte in den Landtag ergehen1. Der Statthalter, obwohl von dem Vorgange früher unterrichtet2, hielt sich nicht berechtigt, einzugreifen, nachdem die Regierung der Ansicht war, dass es sich hiebei um eine noch un[klare Fra]ge handle. Richtig [wär]e es jedoch nach der Meinung [d]es Statthalters gewesen, wenn der Oberstlandmarschall wenigstens mit der Avisierung bis nach der Zuerkennung des Virilstimmrechtes an den zweiten Rektor gewartet hätte. In den tschechischen Kreisen, wo man durch den Vorgang sehr unangenehm berührt war, beabsichtigte man die Einbringung eines Protestes gegen diesen Vorgang jedoch nur, wie ihm (Statthalter) mitgeteilt wurde, um das Recht zu markieren und auszudrücken, dass die Handlungsweise des Oberstlandmarschalls taktlos gewesen sei. Die Verweigerung, schließlich auch die Niederlegung eines schriftlichen Protestes azu gestattena, sei bekannt.
Im weiteren Verlaufe wickelten sich die Verhandlungen des Landtages friedlich ab. Selbst bei der Verhandlung über die [] deut[sche]n Theaters stimmten die Tschechen für die Forderung per 300.000 fl., obwohl man eine so hohe Forderung nicht erwartet hatte und darüber befremdet war3. Erst gegen den Schluss des Landtages hin wurde die Situation wieder gereizt. Am 17. Oktober äußerte sich der Oberstlandmarschall dem Statthalter gegenüber dahin, dass er den Landtag vor 26. oder 27. nicht würde schließen können, weil man nicht früher fertig werden könnte. Der Statthalter habe darauf erwidert, dass wegen der Delegationen die Schließung jedenfalls am 23. erfolgen müsste, worauf wieder vom Oberstlandmarschall bemerkt wurde, dass er auf seine Gefahr dies nicht tun könnte und mindestens noch am 24. Sitzung halten müsste, außer die Regierung würde [explizit die] Schließung wollen. [A]m 21. nun sei die Sache [e]rhellt worden durch die Ankündigung der Verhandlung über den Kredit für den Bau eines deutschen Sommertheaters. Wegen dieser Vorlage entstand eine enorme Gärung. Dem Statthalter wurde auch zugleich gemeldet, dass Bauern aus Leitmeritz sich in Prag herumtreiben und im deutschen Kasino Konventikel abhalten. Weiters erhielt er Andeutungen, woraus er entnehmen konnte, dass auch die deutschen Abgeordneten insbesondere die Abgeordneten der Landgemeinden sich wegen dieser Theatervorlage in großer Verlegenheit befänden.
Nach erlangter Instruktion ließ der Statthalter noch am 21. an den Oberstlandmarschall die schriftliche Mitteilung ergehen, dass infolge Ah. [Auftrags Sr. Majes]tät der Landtag am 23. zu schließen sei. Der Statthalter hatte für den 23. erwartet, dass möglicherweise für die Theatervorlage die Dringlichkeit beantragt und auch eine Abendsitzung abgehalten werden würde. Doch es stellte sich heraus, dass die Theatervorlage fallen gelassen worden war. Freilich ging aus der Haltung des Oberstlandmarschalls hervor, dass er über die Wendung der Dinge nicht befriedigt war. Am Beginn der Sitzung bemerkte derselbe nach von ihm angeordneter Vorlesung der Mitteilung des Statthalters vom 21., dass er selbstverständlich den Ah. Auftrag ausführen werde. Nach Erledigung der Tagesordnung schloss derselbe mit den bekannten kurzen Worten und machte dessen Be[nehmen] den Eindruck eines [un]feierlichen schroffen Abbrechens4.
Der Handelsminister bemerkt, dass er heute mit dem Landtagsabgeordneten v. Streeruwitz gesprochen und dass ihm derselbe bemerkt habe, dass die Abgeordneten der deutschen Landgemeinden sehr froh darüber gewesen seien, dass die Theatervorlage nicht mehr vorgebracht wurde, indem die Annahme derselben eine große Missstimmung hervorgebracht hätte.
ℹ️Der Ministerpräsident erteilt dem Statthalter weiters das Wort zur Berichterstattung über die Zustände und Desiderien bezüglich der böhmischen Universität5. Der Statthalter Freiherr v. Kraus bemerkt, dass die Universitäts[frage] [] deshalb die Aufmerksamkeit herausfordere, weil aus jedem auf die Universität bezugnehmenden Akte politisches Kapital geschlagen werde6. Nun sei aber die Sache noch lange nicht in das Geleise einer ruhig fortlaufenden Entwicklung gebracht. Eine Reihe von Konsequenzen des geschaffenen Verhältnisses sei noch zu ziehen und dort, wo Anordnungen über die Verhältnisstellung getroffen seien, müsse er in der Durchführung Anstände gewärtigen. Der Statthalter erinnert, dass er hinsichtlich der Insignien der Würdenträger der Universität Vorkehrungen treffen musste. Er besorgt Schwierigkeiten hinsichtlich der Durchführung der Anordnung über die Benützung des Universitätsarchives von beiden Universitäten sowie hinsichtlich der Beobachtung der provisorischen [Regelun]g über die Benützung [der] für allgemeine Universitätszwecke bestimmten Räumlichkeiten. Zudem stehe man in Renitenzfällen Verhältnissen gegenüber, bei denen er sich fragen müsse, mittelst welcher Mittel die Befolgung der Anordnungen zu erreichen sei. Der Statthalter muss hinsichtlich der Stellung zu den Universitätsbehörden auch bemerken, dass dieselben ihre Beschwerden gegen Verfügungen der Statthalterei unmittelbar an das Ministerium für Kultus und Unterricht zu richten pflegen, sodass der Statthalter nicht wisse, ob diese oder jene Anordnung hingenommen oder ob dagegen Einsprache erhoben worden sei7.
ℹ️Der Minister für Kultus und Unterricht bemerkt, er sehe aus dem Ganzen nur – und dem widerspreche die heutige Mitteilung [] die Angelegenheiten im Begriffe seien, sich zu ordnen. Hinsichtlich der Insignien sei nun vorgesorgt. Die gemeinschaftliche Benützung des Archives sei angeordnet8. Würde sie Anständen unterliegen, so brauchte der Statthalter nur die Überwachung des Archives einer indifferenten Persönlichkeit anzuvertrauen, die für die Einhaltung der Anordnung Sorge zu tragen hätte. Hinsichtlich der Benützung der Aula sehe er nach allem, was bisher schon geschehen, keine Schwierigkeit aufkeimen. Natürlich müsse die Lokalitätenfrage nur als provisorisch geordnet betrachtet werden. Die definitive Lösung werde sich erst ergeben, wenn ein neues Gebäude für die andere Universität hergestellt sein werde, bei welcher Inaussichtnahme er übrigens [empfehle,] dass es der Wahl zu über[lass]en sein würde, in welches Gebäude die deutsche und in welches die böhmische Universität einzöge. Was die in Renitenzfällen anzuwendenden Mittel anbelange, so habe er auf das Vorgehen bei etwaigen Anständen hinsichtlich des Archives schon hingewiesen. Im Übrigen stehe es dem Statthalter vermöge der Exekutivgewalt frei gegen ungehorsame Beamte mit Gehaltsperre vorzugehen und falls es sich um Kassen handelte, durch Abnahme der Schlüssel sich in die Möglichkeit der Verfügung über dieselben zu setzen. Bezüglich des Verkehres der akademischen Behörden aber wolle er die Anordnung einschärfen, dass sämtliche Eingaben an das Ministerium durch den Statthalter zu gehen haben und wolle er direkt einlangende Eingaben [] [Ausku]nft nicht annehmen und mit der entsprechenden Weisung zurücksenden.
ℹ️Der Finanzminister glaubt auch, dass der Statthalter hinsichtlich der Durchführungsmittel nicht in Verlegenheit kommen könne. Seines Erachtens wäre der Statthalter auch in der Lage, einen widerspenstigen Beamten unter gleichzeitiger Anzeige an das Ministerium zu suspendieren. Der Statthalter Freiherr v. Kraus glaubt, dass am besten gewesen wäre, die ganze Universitätsangelegenheit durch einen besonderen Regierungskommissär durchzuführen. Der Minister für Kultus und Unterricht bemerkt, dass ja bis jetzt alles, was angeordnet wurde, durch den Statthalter anstandslos durchgeführt worden sei.
ℹ️[Der St]atthalter Freiherr v. Kraus [e]rlaubt sich ferner aufmerksam zu machen auf das Drängen zur Erweiterung der böhmischen Universität durch die Kreierung der medizinischen Fakultät an derselben9. Damit durch einen vorbereitenden Schritt in dieser Richtung auf die Stimmung besänftigend gewirkt werde, halte er es für entsprechend, dass vorläufig von ihm schon zur Anregung gebrachte Ernennungen von drei Professoren für drei praktisch-medizinische Lehrkanzeln vorgenommen werden. Es würde auf diese Weise für jetzt wenigstens eine Art Rumpffakultät geschaffen. Im Laufe der über die Anregung gepflogenen Diskussion stellt sich heraus, dass zwei der diesfalls zu ernennenden Persönlichkeiten bereits Profes[soren der] bestehenden medi[zi]nischen Fakultät sind und dass die vom Statthalter bei seinem bezüglichen Ernennungsantrage vertretene Intention der tschechischen Kreise dahin gehe, dass die Professoren bereits mit der Bestimmung für die böhmisch-medizinische Fakultät ernannt werden sollen.
ℹ️Sonach bemerkt der Finanzminister, dass es ganz unmöglich sei, für eine Fakultät, welche noch gar nicht bestehe, Professoren zu ernennen, abgesehen davon, dass das Wirken eines Professors eines praktischen medizinischen Faches den Bestand der bezüglichen Klinik bzw. die Zuweisung einer solchen zur notwendigen Voraussetzungen habe. Wenn nun die fraglichen Professoren in der Weise, wie es gewünscht werde, ernannt würden, so [würden] dieselben an der deut[sch]en medizinischen Fakultät, welcher sie nicht zugehörten, nicht lehren und an der böhmischen medizinischen Fakultät gleichfalls nicht, weil eine solche Fakultät nicht existiert.
ℹ️Der Minister für Kultus und Unterricht kann nur wiederholen, was bereits vom Vorredner bemerkt wurde. Ernennungen in der intendierten Weise hätten keinen Boden. Man könne jetzt für die diesfälligen böhmischen Wünsche nicht mehr tun, als Professoren mit der Bestimmung für böhmischen Vortrag an der jetzigen Fakultät zu ernennen und sei er daher auch bereit, diejenige der fraglichen drei Persönlichkeiten, welcher noch keine Professur bekleide, den Dr. Janovský, für eine solche Ernennung in Aussicht zu nehmen.
ℹ️Der Ministerpräsident glaubt, [d]ass der Statthalter den [entsprech]enden Kreisen werde sagen können, dass man eben auf diese mögliche Weise für die böhmische Fakultät vorbereitend vorgehen wolle. Der Statthalter Freiherr v. Kraus erklärt sich bereit, darnach beschwichtigend einwirken zu wollen10.
Wien, am 29. Oktober 1882. Taaffe.
Ah. E.Allerhöchste Entschließung Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen. Wien, am 11. Dezember 1882. Franz Joseph.