EINLEITUNG

Von Klaus Koch

Das Ministerium Adolph Auersperg stellt sich vor

ℹ️Nachdem das föderalistische Regierungsexperiment Hohenwart-Schäffle gescheitert und vom Übergangskabinett Holzgethan abgelöst worden war, beauftragte der Kaiser Adolph Fürst v. Auersperg mit der Bildung einer neuen Regierung, die nach kurzen Sondierungen am 25. November 1871 ernannt werden konnte.1 Nach den unruhigen Regierungsjahren seit dem Staatsumbau von 1867 sollte sie – nach dem späteren Ministerium Taaffe II (1879–1893) – mit mehr als sieben Jahren die zweitlängste k. k. Regierung Cisleithaniens werden und als solche eine liberale Ära begründen. Etikettieren lässt sie sich am ehesten mit den Begriffen deutsch-liberal, zentralistisch und verfassungstreu, letzteres jedenfalls in Bezug auf das unbedingte Festhalten an der Dezemberverfassung zulasten föderalistischer Lösungsversuche der in der Anfangsphase dieses Ministeriums vorherrschenden böhmischen Frage.

ℹ️Dem Regierungs- und Kurswechsel in Cisleithanien war am 8. November 1871 die Entlassung Friedrich Ferdinand Graf Beusts als Reichskanzler an der Spitze der Gesamtmonarchie vorangegangen. Sein Nachfolger als k. u. k. Außenminister und Minister des kaiserlichen Hauses wurde Gyula Graf Andrássy. An ihm bzw. den Auffassungsunterschieden bezüglich der galizischen Frage war auch Ernst Frh. v. Kellersperg gescheitert, den Kaiser Franz Joseph eigentlich ursprünglich Ende Oktober 1871 mit der cisleithanischen Regierungsbildung beauftragt hatte.2

ℹ️Aufgrund ihrer personellen Zusammensetzung aus fast durchwegs akademisch gebildeten Fachleuten hätte die Regierung Adolph Auersperg ebenfalls das Epitheton ornans „Doktorenministerium“ verdient, das ihren Vorgängerkabinetten anerkennend zuteil geworden war. Dies galt zwar nicht für den neuen Regierungschef, der abgesehen von einer kurzen Amtszeit als Landespräsident von Salzburg bloß auf eine relativ bescheidene Militärlaufbahn zurückblicken konnte. Den forschen Rittmeister konnte er von seinem Temperament her auch nie so recht verleugnen, was mitunter für leisen Spott sorgte und im Gegensatz zum feudal-aristokratischen Auftreten seines älteren Bruders Karl (Carlos) stand, der einst das erste cisleithanische Ministerium geleitet hatte und nun als Oberstlandmarschall von Böhmen dessen verfassungstreuen Adel anführte.3

ℹ️Das wichtigste Mitglied dieser neuen Regierung war zweifellos – nicht zuletzt natürlich auch ressortbedingt – Innenminister Josef Lasser Frh. v. Zollheim, der bereits 1848 Mitglied des Reichstages war und über reichliche Verwaltungs- und auch schon Regierungserfahrung verfügte und der zuletzt Statthalter in Tirol gewesen war.4 „Ministerium Lasser, genannt Auersperg“, war infolgedessen ein beliebtes Wortspiel in den Zeitungen. Mit Karl v. Stremayr bekleidete ein weiterer Jurist mit Regierungserfahrung das Amt des Ministers für Kultus und Unterricht. Seine politische Karriere begann als – damals jüngster – Paulskirchenabgeordneter, was seiner beruflichen Laufbahn lange abträglich gewesen war. Nun galt er gewissermaßen als Garant für weitere liberale Maßnahmen im Unterrichtswesen und auf dem Gebiet der Religions- und Glaubensfreiheit.5 Ebenfalls über Erfahrung als gewesene Regierungsmitglieder verfügten außerdem die beiden Juristen Finanzminister Ludwig Frh. v. Holzgethan und Handelsminister Anton Banhans. Ersterer hatte vorerst überhaupt sein Ressort behalten und zudem das Interimskabinett geleitet, während zweiterer bereits kurzfristig Ackerbauminister im „Bürgerministerium“ gewesen war.6 Eine klassische Beamtenlaufbahn hatte Johann Ritter v. Chlumecký hinter sich, bevor er in der neuen Regierung nun die Land- und Forstwirtschaftsagenden übernahm.7 Ausgesprochene Rechtsgelehrte in diesem Kreis promovierter Juristen waren die beiden Professoren der Wiener Universität, Julius Glaser und Josef Unger. Einander kollegial zugetan, hatten sie ihren Eintritt in das Kabinett Auerspergs angeblich von der Nominierung des jeweils anderen abhängig gemacht.8 Von Glaser als Justizminister waren positive Änderungen im Bereich des Justizwesens zu erwarten, während Unger – formal als Minister ohne Portefeuille – seinem Ruf als glänzender Rhetoriker in der Rolle des Sprechministers gerecht werden konnte.9 Vergleichsweise farblos war dagegen Julius v. Horst, der zunächst auch nur als Leiter und erst ab März 1872 als Minister für Landesverteidigung in die Regierung berufen wurde.10 Personelle Veränderungen hinsichtlich der Zusammensetzung des Ministeriums Auersperg im Zeitraum des vorliegenden Bandes ergaben sich nur in Bezug auf das durch den Übertritt Holzgethans in das gemeinsame Finanzministerium vakant gewordene k. k. Finanzministerium, das ab Mitte Jänner 1872 mit Sisinio de Pretis Frh. v. Cagnodo besetzt wurde.11 Wie viele seiner Ressortkollegen brachte auch er als ehemaliger Leiter des Handelsministeriums Regierungserfahrung mit. Überhaupt erwies sich das Ministerium Adolph Auersperg trotz seiner insgesamt relativ langen Regierungszeit bis Mitte Februar 1879 in personeller Hinsicht erstaunlich stabil, was freilich auch als Beleg für die äußerst anspruchsvolle und geschickte Ressortverteilung dieses Kabinetts gewertet werden kann.

ℹ️ Dementsprechend euphorisch fiel die Begrüßung der neuen Regierung vor allem in der deutsch-liberalen Presse aus: „Der Triumph [ist] ein vollständiger, denn ein Ministerium Auersperg ist ein Ministerium der Verfassung […] Waren uns die sieben Männer, die heute das Ministerium Auersperg bilden, gestern noch im Kampfe wider Reaktion, Slawentum, Föderalismus wertvolle Streiter und Führer, so haben wir auch Ursache, uns dessen zu freuen, dass wir sie nun auf jenen Posten sehen, aus denen wir eben gemeinsam mit ihnen die Feinde verdrängt haben.“12 Diese Feinde waren in erster Linie im feudalkonservativen Lager zu suchen. Das führende katholisch-aristokratisch orientierte Blatt „Das Vaterland“ meinte etwa, der neuen Regierung mit der Bezeichnung „Winterministerium“ gleich ein Ablaufdatum verpassen zu müssen, während es sich mit seinen Mitgliedern kritisch auseinandersetzte: So kam Lasser als „liberaler Bürokrat“, der er zweifellos auch war, noch vergleichsweise gut weg, wohingegen sich Stremayr wegen seiner Rolle im Zusammenhang mit der Aufhebung des Konkordates gar als liberaler „Superlativ“ personifizieren lassen musste. Chlumecký unterstellte man – nicht ganz zu Unrecht – sich „zum Chef der verfassungstreuen Partei in Mähren aufgeschwungen“ zu haben, während sich Unger im Reichsrat wiederholt als „starrer Zentralist bewährt“ habe und Glaser dort durch seine Reden „gegen die Gleichberechtigung der slawischen Sprache“ aufgefallen sei.13 So gehässig daher auch die Kommentare in den tschechischen Zeitungen waren, so wohlwollend verhielten sich die deutsch-böhmischen Blätter wie die „Bohemia“.14 Sehr positiv war naturgemäß auch der Tenor in den ungarischen Zeitungen, die im Festhalten an der Verfassung eine Zementierung des Dualismus erblickten.15 Heftige Angriffe auf die neue Regierung erfolgten dagegen verständlicherweise seitens der polnischen Medien: So lancierte etwa die Lemberger „Gazeta Narodowa“, dass Kazimierz Ritter v. Grocholski, der unter Hohenwart – formal als Minister ohne Portefeuille – faktisch den „Galizienminister“ gestellt hatte, sich geweigert hätte, nunmehr in das „reaktionäre“ Kabinett Auersperg einzutreten.16 Diese Darstellung entsprach allerdings in keiner Weise den Tatsachen. Zwar hatte der Kaiser Auersperg anlässlich der Regierungsbildung noch aufgefordert, anstelle Grocholskis einen Minister zu nominieren17, doch ernsthaft erwogen wurde dies ebenso wenig, wie „diesen angeblichen Staatsmann“, diese „galizische Kreatur eines Hohenwart“ – so die Häme der deutsch-liberalen Presse – im neuen Ministerium zu halten.18 Vielmehr betonte Auersperg im Ministerrat und damit wohl auch an die Adresse des sichtlich um eine Lösung der galizischen Frage bemühten Kaisers, „dass er die Fortsetzung der Verhandlungen oder ein Anknüpfen solcher mit anderen Personen nicht für zweckmäßig halte“ und er weitere Aktionen in diese Richtung „in diesem Augenblicke [für] nicht möglich“ halte.19 Das entbehrte nicht an Deutlichkeit und damit lag der Ball zum Jahreswechsel 1871/72 bei den galizischen Abgeordneten im Reichsrat. Außerhalb Galiziens kam Kritik an diesem Kurswechsel der Regierung Auersperg namentlich vom katholisch-aristokratischen Sprachrohr „Das Vaterland“, das sich unter anderem der besonderen Wertschätzung Kaiser Franz Josephs erfreute.20

ℹ️Der immer bedeutender werdenden medialen Rolle im Zusammenhang mit der Regierungsarbeit war sich das neue Ministerium durchaus bewusst, weshalb sich die Gestaltung des Verhältnisses der Regierung bzw. seiner Mitglieder zur Presse gleich als erstes nach der Begrüßung des Kabinetts auf der Tagesordnung des Ministerrates fand. „Es sei vorgekommen“, ließ der Kaiser diesem ausrichten, „dass einzelne Minister ihre Leibjournale hatten, in denen sie sich Lob spenden und ihre Kollegen direkt oder indirekt herabsetzen ließen.“21 Medial ins rechte Licht gerückt werden sollte dagegen das Regierungsprogramm, wobei man sich im Gegensatz zu früheren Regierungen offiziell auf ein relativ kurzes und allgemein gefasstes Kommuniqué beschränkte, da „die Mitglieder des gegenwärtigen Ministeriums in dieser Beziehung in einer etwas glücklicheren Lage [seien] als deren unmittelbare Vorgänger, die als homines novi in der Tat die Notwendigkeit empfinden mussten, ihr Wirken mit einer Devise zu beginnen. Das gegenwärtige Ministerium zähle genügend bekannte Namen. Wer die Vorgänge der letzten Zeit in Österreich halbwegs beobachtet, wisse, wie jeder gewirkt oder sich ausgesprochen hat. Die Diagonale alles dessen bilde das faktische Programm der Regierung.“22

ℹ️Wesentlich detaillierter als diese „Diagonale“ gestaltete sich dann doch die programmatische Ah. Thronrede zur Eröffnung der VII. Session des Reichsrates. Insgesamt stand sie viermal auf der Tagesordnung des Ministerrates, bis sie kurz vor Jahresende 1871 der endgültigen Schlussredaktion unterzogen werden konnte.23 Verfasser der Thronrede war – in seiner Funktion als Sprechminister – der wortgewaltige Zivilrechtsgelehrte Unger.24 Höchst aufschlussreich in Bezug auf das Selbstverständnis und die Positionierung des neuen Ministeriums ist in diesem Zusammenhang die Diskussion um den Passus einer Rückkehr zum „verfassungsmäßigen Rechtszustand“, was natürlich impliziert, dass ein solcher unter der Vorgängerregierung nicht – mehr – gegeben bzw. „erschüttert“ war. Diese Formulierung erschien sogar dem Kaiser selbst ein wenig zu drastisch, weshalb man sich schlussendlich darauf einigte, dass es die „erste Aufgabe“ der neuen Regierung sein sollte, „den verfassungsmäßigen Rechtszustand zu befestigen“.25 Die Lösung dieser Aufgabe erblickte das Ministerium Auersperg vorrangig in der Durchführung direkter Wahlen zum Reichsrat bzw. der Erlassung eines entsprechenden „Notwahlgesetzes“, was sich in dem in der Thronrede verpackten Regierungsprogramm euphemistisch folgendermaßen anhörte: „Die Vorgänge der letzten Zeit haben die Erkenntnis zur Reife gebracht, dass, wie den Landtagen eine autonome Stellung gewährleistet ist, so auch dem Reichsrate die volle Unabhängigkeit dadurch gesichert werden muss, dass die Reichsvertretung in selbstständiger Weise gebildet wird. Meine Regierung wird eifrig bestrebt sein, für diese unmittelbare Verkörperung des österreichischen Staatsgedankens die Wege zu ebnen, um sie im geeigneten Zeitpunkte unter Wahrung aller vertretungsberechtigten Interessen der Verwirklichung zuzuführen. Inzwischen wird Ihnen ein Gesetzentwurf vorgelegt werden, welcher darauf berechnet ist, dem Missbrauche des verfassungsmäßigen Wahlmandates wirksam zu begegnen.“26

ℹ️Der Weg zu den direkten Reichsratswahlen – das Notwahlgesetz

Die erste und vorrangigste Aufgabe des neuen Ministeriums Adolph Auersperg war also, den Weg zu direkten Reichsratswahlen zu bereiten, um dem Recht der Landtage, die Entsendung von Abgeordneten an das Zentralparlament zu boykottieren, ein Ende zu bereiten.27 Daher ging es jetzt Schlag auf Schlag: Unverzüglich wurden dazu erst einmal die föderalistisch dominierten Landtage ℹ️Oberösterreichs, ℹ️Krains, ℹ️der Bukowina, ℹ️Mährens und ℹ️Vorarlbergs per Dekret aufgelöst und Neuwahlen angeordnet, um gleich danach am 18. Dezember 1871 wieder einberufen zu werden.28 Natürlich war sich der Kaiser der Brisanz dieser Entscheidung bewusst, als er im Ministerrat betonte, dass er dabei „den Gesichtspunkt der Illegalität ganz bei Seite gelassen wissen wolle“, um nicht in eine „schwierige Stellung“ zu geraten. Bedenken hegte Franz Joseph außerdem wegen ℹ️Dalmatien, „wo es leicht zu Konflikten und Gewalttaten kommen könne“ und ℹ️Tirol, „wo ebenfalls die Konfiguration des Terrains und die Analogie des gleich feindlichen Gegenüberstehens der Parteien zu besonderer Vorsicht dringend auffordere.“29 ℹ️Böhmen behielt zwar vorerst seinen gewählten Landtag, sah sich jetzt allerdings mit der Wiederbestellung des als ausgesprochener Hardliner geltenden FML. Alexander Frh. v. Koller zum Statthalter in Prag einer Disziplinierungsmaßnahme der besonderen Art ausgesetzt.30 Außerdem waren für Böhmen bereits unmittelbare, d. h. direkte Wahlen angeordnet worden.31 ℹ️An Galizien bzw. einem konzilianten Umgang mit den Polen zeigte sich das neue Ministerium Auersperg im Grunde ebenso wenig interessiert wie kurz zuvor Kellersperg, der eigentlich – wie bereits erwähnt – mit demselben Programm noch an einer Regierungsbildung gescheitert war.32 Dies veranschaulicht nicht zuletzt auch das Dilemma, in das der Kaiser innenpolitisch im Herbst 1871 geraten war, denn seine Herzensangelegenheit war dieser stramme deutsch-liberale Kurs des neuen Ministeriums Auersperg mit Sicherheit nicht, das zeigen alleine schon die ernsten und ungewöhnlich offen im Ministerrat vorgetragenen Bedenken Franz Josephs.33

Der Erfolg gab dem neuen Kabinett jedoch recht: Das Resultat der Landtagswahlen Mitte Dezember 1871 fiel ausgesprochen günstig für die Regierung aus, indem es die Mehrheitsverhältnisse teilweise zulasten der Föderalisten umdrehte, sodass die verfassungstreuen Parteien nun in ℹ️Oberösterreich, ℹ️Mähren, ℹ️Bukowina, ℹ️Krain, ℹ️Dalmatien und ℹ️Vorarlberg über die Mehrheit verfügte und ℹ️infolgedessen ihre Kandidaten in den Reichsrat wählte. ℹ️Zu dessen Einberufung hatte man sich im Ministerrat auf den 27. Dezember 1871 geeinigt, wobei bei man sich der Problematik der unmittelbar davor liegenden Weihnachtsfeiertage wohl bewusst war, doch angesichts des Budgets drängte die Zeit.34 Beim Zusammentritt des Parlaments blieben sodann die Tschechen aus Böhmen und Mähren, die meisten Slowenen, sowie die föderalistische Opposition aus Tirol und Vorarlberg fern, während sich die polnischen und dalmatinischen Abgeordneten einfanden. Jedenfalls war das Abgeordnetenhaus damit beschlussfähig, wenngleich die neue Regierung Auersperg auch nur mit bescheidenen und schwankenden Mehrheitsverhältnissen operieren konnte. ℹ️Wesentlich günstiger gestaltete sich die Situation im Herrenhaus, wo zahlreiche Pairsschübe in den vergangenen Jahren für eine solide Mehrheit im Sinne der jetzigen Regierung gesorgt hatten. Die rasche Inangriffnahme einer Wahlrechtsreform für den Reichsrat war dennoch geboten.

ℹ️Die verfassungsmäßige Basis für direkte Reichsratswahlen, um der Obstruktionspolitik einzelner Landtage zu begegnen und die Handlungsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten, lieferte zum einen der § 7 der Dezemberverfassung und zum anderen das bereits existierende Notwahlgesetz von 1868, welches es nun entsprechend zu erweitern galt, allerdings mit dem Bewusstsein, auch damit wieder nur eine Übergangsregelung zu schaffen. Eine endgültige Lösung sollte dieser langwierige Prozess schließlich erst mit der Verfassungsreform und dem damit verbundenen Wahlgesetz von 1873 finden.35

ℹ️ Anfang des Jahres 1872 gelangte das Notwahlgesetz bzw. eben dessen Erweiterung auf die Tagesordnung des Ministerrates, der sich dieser Angelegenheit nun mit einer Regelmäßigkeit und Intensität widmete wie keiner anderen in dem Zeitraum, den dieser Band umfasst. Von Anfang an war dabei klar, dass sich diese Thematik nicht losgelöst von der galizischen Frage behandeln lassen würde.36 Dieses Junktim wussten die polnischen Abgeordneten stets in einer spezifischen Art von flexibel-pragmatischer Opposition zu instrumentalisieren, wodurch sie traditionell – auch unter zentralistischen Bedingungen – eine Reihe von landesautonomen Konzessionen lukrieren konnten. Dabei kam Galizien die Homogenität seiner politischen Elite entgegen, die sich – früher als in anderen Kronländern – im „Polenklub“ zu einer geschlossenen nationalen Fraktion formiert hatte. Diese hatte unter der Führung Grocholskis die Option einer oppositionellen Kooperation mit den Tschechen zugunsten einer eigenständigen Quid-pro-quo-Politik verworfen, was in Wien mitunter zwar als „Bazarmentalität“ abqualifiziert wurde, der Regierung aber – wie im konkreten Fall – parlamentarische Handlungsspielräume eröffnete. Dementsprechend deutlich wurde daher nun Lasser, als er seinen Regierungskollegen im Ministerrat in Erinnerung rief, dass die Regierungen in der Vergangenheit geradezu „genötigt“ worden waren, „das Verbleiben der Galizier von Fall zu Fall durch Konzessionen förmlich zu erkaufen“.37 Den Preis für das Notwahlgesetz auszuloten und der eigenen Seite zu kommunizieren, blieb polnischerseits nun dem Abgeordneten Ludwig Graf Wodzicki vorbehalten, während die Regierung beschloss, ihren Standpunkt in dieser Angelegenheit den „hervorragenden Mitgliedern der Verfassungspartei“ zu vermitteln, wozu – wenig überraschend – Eduard Herbst, Karl Rechbauer und Josef Frh. v. Eichhoff zählten.38

ℹ️ Im Ministerrat fand die erste ausführliche Debatte über das anstehende Notwahlgesetz Mitte Jänner 1872 statt, wo Lasser als Basis für die künftige Behandlung dieser Frage rekapitulierte, dass seit dem Beginn des Verfassungslebens 1861 mehr oder minder ein ununterbrochener Kampf mit der staatsrechtlichen Opposition herrsche, der sich vor allem in der Nichtbeschickung des – solchermaßen unvollständigen – Reichsrates manifestiere. Deshalb habe man bereits im § 7 des Februarpatents Bestimmungen über die ausnahmsweise Anordnung direkter Wahlen in den Reichsrat aufgenommen, obwohl man damals – vor dem Ausgleich – primär drohende Probleme mit Ungarn im Auge hatte. Doch auch nach der dualistischen Neuregelung der staatsrechtlichen Verhältnisse der Monarchie wurde dieser Paragraf in der Verfassung beibehalten, um das Zentralparlament nicht der Willkür einzelner Landtage auszuliefern. Lassers historische Rückschau auf diese Angelegenheit geriet dann auch zu einer unmissverständlichen Abrechnung mit dem Föderalismusexperiment Hohenwarts, das nichts weniger als die „Auflösung des Reiches“ vorbereitet hätte. Dem sei durch den Entschluss des Kaisers „Einhalt geboten“ worden, was zur Einsetzung des gegenwärtigen Ministeriums geführt habe. Zur aktuellen Vorbereitung eines Notwahlgesetzes ging es nun aber erst einmal um eine grundsätzliche Interpretation des § 7 und die Klärung seiner Anwendung.39

ℹ️In den folgenden immer konkreter werdenden Beratungen des Ministerrates über das Notwahlgesetzes in der zweiten Jännerhälfte 1872 standen vor allem Fragen zur Auslegung dieses bereits existierenden § 7, sowie die Abwägung sämtlicher Eventualitäten im Zusammenhang mit der Entsendung bzw. Nichtentsendung von Abgeordneten durch einzelne Landtage zur Debatte. Ende Jänner konnte das Gremium schließlich zur Schlussredaktion der geplanten Regierungsvorlage schreiten.40 Kein Mitglied des Ministeriums habe sich jemals dafür begeistert, vielmehr habe man es immer nur „als einen Notbehelf erkannt, der für die eine oder andere Gefahr ein Schutzmittel gewähren soll“, bekannte Lasser danach.41 Das wahre Ziel der neuen Regierung blieb daher natürlich unverändert eine endgültige Lösung des Problems durch die Einführung direkter Reichsratswahlen im Zuge einer verfassungsändernden Wahlreform. Damit erst nach dem Wiederzusammentritt des Reichsrates im Herbst 1872 initiativ zu werden, nicht zuletzt auch um den vorliegenden Entwurf zum Notwahlgesetz nicht von vornherein entbehrlich erscheinen zu lassen, blieb regierungsintern unwidersprochen, als im Ministerrat im Laufe Februar nun die Debatten über den „Kaufpreis“ zur Erzielung der notwendigen Zweidrittelmehrheit im Abgeordnetenhaus entfachten.42

ℹ️Dabei zeigt sich deutlich, wie geradezu widerwillig und misstrauisch das Ministerium Auersperg der besonderen Rolle der polnischen Abgeordneten als Zünglein an der Waage gegenüberstand. So wurde der ehemalige „Galizienminister“ des Kabinetts Hohenwart verdächtigt, statt eines Ausgleichs mit Galizien überhaupt einen Regierungswechsel zu seinen Gunsten zum Ziel zu haben, was angesichts des schwindenden Einflusses Grocholskis unter dem gegenwärtigen Regime durchaus plausibel erscheint. Mangelndes Interesse an einer gangbaren Lösung der Galizienfrage wurde aber auch seinen – nun in den Vordergrund „bilateraler“ Verhandlungen tretenden – Kollegen Ludwik Graf Wodzicki und Mikołaj Zyblikiewicz attestiert.43 Seitens der Wiener Regierung war ganz klar, dass die – ihrerseits ebenso misstrauischen – Galizier befürchteten, ihre Sonderstellung zu verlieren, falls bei den bevorstehenden Wahlen in Böhmen eine verfassungstreue Landtagsmehrheit erzielt werden würde. Umgekehrt besorgte die regierungstreue Verfassungspartei, dass die Polen ihre Unterstützung auf dem Weg zu direkten Reichsratswahlen aufgeben könnten, „sobald ihre Wünsche realisiert sind“.44 Je näher der entscheidende Tag der Abstimmung über das Notwahlgesetz rückte, desto rauer wurde der Ton gegen Galizien im Ministerrat, der sich durch das „unausgesetzte und endlose Steigern der Forderungen“ regelrecht erpresst fühlte. Personalpolitische Quotenfragen im Zusammenhang mit materiellen Wünschen der Polen in Bezug auf das Unterrichts-, Straßen- und Wasserbauwesen wurden von den aufgebrachten Kabinettsmitgliedern kurzerhand als „Unterbringung polnischer Emigranten auf einer Reihe von Dienstposten“ abqualifiziert, „die eigens als Versorgungsanstalt für sie kreiert werden“. Dagegen würde sich die dem Staat zugedachte Funktion gegenüber dem „zurückgebliebenen Land“ Galizien rein auf die eines „Zahlmeisters“ beschränken.45 Demonstrativ dankbar reagierte Ministerpräsident Auersperg daher dann auch auf die Rückendeckung durch den Kaiser, der die Einstellung jeglicher weiterer Ausgleichsverhandlungen mit Galizien für den Fall eines Scheiterns des Notwahlgesetzes an den Polen als rote Regierungslinie markierte.46

ℹ️Indessen ging das Feilschen um das Abstimmungsverhalten der polnischen Abgeordneten zum Notwahlgesetz bis zum Schluss weiter: Zuletzt versuchte Wodzicki noch auszuloten, mit wie vielen Stimmen der Verfassungspartei die Regierung rechne und ob sie überhaupt auf das Votum der Galizier angewiesen wäre. Lasser hielt sich dabei klarerweise bedeckt, vermutete dahinter aber eine gesichtswahrende Strategie der Polen, durch eventuelles Absentieren aus dem Plenum die notwendige Zweidrittelmehrheit zu ermöglichen ohne aktiv für das Gesetz stimmen zu müssen.47 Tags darauf am 20. Februar 1872 folgte dann die Überraschung im Abgeordnetenhaus, das das Notwahlgesetz mit der erforderlichen Zweidrittelmehrmehrheit annahm, während sich die galizischen Abgeordneten jedoch kurzerhand entschlossen hatten, geschlossen dagegen zu stimmen.48 Neben den Deutschliberalen stimmten die sogenannten „Südländer“ – die Italiener aus dem Küstenland und die Dalmatiner –, sowie die Vertreter der Bukowina für den Regierungsentwurf. Den entscheidenden Ausschlag für die Verfassungsmehrheit gaben dabei die Abgeordneten Dalmatiens. Da die Regierung „hetzende Einflüsse“ auf diese nicht ausschloss, hatte sie kurz vor der Abstimmung das Einvernehmen mit deren Wortführer Stjepan Ljubiša gesucht, bei dessen Forderungen es sich im Grunde nicht um Grundsatzfragen wie bei den Polen handelte, sondern vielmehr um rein materielle und personalpolitische Interessen. So „absonderliche Dinge“ in diesem Zusammenhang auch auftauchten, so „benevolent“ war das Verhandlungsklima und so billig war letzten Endes der Kaufpreis. Dementsprechend wurde der Tagesordnungspunkt im Ministerrat auch nur als „Petite der dalmatinischen Abgeordneten“ bezeichnet.49

ℹ️Ganz anders verhielt sich die Reaktion der Regierung jetzt natürlich im Fall der unbotmäßigen Galizier: „Nun mögen die Galizianer ihren Ausgleich suchen“ sei der Tenor der Stimmung im Abgeordnetenhaus nach der Abstimmung über das Notwahlgesetz, berichtete Lasser seinen Ressortkollegen im Ministerrat. Offene Häme und Revanchegedanken seitens der Regierung verbaten sich alleine schon wegen der latent föderalistischen Befindlichkeiten des Kaisers, der die Haltung der Polen sichtlich enttäuscht und mit Befremden zur Kenntnis nahm. Kühl und reserviert – „sine ira aber auch sine studio“ – mit Galizien künftig vorzugehen, empfahl daher der Innenminister, zumal ein Ausgleich nun keine Aussicht auf Erfolg im Abgeordneten- und erst recht nicht im Herrenhaus habe.50 Daher genüge es, sich im Verfassungsausschuss von Regierungsseite neutral und passiv zu verhalten, was den Zweck erfülle, ohne den Polen eine Angriffsfläche zu bieten. Mit gönnerhafter Genugtuung legte sich der Ministerrat auf diese Position fest und vermied damit, „die geänderte Situation in vollem Umfange auszubeuten“.51

ℹ️Mit der nie in Frage gestandenen Verabschiedung des Notwahlgesetzes im Herrenhaus Anfang März 1872 war sodann – auch formal – der letzte wichtige Etappensieg des neuen Ministeriums auf dem Weg zu seinem ersten großen Erfolg in Form der umfassenden Wahlrechtsreform von 1873 errungen.52 Zugleich lieferte die Regierung Auersperg damit einen eindrucksvollen Beleg für ihre Existenzberechtigung, ihre Stabilität und ihr Durchsetzungsvermögen im Sinne der Konsolidierung einer verfassungstreuen, liberalen und regierungsfreundlichen Parlamentsmehrheit.

ℹ️ Die „Chabruswahlen“ in Böhmen

Neben dem Notwahlgesetz stellten die böhmischen Landtagswahlen die zweite große Herausforderung für das Ministerium Auersperg in der ersten Jahreshälfte 1872 dar. Mitte März einigte sich der Ministerrat darauf, die laufende Reichsratssession gegen Ende des Monats zu unterbrechen, um im Anschluss daran vom 18. bis 22. April die Wahlen in Böhmen durchführen und den neu gewählten Landtag in Prag zusammentreten zu lassen.53 Mit dessen Entsendung von neuen Abgeordneten sollte der solchermaßen komplettierte Reichsrat Anfang Mai wieder zusammentreten, um danach endlich stabile Mehrheitsverhältnisse im Sinne der Regierung zu gewährleisten. Die Voraussetzung dafür war freilich ein Sieg der verfassungstreuen Partei in Böhmen, wo vor allem der Großgrundbesitz wahlentscheidend, aber disponibel war. Da die herkömmlichen Mittel der Wahlbeeinflussung offenbar versagten, griffen beide Seiten – Deutschliberale und Feudalkonservative – nun zur Taktik des legalen Stimmenkaufs in Form des gezielten Erwerbs von landtäflichen Gütern, um ihren neuen Eigentümern auf diese Weise das Wahlrecht in der Großgrundbesitzerkurie zu verschaffen. Die dafür notwendigen Finanzmittel lieferten eigens dafür gegründete Konsortien, für die sich der abschätzige Begriff „Chabrus“ aus dem jüdischen Händler- und Börsenjargon einbürgerte.54

Während diese doch recht brachiale Vorgangsweise im Ministerrat nie offen thematisiert bzw. protokolliert wurde, standen die gelinderen Mittel der Wahlbeeinflussung in diesem sehr wohl zur Debatte. Dazu zählten in erster Linie gezielte, wahlstrategisch motivierte Ordensverleihungen. Es sei nämlich falsch, kritisierte Lasser die bislang geübte Auszeichnungspraxis, ausgerechnet diejenigen zu übergehen, derer „sich die Regierung ohnehin versichert hält, dagegen aber die Schwankenden durch Auszeichnungen zu gewinnen“ zu suchen. Habe die Erfahrung doch gezeigt, „dass solche Schwankende – kaum gewonnen – wieder in das entgegengesetzte Schwanken verfielen, ja dass durch diese Methode, die eine Art Kaufpreis hoffen ließ, Ehrgeizige geradezu verlockt wurden, zur Opposition zu halten“. Daher müsse man bei derlei „Gunstbezeigungen […] Freunde berücksichtigen und nicht halblaue Anhänger oder Gegner“ der Regierung.55 Als glatten „Missbrauch der Gnadenakte des Monarchen“ prangerte die böhmische Opposition in diesem Zusammenhang namentlich zwei Fälle an, mit denen sich auch der Ministerrat beschäftigte: Der eine betraf die Dekorierung des Majors und Gutsbesitzers Emanuel Ritter Náchodský von Neudorf , die als reine Belohnung für seinen Wahlaufruf an das Offizierskorps zur Unterstützung der Regierung gewertet wurde. Tatsächlich rechtfertigt die im Ministerrat unverhohlen gelieferte Begründung für den Orden diesen Vorwurf, zumal explizit auch auf eine Verleihung „vor der Wahl“ Wert gelegt wurde. Der andere Fall drehte sich um den Gutsbesitzer Karl Berger Ritter v. Bergenthal, dessen gnadenweise Rehabilitierung zum Wiedereintrag in die Wählerliste des Großgrundbesitzes und damit zur Sicherung einer Stimme für die Regierungspartei geführt hatte. Diesfalls wies Auersperg aber jeden Zusammenhang mit der böhmischen Landtagswahl von sich. Vielmehr habe er schon lange vor dieser beim Kaiser für seinen ehemaligen Mitstreiter in der Schlacht von Solferino interveniert, was sein Kabinett kommentarlos zur Kenntnis nahm.56

Gestaltungsmöglichkeiten für die Regierung zur Beeinflussung der Wahlen eröffneten sich freilich auch über die Zusammensetzung der Wählerlisten, wobei jene der wahlentscheidenden Großgrundbesitzer natürlich am umstrittensten waren: Debatten darüber fanden im Ministerrat bereits frühzeitig statt, nahmen an Schärfe und Intensität mit dem Heranrücken des Wahltermins naturgemäß aber zu.57 Neben formalrechtlichen Punkten, wurden hierbei Fragen der Großjährigkeit, des Allein- bzw. Mitbesitzes von Gütern und der Staatsbürgerschaft geltend gemacht. Nach einer Reihe von Rekursen lag kurz vor der Wahl die „rektifizierte“ Wählerliste des böhmischen Großgrundbesitzes vor, auf deren Basis sich die Regierung einen Wahlerfolg versprach. Trotzdem ging es bis zuletzt – etwa im Fideikomisswahlkörper – buchstäblich um jede Stimme.58

Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang daher auch das für gewöhnlich eher nebensächliche Wahlverhalten der kaiserlichen Familie: Franz Joseph selbst hatte bereits kurz nach Regierungsantritt des neuen Ministeriums erklärt, dass er sich künftig nicht mehr an Landtagswahlen beteiligen werde, was Auersperg mit gewisser Sorge vor Missbrauch „von gegnerischer Seite zu Agitationen für ihre Parteizwecke“ erfüllte.59 Tatsächlich wurden dann kurz vor der Wahl Pressemeldungen lanciert, die nach dem Urteil Ungers „nur ein Wahlmanöver der Gegenpartei“ darstellten, um den Kaiser „in das Wahlgetriebe hineinzuziehen“, was der Regierung zum Nachteil gereiche.60 Keine propagandistischen Rückwirkungen befürchtete er dagegen von der Haltung des ehemaligen Kaisers Ferdinand I., da dieser noch nie gewählt hatte. Stimmenthaltung bei der böhmischen Landtagswahl signalisierten sodann auch die aus dem Hause Habsburg stammenden und seit 1859/60 in österreichischem Exil lebenden ehemaligen italienischen Monarchen, der Großherzog von Toskana Ferdinand IV. und der Herzog von Modena Franz V. Ersterer äußerte diplomatisch den Wunsch und die Überzeugung, „dass die Regierung in Böhmen reüssieren werde“, er sich persönlich allerdings „von seinem katholischen Standpunkte der Stimmabgabe enthalten“ müsse; zweiterer bekannte sich dazu, dem feudalkonservativen Leo Graf Thun und Hohenstein im Wort zu sein, und daher „nicht für die Regierung zu stimmen“. Den Schaden für die Regierung durch die Wahlenthaltung der beiden Erzherzöge bezifferte der Ministerpräsident nicht bloß mit zwei Stimmen, „da sehr viele Mitglieder des Adels gewohnt sind, sich nach der Abstimmung der Mitglieder des kaiserlichen Hauses zu richten“. Der Ministerrat nahm dieses faktische Misstrauensvotum von Teilen des Kaiserhauses einigermaßen konsterniert zur Kenntnis, sodass sich Lasser veranlasst sah, seine Kollegen zu ermutigen, den „begonnenen Kampf [nicht] aufzugeben“.61

Dieses Spiel funktionierte natürlich auch anders herum, indem sich – in bewährter Praxis – persönliche Appelle des Kaisers und anderer Hocharistokraten instrumentalisieren ließen, um auf diesem Weg Einfluss auf die Landtagswahlen im Großgrundbesitz zu nehmen und oppositionelle Standesgenossen auf Regierungslinie zu bringen.62 Wortführer dieser feudalkonservativen Opposition böhmischer adeliger Großgrundbesitzer war Heinrich Graf Clam-Martinic.63 Dieser war erst Anfang Februar zum Präsidenten der „k. k. patriotisch-ökonomischen Gesellschaft im Königreich Böhmen“ gewählt worden, was vom Ministerrat argwöhnisch als ein Signal für eine weitere Politisierung des Vereins im Interesse der tschechischen Deklarantenpartei gewertet wurde. Daher sollte die umstrittene – ursprünglich landwirtschaftlichen Erkenntnissen dienende – Gesellschaft von Koller streng überwacht und allenfalls aufgelöst werden, wenn sie die „Grenzen [ihres] Zweckes überschreitend sich mit Politik weiter befasst“.64 Da der eigentliche Zweck dieser Gesellschaft statutenmäßig verankert war, bot es sich der Regierung an, belastendes Material zu sammeln, um sodann den § 24 des Vereinsgesetzes in Anwendung zu bringen und damit die Auflösung zu begründen. Befeuert durch einige Skandale in den aufgeheizten Wochen vor den Landtagswahlen war es bald soweit, dass der Ministerrat bereits Ende März zum Schluss kam, die missliebige Gesellschaft durch den Statthalter kurzerhand auflösen zu lassen.65

Eine wesentlich fragwürdigere Methode des Ministeriums Auersperg, im Vorfeld der böhmischen Landtagswahlen Druck auf den umkämpften Großgrundbesitz auszuüben, bestand in der gezielten Kriminalisierung seiner regierungs- und verfassungsfeindlichen Agitatoren, in deren Mittelpunkt eben besagter Graf Clam-Martinic stand. Dieser führte ein konservatives Wahlkomitee an, das aus fünf geschäftsführenden und einigen Dutzend Mitgliedern bestand, welche einen sich auf das böhmische Staatsrecht berufenden und infolgedessen gegen die Regierung gerichteten Wahlaufruf unterzeichnet hatten. Koller wurde seinem Ruf gerecht und griff sofort hart durch, indem er – unter Hinweis auf das Strafgesetz – sämtliche Publikationen desselben konfiszieren ließ, wovon Lasser seine Ressortkollegen im Ministerrat unterrichtete.66 Gleichzeitig ließ der Statthalter Vorkehrungen gegen Massendeputationen treffen, die angeblich „zur Einschüchterung der verfassungstreuen Wähler des Großgrundbesitzes“ organisiert worden waren. Auch dabei diente das Strafgesetzbuch als Disziplinierungsinstrument. Daran anknüpfend höhnte etwa das katholisch-aristokratische „Vaterland“, dass „die öffentliche Ruhe in Böhmen nirgendwo gestört worden [sei], wenn man nicht etwa die mit Frack und Glacéhandschuhen in Equipagen fahrenden Deputationen als Krawaller und Rebeller ansehen will“.67 In Ansehung der – durchwegs dem Hochadel entstammenden – handelnden Personen dürfte diese spöttische Kritik am Vorgehen der Regierung beim Kaiser wohl eher für gemischte Gefühle gesorgt haben.

Geradezu einen gesinnungsmäßigen Offenbarungseid leistete das Ministerium im Ministerrat über die von Koller angeregte Frage der Einleitung eines Strafverfahrens gegen die Unterzeichner des Wahlaufrufs des konservativen Großgrundbesitzes: Nach einer äußerst aufschlussreichen Debatte kam die Konferenz zum einhellig gefassten Beschluss, von einer strafrechtlichen Verfolgung ebenso abzusehen wie gegen bestimmte „Wiener Blätter“ vorzugehen, die den in Prag beschlagnahmten Wahlaufruf ebenfalls abgedruckt hatten. Dabei war allen Beteiligten klar, auf welch dünnes Eis sich die Regierung andernfalls begeben hätte. So lautete etwa die abschließende Empfehlung Glasers an den Statthalter, dass den Staatsanwälten vertraulich anzudeuten wäre, sich bei ihrer Vorgangsweise gegen die oppositionelle Presse doch telegrafisch abzustimmen, „da derlei Weisungen in den staatsanwaltlichen Akten nicht vorkommen sollen“. Einigkeit herrschte auch darüber, dass den einzelnen Unterzeichnern des Wahlaufrufs im Fall einer strafrechtlichen Verfolgung zwar „manche Unannehmlichkeiten“ bereitet, der Regierung aber keine „Satisfaktion“ erwachsen würde, zumal in einem Verfahren „mit ziemlicher Gewissheit die Freisprechung in Aussicht“ stünde. Lasser – „als ein langjähriger Gegner der durch die Unterzeichner repräsentierten Partei“, wie er betonte – gestand sogar ein, dass „er doch sehr mit sich zu Rate gehen müsste, ob er als Geschworener es mit seinem Gewissen zu vereinbaren vermöchte, auf Grundlage dieses Wahlaufrufs ein ‚Schuldig‘ auszusprechen“. Letztendlich riet er dazu, im politischen Leben nie etwas zu beginnen, was man nicht durchzuführen im Stande sei. Auch Unger als Jurist konnte nicht umhin zuzugeben, „dass er nicht bloß als Geschworener, sondern selbst als Richter in diesem Fall nicht verurteilend entscheiden würde“, da man jeder wahlwerbenden Partei die Verfolgung ihrer Ziele gestatten müsste, sosehr man ihre Bestrebungen auch fürchtet.68

Am 22. April 1872, dem letzten Tag der böhmischen Landtagswahlen, wurde schließlich die Entscheidungsschlacht um die Großgrundbesitzerkurie geschlagen. Sie brachte der Regierung den erhofften und zuletzt auch prognostizierten Sieg. Die feudalkonservative Opposition hatte – ihre Niederlage vor Augen – im letzten Moment beschlossen, sich nicht mehr an der Wahl zu beteiligen und sich auf die Überreichung einer Protestnote zu beschränken, die einmal mehr die Handschrift des streitbaren Grafen Clam-Martinic trug.69 Doch der Kaiser hielt stand, obwohl er in den vergangenen Wochen des ideologisch dermaßen zugespitzten Wahlkampfes mit Sicherheit in einen persönlichen Zwiespalt geraten war. Mit der erfolgreichen Wahl in Böhmen, wo nun wieder ein verfassungstreuer Landtag installiert war, hatte das Ministerium Auersperg – neben dem Notwahlgesetz – seine zweite große Herausforderung gemeistert und damit seine Existenz langfristig gesichert.

ℹ️ Die Wiener Weltausstellung wirft ihre Schatten voraus

ℹ️Nachdem die zweite Weltausstellung in Paris von 1867 ein phänomenaler Erfolg gewesen war, wollten auch die seit dem Ende der 50er Jahren laut gewordenen Stimmen, die eine solche Veranstaltung für Österreich anregten, nicht mehr verstummen. Immerhin hatte sogar Kaiser Franz Joseph persönlich durch seinen Besuch dem „Mittelpunkt der Weltlust“ die Ehre erwiesen, obwohl das bilaterale Verhältnis zu Frankreich nach dem unglücklichen Scheitern des mexikanischen Abenteuers gerade denkbar belastet war.70

ℹ️In den österreichischen Ministerrat kam dieses Thema erstmals Anfang 1863, als der damalige Handelsminister Matthias Konstantin Graf Wickenburg dort seinen Regierungskollegen den Vorschlag auf Abhaltung einer „Industrie- und Landwirtschaftsausstellung in Wien“ für das Jahr 1865 unterbreitete, was allerdings bereits in der Benennung des entsprechenden Tagesordnungspunktes wesentlich visionärer als „Abhaltung einer Weltausstellung in Wien“ firmierte. Prinzipiell zeigte sich das Kabinett mit diesem Projekt einverstanden, Einwände gab es lediglich bezüglich des nahen Termins im Zusammenhang mit der ℹ️Londoner Weltausstellung von 1862.71 Daraufhin kam das Thema erst ein gutes Jahr später wieder in den Ministerrat, wobei zunächst 1866 als Austragungsjahr ins Auge gefasst wurde, was nunmehr mit der eingangs erwähnten, für 1867 geplanten Weltausstellung in Paris zeitlich kollidierte und daher erneut vertagt wurde.72

Mit deutlich weniger Elan wurde das Weltausstellungsprojekt sodann von Wickenburgs Nachfolger Josef Frh. v. Kalchberg im Frühjahr 1864 im Ministerrat vorgetragen, der – ohne sich auf ein konkretes Jahr festzulegen – den Beschluss fasste, „diese Angelegenheit fortan im Auge zu behalten“.73 Dabei blieb es – ungeachtet einer neuerlichen kaiserlichen Grundsatzentscheidung für eine Austragung im Jahr 1870 – bis zu einer neuerlichen Regierungsinitiative in Form eines Antrags des damaligen Handelsministers Pretis zur Durchführung einer Weltausstellung in Wien 1873.74 Vor dem Hintergrund des Wirtschaftsaufschwunges der Gründerzeit und des Pariser Erfolges von 1867 hatte das Thema im Frühjahr 1870 auf einmal an Aktualität gewonnen und dementsprechend auch im Ministerrat wieder Einzug gehalten.75 Den entscheidenden Impuls für die Beendigung der Untätigkeit des cisleithanischen Bürgerministeriums und des Ministeriums Potocki hatte der Industrielle und Präsident der Niederösterreichischen Handels- und Gewerbekammer Franz v. Wertheim76 geliefert, wobei der Hinweis auf ein in Planung befindliches Konkurrenzprojekt in London eine wesentliche Rolle für die nun einsetzende Dynamik spielte. Der entscheidende Erlass des Kaisers für die definitive Veranstaltung einer Weltausstellung in Wien im Jahr 1873 war schließlich das Ergebnis einer Sitzung des Ministerrats Mitte Mai 1870.77 Das Kaiserhaus stand dem Weltausstellungsprojekt übrigens von Anfang an grundsätzlich sehr positiv gegenüber, auch wenn Franz Joseph selbst ansonsten eher weniger Affinität zum technischen Fortschrittsglauben erkennen ließ und ihm derartige Spektakel einigermaßen wesensfremd gewesen sein dürften. Im Gegensatz dazu hatte der vielen geradezu als Parvenu erscheinende Napoleon III. die jüngste Pariser Ausstellung als glanzvolle Inszenierung seines dynastisch kaum legitimierten „Zweiten Kaiserreiches“ über die Weltbühne gehen lassen.

Die tatsächliche Inangriffnahme der Planung und Durchführung der Wiener Weltausstellung blieb sodann dem auf das Kabinett Potocki folgenden feudalkonservativen Ministerium Hohenwart-Schäffle vorbehalten. So fand letzterer als Handels- und Ackerbauminister lediglich ein „Blatt Papier“ mit der genannten Ah. Entschließung vom 24. Mai 1870 vor.78 Als erstes rekrutierte er einem Vorschlag des einflussreichen Niederösterreichischen Gewerbevereins folgend den Fachmann Wilhelm Schwarz-Senborn als leitenden Generaldirektor der Weltausstellung79, was sich im Nachhinein als ausgesprochener Glücksgriff erwies. Als nächstes hatte sich die Regierung nun der Finanzierung dieser Großveranstaltung anzunehmen, was in Form eines eigenen Kreditgesetzes geschah.80 Abgesehen davon landete das Projekt im Sommer 1871 noch mehrmals auf der Tagesordnung des Ministerrates, deren Protokolle allerdings nicht mehr erhalten sind, sodass wir keine Kenntnis von den dort stattgefundenen Diskussionen oder Kontroversen haben.81 Rudimentär erhalten ist dagegen das Protokoll der letzten Sitzung dieses Kabinetts zu diesem Thema, wo konkret die Bestellung einer Weltausstellungskommission, die Ernennung deren Mitglieder und das Organisationsstatut – offenbar weitgehend friktionsfrei – besprochen wurde.82 Jedenfalls bezeichnete Schäffle die Weltausstellungsangelegenheiten später als die „widerwärtigsten“ seiner Amtszeit.83

Im nun vorliegenden Band befasste sich das neue Ministerium Auersperg zu Jahresbeginn 1872 erstmals mit dem Thema „Weltausstellung“, das jetzt regelmäßig in allen möglichen Varianten auf der Tagesordnung der Ministerratssitzungen auftauchte. Zunächst ging es dabei lediglich um die Komplettierung der Weltausstellungskommission durch die neuen Regierungsmitglieder.84 Einen legistischen Teilaspekt der Planungsarbeiten für die Weltausstellung stellte sodann – dem Beispiel Frankreichs und Englands folgend – der patent-, muster- und markenrechtliche Schutz der Ausstellungsgegenstände in Form eines entsprechenden Gesetzes dar, womit sich der Ministerrat wiederholt befasste. Explizit eingebunden wurde dabei die Regierung Ungarns, das durch den Bau eines eigenen Ausstellungspavillons im Wiener Prater gesondert vertreten sein sollte.85 Weitgehender Konsens herrschte im Ministerrat bezüglich der Beschickung der Weltausstellungslokalkommissionen aus den einzelnen Kronländern und der Nominierung weiterer Persönlichkeiten aus der Wirtschaft, Verwaltung, Kultur, Wissenschaft und Forschung für die Weltausstellungszentralkommission.86

Für Potential zum Skandal, jedenfalls aber für die Gefahr eines „üblen Eindrucks“ in der Öffentlichkeit sorgte die zunächst kolportierte Zuweisung einer Subvention aus Weltausstellungsmittel für ein internationales Pferdewettrennen anlässlich der Weltausstellung von Seite Schwarz-Senborns, womit sich der Ministerrat Ende März zu befassen hatte. Schlagartig wurde der Regierung dadurch bewusst, dass sie dem Generaldirektor kraft des Organisationsstatuts „die uneingeschränkteste Vollmacht“ bezüglich der finanziellen Mittel des Weltausstellungsfonds in die Hände gelegt hatte. Zwar vermeinte Banhans bald darauf bezüglich dieser fragwürdigen Subvention Entwarnung geben zu können, das grundsätzliche Problem blieb jedoch bestehen und verlangte nach einer Lösung, ohne die Planungs- und Gestaltungsfreiheit Schwarz-Senborns allzu sehr einzuschränken.87

ℹ️ Damit gelangt die Betrachtung allerdings an die zentrale Frage im Vorfeld der Weltausstellung – die Finanzierung: Vorderhand lieferte das erwähnte Kreditgesetz über sechs Millionen Gulden noch die Basis dafür, doch bereits im Laufe des Jahres 1872 wurde klar, dass dieser finanzielle Rahmen nicht – wie ursprünglich veranschlagt – sämtliche Kosten der Veranstaltung decken würde. Außerdem war Wien bautechnisch für dieses Großereignis nur mangelhaft vorbereitet. So war die Gestaltung der Ringstraße mit ihren repräsentativen Prachtbauten noch lange nicht abgeschlossen, weshalb sich dem internationalen Publikum „eher das Bild einer Baustelle als das einer neuen Weltstadt“ bieten sollte.88 Da man angesichts dieses Umstandes im Jahr 1872 nun hastig die Errichtung des Kunsthistorischen und des Naturhistorischen Museums, des k. k. Hoftheaters, des Parlamentsgebäudes, des Rathauses, der Universität und der Börse in Angriff nahm, lieferte man der seit dem Ausgleich von 1867 prosperierenden Wirtschaft zwar zusätzliche Impulse, doch strapazierte man das Budget und heizte zudem noch das Spekulantentum an, was sich schon bald im Börsenkrach von 1873 rächen sollte. Jedenfalls waren die für die Weltausstellung zur Verfügung gestellten Finanzmittel bereits Ende Oktober 1872 erschöpft, sodass sich die Regierung zu Jahresende erneut dem Problem der Finanzierung in Form eines Nachtragskredits zuwenden musste, der die Gesamtkosten in Summe alleine für das laufende Jahr mehr als verdoppelte.89 Der als eigenwillig und bürokratiefeindlich geltende Schwarz-Senborn verwies in diesem Zusammenhang auf eine ganze Reihe von technischen-logistischen Begründungen für die Kostenexplosion, während sich Banhans und seine Ressortkollegen der politischen Verantwortung durch den Hinweis auf die seinerzeitige Fehlkalkulation der Vorgängerregierung entziehen konnten.90

ℹ️ In den Bereich der Finanzierung der Weltausstellung fällt schlussendlich auch eine an sich eher unbedeutende Frage, die den Ministerrat im vorliegenden Band allerdings über Gebühr beschäftigte – die Debatte um die Erhöhung des jährlichen Budgets für den Ah. Hofstaat. Ende Jänner 1872 beschäftigte sich das neue Kabinett Auersperg erstmals mit dieser Angelegenheit im Rahmen des Ministerrates. Obwohl diese eigentlich bis zum Ende des Jahres 1879 gesetzlich bereits eindeutig geregelt war, nahm der Leiter des k. k. Obersthofmeisteramtes Konstantin Prinz zu Hohenlohe-Schillingsfürst die Wiener Weltausstellung zum willkommenen Anlass, um nun beharrlich auf eine Erhöhung der Hofstaatsdotation zu drängen.91 Ganz offensichtlich zierte sich die ungarische Regierung zunächst und trachtete, die Forderung wenigstens bis in den Herbst hinein verzögern zu können. So reagierte der magyarische Ministerpräsident Menyhért Graf Lónyay auf das heftige Drängen Wiens mit dem unmissverständlichen Hinweis darauf, „dass die Erhöhung der Hofstaatsdotation mit der Wirksamkeit auf zehn Jahre – über Anregung des Obersthofmeisteramtes – erst vor kaum zwei Jahren durch den gegenwärtigen Reichstag beschlossen“ und von Franz Joseph genehmigt worden sei, weshalb es jetzt schwierig wäre, „die nochmalige Erhöhung nach so kurzer Zeit vor demselben Vertretungskörper zu motivieren, zumal die Verhältnisse sich seit jener Zeit nicht wesentlich verändert haben, und weil somit bei dieser Verhandlung zu Diskussionen Anlass gegeben werden würde, welchen dermalen angesichts der durch die Regierung noch im Laufe dieser Session durchzuführen beabsichtigten anderweitigen dringenden Gegenständen vorzubeugen wäre.“ Daher bedauere die ungarische Regierung, dem Wunsche des Ersten Obersthofmeisters bzw. dem Vorschlag des cisleithanischen Ministeriums nicht nachkommen zu können. Allerdings könnte „diese Frage etwa erst im Laufe der nächsten Reichstagssession wieder aufgenommen werden, wo jedenfalls mehr Aussicht als jetzt auf einen Erfolg vorhanden sein dürfte.“92 Dieser ungarischen Inszenierung folgte daraufhin ein formaler Rückzieher des Monarchen. Formal forderte er nun von Auersperg, auch die cisleithanische Erhöhung der Hofstaatsdotation zurückzunehmen. Er ließ sich allerdings schnell von diesem überzeugen, dass die Mehrforderungen des Obersthofmeisters begründet und notwendig seien.93 Ohne ungarisches Pendent brachte Pretis noch im Juni 1872 eine entsprechende Gesetzesvorlage im österreichischen Reichsrat ein, die diesen auch umgehend passierte und bereits Ende des Monats sanktioniert werden konnte, womit dieses Dauerthema zumindest in der österreichischen Reichshälfte erledigt war.94

Eisenbahnfragen

ℹ️Wesentlich besser gerüstet für die Weltausstellung als in Bezug auf die bauliche Infrastruktur war Wien hinsichtlich seiner Verkehrsanbindung. So konnte die Haupt- und Residenzstadt der Monarchie – abgesehen von einem relativ gut ausgebauten Straßennetz – durch ein halbes Dutzend, aus sämtlichen Himmelsrichtungen zusammenlaufenden Hauptbahnen erreicht werden: Es waren dies die Kaiser-Franz-Joseph-Bahn aus Böhmen, die Nordwestbahn aus Mähren, die Kaiser-Ferdinands-Nordbahn ebenfalls aus Mähren und Schlesien, die Kaiserin-Elisabeth-Westbahn aus Salzburg und Bayern, die Südbahn aus Triest und die Südöstliche- sowie Wien–Neu Szönyer Linie der österreichischen Staatseisenbahn-Gesellschaft aus Ungarn. Im Zeitraum des Wirtschaftsaufbruchs seit dem Ausgleich von 1867 hatte sich die Gesamtlänge des Schienennetzes Österreich-Ungarns mehr als verdoppelt und so die Anbindung an das europäische Verkehrsnetz vollzogen.95 ℹ️Die zweite Phase der staatlich garantierten Privatbahnen erlebte in diesen Jahren eine Hochkonjunktur, die erst mit dem Börsenkrach 1873 enden und ℹ️durch eine Rückkehr zum Staatseisenbahnsystem abgelöst werden sollte. Dem entsprechend häufig und regelmäßig standen daher in diesen Jahren alle möglichen – realisierte und nichtrealisierte – Eisenbahnprojekte auf der Tagesordnung des Ministerrates. Fragen der Streckenführung, der technischen Realisierung, der Finanzierung, der Konzessionierung und schließlich der Finalisierung wurden dabei ebenso erörtert wie der militärische Wert, der – neben den wirtschaftlichen Überlegungen – stets auch eine gewichtige Rolle spielte.96 So freilich auch im vorliegenden Band.

ℹ️a) Die galizischen Eisenbahnprojekte

Sämtliche Projekte zur Verbindung Galiziens mit dem ungarischen Eisenbahnnetz über den Karpatenbogen befanden sich im Zeitraum dieses Bandes in einem Durchgangs- bzw. Planungsstadium. Mehrere Streckenführungen wurden diskutiert: dazu zählte vor allem eine Linie von Lemberg, das sich in den 60er Jahren durch Verbindungsbahnen nach Krakau im Westen (1861), Czernowitz im Südosten (1866) und Brody im Osten (1869) als regionaler Verkehrsknotenpunkt etabliert hatte, nach Stryj mit der Option einer Weiterführung nach Munkács in Ungarn und einer Zweigbahn nach Stanislau. Die Konzession dafür war am 22. Oktober 1871 an ein privates Konsortium erteilt worden, welches Mitte Februar 1872 zu diesem Zweck eine Aktiengesellschaft mit dem Namen „k. k. priv. Erzherzog-Albrecht-Bahn“ gründete. Eröffnet wurde die Eisenbahnlinie Lemberg–Stryj nach relativ rascher Bauzeit am 16. Oktober 1873, die Verbindung nach Stanislau am 1. Jänner 1875. Die angestrebte Weiterführung nach Ungarn durch den Beskid-Tunnel konnte jedoch erst 1887 vollendet werden.97

In Bau befindlich war außerdem die – wegen der Festungsanlage vor allem auch strategisch relevante – Strecke Przemyśl–Łupków der Ersten Ungarisch-Galizischen Eisenbahn-Gesellschaft, die dafür bereits 1869 die Konzession erhalten hatte und die nun aufgrund von „unliebsamen Umständen“ und „schwierigen Bauverhältnissen“ in finanzielle Schieflage geraten war. Deshalb sah sich der Ministerrat genötigt, einigen Forderungen – darunter eine Erhöhung der staatlichen Garantiesumme – zuzustimmen, worauf die erste Teilstrecke bis Chyrów im Frühjahr 1872 fertig gestellt und in Betrieb genommen werden konnte.98 Der technisch schwierige Łupkówer-Tunnel konnte dagegen erst im Frühjahr 1874 mit finanzieller Unterstützung Österreichs und Ungarns eröffnet werden.

Mit der Linie Tarnów–Leluchów mit einer Abzweigung von Grybów nach Zagórz befand sich im ersten Halbjahr 1872 eine weitere Transversalbahn – so die zeitgenössische Bezeichnung – von Galizien nach Ungarn im Vorbereitungsstadium. Anfang Februar konnte Banhans seinen Ressortkollegen zu diesem Projekt berichten, dass er einen entsprechenden Gesetzentwurf vorbereitet und dem Reichskriegsminister zur Einsicht vorgelegt habe. Angesichts der militärischen Bedeutung der galizischen Verbindungsbahnen nach Ungarn war letzteres eine gebräuchliche und vom Kaiser immer wieder geforderte Praxis.99 Daher verwies Horst in diesem Zusammenhang auch auf das Bedrohungsszenario durch die „außerordentlichen Fortschritte des Bahnbaues in Russland“, die Österreich unter Zugzwang brächten. Aber auch aus ökonomischer Sicht betrachtete die Regierung diese Eisenbahnlinie als „vielleicht eine der besten in Galizien“.100 Ungeachtet dessen begegnete Banhans dem Drängen des Kaisers und der Armee auf „das ehestmögliche Zustandekommen“ dieser Linie mit Bedenken.101 Die Tarnów-Leluchówer Bahn wurde dann zwar Ende Juni offiziell sanktioniert, allerdings nach erheblichen Verzögerungen als Folge des Börsenkrachs erst vier Jahre später und zu allem Überfluss noch dazu auf Staatskosten fertiggestellt.102

Abschließend ist im Kontext mit den galizischen Eisenbahnprojekten im ersten Halbjahr 1872 ein Umstand bemerkenswert: sie waren – im Gegensatz zum Straßenbau – nie auch nur ansatzweise Gegenstand der bereits geschilderten „Tauschhandelspolitik“ zwischen dem Kronland und der Regierung.

ℹ️b) Die dalmatinischen Eisenbahnprojekte

Während also an der nördlichen Peripherie des Reiches – maßgeblich auch aus militärischen Gründen – an der Erschließung und Integration durch die Eisenbahnen gearbeitet wurde, blieb der äußerste Süden mit Dalmatien ein Stiefkind des goldenen Zeitalters des Eisenbahnbaues. Im Gegensatz zum Rest der Habsburgermonarchie erwies sich der Ausgleich von 1867 für Dalmatiens verkehrsmäßige Anbindung keineswegs als Initialzündung. Ganz im Gegenteil – das staatsrechtlich nun gleichgestellte Ungarn blockierte nämlich die für den cisleithanischen Teil der Monarchie gewinnversprechende Hafenanbindung Splits an das Eisenbahnnetz, um den „eigenen“ Hafen Fiume/Rijeka vor Konkurrenz zu schützen. Zu dieser protektionistischen Haltung Ungarns kamen aber noch weitere Gründe hinzu, die Dalmatien eisenbahntechnisch dermaßen ins Hintertreffen geraten ließen: Zum einen spielt hier die entlegene geografische Lage und die gebirgige Struktur des Landes eine Rolle, zum anderen waren dafür die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – geringes Steueraufkommen und mangelnde Investitionskapazität von privater Seite – verantwortlich. So blieb der Eisenbahnbau in Dalmatien allenfalls ein politisches und bedingt auch strategisches Entwicklungshilfeprojekt der Wiener Regierung.103

Wiederholt ergriffen daher dalmatinische Abgeordnete im Reichsrat die Initiative, um die Eisenbahnanbindung ihres Landes an den Rest der Monarchie zu forcieren: Dabei reichten die Argumente eben von der Sicherstellung der „Großmachtstellung Österreichs“ im adriatischen Meer bis zur Bewahrung Dalmatiens vor „dem materiellen und geistigen Rückschritte“.104 Ganz konkret war dazu die Forderung nach einer entsprechenden Gesetzesvorlage, nachdem die Regierung eine solche im Frühjahr 1869 bereits erbracht, später aber wieder zurückgezogen hatte.105 Aktiv wurden u. a. auch die Gemeindevertretungen der Landeshauptstadt Zara und von Sebenico, die sich direkt an den Kaiser mit dem Ersuchen wandten, in einen solchen Gesetzentwurf gleichzeitig auch ihre (Hafen-)Städte einzubeziehen, was zufolge einer vorliegenden Machbarkeitsstudie der Generaldirektion der österreichischen Eisenbahnen „einer späteren Zukunft vorbehalten bleiben sollte“.106 Neuere technische Erhebungen zufolge einer kaiserlichen Anordnung vom Frühjahr 1871 ließen die Erfüllung dieses Wunsches nun zwar realistischer erscheinen als zuvor, doch ein wirklich über die gute Absicht hinausgehendes Ergebnis erzielte der Ministerrat auch dieses Mal nicht.107 Seit geraumer Zeit kursierten dazu überdies Gerüchte um „Intrigen in der Verschleppung der Eisenbahn für Dalmatien“, in deren Brennpunkt die Presse den „Messias der dalmatinischen Eisenbahn“ Wilhelm v. Nördling wähnte.108 Bevor Banhans noch dem Auftrag des Kaisers nachkommen konnte, die Gemeindepetitionen in irgendeiner Form zu erledigen, versuchte Ljubiša die Früchte des regierungsfreundlichen Abstimmungsverhaltens der dalmatinischen Abgeordneten zum Notwahlgesetz zu ernten, indem er gleich in der nächsten Sitzung des Reichsrates eine Interpellation an die Regierung richtete, ob diese vorhabe, noch in der laufenden Reichsratssession einen Gesetzentwurf hinsichtlich der dalmatinischen Eisenbahn einzubringen bzw. ob diese denn überhaupt „geneigt wäre, den Bau benannter Eisenbahn in Angriff zu nehmen?“ Banhans Beantwortung fiel ebenso wohlwollend wie nichtssagend aus, ganz dem neuen Regierungskurs gegenüber dem parlamentarisch willfährigen Dalmatien entsprechend. Einmal mehr versicherte er die Entschlossenheit der Regierung eine Gesetzesvorlage „zur Sicherstellung der dalmatinischen Eisenbahn zur verfassungsmäßigen Behandlung einzubringen“, sobald die neuerlichen „Trassierungs- und Projektsverfassungsarbeiten […] noch im Laufe dieses Sommers zu Ende geführt werden“.109

Tatsächlich legte der Handelsminister Ende des Jahres 1872 den langersehnten Gesetzentwurf zur Herstellung einer Eisenbahn von Split nach Knin nebst Abzweigungen vor.110 Doch damit nicht genug, musste Banhans bereits Anfang März 1873 – also noch vor der Zäsur des Börsenkrachs – um eine nachträgliche Erhöhung der für die dalmatinische Eisenbahn beanspruchten Maximalgarantie des Staates ansuchen, was ihm zwar gewährt wurde, das Projekt aber mittelfristig nicht mehr retten konnte.111 So konnte die – dann zur Gänze ärarische – „k. k. Dalmatiner Staatsbahn“ die Strecke zwischen Split und Siverić mit einer Zweigbahn von Perković nach Sebenico letztendlich erst 1877 als erste Normalspurbahn Dalmatiens in Betrieb nehmen, wobei Zara überhaupt nicht mehr im Spiel war. Die Verlängerung bis Knin nahm daraufhin noch einmal mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch und markierte zugleich auch den letzten Eisenbahnbau im Kronland Dalmatien. Der weitere Anschluss an Kroatien und damit die Anbindung an das Eisenbahnnetz der Monarchie kam bis zu deren Zerfall 1918 nicht mehr zustande, weshalb der Wunsch Dalmatiens eine Utopie der Peripherie blieb.112

ℹ️c) Die Salzburg–Tiroler-Bahn

Als Salzburg–Tiroler-Bahn, oder früher auch „Gisela-Bahn“ bezeichnet man den heute zur Westbahn zählenden Streckenabschnitt von Salzburg nach Hallein, Bischofshofen, St. Johann im Pongau, SchwarzachSt. Veit, Zell am See, Hochfilzen, St. Johann in Tirol, Kitzbühel und durch das Brixental nach Wörgl. Notwendig war diese Linie durch den Umstand, dass Tirol mit der Eisenbahn von Wien aus nur über bayerisches Gebiet, das heute so genannte „große deutsche Eck“, zu erreichen war, was mit dem Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund nach 1866 zunehmend als unhaltbarer Zustand empfunden wurde. Zudem sollte diese Bahn das Bindeglied zwischen der Kaiser-Franz-Josephs-, Kaiserin-Elisabeth- und der Kronprinz-Rudolf-Bahn werden. Das erste Teilstück von Salzburg nach Hallein war bereits Mitte Juli 1871 eröffnet worden.113

Anfang des Jahres 1872 stand dieses Eisenbahnprojekt im Zusammenhang mit einer entsprechenden Regierungsvorlage auf der Tagesordnung des Ministerrates, wobei recht rasch ein weitgehender Konsens über die Streckenführung erzielt werden konnte: Um den Anschluss an die Nordtiroler Bahn von Kufstein nach Innsbruck herzustellen, boten sich grundsätzlich drei Varianten an, von denen jene über die Gerlos und den Paß Thurn aus technischen und kostenmäßigen Gründen ausschieden, sodass man sich abgesehen von der außer Diskussion stehenden Trassierung von Hallein nach Bischofshofen, über St. Johann im Pongau, SchwarzachSt. Veit und Zell am See auf eine Weiterführung nach St. Johann in Tirol über Kitzbühel und anschließend durch das Brixental zum Knotenpunkt Wörgl einigte, zumal diese auch militärischerseits präferiert wurde. Wirklich bemerkenswert ist das tiefe Misstrauen gegen private Investoren und Konzessionäre, das die Debatte nun zu beherrschen begann: So sah sich Auersperg veranlasst, „die sorgfältigste Überwachung bei der Geldbeschaffung“ zu fordern, „um Übervorteilungen des Staatsschatzes und des Publikums zu begegnen, durch welche die Konzessionäre reich zu werden pflegen, bevor noch der erste Spatenstich geschehen ist“. Lasser bekräftigte dies noch, indem er pauschal urteilte, dass „Aktiengesellschaften in der Regel unter einer Decke mit der Bauunternehmung“ seien, was zur Folge habe, dass „der Staat hinterher im Wege der Zinsengarantie einen großen Teil der Baukosten nachtragen muss“. Offenbar hatte dieser Missbrauch bereits solche Ausmaße erreicht, dass der Ministerrat geschlossen seinem Unmut über die „riesigen Syndikatsgewinne“ Ausdruck verlieh, die so „in Österreich auf eine jeden honetten Menschen empörende Weise“ erzielt werden.114 Ebenso beachtlich ist eine andere nahezu beiläufige Feststellung Lassers, wonach es wichtig sei, „dass die Wehrkräfte aus dem Herzen Österreichs auf dieser Linie nach Tirol und Vorarlberg geschafft werden können“, da Nordtirol Österreich „für den Fall eines Krieges mit Deutschland“ eine dominierende Stellung biete. Als wäre dieses in seiner Selbstverständlichkeit und von den Ressortkollegen auch in keiner Weise konterkarierte Feindbildszenario nicht alleine schon bezeichnend genug, bediente Lasser im gleichen Atemzug das Bild vom freundlichen Nachbarn Schweiz als Handelspartner und Abnehmer ungarischen Getreides, worin „ein weiterer strategischer Wert der Bahn liege“.115

Massive Unterstützung wurde diesem Eisenbahnprojekt natürlich seitens der begünstigten Länder – Steiermark, Salzburg und Tirol – zuteil, bedeutete es doch eine enorme wirtschaftliche Aufwertung ländlich rückständiger Gebiete, wie dem Pongau und Pinzgau, sowie des Brixentals. Aber auch die Städte Kitzbühel und Wörgl profitierten außerordentlich, erstere als künftige Fremdenverkehrsmetropole und zweitere als Verkehrsknotenpunkt und Handelszentrum des Tiroler Unterlandes.

Nachdem der Reichsrat die entsprechende Regierungsvorlage genehmigt und das Ministerium damit grundsätzlich zur Ausschreibung dieser Bahn ermächtigt hatte, erhielt die Kaiserin-Elisabeth-Bahngesellschaft am 10. November 1872 die Konzession „zum Bau und Betrieb einer aus Obersteiermark nach Salzburg und Nordtirol führenden Lokomotiveisenbahn“, die schließlich am 30. Juli 1875 fristgerecht und im Beisein von Auersperg, Lasser und Chlumecký eröffnet werden konnte.116 Als Ironie am Rande hatte bereits wenige Tage davor ein zufällig in Gastein auf Sommerfrische weilender Gast die neue Bahn inoffiziell mit einer Probefahrt eingeweiht, freilich ohne den besagten „Kriegsfall“ zu provozieren – es war dies niemand geringerer als der Deutsche Kaiser Wilhelm I.117

ℹ️d) Die Predilbahn

Das Projekt einer Eisenbahnverbindung von Tarvis nach Triest mit den beiden Streckenführungsvarianten entweder a) über Pontebba, Udine und Cervignano, oder aber b) mit einem Tunnel durch den Predilpass durch das Isonzotal nach Görz war erstmals bereits im Sommer 1865 im Ministerrat zur Sprache gekommen.118 Nach dem Verlust Venetiens als Folge des Krieges von 1866 blieb faktisch nur mehr die – inländische – Variante b) bestehen, so kostspielig und technisch aufwendig sich die damit verbundene Unterführung des Predilpasses auch zu gestalten drohte. Zu Beginn des Jahres 1868 wurde die Frage einer Verlängerung der Kronprinz-Rudolf-Bahn in Richtung Süden erneut aktuell, da von landes- und gemeindepolitischer Seite massiv für das Predilbahnprojekt lobbyiert wurde. Angesichts der Kosten war es bezeichnenderweise auch der Finanzminister, der einigermaßen gewunden festhielt, dass dieses Bahnvorhaben „möglichst werde angestrebt werden“, von einer konkreten Inangriffnahme aber „in nächster Zeit keine Rede sein könne“.119 Trotzdem wurde die Predilbahn in den folgenden Jahren zum Dauerthema im Ministerrat, was allerdings am Stillstand des kühnen Projekts nichts änderte, obwohl sogar der – ansonsten am Eisenbahnbau eher mäßig interessierte – Kaiser urgierte, „diese Angelegenheit unter Hinwegräumung allfälliger Hindernisse mit aller Energie zu fördern und die ehetunliche Verwirklichung […] zu ermöglichen“.120

Tatsächlich bestanden „allfällige Hindernisse“ – im wahrsten Sinne des Wortes – in Gestalt des mächtigen Predilpasses, dessen „Hinwegräumung“ immerhin das Graben eines neun Kilometer langen Tunnels bedeutete, der damit nur unwesentlich kürzer gewesen wäre als der viele Jahre später errichtete Arlbergtunnel.121 Als Erbstück ihrer Vorgängerinnen landete die Predilbahn nun auch auf der Agenda der neuen Regierung Auersperg, die sich Mitte Februar 1872 erstmals im Rahmen des Ministerrates des nach wie vor ungelösten Problems annahm. Mittlerweile war jedoch mit der Laakbahn eine neue dritte Streckenführungsvariante ins Spiel gekommen, für die sich jetzt auf landespolitischer Ebene Krain, aber auch eine Reihe von Reichsratsabgeordneten stark machten. Über diese Wendung waren die auf die Predillinie eingeschworenen Minister Banhans, Unger und Pretis sichtlich überrascht und witterten Motive „slawischer Politik“ Krains und Interessen der „Italianissimi“ dahinter. Der Finanzminister bedauerte in diesem Zusammenhang, dass man seinerzeit bei der Konzessionserteilung für die Strecke VillachTarvis die Weiterführung über den Predil außer acht gelassen habe.122 Tags darauf bekräftigte Auersperg in Anwesenheit des Kaisers, der sich persönlich über den Stand der Angelegenheit erkundigte, dass regierungskonform eine Predilbahn den Vorzug vor einer „wesentlich italienischen Interessen zu gute kommenden Laaklinie“ verdiene.123

Mitte März 1872 – diese Frist hatte sich Banhans zur weiteren Prüfung dieser Frage erbeten – wurde im Ministerrat dann erstmals der militärisch-strategische Einwand gegen die Predilbahnline laut, an dem dieses Projekt letzten Endes dann auch scheitern sollte: So warf Horst, der sich bis dahin bedeckt gehalten hatte, jetzt auf einmal ein, dass sich der Reichskriegsminister – entgegen der Regierungslinie – schon in „früheren Äußerungen“ für eine Laak- und damit gegen eine Predilbahn ausgesprochen habe. Damit blieb Horst zunächst aber in einer isolierten Position, die er folglich diplomatisch auch dahingehend relativierte, als eine Zweigbahn von Görz in östlicher Richtung nach Idria den Zweck ebenso erfülle und er sich somit dem einhelligen Votum des Ministerrates für eine Regierungsvorlage zum Bau einer Eisenbahn von Tarvis über den Predilpass nach Görz anschließen könne.124

Für den vorliegenden Band lässt sich damit zusammenfassend sagen, dass die Predilbahn um die Jahreswende 1871/72 mit der Udine-Variante (Pontebbabahn) zunächst zwar ein Konkurrenzprojekt losgeworden war, sich ein ebensolches allerdings umgehend mit der Laakbahn wieder eingehandelt hatte, die nicht nur auf landes- und gemeindepolitischer Ebene eifrig lobbyiert, sondern zunehmend auch militärischerseits favorisiert wurde. Entscheidend für letzteres waren strategische Bedenken gegen die Predilbahn wegen der Grenznähe zu Italien, was dann zu guter Letzt auch für das Scheitern des Projekts ausschlaggebend war.

Mittelfristig hielt das Ministerium jedoch am Predilbahnprojekt fest, auch wenn die entsprechende Regierungsvorlage in der laufenden Session nicht mehr behandelt und infolge des Börsenkrachs auch weiter verschoben wurde. Aufgetaucht ist die projektierte Linie dann jedenfalls 1875, als Chlumecký – inzwischen Handelsminister – diese dem Parlament im Rahmen einer Rückkehr zum Staatseisenbahnbetrieb vorlegte. Dazu hielt er eine richtungsweisende Grundsatzrede, in der er mit dem in Misskredit geratenen Staatsgarantiesystem für den privaten Eisenbahnbau förmlich abrechnete. Während Chlumecký in diesem Zusammenhang für die Linie von Tarvis im Anschluss an die Kronprinz- Rudolf-Bahn über Predil nach Görz zur Verbindung mit der Südbahn im verfassungsmäßigen Wege einen Staatskredit beantragte, erteilte er der Pontebbabahn zunächst mangels einer Anbindung eine Absage.125 Als diese – in Italien Pontebbana“ genannte – Verbindung schließlich Ende 1879 dann doch realisiert wurde, erübrigte sich allerdings der wirtschaftliche Nutzen der Predilbahn, die von der Wiener Regierung zuvor noch leidenschaftlich „als Teil des Welthandels auf dem österreichischen Gebiete“ gepriesen worden war.126 Daher gewannen fortan die erwähnten militärischen Einwände neben der Kostenfrage die Oberhand und besiegelten letzten Endes das Schicksal dieses Projekts, das den Ministerrat so viele Jahre über Gebühr beschäftigt hatte.

ℹ️e) Die Arlbergbahn

Im Zusammenhang mit der Predilbahn wurde immer wieder die Arlbergbahn genannt, deren Pläne in die Frühzeit des österreichischen Eisenbahnbaues zurückreichen. Durch das Handelsembargo im deutsch-französischen Krieg 1870/71 war Vorarlberg in eine handels- und verkehrspolitische Isolation geraten, die dem Projekt einer direkten – inländischen – Eisenbahnverbindung von Tirol nach Vorarlberg eine neue Dynamik verlieh. Daher beauftragte das k. k. Handelsministerium im Juli 1871 die Generalinspektion der österreichischen Eisenbahnen, so rasch als möglich eine entsprechende technische Studie zu erstellen, die dem neuen Ministerium bereits zu Beginn des Jahres 1872 vorlag. Zu deren Begutachtung wurde unverzüglich eine Expertenkommission einberufen, die Ende Februar ein Ergebnis lieferte, das Banhans Mitte März im Rahmen eines Gesetzentwurfs zur Errichtung einer Eisenbahn von Innsbruck über Landeck und den Arlberg nach Bludenz dem Ministerrat vorlegte, was einhellige Zustimmung fand.127 Der Zusammenhang mit der Predilbahn bestand insofern, als der Regierung klar war, dass die Errichtung der beiden ca. zehn Kilometer langen Tunnel durch den Predil bzw. Arlberg nur auf Staatskosten zu bewerkstelligen war. Als weitere Parallele zur Predilbahn spielte sie neben dieser die Hauptrolle in der großen parlamentarischen Eisenbahninitiative der Regierung im Jahr 1875.128 Im Gegensatz zur Predil- wurde die Arlbergbahn allerdings realisiert, wenn auch mit der nach der Wirtschaftskrise von 1873 üblichen Verzögerung. So konnten die Bauarbeiten für die Arlbergbahn erst ab 1880 begonnen und mit der feierlichen Eröffnung im Herbst 1884 beendet werden.129

ℹ️f) Andere Eisenbahnlinien

Neben den genannten Eisenbahnlinien a) – e) wurden eine ganze Reihe weiterer Eisenbahnangelegenheiten in den Sitzungen des Ministerrats dieses Bandes behandelt, wobei hier vor allem böhmische Strecken mit Anbindungen an das Deutsche Reich zu nennen sind: So war gleich nach Regierungsantritt die Übernahme der Konzession für die Biela-Talbahn durch die Aussig-Teplitzer Eisenbahngesellschaft zu erledigen.130 Letztere kam dann auch im Zusammenhang ihrer für die Strecke TeplitzKomotau gewährten Steuerfreiheit zur Sprache.131 Der Anschluss von Komotau bis zur sächsischen Grenze wurde durch die Buschtěhrader Eisenbahn angestrebt, die für ihre geplante Zweigbahn von Krima nach Reitzenhain an der böhmisch-sächsischen Grenze ebenfalls um die zum Regelfall gewordenen Gebühren- und Steuerbefreiungen angesucht hatte.132 Eine weitere Heranführung an die böhmisch-sächsische Grenze und damit einen Anschluss an das preußisch-deutsche Bahnnetz plante die Südnorddeutsche Verbindungsbahn mit der Strecke von Reichenberg nach Seidenberg mit einer Zweigbahn von Eisenbrod nach Tannwald. Wie bei anderen Hauptlinien auch spielte bei dieser Konzessionierung die Doppelgleisigkeit eine besondere Rolle, auf die vor allem der Kaiser aus militärischen Gründen stets einen besonderen Wert legte. In Betrieb genommen wurden die beiden Linien im Sommer 1875.133 Eine geplante Zweigbahn der Pilsen-Priesener-Eisenbahngesellschaft sollte über Karlsbad nach Johanngeorgenstadt ebenfalls in das sächsische Nachbarland führen.134 Eine böhmisch-bayerische Eisenbahnverbindung repräsentierte dagegen das Projekt LiebenauBöhmisch-LeipaLeitmeritzPostelbergRakonitzBeraunPribramBresnitzPisek zum Anschluss an die Kaiser-Franz-Joseph-Bahn bei Račic oder Protiwin, nebst Zweigbahnen von Postelberg nach Komotau und von Bresnitz über Strakonitz an die Grenze bei Kuschwarda in Richtung Passau. Dieses empfahl Banhans Mitte März dem Ministerrat, der ihm einhellig folgte.135 Bis auf das kleine Teilstück von Rakonitz über Pribram nach Protiwin, das schließlich ab Sommer 1874 bis Ende 1875 auf Staatskosten erbaut wurde, blieb das ehrgeizige, aber nie realisierte Unternehmen – wie so viele andere – ein Opfer der Wirtschaftskrise von 1873.136

Im Rahmen der Beantwortung von zwei Interpellationen im Abgeordnetenhaus fanden die Herstellung der Bahnlinie RottenmannWels und die Vollendung der Strecke Südbahnhof GrazSzentgotthárd im Ministerrat Erwähnung:137 Erstere war seit Jahren immer wieder ventiliert, deren ökonomischer Nutzen dann aber zusehends in Zweifel gezogen worden, zumal die 1866 konzessionierte Kronprinz-Rudolf-Bahn als ausreichend für die verkehrs- und handelspolitische Verbindung zwischen der Donau und Selzthal betrachtet wurde. Auf die speziellen wirtschaftlichen Bedürfnisse der Kremstaler Sensenwerke wollte man in diesem Zusammenhang nicht eingehen, sodass diese Linie letzten Endes nie zustande kam, was sich – ex post – in der verhaltenen Behandlung dieser Frage im Ministerrat eigentlich schon abzeichnete.138 Ebenfalls betroffen war die Steiermark durch zweitere, die Strecke von Graz nach Szentgotthárd als Teil der ungarischen Westbahn, die Anfang September 1872 bis an die Grenze bei Jennersdorf und ab Mai 1873 in ihrer Gesamtumlänge bis Graz in Betrieb genommen werden konnte.139

Eine untergeordnete Rolle spielte die Kohlebahn von Cilli nach Podkamnik mit einer Abzweigung von Migoinitz nach Buchberg, mit deren Konzessionierung sich der Ministerrat Ende Jänner 1872 kurz beschäftigte. Obwohl letztere erteilt wurde, scheiterte das private Projekt bald darauf an der mangelnden Liquidität des Betreibers, worauf die Konzession kurzerhand wieder eingezogen wurde.140

Angesichts der Eisenbahnlinien, die „den Staatsschatz empfindlich in Anspruch nehmen“ – Predil-, Arlberg-, Galizische- sowie die Tirol–Salzburger-Bahn – meinte Banhans, dem in dieser Hinsicht strapazierten Reichsrat doch wenigstens auch Bahnprojekte vorlegen zu sollen, die ohne staatliche Begünstigung in Angriff genommen werden könnten, noch dazu wenn damit gleichzeitig „den Wünschen der einzelnen Länder“ entsprochen würde. Dazu setzte er die beiden Linien a) von Braunau nach Strasswalchen in Oberösterreich und b) vom steirischen Mürzzuschlag über Mariazell nach St. Pölten und weiter über Krems nach Sigmundsherberg in Niederösterreich auf die Tagesordnung des Ministerrates.141 Für die oberösterreichische Lokalbahn a) mit einem Anschluss an die Kaiserin-Elisabeth-Bahn erhielt Banhans wenig später die Genehmigung seiner Regierungskollegen und daraufhin auch jene des Kaisers in Form einer entsprechenden Konzession. Daraufhin konnte diese Strecke rasch fertiggestellt und bereits im September 1873 dem Verkehr übergeben werden.142 Wesentlich mehr Schwierigkeiten bereitete in der Folge die Lokalbahn b), die zwar zunächst ebenfalls an ein privates Konsortium vergeben wurde, deren Konzession dann aber erlosch, als die Frist für eine Umsetzung des Bahnvorhabens Ende September 1874 abgelaufen war.143

Abschließend und als letzte im Zusammenhang mit diesem Band ist noch die Linie von Bozen nach Meran zu nennen, für die Banhans im Fall einer Konzessionserteilung routinemäßig die obligatorische Steuer-, Stempel- und Gebührenbefreiung anzustreben hatte, wofür er auch anstandslos die Zustimmung des Ministerrates erhielt. Obwohl die rechtliche Basis für diese Bahn anschließend noch im Herbst 1872 geschaffen werden konnte, dauerte die Realisierung dieser relativ kurzen Tiroler Lokalbahn aufgrund finanzieller Probleme bis Ende 1881.144

ℹ️ g) Der Österreichische Lloyd

Ein relativ wichtiges verkehrspolitisches Thema, dessen Lösung die neue Regierung von ihren Vorgängerinnen geerbt hatte, war die Erneuerung des Postvertrages mit dem „Oesterreich-Ungarischen Lloyd“, wie das 1833 gegründete Unternehmen als Folge des Ausgleichs seit Jahresbeginn nun offiziell hieß. Nachdem dieser Gegenstand bereits im Jahr 1871 mehrfach auf der Tagesordnung des Ministerrates gestanden war, beschäftigte er – ab Mitte Jänner 1872 – auch das Kabinett Auersperg regelmäßig.145

Schon bald kündigte sich indessen die Absicht der magyarischen Regierung an, „eine eigene ungarische Dampfschifffahrtslinie ins Leben zu rufen“, was die staatliche Unterstützung künftig auf Cisleithanien beschränkten sollte. Letztere lasse sich auch „nur vom postalischen Standpunkte rechtfertigen, während die Subventionierung rein merkantilistischer Zwecke Präjudize schaffen würde, die sich nicht empfehlen“, wie Pretis einwandte. Dementsprechend erhielt Banhans die Ermächtigung des Ministerrates, einen Vertragsentwurf mit dem Lloyd „wegen Besorgung des Seepostdienstes“ zur parlamentarischen Behandlung einzubringen.146 Nachdem dieser vom Reichsrat angenommen worden war, erhielt die k. k. Regierung die gesetzliche Ermächtigung zum Abschluss eines Vertrages mit dem Lloyd zur „Herstellung einer direkten und regelmäßigen Postdampferlinie zwischen Triest und Bombay“.147

ℹ️ Überlieferung

Ebenso wie für die Jahre 1867–1871 sind auch die 72 Protokolle des vorliegenden Bandes, die den Zeitraum vom 25. November 1871 bis zum 23. April 1872 umfassen durch den Justizpalastbrand stark in Mitleidenschaft gezogen worden, wenngleich sie im Wesentlichen auch – bis auf ein einziges Protokoll148 – als Brandakten zur Gänze erhalten geblieben sind. Ansonsten fehlen lediglich in einem Protokoll drei Tagesordnungspunkte, wobei einer davon durch eine archivalische Abschrift rekonstruiert werden konnte.149