EINLEITUNG

Von Richard Lein

ℹ️ ℹ️Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 blieb für den Ministerrat zumindest formal vieles beim Alten. Während sich das zentrale Kollektivorgan der Minister für den gemeinsamen Bereich „Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten“ und für Ungarn „königlich-ungarisches Ministerium“ nannte, hieß es in Cisleithanien1 weiterhin schlicht „Ministerrat“2. Nur sein Vorsitzender, der Ministerpräsident, sowie die einzelnen Minister führten die Bezeichnung „kaiserlich-königlich“, kurz „k. k.“, was bereits vor dem Ausgleich so gehandhabt worden war3. In personeller, inhaltlicher sowie organisatorischer Hinsicht wurde der cisleithanische Ministerrat hingegen völlig neu aufgestellt. Hauptaufgabe des in seiner Zuständigkeit auf die Belange des cisleithanischen Teils der Monarchie reduzierten Organs bildete zunächst die Umsetzung der Dezemberverfassung4, also der Abschluss des Staatsumbaus. So verwiesen viele Bestimmungen der im Dezember 1867 erlassenen Staatsgrundgesetze5 auf Durchführungsgesetze, die es erst zu schaffen galt, so etwa das Gesetz über die Einrichtung eines Reichsgerichtes, das Wehrgesetz, das Volksschulgesetz oder die Gesetze zur Regelung der Verhältnisse von Staat und Kirche6. Zudem musste auch die bestehende Verwaltung auf das Gebiet Cisleithaniens reduziert7 und den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Kronländer durch Maßnahmen auf den Gebieten der Finanzen, des Handels sowie der Infrastruktur Rechnung getragen werden. Gleichzeitig jedoch lähmte Parlament und Regierung zunehmend der Richtungsstreit, ob die Verfassung in föderalem oder zentralistischem Sinn weiter ausgebaut werden sollte. Die aus dem Konflikt entstehende Staatskrise fand ihren Höhepunkt im Herbst 1871. Danach etablierte sich auf politischer wie verwaltungstechnischer Ebene ein halb zentralistisches, halb föderales Provisorium, das in seinen grundlegenden Zügen und mit all seinen Mängeln bis zur Auflösung des Habsburgerreiches im November 1918 bestehen blieb8. Alle Kabinette, die dieses Provisorium abzuändern versuchten, sollten scheitern. Obwohl die Regierungen der Jahre 1868–1871 grundlegende, wichtige Gesetze ausarbeiteten und umsetzten, liegt ihr Scheitern bei der Lösung dieser Verfassungsfrage wie ein Schatten über ihrer Tätigkeit.

ℹ️Kabinette und Minister

In den ersten vier Jahren seines Bestehens standen drei Regierungen und eine Übergangsregierung an der Spitze des neuen cisleithanischen Staatswesens, wobei jedes Kabinett seine eigene politische Zielsetzung hatte. So verfolgte das „Bürgerministerium“ eine Politik, die sich an liberalen Prinzipien und Ideen orientierte und die vom Reichsrat größtenteils mitgetragen wurde. Die beiden folgenden Kabinette neigten dagegen eher konservativen Grundsätzen zu und standen zudem in einem Konfliktverhältnis zum Parlament. Dabei bemühte sich die Regierung Potocki zumindest um die Umsetzung eines auf Kompromisse aufbauenden Regierungsprogramms sowie um eine Verständigung zwischen der liberalen Mehrheitsfraktion und den konservativen Kräften im Reichsrat. Die Regierung Hohenwart dagegen suchte von Anfang an den Konflikt mit den Liberalen und war gewillt, zur Umsetzung ihrer Politik die politischen Mehrheitsverhältnisse im Abgeordnetenhaus auch durch Eingriffe in das Wahlrecht zu verändern. Das Übergangskabinett Holzgethan führte hingegen nur die Amtsgeschäfte bis zur Zusammenstellung eines neuen, definitiven Kabinetts fort9. Ungeachtet dieser aus praktisch-politischer Sicht relativ klar zu ziehenden Abgrenzung zwischen den einzelnen Regierungen war die Zusammensetzung der Kabinette jedoch überaus heterogen. So gehörten diesen jeweils gleichzeitig Aristokraten wie Bürgerliche, Liberale wie Konservative und Föderalisten wie Zentralisten an. Dass es zwischen den einzelnen Regierungen auch personelle Kontinuitäten gab, verwundert vor diesem Hintergrund nicht.

ℹ️a) Das „Bürgerministerium“

Definiert man eine Regierung wie üblich über die Person des jeweiligen Ministerpräsidenten, so ist zu bemerken, dass das sogenannte „Bürgerministerium10 eigentlich vier Kabinette umfasste. Chronologisch an erster Stelle stand die Regierung unter der Leitung von Ministerpräsident Carlos Fürst Auersperg, die am 1. Jänner 1868 die bis dahin amtierende Regierung Beust ablöste11. Das Ministerium Auersperg stellte gleich in zweifacher Hinsicht ein Novum in der politischen Geschichte Österreichs dar. So handelte es sich bei ihm einerseits um die erste Regierung, die nach dem Abschluss des Ausgleichs sowie der Proklamation der Dezemberverfassung ernannt worden war, andererseits stellte sie auch das erste Kabinett dar, das unter Berücksichtigung der neuen parlamentarischen Macht- und Mehrheitsverhältnisse zustande gekommen war12. Letzterer Umstand schlug sich deutlich bei der Auswahl der Personen für die einzelnen Ministerämter nieder, für die Karl Giskra als Minister des Innern13, Leopold Hasner von Artha als Minister für Kultus und Unterricht14, Eduard Herbst als Justizminister15, Eduard Graf Taaffe als Minister für Landesverteidigung und öffentliche Sicherheit16, Rudolf Brestel als Finanzminister17, Ignaz Edler von Plener als Handelsminister18, Alfred Graf Potocki als Ackerbauminister19 und Johann Nepomuk Berger als Minister ohne Portefeuille20 ausgewählt worden waren. Alle Genannten gehörten entweder dem Herren- oder dem Abgeordnetenhaus des Reichsrates an21, wodurch erwartet werden konnte, dass sie mit der politischen Arbeit eng vertraut waren und sich aufgrund ihrer Verankerung in den beiden Häusern des Parlaments zumindest des Wohlwollens der Abgeordneten der ihnen politisch nahestehenden Gruppen sicher sein konnten. Hinzu kam, dass von zwei Ausnahmen abgesehen ( Plener, Taaffe) keine der genannten Personen bisher ein Ministeramt ausgeübt hatte, sodass die Regierungsbildung im Jahr 1868 tatsächlich einen (fast) gänzlichen politischen Neuanfang darstellte.

Die meisten Kabinettsmitglieder konnten auf lange, erfolgreiche politische Karrieren zurückblicken. So hatten Berger, Brestel, Giskra und Potocki bereits dem österreichischen konstituierenden Reichstag bzw. der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/1849 angehört. Über praktische Regierungserfahrung verfügten darüber hinaus Plener, der 1860–1865 in den Ministerien Rechberg und Erzherzog Rainer Finanzminister gewesen war22, sowie Taaffe, der im Kabinett Beust Innenminister sowie stellvertretender Ministerpräsident gewesen war23. Giskra war zudem von Beginn der II. Legislaturperiode bis zu seiner Berufung ins Ministeramt Präsident des Abgeordnetenhauses des Reichsrates gewesen, wodurch er großes Ansehen bei vielen Parlamentariern genoss24. Der Umstand, dass mit Berger, Brestel, Giskra, Hasner, Herbst und Plener gleich sechs Personen Ministerämter bekleideten, die nicht dem Hochadel angehörten, führte bereits zeitgenössisch zur Bezeichnung des Kabinetts als „Bürgerministerium“, ein Spitzname, den vor allem die Regierungsmitglieder selbst als nur wenig zutreffend betrachteten25. Auch aus politischer Sicht war die Zusammensetzung des Kabinetts eher heterogen. So standen in der Regierung Auersperg deklarierte Konservative (Potocki, Taaffe) Vertretern der Liberalen (Berger, Brestel, Hasner, Herbst, Giskra) gegenüber, was rückblickend betrachtet die Keimzelle für die später innerhalb des Kabinetts aufbrechenden Konflikte darstellte. Die Auswahl der Minister aus den unterschiedlichen Gruppen beider Häuser des Reichsrates war jedoch bewusst und in der Hoffnung erfolgt, sich auf diese Weise eine breite parlamentarische Mehrheit für das Regierungsprogramm sichern zu können.

Die erste größere personelle Veränderung im Kabinett ergab sich durch eine Auseinandersetzung zwischen Ministerpräsident Auersperg und Reichskanzler Friedrich Graf von Beust26 im Sommer 1868. In Folge blieb Auersperg ab dem 22. Juli 1868 den Sitzungen des Ministerrates einfach fern27 und wurde schließlich am 24. September förmlich entlassen28. Den Vorsitz im Ministerrat übernahm in kaiserlichem Auftrag vorläufig Auerspergs Stellvertreter Taaffe unter Beibehaltung seines Amtes als Minister für Landesverteidigung und öffentliche Sicherheit29. Nachdem Franz Joseph aufgrund des Widerstands Pleners davon absah, den von Auersperg selbst vorgeschlagenen Nachfolger, seinen Bruder Adolf Fürst Auersperg, mit dem Vorsitz im Ministerrat zu betrauen30, wurde Taaffe schließlich am 17. April 1869 vom Kaiser offiziell zum Ministerpräsidenten ernannt31. Darüber hinaus blieb das Kabinett vorerst unverändert. Nach der Eskalation des Streits im Kabinett um die Frage der Wahlrechtsreform traten Ministerpräsident Taaffe, Ackerbauminister Potocki und Minister Berger am 15. Jänner 1870 zurück. Kaiser Franz Joseph betraute daraufhin Handelsminister Plener unter Belassung in seinem Ministeramt vorübergehend mit der Leitung des Ministerrates sowie ebenfalls ad interim mit der Leitung des Ministeriums für Landesverteidigung und öffentliche Sicherheit32. Das Amt des Ackerbauministers übernahm interimistisch Finanzminister Brestel33, die von Berger ausgeübte Position eines Sprechministers erlosch mit seinem Rücktritt.

Wenige Tage später genehmigte der Monarch jedoch nicht die vom gesamten interimistischen Kabinett Plener vor dem Hintergrund der ausweglosen politischen Situation erbetene Entlassung, sondern betraute Unterrichtsminister Hasner am 1. Februar 1870 mit der Bildung einer neuen Regierung34. Das Amt des Ministers für Landesverteidigung übernahm dabei ein Berufsmilitär, Feldmarschallleutnant Johann Ritter von Wagner, der zuvor Statthalter und Militärkommandant in Dalmatien gewesen, jedoch nach dem Aufstand im Raum Cattaro 1869/1870 von seinem Posten abberufen worden war35. Neuer Ackerbauminister wurde Anton Banhans36, der dem böhmischen Landtag angehörte und von diesem im Mai 1867 ins Abgeordnetenhaus des Reichsrates gewählt worden war37. Das Amt Hasners als Minister für Kultus und Unterricht übernahm Karl von Stremayr38, der bereits der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/1849 angehört hatte, 1861 in den steiermärkischen Landtag gewählt worden war und seit Dezember 1869 Mitglied des Abgeordnetenhauses war39. Sowohl Banhans als auch Stremayr galten aus politischer Sicht als Liberale und verfügten über eine entsprechende Verankerung im Parlament und dessen Gremien. In dieser Zusammensetzung wirkte das Kabinett Hasner bis zu seiner Demission am 12. April 187040.

ℹ️b) Die Regierung Potocki

Die Ernennung von Alfred Graf Potocki zum Ministerpräsidenten am 12. April 187041 stellte eine bedeutende Umwälzung in den politischen Verhältnissen Cisleithaniens dar. Sein Ziel war es, liberale wie konservative Kräfte zum Eintritt in die Regierung zu bewegen und damit die drohende Blockade im Abgeordnetenhaus des Reichsrates zu vermeiden, was sich jedoch schon bald als undurchführbar erwies. Die Schwierigkeiten bei der Regierungsbildung sind unter anderem daran zu erkennen, dass bei der Ernennung Potockis zum Ministerpräsidenten nur zwei der sieben Ressorts dauerhaft besetzt wurden. Definitiv in ihre Ämter eingesetzt wurden Taaffe, der das Ministerium des Innern übernahm, und Adolf Ritter von Tschabuschnigg42, der seit 1861 dem Kärntner Landtag und dem Abgeordnetenhaus des Reichsrates angehörte43 und nun zum Justizminister ernannt wurde. Die übrigen Ressorts wurden dagegen für den eventuellen Eintritt von liberalen Politikern in das Kabinett freigehalten und deshalb vorläufig an die drei definitiven Kabinettsmitglieder sowie an hohe Beamte zur Leitung übertragen. So übernahm Potocki interimistisch auch das Ackerbauministerium, Taaffe das Ministerium für Landesverteidigung und Tschabuschnigg das Ministerium für Kultus und Unterricht. Das Finanzministerium wurde vorübergehend von Sektionschef Karl Freiherr von Distler übernommen, das Handelsministerium vom späteren Statthalter von Triest und Finanzminister in den Kabinetten Adolf Auersperg und Stremayr, Sektionschef Sisinio Freiherr de Pretis von Cagnodo44.

Letztlich war jedoch nur ein bekannter liberaler Politiker, Karl von Stremayr, bereit, in die Regierung einzutreten, in der er am 30. Juni 1870 wiederum das Amt des Ministers für Kultus und Unterricht übernahm45. Drei weitere Ministerämter gingen dagegen an Exponenten des konservativ-föderalistischen Lagers. Das Finanzministerium übernahm Ludwig Freiherr von Holzgethan46, das Ackerbauministerium Alexander Baron Petrinò47 sowie das Ministerium für Landesverteidigung Victor Freiherr von Widmann-Sedlnitzky48. Während Widmann-Sedlnitzky dem mährischen Landtag und dem Abgeordnetenhaus des Reichsrates angehörte und Petrinò Mitglied des Landtags der Bukowina und bis zu seinem Rücktritt im März 1870 auch des Abgeordnetenhauses war49, besaß Holzgethan bis zu seiner Berufung ins Herrenhaus des Reichsrates im September 187050 keine parlamentarische Verankerung. Allen drei Genannten wurde vorerst am 6. Mai 1870 die Leitung ihrer Ressorts übertragen, am 30. Juni 1870 erfolgte schließlich die definitive Ernennung von Petrinò zum Ackerbau- sowie von Holzgethan zum Finanzminister51. Widmann-Sedlnitzky übte sein Amt dagegen nur bis zum 28. Juni 1870 aus, da er nach dem Bekanntwerden einer Ehrenaffäre aus seiner Militärdienstzeit zurücktreten musste52. Die Leitung des Ministeriums für Landesverteidigung übernahm daraufhin provisorisch Ministerpräsident Potocki53 und behielt sie bis zum Rücktritt seines Kabinetts. Gleichfalls unter dauerhafter provisorischer Leitung verblieb das Handelsministerium, dessen Leiter, Sektionschef Pretis-Cagnodo, am 4. Februar 1871 gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern des Kabinetts demissionierte54.

ℹ️c) Die Regierung Hohenwart

Einen vollkommenen Bruch im Umgang mit dem Parlament stellte die Ernennung des bisherigen Statthalters von Oberösterreich, Karl Siegmund Graf von Hohenwart, zum Vorsitzenden des Ministerrates am 6. Februar 1871 dar55. So verfügte mit Ausnahme von Holzgethan, der auch im neuen Kabinett Finanzminister blieb, kein anderes Regierungsmitglied über eine Verbindung zum cisleithanischen Parlament. Albert Schäffle, der in der Regierung Hohenwart das Amt des Handelsministers ausübte und zudem auch die Leitung des Ackerbauministeriums übernahm56, hatte zwar dem württembergischen Landtag und dem Deutschen Zollparlament angehört, Zeitgenossen kritisierten jedoch sein mangelndes Verständnis der politischen Verhältnisse Cisleithaniens57. Über noch weniger politische Erfahrung verfügten der Literaturhistoriker Josef Jireček, der das Amt des Ministers für Kultus und Unterricht übernahm58, sowie der Professor für Rechtswissenschaften an der Universität Wien Karl Habietinek, der zum Justizminister ernannt wurde59. Das Ministerium für Landesverteidigung übernahm mit Generalmajor Heinrich Freiherr von Scholl60 wiederum ein Berufsmilitär. Zum Minister des Innern hatte der Kaiser Hohenwart am 4. Februar 1871, also noch vor der offiziellen Bildung des Kabinetts, ernannt61. Die einzige personelle Veränderung erlebte die Regierung am 11. April 1871 durch die Ernennung des langjährigen Obmanns des Polenklubs im Parlament, Kasimir Ritter von Grocholski, zum Minister ohne Portefeuille62, der fortan die Interessen des Kronlandes Galizien im Kabinett vertrat. Der Umstand, dass Grocholski sowohl dem galizischen Landtag als auch dem Abgeordnetenhaus des Reichsrates angehörte63 und somit als einziges Regierungsmitglied neben Holzgethan über eine parlamentarische Verankerung verfügte, verbesserte das angespannte Verhältnis des Kabinetts zur zweiten Kammer des Parlaments jedoch nicht. Die Regierung besaß von Anfang an einen provisorischen Charakter und war einzig für die Durchführung des Ausgleichs mit den Tschechen ins Amt berufen worden. Dieses Vorhaben stieß jedoch nicht nur auf die Fundamentalopposition der liberalen Mehrheit des Abgeordnetenhauses, sondern auch auf die unbedingte Ablehnung Ungarns sowie des Deutschen Reiches. Als Franz Joseph den Plan eines Ausgleichs mit den Tschechen aufgab, demissionierte das Kabinett am 30. Oktober 187164.

ℹ️d) Die Übergangsregierung Holzgethan

Nach dem Rücktritt der Regierung Hohenwart beauftragte der Kaiser Finanzminister Holzgethan, die Geschäfte bis zur Bildung eines neuen, definitiven Kabinetts weiterzuführen65. Neben Holzgethan, der in seinem Amt als Finanzminister belassen wurde, blieben auch Scholl und Grocholski auf ihren bisherigen Posten als Minister für Landesverteidigung bzw. als Minister ohne Portefeuille. Die übrigen Ressorts wurden dagegen an hohe Beamte zur Leitung übertragen. Das Ministerium des Innern ging an Sektionschef August Freiherr von Wehli, das Ministerium für Kultus und Unterricht an Sektionschef Karl Fidler66, das Justizministerium an Sektionschef Georg Freiherr von Mitis67, das Handelsministerium an Sektionschef Ludwig Freiherr von Possinger68 sowie das Ackerbauministerium an Sektionschef Otto Ritter von Wiedenfeld69. Das Kabinett setzte keine eigenen politische Initiativen, sondern beendete nur das eingeleitete Ausgleichsprozedere mit den Tschechen und trat schließlich am 25. November 1871 zurück70, um der neuen, definitiven Regierung unter Ministerpräsident Adolf Fürst Auersperg Platz zu machen.

ℹ️Regieren unter quasi parlamentarischen Verhältnissen

Im Jahr 1868 erfolgte die Regierungsbildung und -tätigkeit in Cisleithanien unter teilweise geänderten Voraussetzungen71. Zwar wurden auch nach dem Inkrafttreten der Dezemberverfassung der Ministerpräsident und die übrigen Mitglieder des Kabinetts vom Kaiser persönlich ausgewählt und ernannt, seit den Wahlen im Frühjahr 1867 stand diesen jedoch im Reichsrat eine kompakte und starke Gruppe liberaler Abgeordneter gegenüber. Sie vereinigte mehr als die Hälfte der Sitze im Abgeordnetenhaus auf sich72, was bedeutete, dass es praktisch unmöglich war, gegen ihren Willen das Arbeitsprogramm einer Regierung umzusetzen. Dies war umso bedeutender, als die sogenannten Staatsnotwendigkeiten, also der Beschluss des Budgets, die Genehmigung der Rekrutenkontingente sowie die Wahl zur österreichischen Delegation73, zwingend vom Parlament erledigt werden mussten. In Folge dieses Umstandes wurden, wie zuvor bereits ausgeführt, vom Kaiser für die Ministerämter in der im Jänner 1868 gebildeten cisleithanischen Regierung größtenteils Personen ausgewählt, die entweder den Mehrheitsfraktionen im Reichsrat angehörten oder diesen zumindest politisch nahestanden. Vor dem Hintergrund der sich dadurch ergebenden, starken politischen Verankerung der Kabinette insbesondere im Abgeordnetenhaus kann im Zeitraum 1868–1869 zumindest von quasi parlamentarischen Regierungen gesprochen werden. Erst die Kabinette Potocki (April 1870–Februar 1871) und Hohenwart (Februar 1871–Oktober 1871) wurden gegen die Mehrheit bzw. explizit gegen den Willen des Abgeordnetenhauses gebildet, was heftigen Widerstand hervorrief74 und den Kaiser lange Zeit von weiteren Kraftproben mit dem Parlament abhalten sollte. Eine wesentliche Änderung im Kräfteverhältnis zwischen Regierung und Parlament brachte auch das ein halbes Jahr vor der Dezemberverfassung in Kraft getretene Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit mit sich. Gemäß den darin enthaltenen Bestimmungen waren die Minister nicht mehr ausschließlich dem Kaiser verantwortlich, sondern konnten für schuldige Handlungen im Rahmen ihrer Amtsführung sowohl durch die beiden Häuser des Reichsrates als auch durch öffentliche Gerichte zur Verantwortung gezogen werden75. Nicht belangt werden konnte dagegen der Kaiser, von dem zwar weiterhin die eigentliche Regierungsgewalt ausging und der das Inkrafttreten von Gesetzen durch sein Veto verhindern konnte, dessen Person jedoch laut dem Staatsgrundgesetz über die Ausübung der Regierungs- und Vollzugsgewalt „unverletzlich und unverantwortlich“ war76.

ℹ️Am Zustandekommen des Abgeordnetenhauses hatte sich durch die Dezemberverfassung nichts geändert. Indirekt durch die Landtage gewählt, stellte es aufgrund des sehr eng gefassten Wahlrechts auf Landesebene eher eine neuständische Interessens- als eine Volksvertretung dar77. Die Abgeordneten wurden aus dem Kreis der Mitglieder des Landtags nach engen regionalen Vorgaben gewählt und waren letztlich primär diesem sowie der Kurie, in der sie gewählt worden waren78, verantwortlich. Im Abgeordnetenhaus schlossen sie sich zu nationalen oder politischen Klubs oder Fraktionen zusammen, die oft nur ein inhaltlicher Minimalkonsens zusammenhielt79. Die Entscheidung, die Regierung zu unterstützen oder nicht, hing zumeist von der Haltung der Klubs zu konkreten Sachfragen ab. Zwar versuchten die Kabinette zum Erhalt ihrer parlamentarischen Mehrheit den Wünschen der ihnen gewogenen Teile des Abgeordnetenhauses entgegenzukommen, dies stellte jedoch noch keine regelrechte Do-ut-des-Politik wie in späteren Jahren dar80. Trotz der bestehenden personellen Verbindungen bemühten sich die Kabinette, zum Parlament möglichst auf Distanz zu gehen und einen unparteiischen Eindruck als kaiserliche Regierungen zu vermitteln81. Verhandlungen zur Sicherung der Regierungsmehrheit wurden meist auf informellem Weg durch einzelne Minister mit den Führern der ihnen politisch nahestehenden Fraktionen geführt. Insgesamt war das Verhältnis zwischen Regierung und Abgeordnetenhaus, trotz oft gegensätzlicher Ansichten in Sachfragen, ausgewogen. Erst in der Verfassungskrise der Jahre 1870/71 steigerte sich die Auseinandersetzung in drastischer Weise.

ℹ️Die Umsetzung der Dezemberverfassung

Unter der Umsetzung der Dezemberverfassung ist die Schaffung jener Gesetze und Verordnungen zu verstehen, die gemäß den Bestimmungen der im Dezember 1867 in Kraft getretenen Staatsgrundgesetze verabschiedet und erlassen werden mussten. Dabei ging es zum einen um bestimmte Materien, wie etwa die Kontrolle der Staatsschuld, deren Detailregelung die Verfassung explizit noch zu schaffenden Reichsgesetzen überlassen hatte. Zum anderen mussten Teile des bestehenden Rechtssystems durch die Verabschiedung oder Modifizierung von Gesetzen angepasst werden, da sie im Widerspruch zu den neuen Verfassungsprinzipien, insbesondere jenem über die Rechte der Staatsbürger82, standen. Da diese Gesetze teilweise sehr komplex waren und die beiden Häuser des Reichsrates ihnen oft erst nach langwierigen Verhandlungen und Adaptionen zustimmten, traten viele von ihnen erst mit mehrjähriger Verzögerung in Kraft83. Aus diesem Grund strebte die Regierung generell die Zerlegung umfangreicher Materien, wie etwa jene der Gleichberechtigung der Konfessionen84, in mehrere Teilaspekte an, die einzeln im Wege von Spezialgesetzen geregelt wurden85. Diese fanden zumeist leichter die Zustimmung des Reichsrates, wobei auf diese Weise zumindest Teile der Materie rascher einer Regelung zugeführt werden. Insgesamt wurden nur zwei gemäß der Verfassung zu verabschiedenden Gesetze, namentlich jenes über die zivilrechtliche Haftung von Staatsdienern für die durch pflichtwidrige Verfügungen verursachten Rechtsverletzungen86 und jenes über die Verantwortlichkeit des gemeinsamen Ministeriums87, nicht verabschiedet. Während im ersten Fall nicht bekannt ist, warum die Regierung dem Reichsrat keine entsprechenden Gesetzesvorlagen vorlegte, stand im zweiten Fall einer möglichen Regelung der Rechtsstandpunkt Ungarns entgegen, das eine Verantwortlichkeit der gemeinsamen Regierung gegenüber den Parlamenten beider Teile der Monarchie nicht als gegeben ansah88. Beide Materien blieben letztlich bis zur Auflösung der Habsburgermonarchie ungeregelt.

ℹ️Bedeutende Änderungen ergaben sich vor allem im Bereich der Verwaltung, die den Bedürfnissen des neuen Staatswesens angepasst werden musste. Dabei wurden grundsätzlich die mit dem Februarpatent von 1861 erlassenen Landesordnungen89 beibehalten, jedoch per Gesetz vom 19. Mai 1868 die politischen Verwaltungsbehörden der Länder Cisleithaniens sowie deren Zuständigkeit neu organisiert und geregelt90. Die wesentlichste Änderung bildete dabei die Trennung der politischen Verwaltung von der Rechtspflege, was durch die Aufhebung der 1853 eingerichteten91 gemischten Bezirksämter erreicht wurde92. ℹ️Keine gesetzliche Regelung erfuhr dagegen die auch im Ministerrat ausführlich diskutierte Frage des Titels des Monarchen sowie des künftig zu gebrauchenden Staatsnamens für den Gesamtstaat93. Sie erfolgte durch ein kaiserliches Handschreiben vom 14. November 1868, in dem Franz Joseph unter anderem für seine Person die offizielle Bezeichnung „Seine k. und k. Apostolische Majestät“ sowie für den Gesamtstaat „Österreichisch-Ungarische Monarchie“ festlegte94. ℹ️Die Frage der im In- und Ausland zu gebrauchenden Fahnen, Flaggen und anderen Herrschaftszeichen wurde nur langsam und schrittweise geregelt. Im März 1869 wurde durch eine Verordnung des Handelsministeriums zumindest für die Seeschifffahrt eine neue, aus den Nationalfarben beider Teile der Habsburgermonarchie zusammengesetzte Flagge definitiv eingeführt95, die später auch für die Seefahrtsbehörden übernommen wurde96. Die Festsetzung eines Wappens für die Länder Cisleithaniens sowie eines gemeinsamen Wappens für den Gebrauch bei den gesamtstaatlichen Einrichtungen erfolgte dagegen erst im November 191597.

ℹ️Auch im Bereich der Justiz und des Rechtswesens war eine Anpassung an den neuen staatsrechtlichen Zustand erforderlich. Kernstück der Neuordnung in diesem Bereich bildete neben der Errichtung von selbstständigen Bezirksgerichten vor allem die in der Verfassung verankerte Einrichtung eines ℹ️Reichsgerichts. Dieses hatte über Kompetenzstreitigkeiten der cisleithanischen Länder untereinander sowie über Beschwerden von Bürgern gegen die Verletzung ihrer verfassungsgemäßen Rechte zu entscheiden. Nach längeren Vorbereitungen auf der Ebene der Regierung sowie des Parlaments wurde dieses Gericht, das den Vorläufer des Verfassungsgerichtshofs der Republik Österreich bildete und eine der ersten derartigen Institutionen in Europa darstellte, per Gesetz vom 18. April 1869 eingerichtet98. Der Ministerrat beschäftigte sich in Folge mit der Ernennung der Mitglieder des Gerichtshofs, jedoch auch mit formellen Fragen, wie etwa der Genehmigung seiner Geschäftsordnung99. In den folgenden Jahren, als das Reichsgericht vermehrt in Fragen des Nationalitäten- und Sprachenstreits zu entscheiden hatte, rückte es zunehmend in den Fokus der Tagespolitik. Andere, gleichfalls in den Verfassungsgesetzen verankerte Institutionen konnten dagegen erst nach längeren Verhandlungen und mit mehrjähriger Verzögerung eingerichtet werden. ℹ️Zu erwähnen ist hier vor allem der in Artikel 15 des Staatsgrundgesetzes über die richterliche Gewalt vorgesehene Verwaltungsgerichtshof, der erst nach der Sanktionierung des entsprechenden Gesetzes am 22. Oktober 1875 geschaffen wurde100.

ℹ️Ein weiterer wichtiger Punkt in der Regierungsarbeit war die gleichfalls in der Verfassung vorgesehene, gesetzliche Regelung der temporären Suspension bestimmter Grundrechte der Staatsbürger101. In diesem Fall wurde, da die entsprechende Gesetzesvorlage noch nicht die Zustimmung des Parlaments gefunden hatte, im Oktober 1868 eine provisorische Regelung per kaiserlicher Verordnung gemäß § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung102 erlassen, um den Ausnahmezustand über Prag und einige Umlandgemeinden verhängen zu können103. Erst sieben Monate später wurde am 5. Mai 1869 das mit der kaiserlichen Verordnung textgleiche, „ordentliche“ Gesetz über die Grundrechtssuspension vom Kaiser sanktioniert104. ℹ️Darüber hinaus wurden im Zuge der Reform des Justizwesens einige Bereiche der Rechtspflege gänzlich neu geordnet. Dazu zählten vor allem die Einführung einer Advokatenordnung105, die Novellierung des Pressegesetzes106, die Einführung der Konkursordnung107 sowie die Sanktionierung des Grundbuchgesetzes108. Zusätzlich wurde das Briefgeheimnis unter verstärkten gesetzlichen Schutz gestellt109 und mit der Aufhebung der entsprechenden Paragrafen des Strafgesetzbuches unselbstständig Beschäftigten die Koalitionsfreiheit, sprich das Recht zur gewerkschaftlichen Vereinigung, eingeräumt110. ℹ️Gerade die Neufassung des Pressegesetzes war von großer tagespolitischer Bedeutung, da die Regierung im Verlauf der Verfassungskrise mehrfach gegen, wie sie es nannte, „tendenziöse Berichterstattung“ in den Zeitungen vorging111.

ℹ️Weitere, tiefgreifende Änderungen ergaben sich auch im Bereich der gemeinsamen Angelegenheiten112. Hier setzte sich der Prozess der administrativen Trennung, der mit der Ernennung des ungarischen Ministeriums im Februar 1867 seinen Anfang genommen hatte, auch im Jahr 1868 nahtlos fort. Dabei musste Cisleithanien erkennen, dass Ungarn neben seinem eigenen statistischen Zentralamt113 keine für beide Teile der Monarchie zuständige, statistische Behörde haben wollte. Diese Funktion hatte die Regierung in Wien ursprünglich der zum k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht ressortierenden statistischen Zentralkommission zugedacht gehabt. Eine Ausnahme hiervon bildete lediglich die Außenhandelsstatistik des Gesamtstaates, die beim k. k. Handelsministerium verblieb. Bezüglich der Teilung der statistischen Zentralkommission wurden schon bald Verhandlungen zwischen den beiden Teilen der Monarchie aufgenommen, die schließlich im August 1869 zum Abschluss gebracht werden konnten114. ℹ️Gemeinsam war und blieb Cisleithanien und Ungarn hingegen die bis Ende 1876 mit der Ausgabe von Banknoten ausschließlich privilegierte Nationalbank. Dieses Privilegium behielt die Bank als private Aktiengesellschaft in Ungarn aber nur provisorisch auf Grund einer Erklärung des ungarischen Finanzministers, auf eine eigenständige Regelung seines Geldwesens vorerst zu verzichten115. Zwar plante die ungarische Regierung längerfristig eine eigene Notenbank zu etablieren, dieses Projekt wurde jedoch aufgrund des Börsenkrachs von 1873 aufgegeben. Erst der Wirtschaftsausgleich zwischen beiden Teilen der Monarchie im Jahr 1878 beendete das institutionelle Provisorium, wobei die Nationalbank, die sich in Oesterreichisch-Ungarische Bank umbenannte, nun auch in Ungarn auf eine gesetzliche Basis gestellt wurde116. Im Zuge der Erneuerung der wirtschaftlichen Gemeinschaft beider Teile der Monarchie alle zehn Jahre wurde diese ebenfalls regelmäßig verlängert.

ℹ️Einen weiteren Themenkomplex, der die cisleithanische Regierung insbesondere im Jahr 1868 häufig beschäftigte, bildeten die finanziellen Verbindlichkeiten des Staates. Dabei hatte man es mit drei großen, auf unterschiedliche Weise zustande gekommenen Schuldtiteln zu tun. Den ersten Block bildete dabei die sogenannte schwebende Schuld in Form des Staatspapiergeldes. Diese wurde von Ungarn explizit anerkannt und gemäß den Wirtschaftsvereinbarungen von 1867 durch das gemeinsame Finanzministerium und den gemeinsamen Rechnungshof verwaltet und kontrolliert117. Komplizierter gestaltete sich die Situation dagegen beim zweiten Block, den bis zum Beginn des Jahres 1868 angefallenen allgemeinen Staatsschulden. Ungarn war nicht bereit, diese für sich anzuerkennen, da sie ohne Zustimmung des ungarischen Landtags aufgenommen worden waren. Die ungarische Regierung erklärte sich in den Verhandlungen mit Wien lediglich dazu bereit, einen fixen, jährlichen Beitrag in der Höhe von rund 29 Millionen Gulden zu ihrer Abtragung zu leisten118. Die eigentliche Aufgabe der Reduktion und Tilgung der vor 1868 angefallenen Schulden fiel damit der cisleithanischen Regierung zu. Zu diesem Bereich gehörte auch die gemäß den Vereinbarungen mit Ungarn durchzuführende Konvertierung der einzelnen, unterschiedlich verzinsten Schulden in einen einheitlichen, fünfprozentigen Schuldtitel119. Diese Maßnahme wurde vor allem von ausländischen Gläubigern kritisch betrachtet, weshalb sich der Ministerrat, in dem die Frage der Schuldenkonversion häufig zur Sprache kam120, mit entsprechenden Anfragen und Einwendungen auseinandersetzen musste121. Letztlich konnte die Konversion der Schuldtitel jedoch weitgehend problemlos durchgeführt werden. Die Absicht der cisleithanischen Regierung, zumindest die Verwaltung und Kontrolle der vor 1868 entstandenen Schulden dem gemeinsamen Finanzministerium und dem gemeinsamen Rechnungshof zu übertragen122, rief dagegen heftigen Widerstand Ungarns hervor, das seinen Standpunkt auch in dieser Angelegenheit letztlich durchsetzen konnte. Darauf verfügte das Kabinett in Wien im Frühjahr 1870 schließlich die Übertragung von Verwaltung und Kontrolle dieser Schuldtitel auf das k. k. Finanzministerium123. Mit diesen Regelungen verschob sich auch die Zuständigkeit der vom Reichsrat zu wählenden Staatsschulden-Kontrollkommission, die wie bisher den Stand sowie sämtliche Veränderungen an der Staatsschuld zu überwachen und dem Parlament halbjährlich Bericht zu erstatten hatte124. Diese kontrollierte nunmehr sämtliche auf dem cisleithanischen Staatshaushalt lastenden Schuldtitel, sowohl jene, die vor dem Jahr 1868 entstanden waren, als auch die danach aufgenommenen Verbindlichkeiten des neuen Staatswesens125.

Den dritten, gleichfalls zwischen beiden Teilen der Monarchie bei der Teilung der Verbindlichkeiten des alten Staatswesens strittigen Block bildete die sogenannte „80-Millionen-Schuld“. Diese bestand gegenüber der Nationalbank und rührte aus der Übertragung von Staatspapiergeld in Banknoten im Jahr 1854 her. In Zusammenhang mit diesem Schuldtitel gelang es erst im Zuge des Wirtschaftsausgleichs von 1878, eine Übereinkunft zwischen der cisleithanischen sowie der ungarischen Regierung hinsichtlich der Beitragsleistung beider Teile der Monarchie zum Abbau der Verbindlichkeit zu erzielen126.

ℹ️Die Bereitstellung der für die Schuldentilgung benötigten Mittel machte die Erschließung zusätzlicher Geldquellen erforderlich, wobei die cisleithanische Regierung hoffte, durch eine grundlegende Reform des Steuerwesens die Staatseinnahmen steigern zu können. Der ehrgeizige Plan scheiterte jedoch, da die entsprechenden Vorlagen für eine Steuerreform im Abgeordnetenhaus keine Mehrheit fanden127. Die einzigen Erfolge in diesem Bereich bildeten die gesetzliche Neuregelung der Grundsteuer128 sowie das Gesetz zur Durchführung einer Volkszählung im Jahr 1870129, die zumindest die Grundlage für spätere, weitreichendere Reformen im Bereich des Steuerwesens schufen. Nicht unumstritten war auch die Aufhebung des Gesetzes gegen den Wucher und die damit erfolgte, weitgehende Freigabe der Kreditzinsen130. So wurden durch das Gesetz nicht nur dessen direkter Vorläufer aus dem Jahre 1866131, sondern auch mehrere Paragrafen des Strafgesetzbuches außer Kraft gesetzt, womit jene Tatbestände, die bisher als Wucher klassifiziert worden waren, straffrei gestellt wurden132. Während die Freigabe der Kreditzinsen eigentlich darauf abzielte, die Wirtschaftstätigkeit sowie die Bankgeschäfte zu beleben, beflügelte sie die blühende Spekulationstätigkeit zusätzlich. Dadurch entstand eine Spekulationsblase, die im sogenannten Börsenkrach im Jahr 1873 platzte133.

ℹ️Die Umsetzung der Dezemberverfassung führte auch zu wesentlichen Änderungen im Schul- und Unterrichtswesen. Den ersten Schritt bildete das am 25. Mai 1868 sanktionierte Gesetz über das Verhältnis der Kirche zur Schule, womit die Kontrolle des Schulwesens dem Staat zugewiesen und der Einfluss der bisher in diesem Bereich dominierenden katholischen Kirche auf die Ausübung des gleichfalls staatlicher Aufsicht unterworfenen Religionsunterrichts reduziert wurde134. Diese Neuregelung, die auf heftigen Widerstand des Episkopats sowie der konservativ-klerikal dominierten Kronländer stieß und auch vom Monarchen kritisch betrachtet wurde135, war notwendig geworden, da die bisherige Praxis eine Verletzung des Artikels 17 des Staatsgrundgesetzes über die Rechte der Staatsbürger darstellte. Gleichzeitig hatte die Verfassung die Feststellung der Grundsätze des Unterrichtswesens an den Volksschulen, Gymnasien sowie den Universitäten explizit zur Angelegenheit des Reichsrates erklärt, sodass die Regierung nun in diesem Bereich für gesetzliche Regelungen zu sorgen hatte. Das Ergebnis bildete das am 14. Mai 1869 sanktionierte Volksschulgesetz136, das in Kompetenzfragen einen Kompromiss zwischen zentralistischen und föderalen Wünschen darstellte. So wurde zwar die Kompetenz zur Entscheidung grundlegender Fragen der Organisation des Unterrichtswesens dem Ministerium für Kultus und Unterricht zugewiesen, über die Lehrpläne und die Unterrichtssprachen hatten dagegen die Landesschulräte zu entscheiden137. Gerade letzterer Punkt stellte eine wichtige Konzession dar, die in den späteren, vom Sprachenstreit geprägten Jahrzehnten eine große Bedeutung erlangen sollte138. Geregelt waren im Gesetz darüber hinaus die Unterrichtspflicht139 sowie die Grundlagen der Aus- und Fortbildung sowie der Anstellung der Lehrerinnen und Lehrer. Abgesehen von den Einwendungen konservativ-klerikaler Kreise gegen die Zurückdrängung des Einflusses der katholischen Kirche geriet das Gesetz jedoch auch in die Kritik der Landtage, da es fast alle mit dem Volksschulwesen verbundenen Kosten auf die Länder und Gemeinden abwälzte140. In Folge dessen blockierten mehrere Länder längere Zeit die Umsetzung des Gesetzes dadurch, dass sie die für das praktische Wirksamwerden der Rechtsnormen notwendigen Durchführungsverordnungen nicht verabschiedeten141, wogegen der Staat keine Handhabe besaß. Entsprechende Proteste und Änderungspetitionen seitens der Landtage waren ebenso Gegenstand der Beratungen des Ministerrates wie die Sanktionierung der zur Durchführung des Volksschulgesetzes erlassenen Landesgesetze, wobei die Regierung ihrer Ansicht nach gerechtfertigten, sachlich begründeten Änderungswünschen meist zustimmte142.

ℹ️Die wohl umfassendsten Änderungen ergaben sich im Bereich der militärischen Landesverteidigung, die durch den Ausgleich auf eine gänzlich neue Basis gestellt werden musste143. So wurde neben den bereits bestehenden, nunmehr gemeinsamen Streitkräften Österreich-Ungarns in beiden Teilen der Habsburgermonarchie jeweils eine Territorialstreitmacht aufgestellt. Diese wurde in Cisleithanien als Landwehr bezeichnet und unterstand in Friedenszeiten administrativ dem neueingerichteten Ministerium für Landesverteidigung und öffentliche Sicherheit, das neben der Organisation des Heerwesens im cisleithanischen Teil der Monarchie zunächst auch die Cisleithanien betreffenden Agenden des 1867 aufgelösten Polizeiministeriums übernahm144. Im Februar 1870 wurden die Agenden der öffentlichen Sicherheit aus dem Bereich der Landesverteidigung herausgelöst und dem Ministerium des Innern übertragen145. Zeitgleich mit dieser Maßnahme wurde der Name des Ressorts in „Ministerium für Landesverteidigung“ abgeändert. Dieses war jedoch auch weiterhin für die Angelegenheiten der Gendarmerie zuständig, womit ein Teil der Kontrolle des öffentlichen Raums in der militärischen Sphäre verblieb.

Die Grundlagen für die Neuorganisation der Landesverteidigung Cisleithaniens bildeten das Wehrgesetz146 sowie das Landwehrgesetz147, welche den Militärdienst in der gemeinsamen bewaffneten Macht Österreich-Ungarns sowie in der Landwehr regelten148. ℹ️Beide Gesetze waren Gegenstand langwieriger Verhandlungen sowohl im Reichsrat als auch im Ministerrat, in dem das Landwehrgesetz bis zu seiner Sanktionierung sechs Mal auf der Tagesordnung stand, das Wehrgesetz sogar dreißig Mal149. ℹ️Explizit vom Geltungsbereich des Landwehrgesetzes ausgenommen waren Tirol und Vorarlberg, wo die Militärdienstpflicht in der Landwehr über ein Landesgesetz zu regeln war150, sowie die süddalmatinischen Wehrkreise Ragusa und Cattaro, wo den bisher gänzlich vom Militärdienst befreit gewesenen Wehrpflichtigen zugestanden wurde, ihre Dienstpflicht in der Landwehr abzuleisten151. Der überhastete Versuch, in den beiden Wehrkreisen bereits unmittelbar nach der Sanktionierung des Landwehrgesetzes mit der Erfassung der wehrfähigen Personen zu beginnen, hatte einen von Oktober 1869 bis Jänner 1870 dauernden Aufstand zur Folge, der mehrfach den Ministerrat beschäftigte152. Letztlich konnte die Revolte, deren militärische Bekämpfung hohe Kosten verursachte, nur durch eine kaiserliche Begnadigung der Aufständischen beendet werden153. Weitgehend problemlos verlief dagegen die Einrichtung der im Verfassungsgesetz über die richterliche Gewalt vorgesehene Einrichtung der Militärgerichte für die gemeinsamen Streitkräfte sowie die Landwehr. Die entsprechenden Gesetze wurden vom Reichsrat nach der üblichen Beratung angenommen und am 20. Mai 1869154 sowie am 23. Mai 1871155 vom Kaiser sanktioniert.

ℹ️Komplizierter gestaltete sich dagegen die Auflösung der Militärgrenze156. Diese wurde ursprünglich vom Kriegsministerium verwaltet, mit dem Ausgleich von 1867 waren jedoch ihre Auflösung sowie die Angliederung der Gebiete an Ungarn, die ab 1869 in mehreren Schritten erfolgte, beschlossene Sache. Cisleithanien betraf dies insofern, als damit die Nettoeinnahmen der Militärgrenze, die zuvor unmittelbar in das Militärbudget und damit in den gemeinsamen Haushalt geflossen waren, Ungarn zufielen. Um keine finanzielle Änderung eintreten zu lassen, stimmte Ungarn einem sogenannten Präzipuum zu. Da die Militärgrenzeinnahmen vor dem Ausgleich rund 2% der gemeinsamen Ausgaben entsprochen hatten, sollte Ungarn diese Einnahmen als Präzipuum übernehmen. In der Praxis bewirkte dies, dass der ungarische Anteil an den gemeinsamen Ausgaben, der nach dem Quotengesetz 30% betrug157, auf 31,4% stieg und jener Cisleithaniens entsprechend von 70% auf 68,6% sank158. Der Gegenstand, der mehrfach Thema der Beratungen des Ministerrates war159, wurde letztlich im Juni 1871 per Gesetz geregelt160. ℹ️Ebenfalls mehrfach Gegenstand von Debatten im Ministerrat waren die Rekrutenkontingente. Dabei ging es um die Festlegung jener Zahl an Personen aus der Gruppe der stellungspflichtigen, wehrfähigen Staatsbürger, die zur Ableistung ihres Wehrdienstes zur gemeinsamen Armee bzw. zur Landwehr eingezogen werden sollten161. Grundsätzlich waren im Wehrgesetz die entsprechenden Kontingente im Einvernehmen mit der ungarischen Regierung auf zehn Jahre festgeschrieben worden und konnten vor Ablauf der Frist, die mit den ebenfalls alle zehn Jahre abgehaltenen Volkszählungen korrelierte, nur auf kaiserlichen Wunsch hin abgeändert werden162. Die konkrete Bewilligung der jährlichen Aushebung musste jedoch jedes Jahr erneut vom Parlament votiert werden163. Dies verlieh der an sich formalen Frage eine große Bedeutung, die nicht zuletzt darin zum Ausdruck kam, dass sich der Ministerrat in nur drei Jahren fünfzehn Mal mit der Frage der Rekrutenkontingente beschäftigte164.

ℹ️Der Konflikt um Zentralisierung oder Föderalisierung des Staates

Das weitgehende Ende der produktiven Arbeit von Ministerrat und Reichsrat zeichnete sich bereits in der zweiten Jahreshälfte 1869 ab, als sich die in der Regierung wie im Abgeordnetenhaus seit längerer Zeit bestehenden Differenzen zu einer regelrechten Verfassungskrise auszuwachsen begannen. Diese ging nicht von einem einzelnen Ereignis aus, vielmehr vermengten sich die Debatten in mehreren Problemfeldern zu einer Grundsatzdiskussion darüber, ob der Staat im zentralistischen oder föderalen Sinn weiter ausgebaut werden sollte. ℹ️Die Wurzeln dieser Auseinandersetzung lagen in den Jahren 1860/1861, als den Landtagen im Oktoberdiplom weitreichendere Kompetenzen in Aussicht gestellt worden waren, als ihnen im Februarpatent effektiv zugestanden wurden165. Die Dezemberverfassung von 1867 stellte, was die Kompetenzverteilung betraf, letztlich einen Kompromiss zwischen den Wünschen der Zentralisten und der Föderalisten dar, auch wenn in dieser wiederum auf eine genaue Abgrenzung der Zuständigkeiten von Landtagen und Reichsrat verzichtet wurde. Stattdessen fand sich im abgeänderten Grundgesetz über die Reichsvertretung lediglich eine erweiterte, taxative Aufzählung der in die Kompetenz des Reichsrates fallenden Angelegenheiten, wogegen alle übrigen, nicht genannten Gegenstände explizit in die Zuständigkeit der Landtage überwiesen wurden166. Diese konnten darüber hinaus auf eigenen Wunsch hin bestimmte Materien zur Entscheidung an den Reichsrat überweisen, umgekehrt war dies jedoch nicht vorgesehen. Das Prinzip, dass Reichsgesetze Landesgesetze brechen, existierte nicht167. Praktisch konnten die Landtage sogar die Umsetzung vom Reichsrat verantworteter Rechtsnormen dadurch blockieren, dass sie den Beschluss der entsprechenden Durchführungsgesetze verzögerten oder verweigerten, was das System der Kompetenzverteilung bei der Gesetzgebung wiederholt ad absurdum führte. Auch der vom Kaiser ernannte Statthalter konnte die Durchsetzung des vom Reichsrat ausgehenden Rechts nicht erzwingen, da er gegenüber dem Landtag kein Durchgriffsrecht besaß.

ℹ️Neben diesen teils formaljuristischen Fragen stellte auch das Zustandekommen des im Mai 1867 konstituierten Abgeordnetenhauses sowie die Machtverteilung ein dauerhaftes Problem dar. So hatten zunächst die föderal dominierten Landtage die Einberufung des Reichsrates nach den Prinzipien des von ihnen kritisierten Februarpatents als impraktikabel abgelehnt. Stattdessen verlangten sie die Einberufung eines außerordentlichen Reichsrates, eine Forderung, die sich jedoch letztlich nicht durchsetzen ließ168. In Folge wählten zwar die meisten föderal dominierten Landtage ihre Vertreter ins Abgeordnetenhaus, allerdings zum Teil unter Vorbehalt oder Protest. Darüber hinaus wurden auch Bedenken gegen die sich durch die Zusammensetzung des Reichsrates ergebende, national unausgewogene Machtverteilung in Cisleithanien vorgebracht. So war 1867 seitens des Monarchen sowie der kaiserlichen Regierung die bewusste Entscheidung getroffen worden, das neue Staatswesen auf den deutsch-ungarischen Dualismus und Zentralismus aufzubauen169. Insbesondere die Struktur des Abgeordnetenhauses, in dem die deutschsprachigen und liberalen Mandatare die Mehrheit bildeten, geriet rasch in die Kritik der anderen Nationalitäten, namentlich der Tschechen, Polen, Slowenen, Italiener und Rumänen170. Diese fühlten sich durch die starke Stellung der deutschen Vertreter im Parlament in die Rolle von Minderheiten gedrängt und forderten verschiedene, über den entsprechenden Artikel der Dezemberverfassung171 hinausgehende Bestimmungen zum Schutz ihrer nationalen Interessen. ℹ️Der Fall der Tschechen war dabei insofern noch etwas komplizierter, als diese im Gegensatz zu den meisten anderen Föderalisten zwar nicht den Reichsrat als Zentralparlament an sich ablehnten, ihre Teilnahme an diesem jedoch von der Anerkennung des historischen böhmischen Staatsrechts abhängig machten172. Diese Forderung hatten die tschechischen Abgeordneten Böhmens und Mährens bereits in der I. Session des Abgeordnetenhauses173 im Jahr 1861 aufgestellt, wenngleich ohne Erfolg. In Folge hatten elf von ihnen im Juni 1863 ihre Mandate im Reichsrat niedergelegt, was selbst im böhmischen Landtag für Diskussionen gesorgt hatte174. Im Jahr 1867 war die Situation insofern anders, als durch den Ausgleich mit Ungarn ein Präzedenzfall für die Anerkennung von Landesrecht vorlag, mit dem man die Forderung auf Anerkennung des böhmischen Staatsrechts untermauern konnte. Der Unterschied Böhmens zu Ungarn lag jedoch darin, dass das historische Staatsrecht Ungarns durchgehend bis 1848 Anwendung gefunden hatte, wogegen das Böhmische Staatsrecht seit dem Jahr 1620 praktisch nicht mehr zur Anwendung gekommen war175. Da zudem die Anerkennung dieses faktisch toten Rechts auf die Aushandlung eines zweiten, separaten Ausgleichs mit Böhmen hinausgelaufen wäre, ging die Regierung letztlich nicht auf diese Forderung ein. Dies bewog 14 Tschechen unter den 54 Abgeordneten Böhmens sowie zwei Tschechen unter den 22 Abgeordneten Mährens im Jahr 1867 dazu, ihre Mandate im Abgeordnetenhaus nicht anzunehmen176. Die böhmischen Aristokraten zogen dagegen ohne größeren Protest ins Herrenhaus ein.

ℹ️a) Die Blockade der Tschechen

Das Verhalten der Tschechen hatte zwar zunächst keinen Einfluss auf die Regierungstätigkeit oder die Arbeitsfähigkeit des Abgeordnetenhauses an sich. Die Unmöglichkeit, das Verhalten der sich verweigernden Abgeordneten wirkungsvoll zu sanktionieren, zeigte jedoch eine gefährliche Lücke in der Verfassung auf. Weigerte sich ein Abgeordneter, seinen Sitz im Parlament einzunehmen, so wurde gemäß den Bestimmungen der abgeänderten Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses das Mandat für verfallen erklärt und der zuständige Landtag aufgefordert, einen neuen Vertreter für den vakanten Parlamentssitz zu wählen177. Entschied der neu gewählte Mandatar jedoch gleichfalls, nicht im Abgeordnetenhaus zu erscheinen, ging das Procedere von vorne los, ohne dass dieses Verhalten sanktioniert werden konnte. Ebenso wenig bestand zunächst, mit Ausnahme der Auflösung, die Möglichkeit, gegen einen Landtag vorzugehen, der die Wahl der Abgeordneten für den Reichsrat verweigerte178. So war für die Anwendung des in der Dezemberverfassung enthaltenen kaiserlichen Privilegs zur Anordnung von direkten Ersatzwahlen unter Umgehung der Landtage179 ein Durchführungsgesetz notwendig, das sich Anfang 1868 noch in parlamentarischer Begutachtung befand. Solange sich die Weigerung, die Mandate anzunehmen, auf die Abgeordneten tschechischer Nationalität beschränkte, stellte all dies keine Bedrohung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments dar. Würden sich jedoch auch andere Mandatare entschließen, dem Reichsrat fern zu bleiben, so drohte das Abgeordnetenhaus beschlussunfähig zu werden. Dieser Zustand war laut Verfassung dann gegeben, wenn in einer Sitzung weniger als 100 der 203 Abgeordneten anwesend waren180. Das Eintreten eines solchen Szenarios war nicht auszuschließen, da neben den dargelegten Auseinandersetzungen um Fragen der Gleichberechtigung der Nationalitäten oder der Föderalisierung des Staates auch andere Bruchlinien zwischen der Regierung und einzelnen Gruppen innerhalb des Abgeordnetenhauses existierten. Zu nennen sind dabei vor allem die Konflikte rund um die Religions- und Schulgesetze, die von den konservativ-klerikalen Mandataren abgelehnt wurden und diese zu einer teils scharfen Oppositionshaltung gegen die Regierung veranlassten181.

ℹ️Das Kabinett bemühte sich vergebens, mit den Tschechen zu einer Einigung zu gelangen. So beharrten deren führende Vertreter wie Heinrich Graf Clam-Martinic182, František Ladislav Rieger183 und František Palacký184, in den Verhandlungen mit einzelnen Regierungsmitgliedern auf der Anerkennung des böhmischen Staatsrechts, während die Regierung daran festhielt, über eventuelle staatsrechtliche Zugeständnisse erst nach dem Eintritt der tschechischen Abgeordneten in den Reichsrat verhandeln zu wollen185. Auch Geheimverhandlungen von Reichskanzler Beust mit Palacký und Rieger blieben erfolglos und bewogen zudem Auersperg, sein Amt als Ministerpräsident nicht mehr auszuüben, da er in den Gesprächen eine Einmischung Beusts in seinen Kompetenzbereich erblickte186. Die Situation in der böhmischen Hauptstadt Prag eskalierte weiter, als sich am 22. August 1868 insgesamt 81 tschechische Abgeordnete weigerten, in den neugewählten böhmischen Landtag einzutreten. In ihrer als „Böhmische Deklaration“ bekannt gewordenen schriftlichen Erklärung rechtfertigten sie den Schritt mit der aus ihrer Sicht bestehenden Ungesetzlichkeit des Landtags und erneuerten die Forderung nach Anerkennung des böhmischen Staatsrechts187. Die daraufhin vom Restlandtag beschlossene Aberkennung der Mandate der Deklaranten führte zu einer Radikalisierung der tschechischen Tábor-Bewegung, die bereits seit dem Sommer Volksversammlungen und Massendemonstrationen in ganz Böhmen und Mähren organisiert hatte. Nach Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften188 verhängte die Regierung nach ausführlicher Debatte im Ministerrat189 schließlich durch eine Verordnung gemäß § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung den Ausnahmszustand über Prag und die Umlandgemeinden per 11. Oktober 1868190. Damit endeten vorerst alle Bemühungen der Regierung, eine Verständigung mit den Tschechen zu erreichen.

ℹ️b) Die Galizische Resolution

Fast gleichzeitig eröffnete sich für dieRegierung im Herbst 1868 ein weiteres, national konnotiertes Konfliktfeld in Form der polnisch-galizischen Autonomiebestrebungen. Grundsätzlich hatten die galizischen Abgeordneten polnischer Nationalität von Beginn an eine zwiespältige Position zur Neugestaltung des Staatswesens eingenommen. So hatten sie im Reichsrat zwar für den Ausgleich mit Ungarn, aber gegen die Dezemberverfassung gestimmt, da sie deren zentralistische Auslegung ablehnten und für Galizien, ähnlich wie die Tschechen für Böhmen, einen Sonderstatus verlangten191. Diesen Forderungen, die nicht zuletzt auf Festigung der polnischen Majorität gegenüber den übrigen Landeseinwohnern Galiziens, insbesondere den Ruthenen192, abzielten, war die Regierung in einigen Punkten durchaus entgegengekommen. So hatte bereits ein am 22. Juni 1867 von Franz Joseph sanktioniertes Landesgesetz dem galizischen Landesschulrat weitreichende Kompetenzen bei der Festlegung der Unterrichtssprache eingeräumt193. Darüber hinaus trat im Februar 1868 eine Verordnung des Justizministeriums in Kraft, welche Polnisch als alleinige äußere Amtssprache der Gerichte im Königreich Galizien festlegte194. Ungeachtet dessen forderten die Polen mit der am 24. September 1868 im Landtag beschlossenen Galizischen Resolution weitere, deutlich umfassendere Rechte für ihr Kronland ein195. Kernpunkt des auf legislative und administrative Autonomie Galiziens abzielenden Forderungskatalogs waren weitreichende Sonderregelungen bezüglich der Wahl der galizischen Reichsratsabgeordneten und deren Teilnahme an den Sitzungen des Abgeordnetenhauses, der Übertragung zahlreicher Kompetenzen vom Reichsrat an den galizischen Landtag sowie der Festlegung einer fixen Quote aus dem Staatsschatz für die Bestreitung der Ausgaben des Kronlandes ohne Kontrollrechte des Reichsrates196. Eine vollständige Umsetzung dieser Forderungen war von Anfang an wenig aussichtsreich, da zu erwarten war, dass bei deren Gewährung auch die übrigen nicht-deutschen Nationalitäten vergleichbare Rechte in den von ihnen bewohnten Kronländern einfordern würden. Das hätte in letzter Konsequenz nicht nur die Teilung Cisleithaniens in autonom verwaltete Kronländer bedeutet, sondern auch die nationalen Minderheiten in den jeweiligen Kronländern den Mehrheiten unterworfen. Dass das deutschliberal geprägte Abgeordnetenhaus einer solchen Verfassungsänderung zugestimmt hätte, war faktisch ausgeschlossen.

Vor diesem Hintergrund ging die Regierung zunächst auf den Inhalt der Galizischen Resolution, die ihr als Antrag auf Verfassungsänderung am 30. Oktober 1868 offiziell übergeben wurde197, nicht näher ein. Stattdessen wies man den Forderungskatalog dem Verfassungsausschuss des Abgeordnetenhauses zu, dessen Bericht jedoch vor dem Schluss der Reichsratssession im Mai 1869 nicht mehr im Plenum behandelt wurde198. Gleichzeitig versuchte man, den Forderungen der Polen durch weitere Zugeständnisse zur Verstärkung der Dominanz des Polnischen in Galizien die Spitze zu nehmen. So legte das Kabinett gegen die im November 1868 per Landesgesetz erfolgte Festschreibung von Polnisch als alleiniger Amtssprache des galizischen Landesschulrates199 kein Veto ein, obwohl absehbar war, dass diese Maßnahme zu einer weiteren Einschränkung der Rechte der Ruthenen führen würde. Im Juni 1869 wurde darüber hinaus auf kaiserliche Anregung hin sowie nach ausführlichen Debatten im Ministerrat200 in einer gemeinsamen Verordnung aller cisleithanischen Ministerien Polnisch auch als alleinige innere Amtssprache der Gerichte und Behörden Galiziens festgeschrieben201. Obwohl auch diese Verordnung eine im gesamtstaatlichen Vergleich einzigartige, sehr weitreichende Konzession darstellte, reichten diese Maßnahmen nicht aus, um die polnischen Forderungen zu befriedigen. Darauf wurde die Galizische Resolution nach weiteren, fruchtlosen Verhandlungen über ihre Umsetzung202 im Dezember 1869 vom späteren Minister für Galizien Grocholski als Antrag im Abgeordnetenhaus eingebracht203. Dort wurde sie jedoch wiederum einem Ausschuss zugewiesen und zunächst nicht weiter behandelt, bildete aber, da die Polen weiter auf ihrer Umsetzung beharrten, fortan ein Damoklesschwert über dem Kopf der Regierung.

ℹ️c) Das Wahlreformprojekt

Die Weigerung der Tschechen, den Reichsrat zu beschicken, sowie die zunehmend offene Drohung der Polen, im Falle einer Nichterfüllung ihrer Forderungen auch ihre Abgeordneten aus dem Parlament zurückzuziehen, machten deutlich, dass eine Lösung für die sich anbahnende Parlamentskrise gefunden werden musste. Zwar hatte die Regierung bereits Schritte gesetzt, um die Beschickung des Abgeordnetenhauses auch im Fall der Verweigerung einzelner Mandatare oder Landtage durch eine Reform der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses204 sowie den Beschluss des in der Verfassung verankerten Notwahlgesetzes205 zu ermöglichen. Diese Maßnahmen erwiesen sich jedoch als untauglich, die bestehenden Probleme zu lösen. Insbesondere das im Juni 1868 sanktionierte Notwahlgesetz, in das große Hoffnungen gesetzt worden waren, erwies sich in der vom Abgeordnetenhaus nach mehreren Änderungen schließlich angenommenen Form als geradezu zahnlos206. Es legte zwar den Rahmen dafür fest, wie in einem Kronland direkte Ersatzwahlen zum Reichsrat abgehalten werden konnten, sah jedoch keine Sanktionen für den Fall vor, dass ein auf diese Weise gewählter Abgeordneter ebenfalls den Eintritt in das Parlament verweigerte. Auch hier blieb nur die Option, für den vakanten Parlamentssitz erneut Ersatzwahlen auszuschreiben, wobei der neu gewählte Kandidat wiederum sanktionsfrei dem Abgeordnetenhaus fernbleiben konnte. Aus diesem Grund wurde das Notwahlgesetz bis 1873, als es durch die umfassende Wahlreform obsolet wurde207, nur selten angewendet.

ℹ️Vor diesem Hintergrund war evident, dass die bestehenden Probleme nur durch eine grundlegende Änderung des Wahlmodus zum Abgeordnetenhaus gelöst werden konnten. Die erfolgversprechendste Option stellte dabei die Einführung direkter Reichsratswahlen, also die Übertragung der Wahl der Mandatare von den Delegierten der Landtage auf die innerhalb der Kurien in den Kronländern wahlberechtigten Personen dar.208 In der Frage, auf welchem Weg die Wahlreform umgesetzt werden sollte, war die Regierung jedoch von Anfang an gespalten. Während die Notwendigkeit, das Abgeordnetenhaus dem Einflussbereich der Landtage zu entziehen, allgemein anerkannt wurde, wollte ein Teil der Minister die Wahlreform zügig auf parlamentarischem Weg beschließen, ohne die Landtage in die Entscheidung einzubinden. Die übrigen Mitglieder des Kabinetts vertraten dagegen den Standpunkt, dass man im Sinne einer nationalen Verständigung vor dem Beschluss eines solchen Gesetzes mit den Landtagen verhandeln müsse209. Beide Positionen stießen dabei auf die Ablehnung der jeweils anderen Gruppe. So betrachteten jene Minister, die für die Verständigung mit den Landtagen eintraten, die Einführung direkter Wahlen per Reichsratsbeschluss als ungesetzlichen Eingriff in die Rechte der Länder. Diese müssten stattdessen im Wege von Verhandlungen dazu gebracht werden, freiwillig auf die Vornahme der Wahl der Abgeordneten zu verzichten. Dagegen befürchteten die übrigen Mitglieder des Kabinetts, dass es im Zuge solcher Verhandlungen zu einem Nachgeben der Regierung gegenüber den autonomistischen Forderungen der nichtdeutschen Nationalitäten, insbesondere der Tschechen und Polen, mit weitreichenden Konsequenzen für das Staatswesen kommen würde210. Eine genaue Abgrenzung, welcher Minister welchen der beiden Lösungswege präferierte, war zumindest in der Anfangsphase der Diskussion noch nicht möglich, da mehrere Mitglieder des Kabinetts in Detailfragen Positionen vertraten, die der ansonsten von ihnen in der Diskussion eingenommenen Haltung ganz oder teilweise widersprachen211.

Ähnlich uneinheitlich war auch die Stellung der Landtage zum Wahlreformprojekt. So ging zwar aus den von Innenminister Giskra im September 1869 eingeforderten212 schriftlichen Stellungnahmen der Landtage hervor, dass deren Mehrheit für direkte Wahlen zum Abgeordnetenhaus eintrat, hinsichtlich der künftig hierbei zur Anwendung gelangenden Modalitäten gingen die Vorstellungen jedoch weit auseinander. So wollten manche Landtage das Kuriensystem bei den Wahlen zum Reichsrat abschaffen, andere traten dagegen für die Beibehaltung der Kurien bei gleichzeitiger Vermehrung der Zahl der Abgeordneten ein. Hinzu kam, dass die Landtage von Tirol, Görz und Gradisca, Krain sowie der Bukowina das Reformprojekt explizit abgelehnt und jene von Galizien und Dalmatien demonstrativ darauf verzichtet hatten, eine Stellungnahme abzugeben213. Vor diesem Hintergrund war absehbar, dass es schwierig werden würde, eine Wahlrechtsreform mit der notwendigen qualifizierten Mehrheit durch das Abgeordnetenhaus beschließen zu lassen. Auch auf einer Besprechung der Minister Anfang November 1869, in der über das Reformprojekt im Allgemeinen sowie über die verfassungsmäßigen Rechte der Länder im Speziellen diskutiert wurde, kam man auf die Problematik der für die Reform ungünstigen parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zu sprechen. Dabei bemerkte Finanzminister Brestel, dass sich der Ministerrat mit der Wahlreformfrage umsonst abmühen würde, da „die erforderliche Zweidrittelmajorität weder in der Hauptfrage, noch aber in Betreff der Modalitäten zu erzielen sein werde“214. Tatsächlich konnte im Reichsrat, dem die von Giskra eingeholten Gutachten im Dezember 1869 vorgelegt wurden, keine Einigung in der Wahlreformfrage erzielt werden.

ℹ️d) Die Regierungskrise

Innerhalb der Regierung steigerte sich der Konflikt um die Lösung der drohenden Parlamentskrise weiter. Ein Teil der Minister bestand, gestützt auf die von den Landtagen eingeholten Gutachten, auf der schnellstmöglichen Umsetzung des Wahlreformprojekts per Gesetzesbeschluss, der andere Teil beharrte darauf, dass der Reichsrat nicht befugt sei, den Landtagen das ihnen verfassungsgemäß zustehende Recht der Entsendung der Mandatare ins Abgeordnetenhauses zu entziehen und es daher notwendig sei, sich mit ihnen zu verständigen215. Auch ein im Rahmen einer Ministerbesprechung von Innenminister Giskra vorgebrachter Kompromissvorschlag, das Wahlrecht der Landtage nicht anzutasten, gleichzeitig aber die Zahl der Mandatare des Abgeordnetenhauses zu verdoppeln und je eine Hälfte von den Landtagen bzw. direkt wählen zu lassen, wurde trotz positiver Resonanz der Anwesenden216 nicht weiter verfolgt. Die gegensätzlichen Standpunkte der Minister waren zudem zwischenzeitlich auch der Presse zur Kenntnis gelangt, was polemische Kommentare über die angebliche verfassungsrechtliche Illegitimität des Standpunkts einzelner Mitglieder des Kabinetts sowie Spekulationen über den Fortbestand der Regierung in den Zeitungen zur Folge hatte217. Im Ministerrat wurde länger darüber diskutiert, ob und wie auf die Presselandschaft Einfluss zu nehmen sei und ob eines der Mitglieder des Kabinetts bewusst Informationen aus den Regierungsberatungen an Journalisten weitergegeben hatte218. In der eigentlich dringenderen Frage der Wahlreform selbst konnte jedoch auch weiterhin keine Einigung erzielt werden.

Auch eine Aufforderung des Kaisers, der am 10. Dezember 1869 den Vorsitz im Ministerrat führte und dabei die Mitglieder des Kabinetts unmissverständlich anwies, ihm bis zu den Weihnachtsferien ein detailliertes Programm über das von der Regierung geplante Programm in der Wahlreformfrage vorzulegen, änderte an der bestehenden Blockade nichts219. Stattdessen bildeten sich in der Regierung nunmehr zwei klar abgegrenzte Gruppen heraus, wobei Handelsminister Plener, Unterrichtsminister Hasner, Innenminister Giskra, Justizminister Herbst und Finanzminister Brestel die Majorität, Ministerpräsident Taaffe, Ackerbauminister Potocki und Minister Berger dagegen die Minorität im Kabinett bildeten. Beide Seiten richteten am 18. bzw. am 26. Dezember 1869 ein Memorandum an den Kaiser, in dem sie ihre jeweiligen Standpunkte darlegten. In den beiden Texten, die auf Weisung des Monarchen am 12. Jänner 1870 auch in der Wiener Zeitung veröffentlicht wurden220, brachten die Gruppen innerhalb des Kabinetts ihre Argumente auf den Punkt. Während die Majorität für die Einführung direkter Reichsratswahlen per Gesetzesbeschluss im Reichsrat eintrat und vor der Gefahr einer Verfassungsänderung in föderalistischem Sinn warnte, betonte die Minorität die Ungesetzlichkeit des Wahlreformvorhabens in der von der Majorität geplanten Form und wies auf die Notwendigkeit hin, sich mit der Opposition zu verständigen221. Beide Seiten baten zudem, sollte sich der Kaiser ihrem Standpunkt nicht anschließen, um Enthebung von ihren Ämtern.

Dass Franz Joseph eher der Position der Minorität zuneigte, war nicht nur aufgrund seiner Äußerungen im Ministerrat am 10. Dezember 1869, in der er die Verwurzelung des Reichsrates in den Landtagen als eine der Grundideen der Verfassung bezeichnet hatte, evident222. ℹ️Auch in seiner Thronrede anlässlich der Eröffnung der V. Reichsratssession am 13. Dezember 1869 hatte der Monarch zwar die Wahlreformpläne der Regierung erwähnt, jedoch gleichzeitig auf die „besonderen Verhältnisse der Kronländer und deren berechtigtes Verlangen, diese in selbstständiger Weise zu ordnen“ sowie den „allseitigen Wunsch der Verständigung“ hingewiesen223. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass Franz Joseph, der 1867 vehement die Umsetzung eines zentralistischen Staatsaufbaus vorangetrieben hatte, plötzlich ins Lager der Föderalisten übergewechselt wäre. Vielmehr ist der Grund für sein Eintreten für das von der Minorität der Regierung vorgeschlagene Programm in der Abneigung des Kaisers gegenüber den Liberalen zu suchen, die ihre starke Stellung sowohl innerhalb der Regierung als auch im Abgeordnetenhaus dazu genutzt hatten, das Staatswesen in einer Form zu modernisieren und umzugestalten, die seinen persönlichen Überzeugungen zuwiderlief, etwa durch die konfessionellen Gesetze224. Trotzdem war der Monarch pragmatisch genug um einzusehen, dass jene Minister, die für die Verständigung mit der Opposition eintraten, nicht nur innerhalb des Kabinetts eine Minderheit bildeten, sondern auch nicht über eine Mehrheit im Reichsrat verfügten. ℹ️In Folge dessen entließ der Monarch Taaffe, Potocki und Berger am 15. Jänner 1870 und beauftragte zunächst Plener mit der Weiterführung der Regierungsgeschäfte225, ehe Anfang Februar Hasner zum neuen Ministerpräsidenten ernannt wurde226.

ℹ️Die Entlassung der drei zur Minorität zählenden Minister wirkte auf die politische Lage jedoch keineswegs stabilisierend. Vielmehr eskalierte die Situation in der sogenannten Adressdebatte, also der Diskussion um den Wortlaut der Antwort des Parlaments auf die Thronrede des Kaisers227. Dass man seitens der Regierung bei den anstehenden Verhandlungen mit Problemen rechnete, war bereits bei einer Sitzung des Ministerrates am 3. Jänner 1870 deutlich geworden, in der das Kabinett versucht hatte, sich trotz der bestehenden internen Differenzen auf eine gemeinsame Haltung im Reichsrat zu verständigen. Dabei hatte insbesondere die Minorität Befürchtungen geäußert, dass der Konflikt innerhalb der Regierung zum Gegenstand der Debatten im Abgeordnetenhaus werden würde, insbesondere die Frage, welcher Teil des Kabinetts nun auf dem Boden der Verfassung stand und welcher nicht228. Tatsächlich kam es in beiden Kammern des Parlaments zu teilweise heftigen Debatten um die Textierung der jeweiligen Adressen an den Kaiser. In beiden Häusern legten Vertreter der liberal-verfassungstreuen Mehrheit Textentwürfe vor, in denen die in der Thronrede angedeutete Absicht des Kaisers, die Verständigung mit den Landtagen suchen zu wollen, ungewöhnlich scharf kritisiert wurde229. Diese Entwürfe wurden von der föderal-konservativen Minderheit zum Teil energisch bekämpft, wobei die Debatte im Abgeordnetenhaus mit besonders großer Schärfe geführt wurde. Letztlich wurden die Textentwürfe der Mehrheitsfraktionen angenommen, allerdings nur mit den Stimmen der verfassungstreuen Mandatare. So stimmten im Abgeordnetenhaus 47 der 203 Mandatare gegen den Adressentwurf230, 42 Abgeordnete nahmen an der Abstimmung entweder aufgrund dauerhafter Abwesenheit, worunter auch die aus Protest nicht im Parlament erschienenen Abgeordneten subsummiert sind, oder aber demonstrativ nicht teil.

ℹ️Viel problematischer als die in der Presse kritisierte, fehlende Einstimmigkeit des Adressbeschlusses war die große Absenz von Mandataren bei der entscheidenden Abstimmung im Abgeordnetenhaus. So war zu beobachten, dass die Fraktionen der Opposition immer mehr dazu übergingen, den von den Tschechen vorexerzierten Boykott des Parlaments nachzuahmen. Die demonstrative Nichtteilnahme ganzer Gruppen von Abgeordneten an Abstimmungen sowie die Drohung, im Fall einer Nichterfüllung der eigenen Forderungen die Mandate zurückzulegen, zeigte, dass sich die parlamentarische Praxis grundlegend geändert hatte. Von einem Bündnis der Opposition gegen die Regierung zu sprechen wäre jedoch insofern falsch, als die einzelnen Fraktionen überaus heterogen waren und zudem oft gegensätzliche Ziele verfolgten. So forderten die Polen genauso wie die anderen nichtdeutschen Mandatare zwar föderale Reformen ein, diese Wünsche standen jedoch primär im Kontext der eigenen nationalen Selbstbestimmung in Galizien und nicht einer generellen Umgestaltung des Staatswesens231. Die konservativen deutschsprachigen Abgeordneten, allen voran jene aus Tirol, waren im Gegensatz zu den meisten nichtdeutschen Mandataren keine prinzipiellen Gegner der deutschen Vormachtstellung im Reichsrat. Da sie jedoch vor allem mit der Religions- und Schulpolitik der Regierung nicht einverstanden waren, forderten auch sie deutlich mehr Rechte und Kompetenzen für ihre Länder ein232. Einig war die Opposition dagegen in ihrer Ablehnung des Wahlreformprojekts, da es den Landtagen die Möglichkeit genommen hätte, in ihrem Sinn auf den Reichsrat Einfluss zu nehmen. Folglich war zu erwarten, dass eine entsprechende Regierungsvorlage die politische Lage im Abgeordnetenhaus eskalieren lassen würde233.

ℹ️Diese Entwicklung rief den Kaiser auf den Plan, der in dem am 19. März 1870 abgehaltenen Ministerrat die Mitglieder des Kabinetts zunächst ihre Ansichten zur Wahlreform vortragen ließ und sich anschließend selbst zu dem Projekt äußerte. Franz Joseph betonte dabei, dass er sowohl hinsichtlich der verfassungsgemäßen Zulässigkeit als auch der Zweckmäßigkeit des Vorhabens Bedenken habe. Falls die föderalistischen Landtage die Reform beeinspruchen und die Oppositionsgruppen die direkten Wahlen boykottieren sollten, würde eine Situation eintreten, die „Se. Majestät als eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes nicht betrachten könnten“. Während der Reichsrat gegenwärtig durch die Vertretung der beschlussfähigen Landtage einen zumindest äußerlich noch geordneten Zustand abbilde, würden sich, so der Kaiser, im Fall eines Boykottes der direkten Wahlen „die nationalen Absentionen […] in großem Maß erkennen lassen“. Franz Joseph forderte die Minister daher nachdrücklich auf, das Wahlreformprojekt fallen zu lassen und den Reichsrat nach der Verabschiedung des Budgets zu vertagen234. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Regierung jedoch bereits erste Schritte zur Einbringung der Anfang März fertiggestellten Gesetzesvorlage im Parlament unternommen, was zu einer regelrechten Austrittswelle der Mandatare der Opposition aus dem Abgeordnetenhaus führte. ℹ️Den Anfang machten am 31. März 1870 die 37 polnische Mandatare, die ihren Schritt mit der schleppenden Behandlung der galizischen Resolution sowie der ablehnenden Haltung der Regierung, diese in vollem Umfang umzusetzen, begründeten235. Am selben Tag legten zwölf weitere slowenische, rumänische und italienische Abgeordnete ihre Mandate zurück, offiziell aus Protest gegen das Wahlreformprojekt, inoffiziell, weil ihr Antrag auf Ausdehnung der den Polen zu gewährenden Sonderrechte auf alle Kronländer Cisleithaniens keine Mehrheit gefunden hatte236. Zuvor hatten im Jänner 1870 bereits sechs konservative deutsche Tiroler Abgeordnete während eines Streits im Rahmen der Adressdebatte das Abgeordnetenhaus dauerhaft verlassen237, sodass in diesem ab April 1870 nur noch 129 Mandatare anwesend waren. Das Abgeordnetenhaus war danach zwar noch beschlussfähig, für die Regierung erschien es jedoch aufgrund der divergierenden Interessen der einzelnen Fraktionen unmöglich, die für den Beschluss des Wahlgesetzentwurfs notwendige Zweidrittelmehrheit zu erlangen238. ℹ️Nachdem sich der Kaiser in Folge weigerte, die von der Regierung beantragte Auflösung jener Landtage zu sanktionieren, deren Delegierte das Abgeordnetenhaus verlassen hatten, bat das Kabinett am 3. April 1870 um seine Demission239. Am 8. April 1870 wurde der Reichsrat vertagt, vier Tage später wurde die Regierung Hasner vom Monarchen entlassen240.

ℹ️e) Potockis Verständigungsversuch

Der Rücktritt des Kabinetts Hasner bedeutete in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur in der politischen Entwicklung Cisleithaniens. Zum einen endete vorerst die Phase der parlamentarischen Regierungen, die sich auf die liberal-verfassungstreue Mehrheit im Reichsrat gestützt hatten. An ihre Stelle traten unter Beiziehung von Experten und Beamten gebildete Kabinette, die in geringem Maß im Parlament verwurzelt waren und sich in diesem für die Umsetzung ihrer Arbeitsprogramme erst eine Mehrheit sichern mussten. Zum anderen zeichnete sich im Frühjahr 1870 ein grundlegender Wechsel in der Regierungspolitik ab. Hatten die bisherigen Kabinette den Ausbau des Staates im Sinne der zentralistischen Dezemberverfassung sowie im Interesse der Deutsch-Liberalen vorangetrieben, war das Programm der folgenden Regierungen darauf gerichtet, den nichtdeutschen Nationalitäten eine größere Teilhabe an der Ausgestaltung des Staatswesens zu ermöglichen. Dies hätte nicht zwangsläufig eine vollständige Föderalisierung Cisleithaniens bedeutet, wohl aber die Übertragung von Kompetenzen des Reichsrates an die Landtage sowie die Gewährung einer erweiterten Selbstverwaltung für einzelne Kronländer erforderlich gemacht. Dass ein solches Vorhaben nicht nur schwierig umzusetzen war, sondern durch die Lockerung der Staatseinheit, der in Folge unklaren Stellung der Deutschen in den verstärkt nicht mehr von Wien aus verwalteten Gebieten sowie der Neudefinition des Verhältnisses zu Ungarn auch große Risiken in sich trug241, war den Verantwortlichen bewusst. Trotzdem unterstützte der Kaiser explizit das Programm, da er es einerseits als Antithese zur bisherigen, von ihm kritisch betrachteten Politik der Liberalen betrachtete und andererseits hoffte, dass es gelingen würde, durch föderale Reformen die nationalen Spannungen innerhalb Cisleithaniens abzubauen. Unklar ist, ob seitens der Staatsführung ernsthaft geplant war, einen Ausgleich mit allen Nationalitäten zu suchen oder ob es bei dem Verständigungsprojekt primär darum ging, die größten Protestgruppen, namentlich Tschechen und Polen, zu befrieden und so zum Wiedereintritt in den Reichsrat zu bewegen.

ℹ️Die Vermittlung eines Ausgleichs mit den Tschechen und Polen bildete tatsächlich die primäre Aufgabe der im April 1870 vom Kaiser ernannten Regierung unter Ministerpräsident Potocki242. Der Umstand, dass diese über keine Mehrheit im Abgeordnetenhaus verfügte und trotz des Bekenntnisses, auf dem Boden der Verfassung agieren zu wollen, von den liberal-verfassungstreuen Abgeordneten mit großem Misstrauen betrachtet wurde243, stellte jedoch nicht das einzige Problem des Kabinetts dar. Vielmehr erwies es sich trotz des Bemühens der Regierung, mit den Tschechen und Polen zu einer Einigung zu gelangen, als schwierig, die jeweiligen Wünsche mit der verfassungsrechtlichen Realität in Übereinstimmung zu bringen. Zumindest der polnische Standpunkt war bereits bei Amtsantritt des Kabinetts im Detail bekannt. Dieser entsprach im Wesentlichen den Forderungen der Galizischen Resolution, deren Umsetzung bisher am Widerstand des Abgeordnetenhauses gescheitert war. Potocki, der ab Mai 1870 mit den Polen verhandelte244, hoffte jedoch, diese dazu bewegen zu können, auf einen Teil ihres Programms zu verzichten und so dessen erfolgreiche Behandlung im Reichsrat zu ermöglichen. Im Gegenzug war die Regierung bereit, andere Wünsche der Polen, die auf außerparlamentarischem Weg erledigt werden konnten, wie die verstärkte Verwendung des Polnischen als Unterrichtssprache der Krakauer Universität245 sowie die Ernennung eines Ministers für Galizien246, zu erfüllen. Trotz der reservierten Haltung der Polen war die Regierung insgesamt zuversichtlich, im Fall Galiziens rasch zu einem auch politisch durchsetzbaren Kompromiss zu gelangen.

ℹ️Der tschechische Standpunkt war dagegen zunächst eher vage und beschränkte sich auf die bekannte Forderung nach Wiederherstellung der alten staatsrechtlichen Privilegien des Königreiches Böhmen. Erst ab dem Mai 1870 wurde ein ungefährer Rahmen dessen abgesteckt, was den Vertretern der Tschechen im Detail als Lösung vorschwebte247. Konkret verlangten diese in Geheimgesprächen mit dem früheren Staatssekretär im Unterrichtsministerium Josef Freiherr von Helfert248 als Vorbedingung für ihren Wiedereintritt in den Reichsrat unter anderem die Ernennung eines böhmischen Hofkanzlers zur Vertretung des Königreiches bei der kaiserlichen Regierung sowie erneut die Anerkennung des böhmischen Staatsrechts249. Letztere Forderung wurde dabei insofern konkretisiert, als sie auf die Gewährung von Eigenstaatlichkeit des Königreiches Böhmen im Rahmen des dynastischen Verbands nach dem Vorbild Ungarns abzielte. Die Regierung diskutierte die von Helfert überbrachten Bedingungen auf einer Konferenz im August 1870250 und machte ihrerseits, da die tschechischen Positionen mit dem geltenden Staatsrecht nicht in Einklang zu bringen waren, ein Gegenangebot. So stellte man den Tschechen eine Gleichberechtigung beider in Böhmen ansässiger Nationalitäten sowie ihrer Sprachen, eine den Tschechen entgegenkommende Revision der Landtagswahlordnung, ein weitreichendes Autonomiestatut sowie die Krönung Franz Josephs zum König von Böhmen in Aussicht. Dies entsprach, von der Gleichberechtigung der Nationalitäten sowie der Königskrönung abgesehen, im Wesentlichen den Konzessionen, die man auch den Polen in Aussicht gestellt hatte. Im Gegenzug forderte die Regierung jedoch die Anerkennung der Rechtmäßigkeit und Gültigkeit des Ausgleichs mit Ungarn sowie der Dezemberverfassung. Die Ablehnung dieser Bedingungen durch die Tschechen brachte die Verhandlungen Ende August 1870 vorläufig zum Scheitern251.

Die im Vergleich zu den Polen geringere Verhandlungsbereitschaft der tschechischen Opposition war jedoch nicht der einzige Grund für das Scheitern der Verständigungsmission der Regierung Potocki. So hatte der Ministerpräsident bereits bei dem Versuch, Angehörige der deutsch-liberalen Fraktion zum Eintritt in sein Kabinett und damit zur Mitarbeit an seinem Regierungsprogramm zu bewegen, keinen Erfolg gehabt. Auch der Umstand, dass die Regierung über keine Mehrheit im Abgeordnetenhaus verfügte, machte es unmöglich, zumindest die als weniger schwierig angesehene Verständigung mit den Polen, die auch von einem Teil der verfassungstreuen Abgeordneten unterstützt wurde, umzusetzen. In Folge dessen wurden am 21. Mai 1870 der Reichsrat und die Landtage aufgelöst252 und Neuwahlen ausgeschrieben, die jedoch zu keiner Änderung der Mehrheitsverhältnisse in dem Anfang September wieder einberufenen Parlament führten. ℹ️Allerdings errangen in Böhmen die tschechischen Föderalisten die Mehrheit im Landtag, der daraufhin prompt die Vornahme der Wahlen zum Abgeordnetenhaus verweigerte. Nachdem auch ein Appell des Kaisers, der die Delegierten des Landtags in einer Adresse aufforderte, zur Wahrung ihrer Interessen in den Reichsrat einzutreten, nicht fruchtete, wurden am 6. Oktober 1870 in Böhmen direkte Ersatzwahlen ausgeschrieben253. Die bei diesen gewählten tschechischen Kandidaten verweigerten jedoch ebenfalls den Eintritt in den Reichsrat, während lediglich die Abgeordneten aus den mehrheitlich deutschsprachigen Wahlbezirken sowie die verfassungstreuen Großgrundbesitzer ihre Mandate annahmen254. Dagegen zogen die anderen Protestgruppen, die das Parlament im März 1870 verlassen hatten, wieder in das Abgeordnetenhaus ein. ℹ️Ihre Haltung der Regierung gegenüber blieb jedoch zwiespältig, zeigten sich doch insbesondere die Polen darüber verärgert, dass ihre Forderungen scheinbar verschleppt wurden, da sich das Kabinett bei seinen Anstrengungen ganz auf den Ausgleich mit den Tschechen konzentrierte. Tatsächlich hatte die Regierung jedoch bereits einen entsprechenden, auf Umsetzung der Kernforderungen der galizischen Resolution abzielenden Gesetzesvorschlag erarbeiten lassen, dessen Textierung auch mehrfach im Ministerrat diskutiert wurde255. In Hinblick auf die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse, die eine Ablehnung der Vorlage erwarten ließen, nahm man aber davon Abstand, diese im Abgeordnetenhaus einzubringen. Endgültig unhaltbar wurde die Stellung des Kabinetts im Herbst 1870, als es in beiden Häusern des Reichsrates im Zuge der Adressdebatte zu schweren Angriffen gegen die Regierung kam und auch das Budgetprovisorium nur mit Mühe durchgebracht werden konnte256. ℹ️Potocki ließ darauf am 22. November das Parlament vertagen und bot, da seine Position unhaltbar geworden war, seine Demission an257, die der Kaiser jedoch erst am 6. Februar 1871 annahm258.

ℹ️f) Hohenwarts Ausgleichsprogramm

Der Grund für das Hinauszögern der Entlassung der Regierung Potocki bestand darin, dass im Herbst 1870 bereits an der Bildung eines neuen Kabinetts gearbeitet wurde, die jedoch erst im Jänner 1871 abgeschlossen war. Mit dem Vorsitz im Ministerrat wurde am 6. Februar 1871 der bisherige Statthalter von Oberösterreich Hohenwart betraut259, der, ähnlich wie der Großteil der übrigen Minister, keinerlei direkte Verbindung zum Reichsrat oder zu den in diesem vertretenen Fraktionen besaß. ℹ️Das Programm der Regierung, das vom Kaiser maßgeblich mitgestaltet worden war, bestand primär darin, einen Ausgleich mit den beiden großen nationalen Protestgruppen, den Tschechen und Polen, auszuverhandeln und umzusetzen. Der provisorische Charakter des Kabinetts, der vor allem daran zu erkennen war, dass Hohenwart nicht zum Ministerpräsidenten, sondern nur zum Vorsitzenden des Ministerrates ernannt wurde und zahlreiche Beamte und Experten Ministerämter bekleideten260, hat in der Historiografie zu Spekulationen über dessen Stellung geführt261. Offensichtlich ist, dass die Regierung nur zur Erfüllung einer eng umrissenen Aufgabe, namentlich der Durchführung der Ausgleichsaktion, ins Amt berufen worden war. Nach deren Erfüllung hätte möglicherweise ein neues, definitives Kabinett an ihre Stelle treten sollen. Zudem konnte im Fall eines Scheiterns des Projekts eine provisorische Regierung leichter abberufen werden als eine definitive, was den Vorteil hatte, dass auf diese Weise auch eine mögliche Beschädigung des Ansehens des Monarchen, von dem ja der Regierungsauftrag erteilt wurde, abgewendet werden konnte. Ob zudem, wie ebenfalls in der Literatur behauptet wird262, die vom Kabinett Hohenwart vorangetriebene Verständigungspolitik Teil eines größeren Plans zur Föderalisierung ganz Cisleithaniens war, ist nicht eindeutig zu belegen. Zwar wurden in dem in der Wiener Zeitung veröffentlichten Regierungsprogramm Reformen in Aussicht gestellt, die eine Übertragung von Kompetenzen vom Reichsrat an die Landtage zum Gegenstand hatten263, konkrete Vorarbeiten in diesem Bereich gab es, sieht man von den Verhandlungen mit den Tschechen und Polen ab, jedoch nicht264.

ℹ️Ähnlich wie das Vorgängerkabinett verfügte auch die Regierung Hohenwart über keine Mehrheit im Reichsrat. Sie war also für die Umsetzung ihres Arbeitsprogramms auf die Unterstützung der liberal-verfassungstreuen Fraktionen im Abgeordnetenhaus angewiesen, die jedoch auch ihr von Anfang an mit großem Misstrauen begegneten. Insbesondere die in der Regierungserklärung Hohenwarts gegenüber dem Abgeordnetenhaus enthaltene Erklärung, das Kabinett strebe eine Erweiterung der legislativen und administrativen Autonomie der Länder an265, wurde als Angriff auf die Verfassung aufgefasst. In Folge dessen hatte die Regierung bereits im April 1871 erhebliche Schwierigkeiten, ein Budgetprovisorium durch den Reichsrat zu bringen. Dieses wurde nach längeren Debatten in beiden Häusern des Parlaments letztlich nur für einen Monat statt für drei Monate bewilligt. ℹ️Bei der Abstimmung zeigte sich jedoch, dass die Mehrheitsfraktionen im Abgeordnetenhaus in ihrer ablehnenden Haltung der Regierung gegenüber keineswegs einig waren. Zum einen hatten sich im April 1871 die deutschliberalen Abgeordneten in den beiden Klubs der Linken und der äußersten Linken organisiert, wobei die äußerste Linke den ethnischen Aspekt des Deutschtums wesentlich stärker betonte. Dieser Umstand führte dazu, dass beide Klubs, obwohl ideologisch ähnlich ausgerichtet, in der Praxis teils unterschiedliche politische Ziele verfolgten266. Zum anderen scheuten zahlreiche Mandatare offensichtlich davor zurück, für den Sturz des Kabinetts das Staatswesen zu gefährden, und stimmten daher für die Budgetvorlage. Beide Umstände wurden von der Regierung, die zumindest für die Erledigung der Staatsnotwendigkeiten die Mitwirkung des Reichsrates benötigte, bei der Planung ihres weiteren Vorgehens einkalkuliert267. Einig waren die Liberalen dagegen in ihrer Ablehnung der vom Kabinett betriebenen Verständigungspolitik gegenüber den Tschechen und Polen. So wurden alle Gesetzesanträge, die auch nur entfernt in die Richtung der Gewährung von Autonomierechten für die Kronländer gingen, vom Abgeordnetenhaus abgelehnt268.

ℹ️Opfer dieser Blockadehaltung wurde auch die galizische Resolution, die nach der Eröffnung des Reichsrates am 20. Februar 1871 erneut Gegenstand von Beratungen des Abgeordnetenhauses war269. Die Chancen zur Umsetzung der Forderungen der Polen waren dabei im Frühjahr 1871 aus zwei Gründen eigentlich besser als je zuvor. Zum einen benötigte die Regierung die Stimmen der polnischen Mandatare, wenn sie den mit dem böhmischen Landtag auszuhandelnden Ausgleich im Parlament durchbringen wollte. Zum anderen befürworteten auch zahlreiche deutschliberale Abgeordnete die Gewährung von Autonomierechten für Galizien, da sie davon ausgingen, dass ein dadurch zu erwartendes Ausscheiden Galiziens aus dem Abgeordnetenhaus die Stellung der Deutschen im Parlament stärken würde270. Den ersten Schritt zur Umsetzung des Verständigungsprogramms stellte die Ernennung von Grocholski zum Minister ohne Portefeuille im Kabinett Hohenwart dar271. Der polnische Politiker, der im Dezember 1869 die Galizische Resolution als Antrag im Abgeordnetenhaus des Reichsrates eingebracht hatte, wurde dabei zwar nicht offiziell zum Minister für Galizien ernannt, war jedoch in der Regierung fortan für die Wahrung der – polnischen – Interessen des Kronlandes verantwortlich272. Seine Ernennung durch den Kaiser, die am 11. April 1871 erfolgte273 und keiner parlamentarischen Bestätigung bedurfte, erregte insgesamt weder in den politischen Kreisen noch in der Bevölkerung Aufsehen oder Widerspruch. Dagegen scheiterte die Regierung Hohenwart mit einer am 5. Mai 1871 im Reichsrat eingebrachten Gesetzesvorlage274, mit der ein wesentlicher Teil der in der galizischen Resolution enthaltenen Forderungen umgesetzt und auch das Amt Grocholskis dauerhaft systemisiert werden sollte275. Zwar wurde von Seiten des Abgeordnetenhauses an dem Gesetz selbst kaum Anstand genommen, der Umstand aber, dass Hohenwart auf eine entsprechende Nachfrage im Verfassungsausschuss des Reichsrates hin nicht ausschließen wollte, ähnliche Zugeständnisse auch gegenüber anderen Kronländern zu machen276, führte zur Ablehnung der Vorlage und damit auch zum vorläufigen Abbruch der Ausgleichsbemühungen mit den Polen277.

ℹ️Die gescheiterte Verständigungsaktion und die durch sie verursachte Aufregung hatten weitreichende Konsequenzen. So richteten Ende Mai 1871 die Mehrheitsfraktionen des Abgeordnetenhauses eine Adresse an den Kaiser, in der sie der Regierung expressis verbis das Misstrauen aussprachen und eindringlich vor der Gefahr warnten, die dem Verfassungsstaat durch die gegenwärtig verfolgte Politik drohe278. Franz Joseph beantwortete das Dokument Anfang Juni in einer knappen Stellungnahme, in der er sich hinter die Regierung und deren Programm stellte und den Wunsch äußerte, das Abgeordnetenhaus möge die vorgegebene politische Leitlinie mittragen279. Trotz der Unterstützung seitens des Monarchen musste dem Kabinett nun jedoch endgültig klar sein, dass es unmöglich sein würde, das Ausgleichsprogramm durch das Abgeordnetenhaus in dessen bestehender Zusammensetzung beschließen zu lassen. Bis zum Juni 1870 hatte, trotz aller verbaler und schriftlicher Proteste, stets eine ausreichend große Zahl liberaler und zentralistischer Abgeordneter die Beschlüsse der Staatsnotwendigkeiten mitgetragen und so die Festlegung des Rekrutenkontingents280 sowie des definitiven Budgets für 1871281 ermöglicht. Nach der faktischen Zurückweisung der Adresse des Abgeordnetenhauses durch den Kaiser nahm der Widerstand der Mehrheitsfraktionen gegen das Kabinett Hohenwart jedoch zunehmend schärfere Formen an. Als schließlich am 8. Juli 1871 nur 93 Mandatare zu einer Sitzung des Abgeordnetenhauses erschienen und diese folglich aufgrund der Beschlussunfähigkeit des Plenums um zwei Tage verschoben werden musste282, war klar, dass mit einer Fortsetzung der parlamentarischen Arbeit in der bisherigen Form nicht mehr zu rechnen war. Die Regierung hatte jedoch die Möglichkeit, dass sich die Mehrheitsfraktionen des Druckmittels der Obstruktion bedienen konnten, offenbar einkalkuliert und für diesen Fall beschlossen, das Parlament in seiner bestehenden Zusammensetzung als Machtfaktor auszuschalten283. Tatsächlich teilte Hohenwart in der Sitzung des Herrenhauses am 11. Juli die unmittelbare Vertagung des Reichsrates mit284. ℹ️Am 10. August 1871 erfolgte schließlich per kaiserlichem Patent die formelle Auflösung des Abgeordnetenhauses sowie die Aufforderung an die Landtage, Neuwahlen durchzuführen285. Gleichzeitig aufgelöst und zur Neuwahl ausgeschrieben wurden jedoch auch die Landtage von Oberösterreich, Niederösterreich, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol, Mähren und Schlesien286, überwiegend Landesparlamente, in denen die liberalen und/oder zentralistischen Fraktionen die Mehrheit bildeten. Einen Tag später erfolgte, gleichfalls per kaiserlichem Patent, die Einberufung sämtlicher Landtage auf den 14. September 1871287.

ℹ️Ziel dieses von der Regierung mit dem Kaiser vereinbarten Vorgehens war es, die Mehrheitsverhältnisse in mehreren Landtagen und damit auch im Reichsrat umzukehren, um so dem Kabinett zu einer tragfähigen Majorität für die Umsetzung seines Ausgleichsprogramms zu verhelfen. Der wesentliche Unterschied zum Vorgehen der Regierung Potocki, die bei der Ausschreibung von Neuwahlen ein Jahr zuvor ähnliche Ziele verfolgt hatte, lag darin, dass Hohenwart nicht davor zurückscheute, durch verwaltungsrechtliche Eingriffe die Stimmverhältnisse in den Ländern zu seinen Gunsten zu verändern. Die Voraussetzung dafür bildeten kleine, aber entscheidende Änderungen im Wahlrecht für die Landtage, so etwa bei der Zensusberechnung der Kleingewerbetreibenden sowie bei der Gewährung des Stimmrechts für geistliche Nutznießer von Kirchengütern in der Kurie der Großgrundbesitzer288. Aufgrund der sich dadurch ergebenden Verschiebungen im Elektorat gelang es tatsächlich, die bisher liberal-zentralistische Mehrheit in den Landtagen von Oberösterreich und Mähren zu brechen289. Dies war insofern von großer Bedeutung, als die Wahl der in den Reichsrat zu entsendenden Mandatare in den Landtagen durch absolute Stimmenmehrheit erfolgte290. Durch die nunmehr geänderten Mehrheitsverhältnisse in mehreren Landesparlamenten war zu erwarten, dass diese überwiegend Mandatare klerikaler oder föderaler Gesinnung in den Reichsrat entsenden würden. Damit war die wesentlichste Voraussetzung für die Herstellung einer Zweidrittelmehrheit für die Regierung im Abgeordnetenhaus geschaffen. Das Zustandekommen einer solchen Mehrheit, die für den Beschluss verfassungsändernder Gesetze erforderlich war, hing jedoch von zwei Faktoren ab. Zum einen mussten die Polen die Regierung unterstützen, was angesichts der ihnen bereits gemachten Zugeständnisse wahrscheinlich, jedoch nicht sicher war291. Zum anderen mussten sich auch die Tschechen dazu bereit erklären, ihre Mandatare in das Abgeordnetenhaus zu entsenden. Dieser Punkt hatte bisher den Knackpunkt in sämtlichen Verhandlungen gebildet, da die Vertreter der Tschechen weiterhin darauf beharrten, erst nach konkreten Zugeständnissen seitens der Staatsführung in das Parlament zurückzukehren. Daher hing der Erfolg der Ausgleichsaktion des Kabinetts Hohenwart davon ab, im Vorfeld der Reichsratssession mit den Tschechen zu einer Einigung zu gelangen292.

ℹ️Tatsächlich fanden bereits seit März 1871 zunächst informelle Gespräche zwischen Mitgliedern der Regierung Hohenwart und Vertretern der böhmischen Tschechen statt293. Der Hauptverhandler auf Seiten der Regierung war Handels- und Ackerbauminister Schäffle, ein württembergischer Volkswirtschaftler und eigentlicher Ideengeber des Ausgleichsprojekts im Kabinett294. Ihm standen auf böhmisch-tschechischer Seite Clam-Martinic und Rieger gegenüber, die seit dem Jahr 1868 an allen Verhandlungen über die Ausgleichsfrage führend beteiligt gewesen waren. Zu den Verhandlungen beigezogen wurde auch als einziger mährische Politiker der Landtagsabgeordnete Alois Pražák295, wobei der Landtag in Brünn von der Aktion weder informiert noch in diese eingebunden war. Den Ausgangspunkt der Gespräche bildeten die Ergebnisse der Konferenz vom August 1870, wobei auf Basis der seinerzeit abgesteckten Positionen versucht wurde, zu einem für beide Seiten tragbaren Kompromiss zu gelangen. Bemerkenswert ist, dass in die Verhandlungen keine Vertreter der deutschen Bevölkerungsgruppe eingebunden wurden, obwohl der Ausgleich ja nicht mit den Tschechen, sondern mit dem böhmischen Landtag abgeschlossen werden musste, in dem beide Nationalitäten vertreten waren296. Dieser Umstand bildete einen Schwachpunkt der Verständigungsaktion, der sich beim Versuch, ihre Ergebnisse in die Praxis umzusetzen, als nachteilig erweisen sollte.

ℹ️Nach dem erfolgreichen Abschluss der informellen Gespräche297 legten die tschechischen Vertreter schließlich auf den offiziellen Ausgleichskonferenzen zwischen 20. Juni und 21. August 1871 mit den Fundamentalartikeln298, dem Gesetz zum Schutz der Nationalitäten sowie einer modifizierten Landtagswahlordnung drei Dokumente vor299, welche die Grundlage des Ausgleichs mit dem Königreich Böhmen bilden sollten300. Die Fundamentalartikel bildeten dabei das Grundgesetz des Landes und definierten bei gleichzeitiger Anerkennung des Ausgleichs mit Ungarn und der Dezemberverfassung die Stellung Böhmens innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie gänzlich neu. So waren in dem Grundgesetz weitreichende verwaltungstechnische und finanzielle Autonomierechte für das Kronland festgeschrieben, die Böhmen zwar nicht zu einem dritten Teil der Monarchie erhoben, ihm jedoch eine Sonderstellung unter den Ländern Cisleithaniens einräumten301. Das Nationalitätenschutzgesetz zielte dagegen primär darauf ab, die Verhältnisse der Deutsch-Böhmen, die nach dem Ausgleich in die Rolle einer politischen Minderheit geraten würden, neu zu regeln. So schrieb das Gesetz, das die Nationalitätenfrage zur Landesangelegenheit erklärte, für beide Bevölkerungsgruppen weitreichende kollektive wie individuelle Rechte fest. Dazu gehörte neben der Gleichstellung beider Sprachen im Amtsverkehr auch die Neueinteilung des Landes in national weitgehend einheitliche Gerichts-, Verwaltungs- und Wahlbezirke302. Die Landtagswahlordnung war dagegen durch Mandatsverschiebungen zwischen den Kurien und Erweiterungen des Elektorats so gestaltet, dass sie den Tschechen eine Mehrheit im neu zu konstituierenden Landtag sicherte. Jedoch sollten im Landtag gemäß dem Nationalitätenschutzgesetz zwei nationale Kurien gebildet werden, wobei Beschlüsse über Sprachenfragen im öffentlichen Leben sowie in Verwaltung und Unterricht in beiden Kurien mit absoluter Mehrheit angenommen werden mussten303. Gemeinsam mit den drei Gesetzesvorlagen wurde den Regierungsvertretern auch ein Aktionsprogramm übergeben, das detailliert festlegte, wie die Ausgleichsaktion abzulaufen hatte304.

ℹ️Obwohl die Gesetzesvorlagen in den Ausgleichskonferenzen noch in einigen Punkten abgeändert wurden, waren die cisleithanischen Minister mit der endgültigen, Mitte August 1871 vorliegenden Fassung der drei Dokumente nicht gänzlich zufrieden305. Auch wenn die Entwürfe im Gegensatz zu den 1870 aufgestellten Forderungen der tschechischen Vertreter den Ausgleich mit Ungarn nicht direkt tangierten und ihre Umsetzung daher staatsrechtlich auch ohne Zustimmung der ungarischen Regierung zumindest möglich erschien, erwuchsen aus ihnen mehrere Problemfelder. So war offensichtlich, dass die Umsetzung der Fundamentalartikel auf die Herstellung eines Subdualismus, also eines dem österreichisch-ungarischen Ausgleich ähnelnden Rechtsverhältnisses zwischen den Ländern Cisleithaniens und dem Königreich Böhmen hinauslaufen musste306. Dies hätte in der Praxis, ähnlich wie der Ausgleich von 1867, weitreichende Änderungen im politischen, administrativen und finanziellen Staatsaufbau bedeutet, die auch die Rechte der übrigen Kronländer berührt hätten. So sahen die Fundamentalartikel unter anderem den Ersatz von Abgeordnetenhaus und Herrenhaus durch einen Delegiertenkongress und einen Senat vor. Im Gegensatz zu den bestehenden Kammern des Reichsrates waren diese jedoch nicht als Unter- und Oberhaus konzipiert, sondern sollten verschiedene Zuständigkeitsbereiche haben307. Ob sämtliche Landtage sowie der Reichsrat einer solchen Änderung zugestimmt hätten, war zweifelhaft. Darüber hinaus hätte die Gewährung der zahlreichen, in den Fundamentalartikeln verankerten Autonomierechte auf dem Gebiet der Verwaltung, der Justiz und der Finanzen einen weitreichenden Umbau der Administration Cisleithaniens bedingt, was das durch den Ausgleich mit Ungarn ohnehin komplexe Staatswesen noch unübersichtlicher und schwerfälliger gemacht hätte308. Auch das Nationalitätenschutzgesetz enthielt mehrere nicht unproblematische Punkte309. So legte der Entwurf fest, dass künftig alle höheren Beamten in Böhmen beide Landessprachen beherrschen mussten. Da jedoch traditionell nur die tschechischen Beamten durchgehend zweisprachig waren, war zu befürchten, dass die Deutsch-Österreicher zumindest teilweise aus der höheren Verwaltung Böhmens verdrängt werden würden. Auch die Aufteilung des Landtags in zwei nationale Kurien wurde kritisch betrachtet. So legte das Nationalitätengesetz fest, dass bei Abgeordneten des Großgrundbesitzes die nationale Bevölkerungsmehrheit jenes Bezirks, in dem ihre Besitzungen lagen, dafür ausschlaggebend war, in welche nationale Kurie sie im Landtag eingereiht wurden. Dies war insofern problematisch, als auf diese Weise Abgeordnete, die sich selbst einer Nationalität zugehörig fühlten, der anderen Kurie zugeteilt werden konnten. Außerdem wurden alle Abgeordneten in eine der beiden Kurien eingeteilt, auch wenn sie sich keiner der beiden Nationalitäten zugehörig fühlten310.

Hinzu kam, dass die Regierung die Bedeutung der drei Gesetzesentwürfe gänzlich anders beurteilte als die Tschechen. So betrachteten die tschechischen Vertreter die Ende August 1871 vorliegenden Textfassungen als letztgültiges Ergebnis der Verhandlungen, an denen höchstens noch einige Formulierungen geändert werden konnten. Die Mitglieder des Kabinetts sahen dagegen insbesondere die Fundamentalartikel als Maximalforderungen der Tschechen innerhalb jenes Rahmens, der staatsrechtlich möglich war. Vor diesem Hintergrund ging man seitens der Regierung davon aus, dass die Gesetze im Reichsrat nachverhandelt und jene Passagen gestrichen würden, die man als zu weit gehend betrachtete311. Diese Auffassungsunterschiede bildeten jedoch nicht das einzige mögliche Hindernis bei der Umsetzung des Ausgleichsprojekts. So war darüber hinaus nicht klar, ob ein Ausgleich mit Böhmen nicht auch Mähren und Schlesien tangieren würde. Diese waren zwar Teil der historischen Länder der böhmischen Krone, besaßen jedoch innerhalb Cisleithaniens den gleichen Status wie alle anderen Kronländer und waren nicht Böhmen beigeordnet312. Grundsätzlich planten die Vertreter der böhmischen Tschechen, Mähren und Schlesien in das eigene Ausgleichsprojekt mit einzubeziehen, hatten deren politische Vertretungskörper jedoch ebenso wenig in der Sache konsultiert wie in die Planungen mit einbezogen. Weiters hatte sich die politische Landkarte Europas grundlegend geändert. Mit der Gründung des Deutschen Reiches im Jänner 1871 war ein Nationalstaat geschaffen worden, der wesentlich mehr Gewicht besaß als zuvor Preußen, der Norddeutsche Bund und die süddeutschen Staaten. Vor diesem Hintergrund schien für Österreich-Ungarn die geplante Verständigung mit den Tschechen, die auf eine zumindest teilweise Föderalisierung und damit eine Schwächung Cisleithaniens als Zentralstaat abzielte, außenpolitisch zu einem ungünstigen Zeitpunkt zu kommen313. Entscheidend für das Gelingen des Ausgleichs war jedoch vor allem die Haltung von Reichskanzler Beust sowie des ungarischen Ministerpräsidenten Gyula Graf Andrássy314. Obwohl es dem Reichskanzler untersagt war, Einfluss auf die Innenpolitik zu nehmen und beide Teile der Monarchie ihre Politik unabhängig voneinander bestimmten, hatten die Worte Beusts und Andrássys auch in Fragen, die über ihr eigentliches Pouvoir hinausgingen, großes Gewicht beim Monarchen. Vor diesem Hintergrund war es letztlich entscheidend, ob die beiden Politiker, die als entschiedene Verfechter des dualistischen Staatsaufbaus galten, das Projekt befürworteten oder ablehnten315.

ℹ️Die eigentliche Umsetzung des Ausgleichsprojekts begann mit der Verlesung eines kaiserlichen Reskripts bei der Eröffnung des böhmischen Landtags am 14. September 1871316. In seinem gemeinsam mit der Regierung vorbereiteten Schreiben erklärte Franz Joseph die Bereitschaft, die historischen Rechte des Kronlandes durch seinen bei der Krönung zu leistenden Eid erneut zu bestätigen. Gleichzeitig forderte er den Landtag auf, unter Berücksichtigung des sich aus dem Ausgleich sowie den anderen Verfassungsgesetzen ergebenden Rechtszustandes Vorschläge zu machen, mit denen die staatlichen Verhältnisse des Kronlandes Böhmen zeitgemäß geregelt werden konnten. Gemeinsam mit dem Reskript wurden den Abgeordneten die Entwürfe des Nationalitätenschutzgesetzes und der Landtagswahlordnung vorgelegt, die, so die offizielle Sprachregelung, von der Regierung vorbereitet worden waren317. Die beiden Gesetzesentwürfe wurden vom Landtag, dessen tschechisch-föderalistische Mehrheit die Erklärung des Kaisers mit großer Befriedigung aufnahm, an eine dreißigköpfige Kommission überwiesen. Diese erhielt den Auftrag, zu den beiden Vorlagen Stellung zu nehmen und gleichzeitig die vom Kaiser verlangten Vorschläge zur Neugestaltung der böhmischen Landesordnung zu erarbeiten. Dieser Vorgang entsprach den zuvor zwischen der Regierung und den tschechischen Vertretern getroffenen Vereinbarungen, denen zufolge die gemeinsam ausverhandelten Gesetzesentwürfe getrennt dem Landtag vorgelegt und von diesem zum Beschluss dem neu konstituierten Reichsrat überwiesen werden sollten318. Folglich handelte es sich bei den von der Kommission dem Landtag am 9. Oktober 1871 vorgelegten Vorschlägen zur Neuregelung der Stellung Böhmens innerhalb des Staatsverbandes um die Fundamentalartikel, an denen nach den letzten Verhandlungen zwischen der Regierung und den tschechischen Vertretern nur noch geringfügige Änderungen vorgenommen worden waren319. Gleichzeitig legte die Kommission dem Landtag auch die Stellungnahmen zu den von der Regierung eingebrachten Gesetzesentwürfen sowie den Entwurf einer Adresse an den Kaiser vor. In letzterer sprach der Landtag dem Monarchen seinen Dank für die Anerkennung des böhmischen Staatsrechts aus, resümierte knapp die wichtigsten Eckpunkte der Fundamentalartikel sowie der Stellungnahmen zu den Gesetzesvorlagen und ersuchte Franz Joseph abschließend, auf Basis der neuen Wahlordnung einen Krönungslandtag einzuberufen320. Alle vier Dokumente wurden am folgenden Tag von dem inzwischen von den Deutschen boykottierten Landtag einstimmig verabschiedet321, womit die Initiative für das weitere Vorgehen auf die Regierung und den Kaiser überging.

ℹ️Fast zeitgleich mit dem Bekanntwerden der Ausgleichsaktion durch die Verlesung des kaiserlichen Reskripts322 sowie der Vorlage der beiden Gesetzesentwürfe begann sich der Widerstand gegen das Projekt zu formieren. Bereits während der zweiten Sitzung des Landtags am 16. September 1871 hatten 71 deutsche Abgeordnete schriftlich gegen die ihrer Ansicht nach mit dem kaiserlichen Reskript angekündigte Herauslösung des Königreiches Böhmen aus dem Geltungsbereich der Verfassung protestiert. Gleichzeitig gaben sie bekannt, an den Sitzungen des Landtags nicht mehr teilzunehmen und gegen dessen Beschlüsse präventiv Verwahrung einzulegen323. Das Aufbegehren der deutschliberalen Abgeordneten in Böhmen blieb jedoch kein singuläres Ereignis. Vielmehr sah sich die Regierung schon bald mit einem regelrechten, von der deutschsprachigen Presse mit angeheizten, Proteststurm324 in mehreren Landesparlamenten konfrontiert. So verurteilten die Landtage von Niederösterreich, Kärnten, Salzburg, Schlesien und der Steiermark, in denen die liberalen Fraktionen die Mehrheit bildeten, das ihrer Ansicht nach verfassungswidrige Ausgleichsprojekt in Böhmen scharf und legten dagegen Rechtsverwahrung ein325. Bemerkenswert ist, dass in den Protestnoten die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens zunehmend mit der Stellung der deutschsprachigen Bevölkerung verknüpft wurde, also ein an sich staatsrechtliches Problem mit der bis zu diesem Zeitpunkt außerhalb Böhmens nicht virulent gewesenen nationalen Frage verknüpft wurde. Besonders deutlich wurde dies im Fall des niederösterreichischen Landtags, der am 22. September 1871 gegen die sich aus dem kaiserlichen Reskript vom 12. September 1871 ergebende „Unverbindlichkeit der Reichsverfassung für das Königreich Böhmen und die daraus folgende Verletzung der Staatsgrundgesetze“ protestierte. Einspruch wurde auch gegen alle sich aus diesem als Rechtsbruch bezeichneten Vorgang ergebenden Gesetze und Verordnungen erhoben, „insbesondere gegen solche, wodurch die Rechte der Deutschen in Österreich in irgendeinem Teil des Reiches oder das Band ihrer Zusammengehörigkeit bedroht oder verletzt werden sollten.“ Der niederösterreichische Landtag erklärte darüber hinaus, keinen auf Grund einer Verfassungsverletzung zustande gekommenen Reichsrat als rechtmäßig betrachten zu können und die Beschlüsse eines solchen ungesetzlichen Gremiums von vornherein als rechtsunwirksam betrachten zu müssen326. Ähnliche Formulierungen, wenngleich in schwächerer Form, finden sich auch in den Rechtsverwahrungen der übrigen verfassungstreuen Landtage327, lediglich Salzburg trat dem niederösterreichischen Beschluss vollinhaltlich bei328.

Proteste gab es darüber hinaus auch in den föderal dominierten Landtagen von Mähren, Oberösterreich und Krain, wo die deutschliberalen Abgeordneten wie in Böhmen ankündigten, an den Sitzungen der Landesversammlung nicht mehr teilzunehmen329. Im Gegensatz zu Mähren, wo der Landtag den Protest der deutschliberalen Minorität zurückwies und zur Tagesordnung überging330, beschloss die föderale Mehrheit der Landtage von Oberösterreich und Krain, den abwesenden Abgeordneten aufgrund unentschuldigten Fernbleibens die Mandate zu entziehen331. ℹ️Dieses Vorgehen betrachtete der Ministerrat, der sich in zwei Sitzungen Ende September 1871 mit dem unerwartet heftigen Proteststurm in den Landtagen auseinandersetzen musste, jedoch als juristisch nicht gedeckt, da die entsprechenden Beschlüsse ja nach dem Auszug der liberalen Abgeordneten aus den Landtagen gefasst worden waren und allenfalls in Zukunft zur Anwendung gebracht werden könnten332. Das Vorgehen des niederösterreichischen Landtags333 wurde ebenfalls als illegal angesehen, da eine Rechtsverwahrung nur gegen bereits verkündete Gesetze, die das betroffene Kronland selbst tangieren würden, eingelegt werden könne, nicht jedoch gegen ein kaiserliches Reskript ohne Bezug zum Land. Von der in der Sitzung diskutierten Möglichkeit, den Landtag wegen Überschreitung seiner Kompetenzen aufzulösen, wollte die Regierung jedoch vorerst keinen Gebrauch machen. Nur für den Fall, so der letztendlich gefasste Beschluss des Ministerrates, dass eine der Landesversammlungen die Vornahme der Reichsratswahlen verweigern sollte, wollte man diese auflösen und direkte Ersatzwahlen ausschreiben334. ℹ️Dabei waren jedoch auch erste Risse im Zusammenhalt des Kabinetts zu erkennen. So bat Finanzminister Holzgethan, der in die Vorbereitung des Ausgleichsprojekts nicht eingebunden war und von diesem erst bei der Besprechung der Gesetzesvorlagen im Ministerrat Ende August 1871 erfahren hatte, sich bei der Abstimmung betreffend das Vorgehen gegen den niederösterreichischen Landtag enthalten zu dürfen. Er sei mit der Ausgleichsaktion von Anfang an nicht einverstanden gewesen und wisse bei den nun erwartungsgemäß aufgetretenen Schwierigkeiten nicht, was er zu deren Lösung beitragen könne335. Zwar kam es zu keiner formellen Abstimmung über den Gegenstand im Ministerrat, die Haltung Holzgethans zeigte jedoch deutlich, dass auch auf Ebene der Staatsführung Cisleithaniens mit Widerstand gegen das Projekt zu rechnen war.

ℹ️Positive Reaktionen zum kaiserlichen Reskript vom 12. September 1871 kamen dagegen von den Landtagen von Oberösterreich, Mähren, Galizien, Krain, der Bukowina, Dalmatiens, Triests, Tirols und Vorarlbergs, was zum Teil mit den in diesen durch die Wahlrechtsänderung geschaffenen, neuen Mehrheitsverhältnissen zusammenhing. Die meisten Landesversammlungen, die ihre Zustimmung durch Adressen an den Kaiser zum Ausdruck brachten, nutzten die Gelegenheit jedoch dazu, ihrerseits Forderungen und Wünsche vorzubringen, die mit dem böhmischen Ausgleichsprojekt in Zusammenhang standen. So regte der Landtag von Krain an, auch die staatsrechtlichen Verhältnisse aller anderen Kronländer nach dem Vorbild der Fundamentalartikel umzugestalten und forderte für das eigene Kronland die Gewährung von Autonomie nach den im Oktoberdiplom gemachten Zusagen336. Autonomie und die Wahrung historischer Rechte forderten auch die Landesversammlungen Dalmatiens, Triests, der Bukowina, Tirols und Vorarlbergs ein, wobei der Landtag in Innsbruck zusätzlich die Verankerung des Ausgleichs mit Ungarn als Tiroler Landesgesetz, jener in Bregenz dagegen die Abschaffung der konfessionellen Gesetze forderte337. ℹ️Deutlich reservierter fiel dagegen die Adresse des galizischen Landtags aus, in der dieser grundsätzlich seine Zustimmung zu dem Ausgleichsprojekt mit den Tschechen ausdrückte. Gleichzeitig betonte man jedoch, dass vor diesem Hintergrund die bestehende Gesetzesvorlage betreffend die galizische Autonomie als nicht mehr ausreichend betrachtet werden könne und deutlich größere Zugeständnisse im Sinne des Inhalts der Fundamentalartikel erwartet würden338. Diese Forderung zeigte deutlich, dass die Polen prinzipiell nur dann für die Gewährung von Autonomierechten einzutreten bereit waren, wenn diese dem eigenen Kronland zugutekamen. Eine Gesamtföderalisierung des Reiches bzw. die Schaffung eines Sonderstatus für Böhmen oder für ein anderes Kronland ohne Berücksichtigung Galiziens lag dagegen nicht in ihrem Interesse339. Der Umstand, dass die Regierung auf die Stimmen der polnischen Abgeordneten angewiesen war, um das Ausgleichsprojekt im Parlament beschließen zu können, verlieh somit der in der Adresse verankerten Forderung auf Erweiterung der Galizien zuzugestehenden Autonomierechte besonderes Gewicht.

ℹ️Differenziert fiel auch die Adresse des mährischen Landtags aus. Zwar stimmten die Abgeordneten dem Ausgleichsprojekt zu, betonten dabei jedoch gleichzeitig explizit die Unabhängigkeit Mährens vom Königreich Böhmen340. Dieser Umstand manifestierte sich unter anderem in der Forderung nach der Einrichtung des Amtes eines mährischen Hofkanzlers analog seines böhmischen Pendants sowie in der Bitte, der Kaiser möge sich vom Landtag als Markgraf von Mähren huldigen lassen341. Dies war insofern von Bedeutung, als das Kronland Teil der historischen Länder der böhmischen Krone war und der Prager Landtag geplant hatte, sowohl Mähren als auch Schlesien in das Ausgleichsprojekt mit einzubeziehen. ℹ️Gegen diese Pläne verwahrte sich neben Mähren jedoch auch Schlesien. Dessen Landtag, der von den liberal-zentralistischen Fraktionen dominiert wurde, lehnte nicht nur die im kaiserlichen Reskript enthaltenen Passagen als Verfassungsbruch ab, sondern sprach sich auch gegen das Vorhaben aus, das Herzogtum in einen Staatsverband mit dem Königreich Böhmen zu integrieren342. Die Reaktionen der Landtage in Brünn und Troppau zeigten deutlich, dass die den tschechischen Vertretern Böhmens vorschwebende historische Länderunion, ähnlich wie das alte böhmische Staatsrecht, lediglich auf dem Papier existierte und die übrigen Territorien der böhmischen Krone kein Interesse daran hatten, ihre von Prag unabhängige Stellung aufzugeben. Stattdessen schwebte ihnen, wenn überhaupt, eher eine zukünftige Stellung ihrer Länder als historisch verbundene, jedoch nur noch in Personalunion regierte Teile eines faktisch nicht mehr souveränen Königreiches vor. Zieht man zusätzlich zu den Ansprüchen Mährens auch die Forderungen der übrigen von den föderalistisch-konservativen Fraktionen dominierten Landtage in Betracht, so wird deutlich, dass ein isolierter Ausgleich mit Böhmen wohl kaum den Endpunkt der Verständigungsaktion hätte darstellen können. Naheliegender ist eher, dass die Umsetzung des Projekts auch in den anderen Kronländern Cisleithaniens den Ruf nach Eigenverwaltung nach dem Vorbild Böhmens hätte laut werden lassen, dem sich die Regierung nur schwer hätte entziehen können. Aufgehalten wurde die sich abzeichnende Entwicklung letztlich nur dadurch, dass der böhmische Ausgleich unmittelbar vor seiner endgültigen Umsetzung doch noch zu Fall gebracht wurde, und zwar von außen.

ℹ️g) Entscheidung für den Zentralismus

Den Ausgangspunkt der unerwarteten Wende im böhmischen Ausgleichsprojekt bildete eine gegen die cisleithanische Regierung gerichtete politische Manifestation im Rahmen der Amtseinführung des neuen Rektors der Universität Wien am 9. Oktober 1871. Bei diesem Zwischenfall verließ der bei der Feier anwesende Reichskanzler Beust im Gegensatz zu anderen Staatsfunktionären nicht den Saal, sondern ließ sich von den Studierenden, die ihn als Gegner Hohenwarts ansahen, durch Hochrufe feiern343. Vom Kabinett gebeten, Beust in Konsequenz seiner offen zur Schau gestellten Ablehnung der Regierung zu entlassen344, forderte der Kaiser den Reichskanzler auf, schriftlich zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Beust nutzte die Gelegenheit, dem Kaiser statt einer Rechtfertigung für sein Verhalten eine mehrseitige Denkschrift vorzulegen, in der er das im Gange befindliche Ausgleichsprojekt mit dem böhmischen Landtag scharf kritisierte345. Der Reichskanzler verwies dabei vor allem auf die sich seiner Meinung nach ergebende Gefahr für die innere Ordnung des Habsburgerreiches sowie die aufgrund dessen zu erwartenden Konsequenzen für die Außenpolitik. Letzteren Punkt zog Beust als Begründung für seine eigentlich unzulässige Einschaltung in die inneren Verhältnisse des Reiches heran. Vorrangig betonte er die seiner Meinung nach gegebene Verletzung der Verfassung durch das Projekt, wobei er vor allem dessen angebliche Inkompatibilität mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich herausstrich. Seine weiteren Argumente gegen das Verständigungsvorhaben bildeten die Verkomplizierung der Außenpolitik durch die zu erwartende Einflussnahme des böhmischen Hofkanzlers bzw. des Landtags, die drohenden diplomatischen Verwicklungen mit Berlin346 aufgrund der Herabstufung der Deutschen in Böhmen zu einer politischen Minderheit sowie die nicht zu verhindernde Ausdehnung des Ausgleichsprojekts auf Galizien, was, so Beust, zwangsläufig zu Konflikten mit der russischen Regierung führen müsse347.

Die auf 13. Oktober 1871 datierte Denkschrift verfehlte ihre Wirkung auf den Monarchen nicht, der sich von den zahlreichen Einwendungen des Reichskanzlers gegen die Ausgleichsaktion sichtlich überrascht zeigte. Als Konsequenz teilte Franz Joseph Hohenwart am 14. Oktober knapp mit, dass an eine Entlassung Beusts derzeit nicht zu denken sei. Gleichzeitig wies er Hohenwart an, sich zur Klärung der bestehenden Differenzen in Sachen des böhmischen Ausgleichs mit den gemeinsamen Ministern sowie dem ungarischen Ministerpräsidenten zu verständigen. ℹ️Anschließend sollte die Angelegenheit auf einem großen Ministerrat unter Beiziehung der gemeinsamen und der cisleithanischen Minister sowie des ungarischen Ministerpräsidenten einer Lösung zugeführt werden348. Für die Regierung Hohenwart kam diese Wendung völlig unerwartet. Noch im Ministerrat am 14. Oktober, bei dem das Kabinett über die Causa Beust in Kenntnis gesetzt worden war, hatte man sich zuversichtlich gezeigt, dass der Kaiser der Bitte auf Entlassung des Reichskanzlers entsprechen würde349. Dass zu diesem Zeitpunkt der öffentliche Druck bereits erheblich war, ist evident, diskutierten die Minister doch auf dieser Sitzung auch die Möglichkeit, das Presse- und Versammlungsrecht in Wien und Prag temporär aufheben zu lassen, um so die hitzige Stimmung etwas abzukühlen350. Insgesamt zeigte man sich trotz des stärker werdenden Widerstands jedoch noch zuversichtlich, den Ausgleich wie geplant durchführen zu können351. Die Aufforderung des Monarchen an Hohenwart, sich mit den gemeinsamen Ministern sowie dem ungarischen Ministerpräsidenten zu verständigen, dämpfte diese Hoffnungen merklich. Der Umstand, dass das Projekt auf den expliziten Wunsch des Kaisers zurückging und die Maßnahmen des Kabinetts stets dessen Zustimmung gefunden hatten, ließ Hohenwart jedoch vorsichtig optimistisch in die Gespräche mit Beust und Andrássy gehen352.

ℹ️Vor dem Treffen der drei Regierungschefs fand jedoch am 16. Oktober noch ein gemeinsamer Ministerrat statt, auf dem der Reichskanzler die Anwesenden, Reichskriegsminister Franz Kuhn Freiherr von Kuhnenfeld353, Reichsfinanzminister Menyhért Graf Lónyay354 sowie die beiden Sektionschefs im Ministerium des Äußeren Leopold Ritter von Hofmann und Béla Baron Orczy, über die Sachlage informierte und ihnen seinen Standpunkt darlegte355. Die gemeinsamen Minister stimmten den in der Denkschrift an den Kaiser niedergelegten Argumenten Beusts gegen das Ausgleichsprojekt im Wesentlichen zu. Ergänzend äußerte Lónyay Bedenken gegen die in den Fundamentalartikeln festgeschriebene Herauslösung der böhmischen Finanzen aus jenen Cisleithaniens, da er schädliche Auswirkungen auf die Kreditwürdigkeit der Monarchie im Ausland befürchtete. Auch Kuhn äußerte sich kritisch bezüglich der geplanten Übertragung der Zuständigkeit für die Landwehr in Böhmen vom Ministerium für Landesverteidigung an den Landtag, da er befürchtete, dieser würde im Gegenzug die Budgetmittel für die gemeinsame Armee zu Gunsten jener der Territorialstreitmacht kürzen. Als das schwerwiegendste Problem bei der Verständigungsaktion betrachteten jedoch alle Anwesenden, dass ihrer Meinung nach der österreichisch-ungarische Ausgleich durch die in den Fundamentalartikeln enthaltenen Bestimmungen tangiert wurde. Dies betraf zum einen die nachträgliche Anerkennung des Ausgleichs von 1867 durch den böhmischen Landtag, da eine solche, so das Argument von Sektionschef Hofmann, die Verfassungsmäßigkeit der Tätigkeit von Regierung und Reichsrat seit dem Inkrafttreten der Dezemberverfassung in Frage stellen würde. Zum anderen verwehrte sich der gemeinsame Finanzminister Lónyay gegen die gleichfalls in den Fundamentalartikeln festgeschriebene, zukünftige Wahl der auf Böhmen entfallenden Mitglieder der Delegation durch den Landtag, da eine derartige Abweichung vom bisherigen Procedere seiner Meinung nach eine Änderung des Delegationsgesetzes356 erforderlich machen würde. Eine solche könne jedoch nur mit der Zustimmung der politischen Vertretungskörper beider Teile der Habsburgermonarchie vorgenommen werden357. Nach längeren Diskussionen, in denen nicht zuletzt hervorgehoben wurde, dass zu den meisten aufgeworfenen Punkten der ungarische Ministerpräsident Stellung nehmen müsse, einigten sich die Anwesenden darauf, dass Beust in der anstehenden Besprechung mit Hohenwart und Andrássy folgenden gemeinsamen Standpunkt vertreten solle: Im Reskript des Monarchen an den böhmischen Landtag, das als nächster Schritt im Rahmen der Verständigungsaktion zu erlassen war, müsse unbedingt betont werden, dass der Ausgleich mit Ungarn unbestreitbar zu Recht bestehe und dass die Ausgleichsgesetze ausschließlich mit Zustimmung der Parlamente in Wien und Pest abgeändert werden könnten358.

ℹ️Diesen Standpunkt vertrat Beust beim gemeinsamen Ministerrat mit Hohenwart und Andrássy am 19. Oktober 1871, wobei er die beiden Regierungschefs zunächst über die drei Tage zuvor stattgefundene Besprechung der gemeinsamen Minister sowie den von ihnen in der Angelegenheit gefassten Beschluss informierte. Der Reichskanzler betonte darüber hinaus die aufgrund der ablehnenden Haltung der Deutschen Böhmens gegenüber dem Projekt zu erwartenden außenpolitischen Probleme, die es notwendig machen würden, auch den Deutschen ein Mitgestaltungsrecht bei der Ausgleichsaktion einzuräumen359. Für Hohenwart kam die Kritik am Ausgleichsprojekt grundsätzlich nicht überraschend, war er doch im Rahmen einer Audienz beim Kaiser mit Andrássy zusammengekommen, wobei die beiden Politiker nicht in der Lage gewesen waren, ihre Differenzen über die Verständigungsaktion auszuräumen360. Dennoch zeigte er sich von den seiner Meinung nach ungerechtfertigten Einwendungen der gemeinsamen Minister überrascht. Hohenwart bestritt vehement die von Beust gemachte Behauptung, das kaiserliche Reskript vom 12. September habe das böhmische Staatsrecht faktisch anerkannt und damit die Legalität von Verfassung und Reichsrat in Frage gestellt. Anschließend verlas er den Entwurf für das Reskript des Kaisers an den böhmischen Landtag, der vom cisleithanischen Ministerrat in seiner Sitzung am 9. Oktober 1871, wenngleich unter Stimmenthaltung Holzgethans, beschlossen worden war361. In diesem erkannte der Monarch im Wesentlichen die bisherigen Bemühungen des böhmischen Landtags an und forderte ihn auf, seine Vertreter in den Reichsrat zu entsenden, um dort die vom Landtag verabschiedeten Gesetzesvorlagen zu verhandeln362. Hohenwart räumte ein, dass der Entwurf die Fundamentalartikel zwar faktisch anerkenne, sich daraus jedoch keine Rechtsunwirksamkeit der Verfassung für Böhmen ableiten ließe. In dem Reskript zusätzlich noch die Rechtmäßigkeit des ungarischen Ausgleichs zu betonen hielt er für verfehlt, da man bedenken müsse, dass der böhmische Landtag diesen bisher nicht akzeptiert habe.

ℹ️Der Reskriptentwurf sowie die Äußerungen Hohenwarts riefen scharfen Widerspruch seitens der gemeinsamen Minister hervor. Reichsfinanzminister Lónyay und Reichskanzler Beust kritisierten vor allem den Umstand, dass die cisleithanische Regierung die Forderungen des böhmischen Landtags vertrete und darüber hinaus den Entscheidungen des Reichsrates vorgreife363. Zurückhaltender äußerte sich der ungarische Ministerpräsident, der jedoch seinerseits betonte, dass aufgrund des bestehenden Ausgleichs nur Cisleithanien und die Länder der ungarischen Krone als Rechtssubjekte existieren würden, ein gesondertes Verhältnis Böhmens zu Ungarn also gar nicht bestehen könne. Dieser Umstand müsse, so Andrássy, auch im Reskript explizit betont werden. Auch der Begriff „Fundamentalartikel“ missfiel ihm und er schlug vor, ihn durch die seinerzeit in den Reskripten an den ungarischen Landtag gebrauchten Formulierungen „Wünsche“ oder „Vorschläge“ zu ersetzen364. Hohenwart ging in seiner Replik auf die Kritikpunkte Beusts und Andrássys nicht im Detail ein, führte jedoch aus, dass die Aufnahme der von den gemeinsamen Ministern gewünschten Punkte in das Reskript zur Folge hätte, dass der böhmische Landtag die Wahl zum Reichsrat verweigern würde. Ähnliches sei in diesem Fall auch von den anderen ausgleichsfreundlichen Landtagen zu erwarten, wodurch das Abgeordnetenhaus beschlussunfähig wäre365. In diesem Fall, so Hohenwart, müsse man sich die Frage stellen, „was dann zu geschehen habe und ob etwas anderes übrig bleibe als der Absolutismus?“366 Beust und Andrássy sahen die Situation weniger dramatisch, wobei der Reichskanzler in den Raum stellte, dass die cisleithanische Regierung durch ihr Handeln selbst dabei war, den Boykott des Abgeordnetenhauses durch die Deutsch-Liberalen und damit dessen mögliche Beschlussunfähigkeit zu provozieren. Der ungarische Ministerpräsident bemerkte ergänzend, dass die föderale Zweidrittelmehrheit im Reichsrat Grund genug für den böhmischen Landtag sein müsse, seine Abgeordneten nach Wien zu entsenden. Die Regierung könne die Bemühungen um den Ausgleich weiter unterstützen, müsse es aber vermeiden, sich dabei die böhmische Position anzueignen und dadurch schlimmstenfalls die Krone zu kompromittieren367. Nach weiteren Diskussionen, in denen Kriegsminister Kuhn und Reichsfinanzminister Lónyay der Position des ungarischen Ministerpräsidenten beipflichteten, betonte Andrássy, dass er dem von Hohenwart vorgelegten Reskriptentwurf aufgrund der sich aus ihm ergebenden Implikationen für beide Teile der Habsburgermonarchie und die damit bestehende Tangierung des Ausgleiches von 1867 nicht zustimmen könne. Zugleich beantragte er, dass die gemeinsamen Minister bis zu der am nächsten Tag stattfindenden Sitzung mit dem Kaiser einen eigenen Reskriptentwurf erstellen sollten, der ihre Position berücksichtigen würde. Hohenwart erklärte sich mit dem Vorgehen einverstanden und kündigte seinerseits an, das eigene Reskript in Hinblick auf die von den gemeinsamen Ministern vorgebrachten Kritikpunkte noch einmal zu überarbeiten368.

ℹ️Die beiden am nächsten Tag abgehaltenen Sitzungen des cisleithanischen Ministerrates unter dem Vorsitz des Kaisers, an denen auch die gemeinsamen Minister, Andrássy und der ungarische Minister am königlichen Hoflager Béla Baron Wenckheim369 teilnahmen, gerieten zum endgültigen Wendepunkt im Ausgleichsprojekt. Gegenstand der ersten Sitzung bildeten primär die Reskriptentwürfe des cisleithanischen und des gemeinsamen Ministerrates. Beide Texte betonten den Umstand, dass eine Änderung der staatsrechtlichen Verhältnisse Cisleithaniens nur durch den Reichsrat vorgenommen werden könne, wobei man den böhmischen Landtag aufforderte, Abgeordnete in diesen zu entsenden370. Der Entwurf des gemeinsamen Ministerrates war jedoch wesentlich schroffer gehalten und wies den Rechtsanspruch des Landtags auf Anerkennung des ungarischen Ausgleichs ebenso als ungesetzlich zurück wie jeden Eingriff des Landes in die gemeinsamen Angelegenheiten. Der gegenüber dem Vortag modifizierte Reskriptentwurf des cisleithanischen Ministeriums stieß dagegen erneut auf heftigen Widerspruch von Beust und Andrássy. ℹ️Beide wiesen auf die weiterhin bestehende Tangierung des Ausgleichs von 1867 durch das Verständigungsprojekt hin und betonten die Notwendigkeit, in dem Reskript den Passus zu verankern, dass der Ausgleich zu Recht bestehe und nur mit Zustimmung der Parlamente in Wien und Pest abgeändert werden könne371. Die cisleithanischen Minister stellten dagegen eine Tangierung des Ausgleichs, welche sich nach Ansicht der gemeinsamen Minister und Andrássys nicht zuletzt durch die Wahl der auf Böhmen entfallenden Delegationsmitglieder durch den Landtag ergab, in Frage. Hohenwart legte dabei klar, dass das Delegationsgesetz keinesfalls festlegte, wer die Delegierten zu wählen hatte. Deshalb sei auch die geplante, von Andrássy kritisierte ℹ️Auflösung des Herrenhauses des Reichsrates, das 20 der 60 Delegationsmitglieder wählte, unproblematisch. Der Minister für Galizien Grocholski erinnerte in Folge daran, dass die Ausgleichsaktion auf einen Auftrag des Kaisers zurückgehe und dass jede Abweichung von dem mit den tschechischen Vertretern vereinbarten Prozedere, also auch die Veröffentlichung eines abgeänderten Reskripts, zum Abbruch der Aktion führen müsste372. Die Gegner des Ausgleichs mit Böhmen beharrten ihrerseits darauf, dass die Anwesenheit der Tschechen im Reichsrat nicht um jeden Preis erzielt und, nicht zuletzt in Hinblick auf die außenpolitische Lage, auch auf die deutschsprachigen Österreicher Rücksicht genommen werden müsse. Auch müsse man, so Beust und Andrássy, unbedingt vermeiden, durch eine einseitige Parteinahme der cisleithanischen Regierung zu Gunsten der Tschechen die Krone zu kompromittieren. Den Einwand Hohenwarts, dass die Landtage von Tirol und Oberösterreich dem Projekt zugestimmt hätten373, also nicht alle Deutschen Cisleithaniens das Projekt ablehnten, ließen der ungarische Ministerpräsident sowie der Reichskanzler in Hinblick auf die starke liberal-zentralistische Opposition in beiden Regionalparlamenten nicht gelten374. Der Kaiser verhielt sich während der Sitzung auffallend neutral und war sichtlich bemüht, zwischen beiden Seiten zu vermitteln. So erinnerte er die Anwesenden zwar daran, dass es seine Absicht sei, eine Verständigung mit den Tschechen herbeizuführen. Seine Feststellung, dass die Positionen der beiden anwesenden Parteien im Wesentlichen übereinstimmten, ist jedoch eher als Wunschdenken zu bezeichnen. Nachdem in der weiteren Diskussion um einzelne Punkte der beiden Reskriptentwürfe keine Einigung über eine gemeinsame Textierung erzielt werden konnte, schloss Franz Joseph die erste Sitzung, um in der zweiten auf die Besprechung der Fundamentalartikel überzugehen375.

ℹ️Hatte sich der ungarische Ministerpräsident in der Diskussion um das Reskript noch zurückgehalten, warf er in der zweiten Sitzung sein gesamtes politisches Gewicht gegen die Ausgleichsaktion in die Waagschale. Er äußerte in knapper Form Kritik an der geplanten Umgestaltung des Reichsrates sowie am vorgesehenen Quotensystem für die Beitragsleistung Böhmens zu den Finanzen Cisleithaniens und forderte energisch, dass die Kompetenz zur Delegationswahl und zur Verhandlung des Wirtschaftsausgleichs mit Ungarn jedenfalls beim Reichsrat verbleiben müsse376. Auch Reichskanzler Beust brachte seine wesentlichen Kritikpunkte an dem Projekt nochmals in kompakter Form vor, wobei er vor allem auf die drohende Einflussnahme des böhmischen Landtags auf die Außenpolitik, die Änderung des Wahlmodus der Delegation sowie den im Fall einer Föderalisierung Cisleithaniens drohenden Einfluss fremder Mächte auf die Nationalitäten des Reiches herausstrich. Als unzureichend bezeichnete Beust zudem den Entwurf des Nationalitätenschutzgesetzes, dessen Umsetzung zu „Schmerzensschreien der Deutschen“377 und folglich zu einer Einmischung Berlins in die inneren Angelegenheiten des Habsburgerreiches führen würde. Letztlich, so der Reichskanzler sinngemäß, sehe sich die cisleithanische Regierung mit dem Problem konfrontiert, dass ihre Maßnahmen den Widerstand eines der beiden Bevölkerungsteile Böhmens hervorrufen würden. Dabei sei es fraglich, „ob, wenn es so weit käme, die deutsche Regierung ruhig würde zusehen können, während der tschechische Widerstand auf materielle Hilfe von außen nicht rechnen könnte.“378 Anschließend äußerte sich auch Reichsfinanzminister Lónyay kritisch zu den in den Fundamentalartikeln enthaltenen finanziellen Bestimmungen, sah er doch sowohl die interne finanzielle Gebarung der Monarchie als auch deren Kreditwürdigkeit im Ausland in Gefahr. Konkret bezeichnete auch er das Quotensystem sowie die Zuweisung aller direkten Steuern in die Landesfinanzen als problematisch, nicht zuletzt in Hinblick auf die sich daraus ergebenden Probleme bei der Deckung des Finanzbedarfs der gemeinsamen Ministerien sowie der zu erwartenden Schädigung des Staatskredits. Bei letztem Punkt pflichtete ihm auch der cisleithanische Finanzminister Holzgethan bei, der ein düsteres Bild der aufgrund des Ausgleichsprojekts eingetretenen finanziellen Lage zeichnete, die Deckung der Staatsausgaben für 1872 in Frage stellte und bei einer Gesamtföderalisierung Cisleithaniens die Frage in den Raum stellte, welchen Kredit ein Schuldner haben könne, der zugleich Gläubiger von 17 anderen Schuldnern sei. Auch merkte er an, dass unklar sei, wer für die Staatsschulden sowie das Defizit der wirtschaftlich schwächeren Länder Cisleithaniens aufkommen solle, wenn man einem finanziell so gut situierten Land wie Böhmen faktisch die finanzielle Eigenverwaltung ohne genaue Festlegung der Pflichten gegenüber dem Gesamtstaat einräume. Sein vom Protokollführer festgehaltenes Resümee, „Fundamentalartikel und Staatsbankrott seien für ihn gleichbedeutend“379, dürfte nicht ohne Eindruck auf den Monarchen geblieben sein380. Nur Kriegsminister Kuhn erklärte sich mit den sein Ressort betreffenden Passagen der Fundamentalartikel nach einigen Erklärungen Hohenwarts prinzipiell einverstanden, auch wenn er, wie schon in der Sitzung am 16. Oktober, die Befürchtung äußerte, der böhmische Landtag würde den Beitrag zu den Ausgaben für die gemeinsame Armee zu Gunsten der eigenen Landwehr zurückschrauben. Hohenwart und die Mitglieder seines Kabinetts konnten sich dagegen zu keinem wesentlichen Widerspruch zu den von den gemeinsamen Ministern und Andrássy vorgebrachten Kritikpunkten aufraffen. Nachdem auch die Diskussion keine Annäherung der Standpunkte beider Parteien ergab, schloss der Kaiser schließlich auch die zweite Sitzung des Tages, ohne dass ein konkretes Ergebnis erzielt worden war381.

ℹ️Damit waren die Würfel praktisch gegen das Ausgleichsprojekt gefallen, auch wenn der cisleithanische Ministerrat am folgenden Tag in Anwesenheit des Kaisers noch versuchte, die Textierung des eigenen Reskriptentwurfs den Wünschen Andrássys und der gemeinsamen Minister anzupassen382. Zu der vom Kaiser zunächst gewünschten Besprechung des neuen Textes mit dem gemeinsamen Ministerium kam es freilich nicht mehr, da der Monarch dem cisleithanischen Kabinett im Rahmen eines weiteren Ministerrates am folgenden Tag knapp mitteilte, dass er sich für das Reskript des gemeinsamen Ministeriums entschieden habe, „weil es nichts enthalte, was in Böhmen nicht angenommen werden könnte, und weil es die speziellen Punkte präzisiere, deren Festhaltung vom Standpunkte der für die Monarchie gemeinsamen Gesetze unerlässlich sei.“383 Diese Bemerkung lässt vermuten, dass es vor allem die von Andrássy ins Treffen geführte angebliche Inkompatibilität des Verständigungsprojekts mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich gewesen war, die Franz Joseph in seiner Entscheidung maßgeblich beeinflusst hatte. Inwieweit die von Beust und Lónyay vorgebrachten Bedenken hinsichtlich der Außen- und Finanzpolitik ebenfalls zu der Entscheidung des Kaisers beigetragen hatten, ist auf Basis der vorliegenden Quellen nicht zu belegen. An die Erklärung über seine Entscheidung zugunsten des Entwurfs der gemeinsamen Minister schloss eine vom Monarchen initiierte, längere Besprechung möglicher Änderungen an den Fundamentalartikeln an, wobei sich von den Anwesenden offenbar nur Franz Joseph selbst der Hoffnung hingab, die Tschechen würden sich bereit erklären, die ausverhandelten Bestimmungen zu ihren Ungunsten abzuändern. Dem Auftrag des Monarchen, Clam-Martinic und Rieger über das Ergebnis der Sitzung zu informieren384, kam Hohenwart am 24. Oktober 1871 nach, wobei sich die tschechische Seite nicht verhandlungsbereit zeigte und erklärte, dass damit die Ausgleichsaktion hinfällig geworden sei385. Diesen Standpunkt bekräftigten sie auch in einer Denkschrift, die sie Hohenwart am folgenden Tag überreichten, in der sie zudem erklärten, dass die neue Fassung des kaiserlichen Reskripts eine Verletzung der getroffenen Absprachen darstelle, deren voraussichtliche Folge sein würde, dass der böhmische Landtag die Entsendung von Abgeordneten in den Reichsrat verweigern werde386.

ℹ️ Hohenwart teilte das Ergebnis seinem Kabinett im Rahmen eines von ihm geleiteten Ministerrates am Abend des 25. Oktober mit, wobei er gleichzeitig ausführte, dass die Regierung in Folge der Verweigerung der Tschechen nicht mehr mit einer Mehrheit im Abgeordnetenhaus rechnen könne. Vor diesem Hintergrund sowie aufgrund der Tatsache, dass die Regierung zur Erfüllung der ihr gestellten Aufgabe nicht mehr in der Lage sei, sollte beim Kaiser die Demission des Ministeriums eingereicht werden. Dieser Vorschlag fand unter den Anwesenden breite Zustimmung. Am schärfsten formulierte es Justizminister Habietinek, der Hohenwart beipflichtete und zugleich ausführte, dass die Alternative der Regierung wohl nur darin bestünde, „sich den Verfassungsfreunden in die Arme zu werfen und dazu würde er sich aus Rücksicht auf seine politische Ehre, die er bei seinem Rücktritt intakt mitzunehmen wünsche, um keinen Preis entschließen.“387 Nur Landesverteidigungsminister Scholl, der angab, als Militär nur auf Aufforderung seines obersten Kriegsherrn abtreten zu können, und Finanzminister Holzgethan, der ausführte, sich schon länger nicht mehr als Teil des Kabinetts zu betrachten und sich daher dem Kollektivschritt seiner Kollegen nicht anschließen zu können, verweigerten die Zurücklegung ihrer Ämter388. Scholl warnte jedoch zugleich vor der Gefahr, die Tschechen durch die Brüskierung in die Arme Russlands zu treiben, was Holzgethan dadurch relativierte, dass die Alternative wäre, zwei Millionen Deutsche in Böhmen zu faktischen Verbündeten Preußens zu machen389. Zu einem späteren Zeitpunkt entschied sich auch Grocholski, im Amt zu bleiben, da er fürchtete, sein Rücktritt könne den Anlass bieten, das erst seit kurzem bestehende Amt des Ministers für Galizien gleich wieder abzuschaffen. Der Kaiser, der dem nächsten Ministerrat am 27. Oktober selbst vorsaß, sah die Dinge freilich anders und fragte Hohenwart im Rahmen der Sitzung, ob die Demission des Kabinetts nicht verfrüht wäre, da doch zumindest geringe Hoffnung bestünde, dass sich andere Parteien im böhmischen Landtag zu einer Beschickung des Reichsrates bereitfinden würden. Der Vorsitzende des Ministerrates verneinte dies mit dem Hinweis darauf, dass Clam-Martinic und Rieger die gemäßigten tschechischen Kräfte des Landes repräsentierten, während die radikaleren Gruppen von vornherein die ihrer Meinung nach nicht weit genug gehende Ausgleichsaktion abgelehnt hätten390. Nach einer kurzen Besprechung, wie die Beschickung des Reichsrates sichergestellt und eine Mehrheit für die zukünftige Regierung gefunden werden könne, entließ der Monarch das Kabinett schließlich mit dem Auftrag, bis zur Ernennung einer neuen Regierung weiter zu arbeiten391. Abschließend dankte Franz Joseph den Anwesenden für ihre Tätigkeit und führte aus: „Das volle Ah. Vertrauen sei den Ministern bei ihrem Eingange in das Amt entgegengekommen, und mit dem vollen Ah. Vertrauen scheiden sie aus dem Ministerium. Dass der eingeschlagene Weg leider! [sic!] nicht zu den gewünschten Erfolgen geführt habe, treffe niemand empfindlicher als Se. Majestät (…).“392 Vor dem Hintergrund, dass es Franz Joseph selbst gewesen war, der die Ausgleichsaktion initiiert, sie jedoch im Angesicht der sich ergebenden, zum Teil absehbar gewesenen Probleme kurzerhand abgebrochen hatte, war die Wortmeldung wohl geeignet, bei den Anwesenden zumindest Verwunderung auszulösen. Die sarkastische Bemerkung zu Schäffle im Anschluss an den Ministerrat, „Der gnädigste Herr ginge am liebsten mit uns, und möchte schon wieder umkehren“393, zeigt deutlich die Verbitterung Hohenwarts über die Wankelmütigkeit des Monarchen.

ℹ️Den Vorsitz im Ministerrat übernahm drei Tage später provisorisch Holzgethan, dem die Aufgabe des formalen Abbruchs des Ausgleichsprojekts zufiel. ℹ️Das auf 30. Oktober 1871 datierte, von Holzgethan mit unterzeichnete394 und dem Textvorschlag des gemeinsamen Ministerrates entsprechende Reskript an den böhmischen Landtag395 hatte erwartungsgemäß zur Folge, dass dieser die Wahlen zum Reichsrat verweigerte. Die Regierung entschied sich nach mehrfacher Diskussion im Ministerrat396 sowie auf kaiserlichen Auftrag hin schließlich dazu, in Böhmen direkte Reichsratswahlen auszuschreiben, wodurch zumindest das Eintreten der deutschliberal-zentralistischen Mandatare in das Abgeordnetenhaus sichergestellt war. ℹ️Gleichzeitig wurde den Fundamentalartikeln, dem Nationalitätenschutzgesetz und der Landtagswahlordnung die kaiserliche Sanktion verweigert, sodass diese keine Rechtskraft erlangten. Die Verbitterung unter den Tschechen Böhmens über den unerwarteten Abbruch der Verständigungsaktion war überaus groß. Der Unmut äußerte sich nicht zuletzt darin, dass die beiden kaiserlichen Reskripte vom 12. September sowie vom 30. Oktober 1871 in der Form von Postkarten und Gedenkblättern, welche die Wortbrüchigkeit des Kaisers veranschaulichen sollten, zum Verkauf angeboten wurden397. Die Regierung, welche die Angelegenheit auf einer Sitzung des Ministerrates am 15. November 1871 besprach, missbilligte die Verbreitung der Reskripte in der genannten Form zwar, sah sich jedoch nicht im Stande, dagegen vorzugehen, waren doch beide Texte in der Wiener Zeitung, dem offiziellen Amtsblatt, veröffentlicht worden398.

ℹ️Das aufgrund der Wahlrechtsreformen Hohenwarts gewählte, eine föderale Zweidrittelmehrheit aufweisende Abgeordnetenhaus trat niemals zusammen. Nachdem der Versuch des ehemaligen böhmischen Statthalters, Ernst Freiherr von Kellersperg, ein neues, auf die Herbeiführung eines Kompromisses zwischen den politischen Lagern abzielendes Kabinett zu bilden, scheiterte399, wurde eine radikale Wende eingeleitet. So verfügte der Kaiser auf Empfehlung der neuen, am 25. November 1871 ernannten Regierung unter Ministerpräsident Adolf Fürst Auersperg400 die Auflösung der Landtage von Oberösterreich, Krain, der Bukowina, Mähren und Vorarlberg401, wobei die Neuwahlen unter Anwendung des alten Wahlrechts vorgenommen und so die früheren Mehrheitsverhältnisse wiederhergestellt wurden402. In Konsequenz verfügte das Abgeordnetenhaus des auf den 27. Dezember 1871 einberufenen Reichsrates403 wieder über eine liberal-verfassungstreue Mehrheit, was es der Regierung ermöglichte, die 1870 vorläufig unterbrochene, zentralistische Politik des Bürgerministeriums fortzusetzen. Mit der Einführung direkter Reichsratswahlen löste die Regierung Auersperg zwei Jahre später zudem das Abgeordnetenhaus aus der Einflusssphäre der Landtage404. Der Sieg des Zentralismus beendete letztlich jene Verfassungsdiskussion, welche die Regierungstätigkeit in Cisleithanien seit dem Jahr 1869 in immer stärkerem Maß behindert und gegen Ende sogar unmöglich gemacht hatte. Mit der Zementierung der Struktur eines Staatswesens, das zugleich zentralistische und föderalistische Elemente aufwies, die sich zum Teil überschnitten und wiederholt zu Reibungen führten, wurde jedoch der seit 1867 bestehende unbefriedigende Status quo in Permanenz überführt. Die sich daraus ergebenden Probleme, die sich im Laufe der folgenden Jahre und Jahrzehnte intensivierten, blieben letztlich bis zur Auflösung der Habsburgermonarchie 1918 bestehen.

ℹ️Das Verhältnis von Staat und Kirche

Ähnlich konfliktreich, wenngleich realpolitisch weit weniger gewichtig, gestaltete sich nach 1867 auch das Verhältnis des Staates zur römisch-katholischen Kirche. Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung bildete das im Jahr 1855 zwischen dem Kaisertum Österreich und dem Papst abgeschlossene Konkordat405, das den Katholizismus faktisch zur Staatsreligion erhob406 und der Kirche zahlreiche Sonderrechte im Umgang mit den eigenen Geistlichen und Gläubigen sowie im Verhältnis zum Staat selbst einräumte. Zu nennen ist dabei in erster Linie die Neuordnung des Unterrichtswesens, wobei der Kirche die Aufsicht über die Volksschulen und die Bestimmung des Lehrplans überlassen wurden. Ebenso wurde festgelegt, dass an von Katholiken frequentierten höheren Schulen ausschließlich Lehrer katholischen Glaubens angestellt werden durften407. Das zweite große Zugeständnis betraf das Eherecht für Katholiken, dessen Details noch in einem eigenen Gesetz geregelt wurden408. Mit diesem übertrug der Staat die Zuständigkeit für Ehen von Katholiken den kirchlichen Gerichten, die fortan auch alleine über etwaige Ehehindernisse zu entscheiden hatten409. Darüber hinaus wurden auch dem Klerus bedeutende Sonderrechte eingeräumt, nicht zuletzt in juristischen Angelegenheiten. So genoss der geistliche Stand verschiedene Privilegien vor weltlichen Gerichten410, und die Bischöfe hatten das Recht, Geistliche zur Disziplinierung in kirchlichen Gebäuden zu konfinieren, wobei der Staat verpflichtet war, die Durchsetzung dieser Beschlüsse aktiv zu unterstützen411. Das Konkordat sowie die aus ihm abgeleiteten Sonderrechte der katholischen Kirche in Österreich waren von Anfang an Gegenstand heftiger Kritik. Die Debatte intensivierte sich vor allem im Abgeordnetenhaus des mit dem Februarpatent von 1861 geschaffenen Parlaments. So wurde bis zur Sistierungsperiode 1865–1867412 von Seiten liberaler Abgeordneter mehrfach die Kündigung des Konkordats oder zumindest die Aufhebung einzelner Teile desselben gefordert. Die kaiserliche Regierung ging darauf bis zum Jahr 1867 freilich nicht ein, obwohl mit der gesetzlichen Regelung der Angelegenheiten der evangelischen Kirche413 sowie mit dem Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit414 faktisch bereits mehrere Artikel des Konkordats in Widerspruch zum Rechtszustand standen. Zwar legte der Papst insbesondere gegen das als solches bezeichnete „Protestantenpatent“ Protest ein415, der aber vorerst ebenso wenig Berücksichtigung fand wie die in regelmäßigen Abständen vorgebrachten Forderungen der Liberalen.

ℹ️Erst im Zuge der Verfassungsdiskussion des Jahres 1867 ergab sich tatsächlich Handlungsbedarf hinsichtlich einer Neuregelung des Verhältnisses des Staates zur katholischen Kirche. Während Ungarn seinen Standpunkt durchsetzte, dass das Konkordat, da es ohne Konsultierung des ungarischen Landtags zustande gekommen war, in den Ländern der Stephanskrone keine Gültigkeit habe416, wurde in Cisleithanien versucht, die sich aus dem Vertragswerk ergebenden Machtbefugnisse der Kirche im Wege der Gesetzgebung zu beschneiden. Zwar drang der radikale Flügel der Liberalen um den Abgeordneten Eugen Megerle von Mühlfeld417 im Reichsrat mit seinen Forderungen auf Kündigung des Konkordats sowie Aufnahme von scharfen, antiklerikalen Bestimmungen in die Verfassung nicht durch418, wohl aber wurden in den Staatsgrundgesetzen Prinzipen festgeschrieben, welche einen Sonderstatus für die katholische Kirche in Cisleithanien in der bisherigen Form nicht mehr zuließen. Konkret erklärte das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger die Gleichheit vor dem Gesetz, die öffentlichen Ämter für allgemein zugänglich und den Genuss der bürgerlichen und politischen Rechte als vom Glaubensbekenntnis unabhängig419. Weiters unterwarf das Gesetz die anerkannten Religionsgemeinschaften den allgemeinen Staatsgesetzen und wies dem Staat darüber hinaus die oberste Leitung und Aufsicht über das Unterrichts- und Schulwesen zu420. Selbst bei einer dem Katholizismus gegenüber wohlwollenden Auslegung standen wesentliche Teile des Konkordats in direktem Widerspruch zu diesen Artikeln des Staatsgrundgesetzes über die Grundrechte, vor allem in Hinblick auf die privilegierte Stellung der katholischen Kirche im Staat, ihren Einfluss auf das Schulwesen sowie die bestehenden Sonderregelungen im Bereich des Eherechts für Katholiken. Für die Regierung ergab sich aus diesem Umstand die Notwendigkeit, die nach der Sanktionierung der Verfassungsgesetze wieder in die staatliche Zuständigkeit fallenden Agenden, namentlich Ehe- und Schulangelegenheiten, einer gesetzlichen Neuregelung zuzuführen und auch die wechselseitigen Verhältnisse der anerkannten, durch das Staatsgrundgesetz für gleichberechtigt erklärten Konfessionen zu regeln. Sie konnte dabei vor allem auf die Unterstützung der liberalen Abgeordneten im Reichsrat zählen, die eine auch nur teilweise Beschneidung der Vorrechte des Katholizismus begrüßten. Die konservativen Abgeordneten, Repräsentanten der katholischen Kirche sowie die päpstliche Kurie betrachteten die entsprechenden Passagen im Gesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger dagegen als unzulässig, da sie mit dem Konkordat, das sie als einseitig nicht abänderbaren Staatsvertrag ansahen, in Widerspruch standen421. Zwar besaß die katholische Kirche, sieht man von den Virilstimmen von Bischöfen im Herrenhaus des Reichsrates und in den Landtagen ab, keine direkte politische Macht in Cisleithanien, sie konnte sich jedoch darauf verlassen, dass ihr Standpunkt vor allem von den konservativen Abgeordneten nachdrücklich vertreten wurde. Die Transformation der an sich konfessionellen Streitfrage in einen realpolitischen Konflikt war damit vorprogrammiert.

ℹ️a) Die „Maigesetze“

Die Verhandlungen im Reichsrat über die gesetzliche Neuregelung des Verhältnisses des Staates zur katholischen Kirche begannen bereits in der zweiten Jahreshälfte 1867. Dabei setzte sich der spätere Justizminister Herbst mit dem Vorschlag durch, mittels Spezialgesetzen nur jene Angelegenheiten neu zu regeln, die aufgrund des Widerspruchs zwischen dem Konkordat und den noch zu sanktionierenden Verfassungsgesetzen wieder in die Zuständigkeit des Staates fallen würden422. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass die Erstellung des von Mühlfeld alternativ vorgeschlagenen, umfassenden Religionsgesetzes423 zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde424. Faktisch scheute man jedoch auch davor zurück, durch einen Bruch des Konkordats, der im Fall einer vollständigen Neuregelung des Verhältnisses zur katholischen Kirche unvermeidlich gewesen wäre, das Episkopat und die konservativen politischen Kräfte im Land zu energischem Widerstand herauszufordern. Darauf wurden ab Oktober 1867 drei Gesetzesentwürfe im Abgeordnetenhaus eingebracht: Das Gesetz zur Wiederherstellung des Eherechts gemäß den Bestimmungen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs für Katholiken425, das Gesetz über das Verhältnis von Kirche und Schule426 sowie das Gesetz zur Regelung der interkonfessionellen Verhältnisse427. Alle drei Gesetzesentwürfe waren Gegenstand intensiver Debatten sowohl im Abgeordneten- als auch im Herrenhaus, wobei die liberale Stimmenmehrheit in beiden Kammern des Reichsrates grundsätzlich eine Garantie für ihre Annahme darstellte428. Dennoch waren die Gesetze bis zu einem gewissen Grad Kompromisslösungen, die manche Kernforderungen der Liberalen unberücksichtigt ließen. Einerseits stellte das Ehegesetz die Bestimmungen des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches in Ehesachen für Katholiken wieder her und legte darüber hinaus fest, dass ein Paar, dem ein geistlicher Seelsorger die Trauung verweigerte, auch vor den weltlichen Behörden eine gültige Ehe schließen konnte429. Andererseits fand die verpflichtende Zivilehe, deren Einführung gleichfalls von zahlreichen liberalen Abgeordneten gefordert worden war430, wegen des zu erwartenden Widerstandes der Geistlichkeit sowie der konservativen politischen Kräfte nicht den Weg in den Gesetzesentwurf. Von klerikaler Seite wurde die als „privilegiertes Konkubinat“431 bezeichnete Notzivilehe jedoch letztlich ebenso bekämpft wie das Schulgesetz, das die Aufsicht, die Gestaltung des Lehrplans und die Genehmigung der Schulbücher dem Staat überantwortete und der katholischen Kirche nur noch die Gestaltung des eigenen Religionsunterrichts zugestand. Zwar wurde der Kirche das Recht eingeräumt, eigene Schulen einzurichten, diese waren jedoch für Kinder aller Konfessionen zu öffnen und unterlagen, ebenso wie der Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen, der staatlichen Kontrolle432. Ebenso heikel war auch das Gesetz über die interkonfessionellen Verhältnisse, das für alle anerkannten Religionsgemeinschaften bestimmte Rechte und Pflichten festlegte, etwa im Bereich des Religionsbekenntnisses von Kindern aus konfessionell gemischten Ehen, des Glaubenswechsels sowie der Seelsorge gegenüber Angehörigen anderer Konfessionen433. Auch hier erblickte die katholische Kirche, nicht zuletzt in der Bestimmung, im Notfall auch Angehörigen anderer Glaubensrichtungen eine Bestattung auf katholischen Friedhöfen gestatten zu müssen, einen unangemessenen Eingriff in ihre Rechte434.

Neben dem Parlament beschäftigten die drei sogenannten „konfessionellen Gesetze“ auch die cisleithanische Regierung. So stand das Ehegesetz zwischen Jänner und Mai 1868 vier Mal auf der Tagesordnung des Ministerrates435, das Schulgesetz ebenfalls vier Mal436 sowie das interkonfessionelle Gesetz fünf Mal437. Gegenstand der Diskussion bildeten dabei sowohl die Gesetzesentwürfe selbst als auch die Haltung der Regierung zu den Verhandlungen im Reichsrat. Parallel zu den Beratungen über die Gesetzesentwürfe versuchte die Staatsführung jedoch auch, den sich abzeichnenden Konflikt mit dem Episkopat und dem Vatikan dadurch zu entschärfen, dass man die päpstliche Kurie um Verhandlungen zur Abänderung jener Punkte des Konkordats ersuchte, die den Staatsgrundgesetzen widersprachen438. Nicht zuletzt aufgrund des wenig zielgerichteten Vorgehens des Botschafters beim päpstlichen Stuhl, Albert Graf Crivelli, lehnte jedoch Papst Pius IX., unter dessen Federführung das Konkordat geschlossen worden war, die von Franz Joseph favorisierte Lösung einer Revision des Staatsvertrags rundweg ab439. Der cisleithanischen Regierung blieb somit im Frühjahr 1868 nur die Möglichkeit, beim Kaiser um die Sanktionierung der drei Gesetzesentwürfe anzusuchen, ohne dass die vom Monarchen explizit gewünschte einvernehmliche Lösung mit dem Papst erreicht worden war. Dass dieser Schritt einen Konflikt mit der katholischen Kirche auslösen würde, war dem Kabinett durchaus bewusst.

Franz Joseph selbst zeigte sich in der konfessionellen Frage gespalten, da einerseits das Konkordat im Jahr 1855 auf seinen Willen hin und in der von ihm gewünschten Form zustande gekommen war440, er jedoch andererseits als konstitutioneller Monarch verpflichtet war, die volle Durchsetzung der von ihm sanktionierten Verfassungsgesetze zu gewährleisten441. Dieser Zwiespalt kam auch dadurch zum Ausdruck, dass sich der Kaiser an den Beratungen im Ministerrat über die konfessionellen Gesetze, deren Inhalt seinen persönlichen Überzeugungen diametral widersprach, kaum beteiligte. So führte er lediglich bei einer einzigen Sitzung des Ministerrates im Frühjahr 1868, auf der das Verhalten der Regierung bei der Behandlung des interkonfessionellen Gesetzes im Reichsrat diskutiert wurde, den Vorsitz442, während er im gleichen Zeitraum drei Sitzungen leitete, bei denen das Wehrgesetz auf der Tagesordnung stand443. Die äußerst kritische Haltung des Monarchen gegenüber den drei Gesetzen, die er am 25. Mai 1868 sanktionierte, geht deutlich aus dem Protokoll des am gleichen Tag abgehaltenen Ministerrates hervor. Der Monarch betonte in seiner Ansprache an die Minister, die konfessionellen Gesetze primär aus Rücksicht auf die Staatsgrundgesetze sanktioniert zu haben und deutete zudem an, in kirchlichen Fragen keine weiteren Zugeständnisse machen zu wollen. Die von ihm in diesem Zusammenhang gemachte Bemerkung, „zu einem Bruch mit der Kirche werde Ich nimmermehr die Hand bieten, dessen dürfen Sie sich […] für versichert halten“444, zeigt deutlich, dass aus der Sicht Franz Josephs mit den konfessionellen Gesetzen eine rote Linie erreicht worden war, die er keinesfalls zu überschreiten gedachte. Tatsächlich wurden vom Kaiser in der Folge zwar noch mehrere Gesetze zur Regelung konfessioneller Fragen sanktioniert. Diese betrafen jedoch allesamt Angelegenheiten, die in den nach dem Monat ihrer Sanktionierung als „Maigesetze“ bezeichneten drei Rechtsnormen nicht oder nicht ausreichend geregelt waren, so etwa die Versöhnungsversuche bei gerichtlichen Ehescheidungen445, die Eheschließung zwischen Angehörigen verschiedener christlicher Konfessionen446, die Beweiskraft der von den jüdischen Geistlichen geführten Personenstandsmatriken447 sowie die Einrichtung von zivilen Personenstandsmatriken für Konfessionslose448. Alle anderen konfessionellen Gesetzesvorlagen, die eine Änderung des rechtlichen Status Quo in Religionsfragen bezweckten, darunter auch jener zur Einführung der verpflichtenden Zivilehe in Cisleithanien, fanden dagegen entweder keine Mehrheit im Abgeordnetenhaus oder scheiterten am Widerstand des Herrenhauses449.

ℹ️Nach dem Inkrafttreten der Maigesetze musste die cisleithanische Regierung dem zu erwartenden Widerstand der päpstlichen Kurie und des einheimischen Klerus begegnen. Der Vorschlag von Reichskanzler Beust, den konservativ-klerikalen Unterstaatssekretär im Ministerium des Äußeren Otto Freiherr von Rivalier von Meysenbug zur Vermittlung nach Rom zu entsenden, stieß dabei auf wenig Gegenliebe seitens des Kabinetts. Die auf die unglückliche Mission von Botschafter Crivelli Bezug nehmende Bemerkung von Unterrichtsminister Hasner gegenüber Beust, „nach Rom können wir doch nur zweierlei Leute schicken: solche, die uns dort verraten, oder solche, die man dort hinauswirft“450, zeigt deutlich die geringen Erfolgsaussichten, die man dem erneuten Verständigungsversuch mit dem Papst einräumte. Tatsächlich stand auch die Mission Meysenbugs von Anfang an unter keinem guten Stern. Der päpstliche Nuntius hatte bereits einen Tag nach ihrer Sanktionierung gegen die Maigesetze protestiert, was auf einer Sitzung des Ministerrates Anfang Juni 1868 zur Sprache kam451. Auch die Gespräche des Sondergesandten in Rom führten zu keinem Erfolg452. Die unnachgiebige Haltung insbesondere von Papst Pius IX. wurde am 22. Juni 1868 deutlich, als dieser in einer geheimen Sitzung des Kardinalskollegiums die Maigesetze Kraft seiner Autorität als abscheuliche, die Rechte und Autorität der Kirche verletzende Rechtsnormen bezeichnete, die samt den aus ihnen erwachsenden Folgen für immer nichtig und ungültig seien453.

Die Vehemenz, mit der die Kurie auf die Sanktionierung der konfessionellen Gesetze reagierte, erscheint vor dem Hintergrund, dass die inneren Rechts- und Besitzverhältnisse der katholischen Kirche in Cisleithanien nicht angetastet worden waren und zudem das Konkordat in weiten Teilen geltendes Recht blieb454, aus heutiger Sicht als unangemessen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die päpstliche Kurie in der Angelegenheit einen völlig anderen Rechtsstandpunkt einnahm als die Führung des Habsburgerreiches. Rom betrachtete das Konkordat nicht als einfachen, im Bedarfsfall modifizierbaren Staatsvertrag, sondern als zwischen dem Papst als Vertreter Gottes und dem Kaiser geschlossenen, unveränderlichen Pakt mit ewiger Gültigkeit, dem sich jegliches andere, vom Staat ausgehende Recht unterzuordnen habe. Von diesem Standpunkt aus konnten Gesetze, die in Widerspruch zu den Bestimmungen des Konkordats standen, keine Gültigkeit erlangen. Außerdem liegt auf der Hand, dass die katholische Kirche mit ihrem Anspruch auf Rechtgläubigkeit kein Interesse daran hatte, den übrigen Konfessionen Cisleithaniens gleichgestellt zu werden und zudem durch die Einschränkungen im Bereich des Schulwesens und der Ehegerichtsbarkeit Teile ihres gesellschaftlichen Einflusses einzubüßen. Während sich für die cisleithanische Regierung aus der päpstlichen Erklärung keine unmittelbaren Folgen ergaben, bildete diese jedoch für das Episkopat die Rechtfertigung, gegen die Maigesetze vorzugehen.

ℹ️b) Der Fall Rudigier

Grundsätzlich bemühte sich die Regierung sowohl vor als auch nach der Sanktionierung der Maigesetze um ein gutes Verhältnis zu den Bischöfen Cisleithaniens. So erwog man im Mai 1868, das Episkopat in einem Schreiben über den Inhalt der konfessionellen Gesetze zu informieren und dabei zu betonen, dass gegen den Fortbestand der geistlichen Ehegerichte als innerkirchliche Angelegenheit kein Einwand bestehe455. Die Verdammung der Maigesetze durch den Papst machte diese Bemühungen jedoch insofern zunichte, als mehrere Bischöfe darin die Rechtfertigung erblickten, den Gläubigen die Nichtbefolgung der entsprechenden Rechtsnormen zu empfehlen. Zunächst geschah dies jedoch nur mittels interner Weisungen an den Klerus zur Organisation des Widerstandes gegen die konfessionellen Gesetze. Dagegen besaß der Staat in Hinblick auf die in Artikel 3 des Konkordats festgeschriebenen Bestimmungen, denen zufolge die Bischöfe frei mit den Geistlichen und den Gläubigen verkehren durften456, keine Handhabe. Die schärfsten Formulierungen wählte dabei der Bischof von Linz, Franz Joseph Rudigier457, der gegenüber dem Klerus seiner Diözese unter anderem das Konkordat als zur Gänze weiterbestehend, die Zivilehe als Konkubinat und den Anspruch der Kirche auf die Volksschule als weiterhin aufrecht bezeichnete458. Dieses Verhalten bildete für die Regierung, die entschlossen war, in der Angelegenheit ihre Autorität zu behaupten, den Anlass, am Linzer Bischof ein Exempel zu statuieren.

Die Möglichkeit dazu schuf Rudigier selbst, indem er seine Ansichten zu den Maigesetzen in einem Hirtenbrief niederlegte, der von den Geistlichen im Rahmen des Gottesdienstes an die Gläubigen verlesen werden sollte. In diesem erläuterte er eingehend den Inhalt der drei konfessionellen Gesetze aus der Sicht der katholischen Kirche, wobei er den Gläubigen verklausuliert nahe legte, dass diese Rechtsnormen aufgrund ihres Widerspruchs zu den Lehren der Kirche nicht befolgt werden müssten459. Weil der Hirtenbrief in großer Stückzahl gedruckt wurde und sein Inhalt zudem für die Öffentlichkeit bestimmt war, bot sich für die Regierung die Möglichkeit, dagegen unter Bezugnahme auf die Bestimmungen des Pressegesetzes vorzugehen460. ℹ️Tatsächlich ordnete der Statthalter von Oberösterreich, der spätere Vorsitzende des Ministerrates Hohenwart461, dem gemäß des Pressegesetzes ein Vorabexemplar jeder Druckschrift vorgelegt werden musste462, am 12. September 1868 die Beschlagnahmung des noch nicht in Umlauf gebrachten Hirtenbriefes an. Der umgehende Protest Rudigiers gegen die Konfiskation wurde vom Obersten Gerichtshof am 20. Jänner 1869 in letzter Instanz abgewiesen463, woraufhin die Staatsanwaltschaft unter Bezugnahme auf § 28 des Pressegesetzes eine Untersuchung gegen den Bischof wegen des Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe gemäß § 65 des Strafgesetzbuches einleitete464. Ein Majestätsgesuch Rudigiers, in dem der Bischof um Schutz gegen die Verfügungen des Gerichts bat, bildete zwar den Gegenstand zweier Beratungen des Ministerrates465, blieb jedoch sonst ohne die vom Bischof erhoffte Wirkung. Nach längeren Streitigkeiten zwischen dem Landesgericht Linz und der Staatsanwaltschaft, ob tatsächlich ein Verfahren zu eröffnen war, entschied schließlich das Oberlandesgericht Wien am 21. April 1869, dass mit der Voruntersuchung zu beginnen und Rudigier zu einer Vernehmung vorzuladen sei. Der Bischof erschien jedoch nicht zu dem auf den 14. Mai 1869 angesetzten Termin, wobei er sein Fernbleiben schriftlich mit einer päpstlichen Weisung rechtfertigte, die ihm das Erscheinen vor einem weltlichen Gericht untersage466. Über diese Vorgänge berichtete Justizminister Herbst im Ministerrat am 22. Mai 1869, wobei er das Kabinett auch darüber informierte, dass das Landesgericht in Linz den Bischof unter Androhung einer Geldstrafe sowie der Erlassung eines Vorführungsbefehls aufgefordert habe, zu einem neuen Vernehmungstermin zu erscheinen. Dabei solle der Bischof auch über die angebliche Weisung des Papstes befragt werden, die nach Ansicht des Justizministers einen Eingriff in die Souveränitätsrechte des Kaisers und darüber hinaus eine Verletzung der Bestimmungen von Artikel 14 des Konkordats darstellte467. Insgesamt vertrat Herbst die Meinung, dass die Regierung in der Angelegenheit eine harte Linie vertreten müsse, da, „die Renitenz des Klerus jetzt eine ganz andere Gestalt annimmt, als sie früher hatte, wo es sich meist um doktrinäre Auslegungen handelte“468.

ℹ️Tatsächlich wurde Rudigier, der auch der zweiten Vorladung keine Folge leistete, am 5. Juni 1869 zwangsweise dem Gericht vorgeführt und anschließend das Strafverfahren gegen ihn eröffnet. Versuche anderer cisleithanischer Bischöfe, in der Sache zu vermitteln, blieben erfolglos. So entschied der Ministerrat in seiner Sitzung am 5. Juli 1869, auf ein entsprechendes Schreiben des Wiener Erzbischofs Joseph Othmar Kardinal Rauscher469, in dem dieser für Rudigier intervenierte, nicht im Detail einzugehen, da, so das Argument von Ministerpräsident Taaffe, die Angelegenheit gerichtsanhängig sei und sich daher nicht für eine schriftliche Beantwortung eigne. Gleichzeitig verständigte sich das Kabinett jedoch darauf, Rauscher zu bitten, von einer Veröffentlichung seines Schreibens in den Zeitungen bis zum Vorliegen eines Urteils in dem Fall Abstand zu nehmen, da „eine solche frühere Verlautbarung voraussichtlich den der Absicht des Kardinals entgegengesetzten Eindruck hervorrufen würde“470. Letztlich verurteilte ein Geschworenengericht471 am Landesgericht Linz am 12. Juli 1869 Bischof Rudigier wegen des versuchten Verbrechens der Störung der öffentlichen Ruhe bei einer Strafandrohung von einem bis fünf Jahren schwerem Kerker nach der Berücksichtigung zahlreicher Milderungsgründe zu insgesamt 14 Tagen Haft und zum Ersatz der Prozesskosten. Nachdem Rudigier zu dem Prozess nicht erschienen war, trat das Urteil aber nicht sofort in Kraft, sondern erst nach Ablauf einer achttägigen Frist472. Bereits einen Tag nach der Urteilsverkündung teilte jedoch Franz Joseph Justizminister Herbst in einem Handschreiben mit, dass er dem Bischof aus Gnade „die über ihn verhängte 14 tägige Kerkerstrafe, sowie die rechtlichen Folgen dieser Verurteilung“ nachgesehen habe473. Rudigier, der sich noch am 10. Juli beim Kaiser bitter über die ihm zuteilgewordene Behandlung beklagt hatte474, bedankte sich umgehend und mit überschwänglichen Worten für seine Begnadigung475. Gleichzeitig erklärte der Bischof in seinem auf den 17. Juli 1869 datierenden Schreiben an Franz Joseph jedoch auch, weiterhin auf dem prinzipiellen Standpunkt zu verharren, kein Unrecht begangen zu haben, weshalb er trotz der Begnadigung beim Obersten Gerichtshof eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen seine Verurteilung einlegte476. Unmittelbar vor der für 20. August 1869 anberaumten Verhandlung des Obersten Gerichtshofs zog Rudigier seine Beschwerde jedoch ohne Angabe von Gründen zurück477, womit das Urteil aufrecht und die Nachsicht seiner Folgen ein Gnadenakt des Monarchen blieb. Das Vorgehen der Regierung, auch wenn es letztlich für Rudigier folgenlos blieb, diente offensichtlich als Warnung an den Klerus, von weiteren Kraftproben mit der Staatsmacht Abstand zu nehmen.

ℹ️c) Die konfessionelle Gesetzgebung in der Praxis

Sieht man von der unnachgiebigen Haltung des Papstes sowie einiger cisleithanischer Bischöfe ab, stieß die Umsetzung der konfessionellen Gesetze insgesamt auf deutlich weniger Widerstand als aufgrund ihres langwierigen und komplizierten Zustandekommens zu erwarten gewesen war. So zeigte sich der Großteil der Bevölkerung gegenüber den neuen Rechtsnormen überaus aufgeschlossen, was auch in zahlreichen Dankesadressen von Gemeindevertretungen an den Ministerrat anlässlich des ersten Jahrestages der Sanktionierung der konfessionellen Gesetze zum Ausdruck kam478. Selbst der den Maigesetzen bekanntlich kritisch gegenüberstehende Kaiser konnte letztlich dadurch zufriedengestellt werden, dass die Regierung keine weiteren Vorstöße in kirchlichen Angelegenheiten mehr unternahm. ℹ️Der vom Monarchen anlässlich der Sanktionierung der Gesetze am 25. Mai 1868 im Ministerrat geäußerte Wunsch, das Kabinett möge, wenn nötig, energisch gegen die Herabwürdigung der katholischen Kirche in der Presse vorgehen, wurde pflichtgemäß umgesetzt. Während noch im Juni und Juli 1868 als kirchenfeindlich bezeichnete Beiträge der Satirezeitschrift „Figaro“ dreimal den Ministerrat beschäftigten479, gingen die Staatsanwaltschaften später offenbar so rigoros gegen jegliche kirchenkritischen Veröffentlichungen vor480, dass sich das Kabinett kaum mehr mit der Frage beschäftigen musste. Als im Juli 1869 doch noch einmal ein als unangemessen empfundener Beitrag über die katholische Kirche den Ministerrat beschäftigte, war der Grund dafür nicht der Artikel selbst, sondern das Verhalten der Justizbehörden in der Angelegenheit. Die Staatsanwaltschaft hatte im Fall eines am 6. Juni 1869 in der vom Grazer Arbeiterverein „Vorwärts“ herausgegebenen Zeitschrift „Freiheit“ erschienenen kirchenkritischen Artikels entgegen der üblichen Praxis entschieden, nicht gegen die Herausgeber des Blattes vorzugehen. Der Minister für Kultus und Unterricht, der die Angelegenheit am 10. Juli 1869 im Ministerrat zur Sprache brachte, kündigte daraufhin an, der Staatsanwaltschaft die Weisung erteilen zu lassen, gegen die seiner Meinung nach ohnehin übel beleumundete Zeitung im Wiederholungsfall sofort Anklage zu erheben481. Nach dieser Sitzung wurden bis Ende 1871 keine die katholische Kirche berührenden Presseangelegenheiten mehr im Ministerrat besprochen.

ℹ️Auch die praktische Umsetzung der Maigesetze selbst lief weitgehend reibungslos und erforderte nur selten eine Einflussnahme des Kabinetts. Zwar gelangte das interkonfessionelle Gesetz nach seiner Sanktionierung noch dreimal auf die Tagesordnung des Ministerrates, wobei jedoch in allen Fällen lediglich die Frage der Auslegung einzelner Artikel des Gesetzes in nicht eindeutig geregelten Grenzfällen zur Debatte stand482. Das Schulgesetz wurde dagegen nach dem Mai 1868 nicht mehr im Ministerrat behandelt, was auch damit zusammenhing, dass die Diskussion des Verhältnisses von Kirche und Schule in die Debatte des Kabinetts um das Volksschulgesetz mit einfloss. Nur das Ehegesetz bot noch einige Zeit nach seiner Sanktionierung Anlass zu regelmäßigen Diskussionen. Den Grund dafür bildete vor allem die Bestimmung, dass alle bereits laufenden Scheidungsprozesse von Katholiken von den geistlichen Ehegerichten an die staatlichen Gerichte überzugehen hatten483. Ein ebenfalls im Ministerrat zur Sprache gekommener Erlass des Justizministeriums legte zudem fest, dass die kirchlichen Ehegerichte die über diese Fälle angelegten Akten den staatlichen Stellen ausfolgen mussten484. Dieser Anordnung kamen jedoch zahlreiche geistliche Würdenträger nicht nach485, worauf die Gerichtsbehörden mit Strafdrohungen reagierten. Wie wenig diese Maßnahmen letztlich geeignet waren, den gesetzlichen Bestimmungen zur Geltung zu verhelfen, zeigt der im Ministerrat vom 2. August 1869 zur Sprache gekommene Fall des Fürsterzbischofs von Brixen, Vincenz Gasser. Dieser hatte, vom Kreisgericht Feldkirch unter Androhung einer Geldstrafe von 1.000 Gulden zur Herausgabe eines Ehegerichtsakts aufgefordert, dem Gericht lapidar mitgeteilt, den betreffenden Akt vernichtet zu haben. Dass Justizminister Herbst den Fall als beispielhaft dafür bezeichnete, „wie weit von Seiten einzelner Mitglieder des Episkopats in der Renitenz gegen die Staatsgrundgesetze gegangen werde“486, verwundert vor dem Hintergrund ähnlicher, gleichfalls im Ministerrat besprochener Vorfälle487 nicht. Der Konflikt zwischen der Regierung und dem Episkopat über die Ehegerichtsbarkeit führte auch zu einer Verunsicherung der Bevölkerung, welche den Eindruck erhielt, dass die kirchlichen Ehegerichte weiter Bestand hatten und staatlich rechtswirksame Urteile fällen durften. Eine entsprechende parlamentarische Interpellation wurde darauf von der Regierung mit einer Erklärung über die Gültigkeit des Ehegesetzes und die alleinige Zuständigkeit staatlicher Gerichte in Scheidungsangelegenheiten beantwortet488. Der Grund, dass das Ehegesetz nach dem August 1869 nicht mehr auf der Tagesordnung des Ministerrates auftauchte, lag letztlich wohl weniger daran, dass der Klerus die neuen Bestimmungen akzeptiert hatte, als an der Tatsache, dass die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begonnenen Scheidungsverfahren nunmehr abgeschlossen waren.

ℹ️d) Der Weg zur Aufhebung des Konkordats

Die öffentliche Meinung brachte die den staatlichen Gesetzen entgegenstehenden Eigenmächtigkeiten eines Teils des Episkopats und der Geistlichkeit mit der weiteren Gültigkeit des Konkordats in Cisleithanien in Zusammenhang. Tatsächlich hatten die Staatsgrundgesetze nur einen kleinen Teil des Vertragswerks außer Kraft gesetzt, während die übrigen Vorrechte der katholischen Kirche, vor allem hinsichtlich der geistlichen Pfründe sowie der Autonomie und Immunität kirchlicher Einrichtungen, unangetastet blieben489. Vor allem von liberaler Seite wurde daher im Reichsrat und in der Presse wiederholt eine Kündigung des Konkordats und eine gänzliche Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Kirche gefordert490. Bestimmte als nicht mehr zeitgemäß betrachtete Privilegien der Kirche, auch wenn diese zum Teil gar nicht mit dem Konkordat in Zusammenhang standen, wurden dabei zum Anlass genommen, eine Kündigung des Vertragswerks zu verlangen. Starken Auftrieb erhielt die Bewegung im Juli 1869, als von den Staatsbehörden in einem Krakauer Karmeliterinnenkloster eine ‚geisteskranke‘ Nonne entdeckt wurde, die von ihren Mitschwestern 20 Jahre lang unter menschenunwürdigen Bedingungen gefangen gehalten worden war491. Die Aufdeckung der Affäre, die durch eine anonyme Anzeige ins Rollen gekommen war492, erfolgte unmittelbar nach dem Ende des Prozesses gegen Bischof Rudigier, der die öffentliche Meinung bereits zu Ungunsten des Klerus beeinflusst hatte. Dieser Umstand war mit ein Grund für den in vielen Zeitungen losbrechenden Proteststurm, der sich gegen die katholische Kirche im Allgemeinen sowie das Konkordat, das mit dem in Krakau verübten Verbrechen in Zusammenhang gebracht wurde493, im Speziellen richtete. Der Umstand, dass die Klosterschwestern im Zuge ihrer Befragung ausgesagt hatten, dass die Inhaftierung der Nonne von dem in Rom ansässigen Ordensgeneral angeordnet worden sei und auch der Krakauer Bischof, Anton Gałecki, von der Angelegenheit gewusst habe494, setzte die Regierung unter Zugzwang.

Der Umstand, dass das Konkordat zahlreiche Passagen enthielt, die der Dezemberverfassung und anderen staatlichen Gesetzen widersprachen, war der cisleithanischen Regierung durchaus bewusst. ℹ️Die Maigesetze hatten zwar einige Teilbereiche des Verhältnisses von Staat und Kirche in verfassungskonformer Weise neu geregelt, die Regierung unternahm jedoch aufgrund des zu erwartenden Widerstandes des Kaisers sowie konservativer politischer Kräfte keine weiteren Versuche, auch die übrigen Widersprüchlichkeiten im Wege der Gesetzgebung zu beseitigen. Stattdessen beschränkte man sich darauf, Gegensätze zwischen dem Konkordat und den staatlichen Gesetzen nur im Anlassfall zu behandeln und auszuräumen. Minister für Kultus und Unterricht Hasner hatte am 7. Juni 1869, also noch vor dem Bekanntwerden der Vorgänge in Krakau, eine Verordnung erlassen, die festhielt, dass ein Bischof zwar das Recht habe, einen Geistlichen in eine kirchliche Korrektionsanstalt einzuweisen, dieser jedoch in Hinblick auf das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit495 nicht zum Verbleib in derselben gezwungen werden könne496. Auch die Mitwirkung staatlicher Organe an der Vollstreckung einer vom Bischof angeordneten Einweisung von Priestern in eine geistliche Haftanstalt wurde, obwohl im Konkordat festgeschrieben497, für die Zukunft explizit ausgeschlossen. Den unmittelbaren Anlass für die Verordnung hatte, wie Justizminister Herbst in einer Sitzung des Ministerrates im August 1869 erläuterte, das Vorgehen eines Männerklosters in Tarnów gebildet, das offenbar unter Berufung auf das Konkordat die Unterstützung der politischen Behörden zur Inhaftierung eines Priesters angefordert hatte498. Der Vorfall in Krakau zeigte jedoch deutlich, dass diese Verordnung nicht weit genug ging, da sie Angehörige von Ordensgemeinschaften, die nicht ordiniert waren und damit dem geistlichen Stand im engeren Sinn nicht angehörten, ausschloss. Daher wurde im Ministerrat am 2. August 1869, auf dem der Vorfall im Karmeliterinnenkloster ausführlich besprochen wurde, beschlossen, eine weitergehende, vom Minister des Innern Giskra entworfene Verordnung in der Angelegenheit der geistlichen Korrektionsanstalten herauszugeben. Diese sollte präzisieren, dass sämtliche Ordensangehörige beiderlei Geschlechts nicht auf der Grundlage kirchlicher Bestimmungen gegen ihren Willen festgesetzt werden durften und darüber auch in Kenntnis zu setzen waren. Darüber hinaus wurde den Bischöfen die Pflicht auferlegt, die Staatsbehörden über Zahl, Namen und voraussichtliche Haftdauer der sich in freiwilliger Verwahrung befindlichen Personen in Kenntnis zu setzen. Für den Fall der Weigerung, dieser Verpflichtung nachzukommen, wurde eine Intervention der staatlichen Behörden in Aussicht gestellt. Keine Zustimmung im Kabinett fand dagegen der vom Justizminister mehrfach gemachte Vorschlag, ein staatliches Aufsichtsrecht über die Klöster einzuführen499. Nach einigen Korrekturwünschen des Kaisers am Entwurf, die im Ministerrat am 6. August 1869 zur Sprache kamen500, wurde die entsprechende gemeinsame Verordnung des Ministers für Kultus und Unterricht, des Ministers des Innern und des Justizministers schließlich am 7. August 1869 vom Kaiser genehmigt und am folgenden Tag zusammen mit der ursprünglichen Verordnung vom 7. Juni 1869 im Reichsgesetzblatt publiziert501. Ebenfalls am 6. August beschloss der Ministerrat darüber hinaus, den Karmeliterinnen in Krakau die bisher gewährte staatliche Unterstützung in der Höhe von 1800 Gulden jährlich ersatzlos zu streichen502.

ℹ️Das Vorgehen der Regierung in der Affäre um das Kloster in Krakau wurde sowohl in der Presse als auch in der Historiografie vielfach kritisiert, da kein einziger kirchlicher Würdenträger für die Vorgänge zur Verantwortung gezogen wurde. Das Kabinett musste sich zudem den Vorwurf gefallen lassen, bekannte Missstände zu lange ignoriert und nach dem Bekanntwerden des Vorfalls lediglich eine Symptombekämpfung vorgenommen zu haben. Auch Handelsminister Plener bemerkte dazu in der Ministerratssitzung am 2. August 1869, dass es ihm nicht zusage, „wenn die Regierung mit ihren Maßregeln der Zeitungspresse folge, wie es in dem vorliegenden Falle den Anschein haben würde“503. Allerdings befand sich die Regierung in der Frage der kirchlichen Angelegenheiten generell in einer schwierigen Position. Einerseits war man einem starken Druck der liberalen politischen Kräfte sowie eines großen Teils der Bevölkerung ausgesetzt, die für eine Beseitigung der Sonderstellung sowie der Vorrechte der katholischen Kirche eintraten. So wurden zwischen Mai 1868 und Mai 1870 im Abgeordnetenhaus des Reichsrates insgesamt 31 Petitionen zum Konkordat eingebracht, wobei der Großteil die Forderung auf dessen Aufhebung beinhaltete504. Zusätzlich gingen Anträge einzelner Reichsratsabgeordneter sowie von politischen Vereinigungen ein, die gleichfalls eine Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Kirche forderten und mit denen sich der Ministerrat insgesamt fünf Mal beschäftigte505. Andererseits erschien der Regierung, der das Weiterbestehen des Sonderstatus der katholischen Kirche mehrfach Probleme bereitete, die Umsetzung der Forderungen der Liberalen sowie der Öffentlichkeit lange Zeit politisch nicht umsetzbar. Die Kündigung des Konkordats als einseitigen Bruch eines internationalen Vertrags sollte aus außenpolitischen Rücksichten vermeiden werden. Außerdem wollte der Kaiser trotz der bekannten, sich für die Staatsmacht aus dem Vertragswerk ergebenden Probleme einen Bruch mit dem Papst vermeiden und hoffte weiterhin, dass die Verhandlungen mit der Kurie über die Abänderung des Konkordats doch noch zum Erfolg führen könnten506. Vor diesem Hintergrund bot sich für das Kabinett nur die Möglichkeit, die Widersprüche zwischen dem Konkordat und den Staatsgesetzen durch Spezialgesetzgebung und auf dem Verordnungsweg auszuräumen und darüber hinaus auf eine günstige Veränderung der politischen Verhältnisse zu hoffen.

Diese Gelegenheit ergab sich ein Jahr nach den Affären rund um Bischof Rudigier und das Krakauer Kloster, als sich Papst Pius IX. am 18. Juli 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil in einem Dogma als für in Glaubensfragen unfehlbar erklärte507. Auf einem zwei Tage später unter Vorsitz des Kaisers abgehaltenen Ministerrat, an dem neben den Ministerpräsidenten beider Teile der Habsburgermonarchie, Potocki und Andrássy, ausschließlich der ungarische Kultusminister József Eötvös508 und der cisleithanische Minister für Kultus und Unterricht Stremayr teilnahmen509, stellte letzterer den Antrag, das Konkordat für aufgehoben zu erklären510. Stremayr argumentierte damit, dass sich durch die Unfehlbarkeitserklärung die Rechtspersönlichkeit des Papstes geändert habe, die nunmehr mit dem eigentlichen Unterzeichner des Vertragswerks, dem fehlbaren Papst, ungeachtet der Tatsache, dass es sich um dieselbe Person handle, nicht identisch sei. Dieser Wegfall eines Vertragspartners habe das Konkordat erlöschen lassen, wodurch es nicht mehr notwendig sei, dieses formell zu kündigen, sondern nur noch dessen Aufhebung der päpstlichen Kurie mitzuteilen511. Dieser Vorgehensweise stimmten der Kaiser und der ungarische Ministerpräsident Andrássy sowie nachträglich auch Reichskanzler Beust zu, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven. Während der Kaiser mit der Lösung einverstanden war, weil damit ein gänzlicher Bruch mit Rom vermieden werden konnte, erhoffte sich Beust von der Beseitigung des Konkordats größeren Handlungsspielraum in der Außenpolitik, insbesondere gegenüber den süddeutschen Staaten512. Andrássy nahm in der Angelegenheit formal eine neutrale Haltung ein, weil das Konkordat, da es ohne Befassung des ungarischen Landtags beschlossen worden sei, in Ungarn ohnehin nie Gültigkeit gehabt habe513. Die Argumentation Stremayrs bezeichnete er jedoch als stichhaltig und befürwortete, in der Angelegenheit wie vorgeschlagen zu verfahren514. Auf zwei Sitzungen des Ministerrates am 21. sowie am 23. Juli 1870 wurde daraufhin das weitere Vorgehen der cisleithanischen Regierung vorbereitet. Da das Abgeordnetenhaus per kaiserlichem Patent am 25. Mai 1870 zur Vornahme von Neuwahlen aufgelöst worden war515, blieb nur die Möglichkeit, die Aufhebung des Konkordatsgesetzes durch eine Verordnung gemäß § 14 des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung durchzuführen516. Zwar war der Kaiser mit dieser Vorgehensweise einverstanden, jedoch weigerte sich Ministerpräsident Potocki unter Hinweis auf seinen katholischen Glauben, die Verordnung wie notwendig mit zu unterzeichnen. Den Memoiren Stremayrs zufolge wies Potocki auch den Vorschlag von Innenminister Taaffe, der Ministerpräsident solle Urlaub nehmen und ihn als seinen Stellvertreter die Verordnung unterzeichnen lassen, zurück und bot statt dessen seine Demission an517. Um eine Regierungskrise zu vermeiden, diskutierte das Kabinett auf einer weiteren Sitzung am 29. Juli 1870518 daraufhin über Möglichkeiten, wie die Aufhebung des Konkordats bewerkstelligt werden konnte, ohne den Ministerpräsidenten zu involvieren. Auf zwei am folgenden Tag abgehaltenen Sitzungen des Ministerrates wurde die von der Regierung vorgeschlagene Vorgehensweise vom Kaiser, der auf der zweiten Konferenz den Vorsitz führte, offenbar approbiert und anschließend vom Kabinett in ihren Details festgelegt519. ℹ️Am 31. Juli 1871 meldete die Wiener Zeitung, dass die Regierung zu dem Ergebnis gekommen sei, das Konkordat wäre unter den geänderten Bedingungen nicht mehr aufrecht zu erhalten. Reichskanzler Beust habe bereits Schritte gesetzt, um die Aufhebung des Konkordats dem päpstlichen Stuhl bekannt zu geben. Darüber hinaus habe der Kaiser den Minister für Kultus und Unterricht beauftragt, Gesetzesvorlagen zur Neuregelung des Verhältnisses des Staates zur katholischen Kirche vorzubereiten520. Am 10. August 1870 veröffentlichte die Wiener Zeitung schließlich das inhaltlich mit dem Artikel vom 31. Juli weitgehend übereinstimmende Handschreiben Franz Josephs an Stremayr521, das nur vom Minister für Kultus und Unterricht selbst gegengezeichnet war. Außerdem publizierte die Zeitung einen Auszug aus dem au. Vortrag Stremayrs mit den wichtigsten Argumenten des Ministers für die Aufhebung des Konkordats522. Damit waren die letzten auf dem Konkordat beruhenden Sonderrechte der katholischen Kirche in Cisleithanien beseitigt. Die im kaiserlichen Handschreiben angekündigte gesetzliche Neuregelung des Verhältnisses von Staat und Kirche ließ dagegen noch längere Zeit auf sich warten. Sie erfolgte erst gemeinsam mit der formellen, endgültigen Aufhebung des Konkordats im Mai 1874523.

ℹ️e) Die Altkatholiken

Die Unfehlbarkeitserklärung des Papstes vom 18. Juli 1870 hatte noch weitere Auswirkungen, die über die Frage der fortgesetzten Gültigkeit des Konkordats deutlich hinausgingen. In Cisleithanien und in den deutschen Staaten formierte sich schon bald nach der Verkündung des Dogmas innerkirchlicher Widerstand gegen die gesteigerte Machtvollkommenheit des Papstes, der seinen stärksten Ausdruck in dem vom Münchner Stiftspropst Ignaz von Döllinger im März 1871 formulierten „altkatholischen Standpunkt“ fand. In Cisleithanien wurde Döllingers Schreiben vor allem von dem Wiener Weltpriester Alois Anton rezipiert, der im April einen „Aufruf an das katholische Volk“ verfasste. Darin forderte er die Wiederherstellung des Kirchenwesens, wie es bis zum Ersten Vatikanischen Konzil Bestand gehabt hatte. Im Sommer 1871 begannen Anton und andere Geistliche mit dem Aufbau von altkatholischen Aktionskomitees, die auf die Bildung eigenständiger Gemeinden und den Aufbau einer eigenen Seelsorge abzielten524. Für den Staat gab es zu diesem Zeitpunkt noch keinen Grund, sich in die Angelegenheit einzuschalten, da das Staatsgrundgesetz über die Rechte der Staatsbürger die Glaubensfreiheit festschrieb und den Angehörigen nicht anerkannter Religionsgemeinschaften die häusliche Religionsausübung gestattete525. Mit dem Beschluss des Wiener Gemeinderats vom 6. Oktober 1871, den „antivatikanischen Katholiken“ die Salvatorkapelle im Rathaus zur Abhaltung von Gottesdiensten zur Verfügung zu stellen und der daraufhin erfolgten Untersagung gottesdienstlicher Handlungen in der Kapelle (Lokalinterdikt) durch den Wiener Erzbischof Kardinal Rauscher526 war jedoch absehbar, dass die Regierung nicht umhin kommen würde, in der Angelegenheit Position zu beziehen.

ℹ️Das erste Mal wurden die Altkatholiken am 9. Oktober 1871 zum Gegenstand einer Debatte im Ministerrat. Den Ausgangspunkt bildete eine Mitteilung des Ministers für Kultus und Unterricht Jireček, der die anderen Minister darüber informierte, dass die evangelische Gemeinde AB Wien bei der niederösterreichischen Statthalterei angefragt habe, ob sie den Altkatholiken eine Kirche für die Abhaltung von Gottesdiensten überlassen dürfe. Jireček vertrat den Standpunkt, dass sich die Regierung auf keine Entscheidung in der Frage einlassen dürfe, da die Altkatholiken nicht aus der katholischen Kirche ausgetreten wären und dieser somit weiter angehören würden. Darum handle es sich um einen innerkirchlichen Konflikt, in den sich die Regierung nach den Bestimmungen der Staatsgrundgesetze nicht einmischen dürfe. Dieser Ansicht stimmten die übrigen Minister im Wesentlichen zu, wobei Justizminister Habietinek noch ergänzte, dass die Altkatholiken zwar vom konfessionellen Standpunkt aus keine Katholiken mehr wären, vom staatlichen Standpunkt betrachtet jedoch der katholischen Kirche weiter angehören würden, da sie aus dieser weder ausgetreten wären noch eine neue Religionsgemeinschaft gegründet hätten. Auf Antrag von Finanzminister Holzgethan erfolgte der Beschluss, der Statthalterei mitzuteilen, dass die Regierung aufgrund der Bestimmungen von Artikel 14–16 des Grundgesetzes über die Rechte der Staatsbürger nicht in der Lage sei, in der Angelegenheit eine Entscheidung zu treffen527.

Auf dieser Position verharrte das Kabinett auch, als auf der nächsten Sitzung des Ministerrates am 14. Oktober 1871 die Frage der Altkatholiken erneut zur Sprache kam. Den Anlass bildete eine Beschwerde von Kardinal Rauscher gegen die Überlassung der Salvatorkapelle an die Altkatholiken. Der Minister für Kultus und Unterricht schlug unter Berufung auf die vorangegangene Sitzung vor, dem Kardinal mitzuteilen, dass die Altkatholiken aus staatlicher Sicht Angehörige der katholischen Kirche seien und es sich bei dem Konflikt folglich um eine innerkirchliche Angelegenheit handle, und man es daher der Kirche überlassen müsse, entsprechende Maßnahmen zu treffen. Der Vorsitzende des Ministerrates Hohenwart ergänzte dazu, dass die eigentliche Frage nicht die Benutzung der Kapelle, sondern die Frage sei, ob Anton, der Leiter der altkatholischen Gemeinde Wiens, berechtigt sei, Messen zu lesen. Darüber habe jedoch der Kardinal selbst zu entscheiden. Die Regierung habe aber keinesfalls das Recht, Anton am Abhalten von Gottesdiensten zu hindern528. Diese Position wurde über Beschluss des Ministerrates hin Kardinal Rauscher mitgeteilt.

Das Kabinett sah sich jedoch wenig später gezwungen, von seiner passiven Haltung in der Angelegenheit abzurücken, nachdem altkatholische Seelsorger damit begonnen hatten, Tätigkeiten auszuüben, die gesetzlich dem Staat oder einer anerkannten Religionsgemeinschaft vorbehalten waren529. Am 15. November 1871 berichtete der Leiter des Ministeriums des Innern Wehli in der Sitzung des Ministerrates darüber, dass Anton eine Trauung vorgenommen habe, was problematisch sei, da er kein ordentlicher Seelsorger im Sinne des Gesetzes und damit nicht berechtigt sei, eine rechtsgültige Eheschließung durchzuführen. Aus demselben Grund stünde ihm auch das Recht zur Matrikenführung nicht zu. Dem pflichtete auch der Leiter des Ministeriums für Kultus und Unterricht Fidler bei. Er betonte zwar die Richtigkeit des von der Regierung in dieser Frage bisher eingenommenen Standpunkts, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass altkatholische Seelsorger weder berechtigt wären, Trauungen vorzunehmen, noch Geburts-, Heirats- und Sterberegister zu führen. Der Leiter des Justizministeriums Mitis fügte hinzu, dass Auszüge aus den Matriken nach dem Gesetz öffentliche Urkunden wären, zu deren Ausstellung Anton nicht berechtigt sei. Eine vom Minister für Galizien Grocholski vorgeschlagene strafrechtliche Verfolgung des Priesters lehnte die Konferenz jedoch wegen der geringen Erfolgsaussichten ab. Einigkeit herrschte dagegen darüber, dass die Regierung zwar nicht von ihrem Standpunkt, es handle sich um eine innerkirchliche Angelegenheit, abrücken solle, im Sinne der Verantwortung der Staatsmacht jedoch zur Verhinderung der Schädigung öffentlicher und privatrechtlicher Interessen zeitnah tätig werden müsse. Der nunmehrige Vorsitzende des Ministerrates Holzgethan beauftragte daraufhin die Leiter des Ministeriums des Innern, des Justizministeriums sowie des Ministeriums für Kultus und Unterricht, die dafür notwendigen Schritte zu setzen und den Ministerrat darüber so bald wie möglich zu informieren530.

ℹ️Die Auseinandersetzungen zwischen der altkatholischen Gemeinde, die sich als Fortsetzung der vor dem Ersten Vatikanischen Konzil bestandenen katholischen Kirche verstand, und der Staatsführung, welche die Altkatholiken in Ermangelung eines formellen Kirchenaustritts weiterhin als Katholiken betrachtete, dauerte noch mehrere Jahre an531. Erst mit dem 1874 in Kraft getretenen Gesetz über die Anerkennung von Religionsgemeinschaften legte der Staat die Rahmenbedingungen für die Legitimation bisher nicht anerkannter Konfessionen fest, wobei den Gläubigen das Recht zugestanden wurde, auch ohne Austritt aus ihrer bisherigen Kirche eine neue Religionsgemeinschaft zu gründen532. Auf Basis dieses Gesetzes sprach das Ministerium für Kultus und Unterricht am 18. Oktober 1877 die Anerkennung der altkatholischen Kirche aus533. Am 8. November gleichen Jahres räumte ihr eine Verordnung des Ministerium des Innern auch das Recht zur eigenständigen Führung von Geburts-, Ehe- und Sterberegistern ein534.

Infrastruktur und Staatseigentum

ℹ️Die Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs in Österreich-Ungarn, die 1867 ihren Anfang genommen hatte, setzte sich in den folgenden Jahren fast nahtlos fort535. Die bedeutende Investitionstätigkeit sowohl von Einzelpersonen als auch von in- und ausländischen Finanzinstituten536 floss zu einem großen Teil in den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, der durch das Kriegsjahr 1866 sowie die zuvor herrschende Geldknappheit längere Zeit stagniert hatte. Im Fokus der Investitionen stand der Bau neuer und die Erweiterung bestehender Eisenbahnlinien, deren Errichtung bereits seit den 1850er Jahren einen deutlichen, positiven Effekt auf die Wirtschaft der Habsburgermonarchie ausgeübt hatte537. Der Bahnbau wirkte zum einen stimulierend auf mehrere Wirtschaftszweige wie die Schwerindustrie und das Bauwesen, da für den Aufbau und Ausbau des Schienennetzes große Mengen an Material sowie entsprechend spezialisierte Arbeitskräfte erforderlich waren. Zum anderen bedeutete die verkehrstechnische Erschließung bisher abseits gelegener Regionen die Öffnung derselben für den nationalen sowie internationalen Markt und ermöglichte die volle Ausnutzung der personellen und materiellen Ressourcen für die nationale Ökonomie, was in der Regel mit einem wirtschaftlichen Aufschwung der jeweiligen Gebiete verbunden war538. Darüber hinaus hatte der Krieg mit Preußen 1866 den Verantwortlichen jene Versäumnisse vor Augen geführt, die in den zurückliegenden Jahren beim Ausbau der im Kriegsfall benötigten sogenannten strategischen Bahnen gemacht worden waren539. Der erwartete wirtschaftliche Effekt und die militärische Notwendigkeit waren für die cisleithanische Regierung Anfang 1868 die ausschlaggebenden Gründe, den Ausbau des Bahnnetzes stärker als bisher zu fördern und voranzutreiben.

ℹ️Zugleich bemühte sich die Regierung jedoch auch um die Sanierung der zerrütteten Staatsfinanzen540. Die Grundlage dafür stellte eine im Herbst 1866 vom niederländischen Finanzminister Pieter Philip van Bosse im Auftrag Franz Josephs erstellte Denkschrift dar, die zur Sanierung des Staatsbudgets neben einer deutlichen Reduktion der Militärausgaben auch den Verkauf von Staatsdomänen sowie die Aufhebung der staatlichen Monopole auf Salz und Tabak empfahl541. Während die Monopole nicht angetastet wurden, erklärte sich der Kaiser mit dem Verkauf von unbeweglichen Staatsgütern wegen ihrer angeblich geringen Produktivität einverstanden. Dabei blieb die Möglichkeit einer verbesserten Bewirtschaftung der in Frage stehenden Objekte zur Ertragssteigerung ebenso unberücksichtigt wie der Umstand, dass die Staatsverwaltung aus den Gütern und Werken bisher gratis beliefert wurde, was nach einem Verkauf nicht mehr der Fall sein würde. Die Verhandlungen zwischen Regierung und Reichsrat rund um den Ausgleich sowie die Dezemberverfassung führten letztlich dazu, dass die Frage des systematischen Verkaufs des unbeweglichen Staatseigentums in großem Stil vorerst zurückgestellt wurde. Erst nach der Neuordnung des Staatswesens, die zumindest in ihren Grundzügen Anfang 1868 abgeschlossen war, begann die Regierung mit den legislativen Vorarbeiten für die Aktion.

ℹ️a) Der Verkauf von Staatseigentum

Die ersten Verkäufe betrafen kleinere Objekte von minderem Wert, deren Veräußerung in einem Bericht des Budgetausschusses des Abgeordnetenhauses als „den Charakter der Zufälligkeit“542 in sich tragend kritisiert wurde. Gleichzeitig erarbeitete die Regierung jedoch bis zum Frühsommer 1868 einen Gesetzesentwurf, der nicht nur das Procedere des Verkaufs regeln, sondern auch klar definieren sollte, welche Objekte zur Veräußerung gelangen sollten. Das im Ministerrat im März 1868 diskutierte Gesetz543 trat am 20. Juni 1868 in seiner endgültigen Form in Kraft und enthielt eine Liste von über 80 zum Verkauf stehenden Objekten. Darüber hinaus wurde der Finanzminister ermächtigt, in den Jahren 1868 und 1869 weitere Objekte, deren jeweiliger Schätzwert den Betrag von 25.000 Gulden nicht überstieg, auch ohne vorherige Zustimmung des Reichsrates zu veräußern544. Die Verkaufsaktion, die mit der Sanktionierung dieses Gesetzes begann, wird grundsätzlich kritisch betrachtet. In der Liste, die keinen Schätzwert der einzelnen Objekte enthielt, waren mehrere Betriebe aufgeführt, deren Verkauf auf längere Sicht vergleichsweise ungünstig war. Neben tatsächlich wenig ertragreichen Immobilien wie den verkehrstechnisch ungünstig gelegenen Montanwerken in Gußwerk bei Mariazell und Neuberg an der Mürz finden sich in der Aufstellung auch Unternehmen, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zu den großen und profitablen österreichischen Industrieunternehmen zählten wie der Bergbau in Bleiberg, der Braunkohlebergbau in Fohnsdorf, der Bergbau und die Eisenhütte in Eisenerz sowie die Papierfabrik in Schlöglmühl. Hinzu kommt, dass sich manche der in der Liste aufgeführten Objekte in der Praxis als schwer verkäuflich herausstellten und zum Teil erhebliche Abstriche bei der Bemessung der Kaufsummen gemacht oder den Käufern sehr günstige Zahlungsbedingungen eingeräumt werden mussten545. Ungeachtet dessen wurden bis November 1871 noch vier weitere Gesetze über den Verkauf von unbeweglichem Staatseigentum sanktioniert, die den Verkauf weiterer Immobilien genehmigten546 und den Finanzminister ermächtigten, auch in den Jahren 1870 und 1871 Objekte mit einem Schätzwert von unter 25.000 Gulden ohne vorherige parlamentarische Genehmigung zu verkaufen547.

Die Durchführung sowie der Erfolg der Verkaufsaktion waren bereits zeitgenössisch nicht unumstritten und trugen der Regierung einige, nicht immer gänzlich gerechtfertigte Kritik ein. Die Berichte der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses lassen den finanziellen Umfang der Aktion erkennen. Für das Budgetjahr 1868 wurden 169.550 Gulden, für 1869 die Summe von 17 Millionen Gulden, für 1870 9,3 Millionen Gulden sowie für 1871 schließlich 1,5 Millionen Gulden an Einnahmen aus dem Verkauf von Staatseigentum berechnet548. Stellt man diese Zahlen jedoch den jährlichen Gesamteinnahmen gegenüber, so wird deutlich, wie gering der Beitrag der Verkaufserlöse zum Budget war. So betrugen die Staatseinnahmen im Jahr 1869, als durch den Verkauf von unbeweglichem Staatseigentum mit 17 Millionen Gulden der mit Abstand höchste Erlös seit dem Verkauf der Staatseisenbahnen in den 1850er Jahren erzielt wurde, rund 317 Millionen Gulden549, also das Achtzehnfache des Verkaufserlöses. Es ist evident, dass es illusorisch war, durch die Veräußerung von Staatseigentum einen nennenswerten Beitrag zum Budget oder gar zur Währungssanierung zu lukrieren. Außerdem handelte es sich bei den Einnahmen nur um Einmaleffekte, während gleichzeitig die jährlichen, bisher ins Budget fließenden Erträge der verkauften Immobilien wegfielen. Die einmaligen Erlöse brachten also eine dauerhafte Einnahmenreduktion. Auf diese Weise konnten, so zeigte letztlich auch die Praxis, allenfalls kurzfristig Budgetlöcher gestopft, keinesfalls jedoch die Staatsfinanzen auf Dauer saniert werden.

Kritisiert wurde auch der Umstand, dass der Schätzwert der zu verkaufenden Objekte gelegentlich unter dem tatsächlichen Verkehrswert lag550, was zu Gerüchten über Korruption und Misswirtschaft in den jeweiligen Behörden führte. Dass die Käufer in der Regel Banken und Finanzkonsortien waren, welche die Immobilien zum Teil mit hohen Gewinnen weiterverkauften551, stärkte ebenfalls nicht das Vertrauen der Bevölkerung in die Verkaufsaktion. Außerdem ging die Regierung mitunter recht sorglos mit den zum Verkauf stehenden Sachwerten um. So berichtete Finanzminister Brestel in der Sitzung des Ministerrates am 19. Juli 1869 vom Plan, eine Reihe ärarischer Objekte einschließlich der Wiener Verbindungsbahn zwischen dem Nord- und dem Südbahnhof zum Gesamtpreis von 6,4 Millionen Gulden an die Wiener Bank zu verkaufen. Auf die Nachfrage von Handelsminister Plener, warum die Verbindungsbahn nicht an ein Eisenbahnunternehmen verkauft werde, antwortete Brestel, dass er dies zwar versucht habe, die entsprechenden Angebote jedoch zu niedrig gewesen wären. Der Finanzminister zeigte sich aber überzeugt, dass die Bahngesellschaften sich früher oder später veranlasst sehen würden, die Verbindungsbahn von der Wiener Bank zu kaufen, „wo sie dann genötigt sein werden, vielleicht 3,500.000 fr. für das Objekt zu zahlen, wofür der Staatsverwaltung drei Millionen zu geben sie Anstand genommen haben.“552 Weder Brestel noch die anderen Regierungsmitglieder thematisierten dabei das Problem des Verkaufs der Verbindungsbahn unter Wert. Zwar platzte das Geschäft mit der Bank und die Verbindungsbahn ging doch an ein Konsortium von sechs Bahngesellschaften553, dennoch ist evident, wie wenig die Finanzverwaltung darin investierte, den bestmöglichen Preis zu erzielen.

Im Ministerrat stand der Verkauf von Staatseigentum zwischen Jänner 1868 und November 1869 insgesamt 32 Mal auf der Tagesordnung, wobei sowohl die Rahmengesetze554 als auch der tatsächliche Verkauf einzelner Objekte555 besprochen wurde. Umfangreicher diskutiert wurde nur in zwei Fällen, die mit dem Verkauf konkreter Objekte in Zusammenhang standen. Der erste betraf den im Gesetz über die Veräußerung vom Staatseigentum vom 12. April 1870 vorgesehenen Verkauf der sogenannten „isoliert gelegenen“ Teile des Wienerwalds556. Gegen diesen Plan protestierte der Journalist und spätere Politiker Joseph Schöffel557 umgehend und heftig, wobei er nicht nur die ökologischen Folgen der im Raum stehenden Abholzung des Waldes, sondern auch die angebliche Misswirtschaft und Korruption innerhalb der cisleithanischen Forst- und Finanzbehörden öffentlich anprangerte558. Die Auseinandersetzung mit Schöffel, der von mehreren Abgeordneten des niederösterreichischen Landtages unterstützt wurde, beschäftigte die Staatsverwaltung längere Zeit und bildete dreimal den Gegenstand von Beratungen des Ministerrates559. Letztlich verzichtete die Regierung, wie Finanzminister Holzgethan in einer Interpellationsbeantwortung im Abgeordnetenhaus am 14. März 1871 ausführte, auf den im Gesetz vorgesehenen Verkauf des Wienerwaldes560 und ein Jahr später wurde die Zuständigkeit über das Forst-, Domänen- und Bergwesen vom Finanzministerium an das Ackerbauministerium übertragen561. Die Auseinandersetzung zwischen der Staatsverwaltung und Schöffel, der darauf seine politische Karriere als Reichsrats- und Landtagsabgeordneter sowie als Bürgermeister von Mödling aufbaute und der Nachwelt als „Retter des Wienerwaldes“ in Erinnerung blieb, gilt bis heute als frühes Beispiel für die erfolgreiche Führung einer politisch-medial unterstützten Protestkampagne562.

ℹ️Ähnlich hartnäckige Probleme, wenngleich gänzlich anderen Ursprungs, bereitete auch der geplante Verkauf des Wiener Paradeplatzes, eines großen, für militärische Aufmärsche und Übungen benutzten Grundstücks auf dem Josefstädter Glacis. Die Parzelle, die zur Verbauung im Rahmen der Stadterweiterung vorgesehen war, stand im Eigentum des Militärs, das aber bereit war, gegen eine entsprechende Kompensation auf diese zu verzichten. Das Problem bestand darin, dass der Ausgleich von 1867 nicht geklärt hatte, ob die gemeinsame Armee überhaupt Grund und Boden besitzen konnte oder ob die entsprechenden Immobilien in das Eigentum der beiden Teile der Monarchie übergegangen waren und das Militär nur das Recht besaß, diese zu nutzen. Auch stellte sich die Frage, ob Erlöse aus dem Verkauf von Militärimmobilien im Staatsgebiet von der jeweiligen Finanzverwaltung eingezogen werden konnten oder unter Berücksichtigung des Quotensystems zwischen beiden Teilen der Monarchie aufzuteilen waren. Finanzminister Brestel wusste um diese Probleme, als er in der Sitzung des Ministerrates am 21. April 1869 erklärte, den Paradeplatz zwar nicht unmittelbar verkaufen zu können, die Genehmigung dazu jedoch bereits in den Gesetzesentwurf über den Verkauf von unbeweglichem Staatseigentum integrieren zu wollen563. Gegen die vom Finanzminister gewählte Textierung erhob jedoch der Kaiser im Ministerrat am 30. April 1869 ausdrücklich Einspruch. Franz Joseph wies dabei sowohl auf die bestehende Problematik der unklaren Eigentumsverhältnisse als auch auf den Umstand hin, dass das Militär dringend Geld für die Beschaffung eines Ersatzes für den Paradeplatz benötige und daher eine entschädigungslose Einziehung des Objekts durch die Finanzverwaltung nicht in Frage käme. Von diesem Standpunkt rückte der Monarch auch in der folgenden Diskussion nicht ab, obwohl der Finanzminister darauf hinwies, dass Ungarn beim Verkauf der Militärgestüte auf dem Territorialprinzip beharrt habe, und Innenminister Giskra auf den Umstand aufmerksam machte, dass der Bauplatz für die Errichtung des Parlamentsgebäudes, des Rathauses sowie der Universität dringend benötigt werden würde. Erst ein Vorschlag von Justizminister Herbst, den Gesetzesentwurf so abzuändern, dass der Paradeplatz zwar nicht mehr explizit genannt wurde, sich aus der entsprechenden Passage jedoch eine Genehmigung zu dessen späteren Verkauf ableiten ließ, fand schließlich die Zustimmung aller Anwesenden564. Das Gesetz wurde in der entsprechend modifizierten Form vom Parlament angenommen und am 20. Mai 1869 vom Kaiser sanktioniert565, wobei sich Franz Joseph die Genehmigung zum Verkauf des Paradeplatzes jedoch ausdrücklich selbst vorbehielt. Erst nach der Klärung der Eigentumsverhältnisse an den militärischen Immobilien, die auf insgesamt sechs Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates zwischen 30. April und 26. Mai 1869566 in der Form eines mühsamen errungenen Kompromisses erfolgte, genehmigte der Kaiser den Verkauf des Paradeplatzes, der im Juni 1870 an den Stadterweiterungsfond übergeben wurde.

ℹ️b) Eisenbahnbau und -politik

ℹ️Wie bereits vor dem Ausgleich von 1867 baute der Staat die Bahnlinien nicht selbst, sondern vergab entsprechende Konzessionen an bestehende oder neu gegründete Errichtungs- und Betreibergesellschaften. Die Grundlage bildete das Eisenbahnkonzessionsgesetz aus dem Jahr 1854567, auf dessen Basis zwischen Jänner 1868 und November 1871 insgesamt 32 Konzessionen für neu zu errichtende Linien erteilt wurden. Dabei kam die Staatsverwaltung den Gesellschaften auf finanziellem Gebiet zum Teil durch Zahlung von Baukostenvorschüssen sowie der Befreiung der ab Mai 1869 neu konzessionierten Linien von Einkommenssteuer, Stempelgebühren und Abgaben für den Zeitraum von 30 Jahren sehr entgegen568. Das wichtigste den Konzessionären vom Staat zur Verfügung gestellte Hilfsmittel bildete jedoch die bereits vor dem Jahr 1867 wiederholt zur Anwendung gekommene Zinsgarantie. Dabei sicherte der Staat unabhängig vom Betriebsergebnis der jeweiligen Gesellschaft einen jährlichen Gewinn in der Höhe eines bestimmten Prozentsatzes ihres Anlagekapitals, in der Regel etwa fünf Prozent, zu. Fiel der Gewinn der Linie in einem Jahr geringer aus, verpflichtete sich der Staat zur Übernahme des Fehlbetrags in Form eines verzinsten, rückzahlungspflichtigen Zuschusses569. Obwohl diese Zuschüsse das Staatsbudget bereits vor 1867 in bedeutendem Maß belastet hatten570, wurde die zunächst nur wenigen Gesellschaften gewährte Zinsgarantie nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich faktisch allen neu konzessionierten Linien eingeräumt571. Der Umstand, dass fast alle Gesellschaften die Zinsgarantie in Anspruch nahmen und im Gegenzug auf die erwähnte Steuer- und Abgabenbefreiung verzichteten, zeigt deutlich, welche Vorteile dies für die Bahnbetreiber bot. Der Staat dagegen ging damit gerade bei Linien, die primär einen militärischen Zweck erfüllten oder deren Wirtschaftlichkeit bereits zum Zeitpunkt der Konzessionserteilung in Frage stand572, von Anfang an ein erhebliches finanzielles Risiko ein.

Dennoch hielt die cisleithanische Regierung an der Strategie der Förderung des Ausbaus des Bahnnetzes durch die Gewährung von Zinsgarantien fest, da auf diese Weise der gewünschte Zweck, der Verbesserung der Schieneninfrastruktur, jedenfalls erreicht werden konnte. Zwischen Jänner 1868 und Dezember 1871 wurden insgesamt 3.198 Kilometer Bahnstrecke neu errichtet573, was einem Zuwachs des Schienennetzes von rund 77 Prozent entsprach. Gleichzeitig verzeichneten die Staatsbehörden ab 1869 einen starken Anstieg von Anträgen auf die Erteilung von Konzessionen sowie von Baubewilligungen für Bahnstrecken. Als Folge des allgemeinen Gründungsfiebers stellten sich zahlreiche dieser Projekte jedoch als so unausgegoren und überhastet eingebracht heraus, dass sich das für das Eisenbahnwesen verantwortliche Handelsministerium im Februar 1871 veranlasst sah, im Verordnungsweg Richtlinien für die Erstellung und Vorlage der Einreichunterlagen zu erlassen574. Unter den 32 Projekten, die zwischen Jänner 1868 und Dezember 1871 konzessioniert wurden, befanden sich neben kleineren Projekten von lokaler Bedeutung auch zwei Linien, die in weiterer Folge zu den Hauptstrecken des cisleithanischen Bahnnetzes zählen sollten: Die im September 1868 konzessionierte Österreichische Nordwestbahn mit der Hauptstrecke WienJungbunzlau575 sowie die zunächst mit dem cisleithanischen Netz nicht verbundene Vorarlberger Bahn BludenzBregenz mit Anschlüssen an die bayerische sowie an die schweizerische Grenze576. Doch auch andere, im Vergleich zu diesen Linien kleinere Projekte erlangten überregionale Bedeutung und hatten einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Wirtschaft Cisleithaniens. Die Linie DuxBodenbach577 erschloss die westböhmischen Kohlereviere, und die Verbindung LeobenVordernberg578 bedeutete eine Vorleistung für die spätere Verbindung zwischen dem steirischen Erzberg und der Montanindustrie in der Mur-Mürz-Furche über den Präbichl. Darüber hinaus wurde mehreren bereits bestehenden Gesellschaften die Erweiterung ihrer Strecken bewilligt. Die Kaiser-Franz-Joseph-Bahn konnte ihre Strecke von Wien nach Gmünd bis Prag verlängern579, die Graz–Köflacher-Bahn die Verbindung von Graz nach St. Gotthard in Ungarn herstellen580, sowie die Südbahngesellschaft die Linien St. PeterFiume und VillachFranzensfeste errichten581. Die Kaiserin-Elisabeth-Westbahn bewarb sich erfolgreich um die Konzession für die Errichtung und den Betrieb der Donauländebahn in Wien582 und erhielt die Genehmigung, die in ihrem Eigentum stehende Pferdebahnstrecke Linz–Budweis, die älteste Eisenbahnstrecke Österreichs überhaupt, in eine Lokomotivbahn umzugestalten583. Auch die Kronprinz-Rudolf-Bahn erhielt mit der Konzessionserteilung für die Strecken St. MichaelLeoben584, LaibachTarvis585, VillachTarvis586 sowie HieflauEisenerz587 die Genehmigung zu einem bedeutenden Ausbau ihres Streckennetzes, der mehrere Lücken in der Schieneninfrastruktur in Kärnten und Krain schloss.

ℹ️Der scheinbar ungebremst vor sich gehende Bahnbau588 brachte der Staatsverwaltung jedoch zunehmend finanzielle Probleme. Nur wenige der im Zeitraum 1868–1871 konzessionierten respektive in Betrieb genommenen Linien erwiesen sich letztlich als so wirtschaftlich, dass sie tatsächlich den vom Staat garantierten jährlichen Gewinn in der Höhe von durchschnittlich fünf Prozent des Anlagekapitals abwarfen. Die Folge waren immer höhere staatliche Garantiezahlungen an die Eisenbahngesellschaften, deren Einnahmen zum Teil nicht einmal die laufenden Betriebskosten deckten. Während der Ausbau der kaum gewinnträchtigen Kronprinz-Rudolf-Bahn zumindest aus verkehrsstrategischen und handelspolitischen Gründen Sinn machte589, war ein solcher Mehrwert bei zahlreichen anderen, gleichfalls im Zeitraum 1868–1871 konzessionierten Linien nicht vorhanden. Hier zeigte sich deutlich der Schwachpunkt des Systems der Garantiebahnen, weil durch die staatliche Gewinngarantie die Betreiber keine Notwendigkeit zur Trassierung der Linien nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten und zur Effizienzsteigerung ihres Betriebes sahen590. Die Staatsverwaltung musste dagegen den einzelnen Bahngesellschaften jährlich immer größere Beträge für die nicht erzielten, aber garantierten Gewinne zuschießen, was das Budget in zunehmendem Maß belastete. Ende 1871 betrug der Schuldenstand der Privatbahnen bei der cisleithanischen Finanzverwaltung bereits 26,5 Millionen Gulden, was einer durchschnittlichen Belastung der garantierten Strecken in der Höhe von 4.713 Gulden pro Kilometer entsprach591. Da bei den meisten Gesellschaften keine Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu erwarten war und neu konzessionierte Linien weiterhin mit Ertragsgarantien ausgestattet wurden, begannen sich die Garantiebahnen bereits in der Phase der Hochkonjunktur von 1868–1871592 für die Staatsverwaltung zu einem Fass ohne Boden zu entwickeln.

ℹ️Die cisleithanische Regierung registrierte zwar diese ungünstige Entwicklung593, nahm sie jedoch nicht zum Anlass, den eingeschlagenen Kurs zu ändern. Zwar wurde diskutiert, die Vorarlberger Bahn direkt durch den Staat zu errichten und zu betreiben, aufgrund der Kosten sowie angeblicher Impraktikabilität wurde dieser Plan jedoch wieder verworfen594. Dagegen beabsichtigte die Regierung, den geringen Rest des Anfang 1868 noch im Staatsbesitz befindlichen Schienennetzes von lediglich 18 Kilometern zu verkaufen595 und beschränkte sich ansonsten darauf, die für Bau und Betrieb der Bahnen erforderlichen gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen zu schaffen. Dazu zählte auch die Regelung von Haftungsfragen bei Unfällen im Eisenbahnverkehr596 und der Abschluss von Staatsverträgen als die Grundlage für den Anschluss des cisleithanischen Bahnnetzes an jenes der Nachbarstaaten597. Mit der ungarischen Regierung mussten Fragen der Betriebsführung und weitere Vorschriften bei der Herstellung von Verbindungen zwischen den Bahnnetzen der beiden Teile der Monarchie geklärt werden598. Ansonsten beschränkten sich die direkten Eingriffe der Staatsverwaltung in den Betrieb der Bahngesellschaften auf die Festlegung der Personen- und Frachttarife, die bei der Konzessionserteilung gemeinsam mit der kostenfreien Postbeförderung sowie stark reduzierten Tarifen für das Militär vorgeschrieben wurden599.

Der bedeutende Stellenwert der Eisenbahnfragen für die Regierung zeigt sich daran, dass der Ministerrat auf insgesamt 144 Sitzungen Themen behandelte, die mit der Genehmigung, der Errichtung und dem Betrieb von Eisenbahnen in Zusammenhang standen. Dagegen scheint das Interesse des Kaisers an diesen Fragen ungeachtet seiner wirtschaftlichen Implikationen deutlich geringer gewesen zu sein. Er führte lediglich in sechs Sitzungen zu Eisenbahnfragen den Vorsitz. Auch die zwei dazu erhalten gebliebenen Protokolle dokumentieren eher ein Interesse des Monarchen an organisatorischen, juristischen und finanzpolitischen Details als an der Materie selbst600. Insgesamt 37 der genannten 144 Sitzungen beschäftigten sich mit Konzessionsfragen, wobei sich zumindest in den erhalten gebliebenen Protokollen nur selten größere Diskussionen ergaben. Zumeist stellte der ressortzuständige Handelsminister die wichtigsten Eckdaten des Projekts vor, worauf die Minister ihre Zustimmung zur Vorlage eines au. Vortrags gaben601. Ein solcher war notwendig, da Erteilung und Abänderung von Konzessionen im Namen des Kaisers erfolgten. Längere Debatten ergaben sich in der Regel nur dann, wenn Finanzfragen zu klären waren602 oder wenn sich lokaler Widerstand regte wie im Fall der Linie SalzburgHallein, wo mehrere betroffene Grundbesitzer Bedenken wegen einer möglichen „Verunstaltung der Naturschönheiten des Aignertales“ geäußert hatten. Ministerpräsident Taaffe erklärte diese Befürchtungen für grundlos und bemerkte, dass solche Bedenken „die wichtige Bahnunternehmung in keiner Weise beirren könnten“603, ein Beispiel für die vorherrschende Haltung, dem technischen Fortschritt den absoluten Vorrang zu geben.

ℹ️Komplizierter gestaltete sich die Situation hingegen, wenn von politischer Seite im kleineren oder größeren Stil interveniert wurde. Die größten Wellen schlug dabei im April 1869 die Behandlung eines Gesetzesentwurfs über die Vervollständigung des Eisenbahnnetzes im volkswirtschaftlichen Ausschuss des Abgeordnetenhauses. Handelsminister Plener berichtete im Ministerrat am 25. April 1869 sichtlich erregt darüber, dass das Subkomitee des Ausschusses die Grundsätze der Regierungsvorlage zwar akzeptiert, jedoch gleichzeitig die Erweiterung des im Gesetzesentwurf beschriebenen Netzes an Garantiebahnen um mehrere Projekte gefordert hatte. Gegen die Aufnahme dieser zusätzlichen Projekte, die sich mit Ausnahme einer Studie für eine Linie von Wien über Mariazell nach Innsbruck größtenteils in Galizien und Böhmen befanden, sprach sich der Handelsminister sowohl aus praktischen als auch aus finanziellen Gründen entschieden aus. Für Plener war es offensichtlich, dass die Abgeordneten dabei primär eigene finanzielle Interessen verfolgten. Diese Einschätzung teilte Finanzminister Brestel, der in dem Zusammenhang überdies bemerkte: „Das Sprichwort ‚Eine Hand wäscht die andere‘ habe eine neue Bewahrheitung, aber auch einen Zusatz dahin gefunden, dass in diesem Spiel jede Hand schmutzig werde.“604 Den Hintergrund für die scharfe Reaktion der beiden Minister bildete der Umstand, dass mehrere Abgeordnete entweder selbst in die Projekte involviert waren oder eine Aufwertung ihrer Besitzungen durch die Errichtung der Bahnlinien erwarteten605. Den Vorschlag Brestels, den gesamten Gesetzesentwurf zurückzuziehen, befürwortete Plener jedoch nicht, da er diesen als zu wichtig betrachtete, um ihn den wenigen „räudigen Schafen“ im Abgeordnetenhaus zu opfern. Nach längerer Debatte einigte sich der Ministerrat schließlich darauf, die vom Subkomitee geforderten Ergänzungen strikt zurückzuweisen und auf der Regierungsvorlage zu beharren. Diese Haltung vertrat Plener auch im Abgeordnetenhaus, zog aber den Gesetzesentwurf Ende April 1869 zur Überarbeitung zurück, da er für die ursprüngliche Fassung offenbar keine Mehrheit zu finden glaubte606.

ℹ️Auch bezüglich der Trassierung und Durchführung einzelner Projekte wurde politisch interveniert. Dies betraf unter anderem die Fortsetzung der Kronprinz-Rudolf-Bahn von Villach bzw. Tarvis in Richtung Triest. Eine direkte Verbindung der Stadt mit den nordwestlichen Kronländern schien bei der gestiegenen Bedeutung des Hafens seit der Eröffnung des Suezkanals durchaus vorteilhaft607. Die Verbindung von Tarvis nach Triest war bereits im August 1865 erstmals im Kontext eines Vorprojekts zur Kronprinz-Rudolf-Bahn im Ministerrat besprochen worden608, wobei zwei Trassenvarianten zur Sprache kamen. Während die eine Variante von Tarvis über Pontebba und Udine nach Triest führte, hätte die andere, die sogenannte Predilbahn, von Tarvis aus den Predil in einem Tunnel unterfahren und anschließend durch das Isonzotal über Görz ihr Ziel erreicht. Als Anfang 1868 die Verlängerung der Rudolfsbahn in Richtung Süden aktuell wurde, kamen zwar beide Trassenvarianten erneut zur Diskussion, wobei die Variante über Udine aufgrund der Abtretung Venetiens an Italien nach dem Krieg von 1866 jedoch praktisch nicht mehr in Frage kam. Trotzdem setzte insbesondere auf landespolitischer Ebene sofort intensives Lobbying für den Bau der Strecke auf inländischem Gebiet ein. Alleine von Jänner 1868 bis November 1871 befasste sich der Ministerrat insgesamt zwölf Mal mit der Predilbahn609. Handelsminister Plener informierte den Ministerrat am 3. Mai 1869 darüber, dass er vom Monarchen zahlreiche Petitionen aus Triest für den Bau der Strecke übermittelt bekommen habe und von Franz Joseph aufgefordert worden sei, die Verwirklichung des Projekts ehebaldigst zu ermöglichen. Allerdings kam das Vorhaben bis Ende 1871, trotz zahlreicher weiterer Eingaben und Forderungen lokaler Interessensgruppen, nicht weiter voran. Ähnliche Fälle politisch oder wirtschaftlich motivierter Interventionen sind in dieser Zeit auch aus den böhmischen Ländern dokumentiert. Der Ministerrat befasste sich unter anderem mit dem Konflikt der Städte Troppau und Jägerndorf über den Trassenverlauf der mährisch-schlesischen-Eisenbahn610 sowie dem Versuch, die geplante Streckenführung der Franz-Joseph-Bahn zwischen Plan und Marienbad zu verändern, um den Gewinn der beteiligten Bauunternehmen zu steigern611.

ℹ️Von größerer staatspolitischer Bedeutung waren dagegen die Verhandlungen mit Ungarn über Bau und Betrieb der über die Karpaten führenden ungarisch-galizischen Verbindungsbahn MihalyPrzemyśl612, der aus militärisch-strategischer Sicht – sie war als eine der Hauptaufmarschbahnen gegen Russland konzipiert – eine besondere Bedeutung zukam. Noch vor der Konzessionserteilung berichtete Ackerbauminister Potocki in Vertretung des Handelsministers im Ministerrat am 25. August 1869 über die Verhandlungen in der von den beiden Handelsministerien eingerichteten Kommission zu Fragen der gemeinsamen Betriebsrechnung, der Aufteilung der Einkommensteuerleistung der Bahn, der Gestaltung der Tarife sowie dem Sitz der Gesellschaft613. Der Ministerrat stimmte Potockis Einschätzung bei, dass das Übereinkommen als Präjudiz für alle zukünftigen Vereinbarungen für grenzüberschreitende Bahnen zwischen den beiden Teilen der Monarchie dienen werde. Daher sei in den Verhandlungen eine „besondere Vorsicht in Beziehung auf die Wahrung der diesseitigen [cisleithanischen] Interessen“ angebracht614. Die Konzession für den cisleithanischen Abschnitt der Strecke wurde schließlich im September 1869 erteilt615.

Eine über die rein wirtschaftlichen Aspekte hinausgehende Bedeutung erlangen auch die galizischen Bahnprojekte. Handelsminister Plener berichtete im Ministerrat am 5. Mai 1869 darüber, dass die galizischen Abgeordneten in den Verhandlungen über die ungarisch-galizische Verbindungsbahn darüber geklagt hatten, dass neben dieser strategischen Bahn nicht auch andere, die Wirtschaft des Kronlandes fördernde Linien ausgeschrieben wurden616. Nachdem die Regierung bei einem Rückzug der galizischen Mandatare die Beschlussunfähigkeit des Reichsrates befürchten musste617, hielt es der Handelsminister für wünschenswert, dass man Abgeordneten zumindest die Herstellung einer jener Linien in Aussicht stellen würde, die in der ursprünglichen Fassung des Gesetzesentwurfs über die Komplettierung des Eisenbahnnetzes enthalten gewesen waren618. Dagegen sprachen sich jedoch der Finanzminister, der Justizminister und der Minister des Innern entschieden aus, da sie argumentierten, dass die Staatsfinanzen durch die Garantieleistungen für die bereits in Betrieb befindlichen Bahnen sowie für in näherer Zukunft zu leistende Bauvorschüsse schon so beansprucht wären, dass es nicht angehe, weitere Verpflichtungen zu übernehmen. Letztlich entschied man sich auf Vorschlag von Ministerpräsident Taaffe, den galizischen Abgeordneten lediglich in unverbindlicher Form die Verwirklichung eines der in Frage stehenden Projekte in Aussicht zu stellen. Die von den drei Ministern geäußerten Bedenken hinsichtlich der Finanzierbarkeit weiterer Garantiebahnen hatten dagegen weder unmittelbar noch mittelbar Einfluss auf die von der Regierung in Eisenbahnfragen verfolgte Politik.

ℹ️Weitere im Ministerrat behandelte Eisenbahnthemen waren Vereinbarungen mit Bahngesellschaften über die Herstellung bzw. Umgestaltung von Linien619 sowie Verhandlungen über die Abtragung von Garantieschulden620 und über die Höhe zu gewährender Staatsgarantien. Sie gelangten entweder aufgrund ihrer Bedeutung oder wegen der Involvierung mehrerer Ministerien auf die Tagesordnung621. Dagegen zeigte die Regierung nur wenig Interesse an der Überwachung von Betriebsführung und Gebarung der Bahngesellschaften im Rahmen der Kontrollrechte und wurde dabei auch noch von den betroffenen Gesellschaften blockiert. So erklärte Finanzminister Brestel im Ministerrat am 7. Juni 1869, dem Wunsch von Handelsminister Plener nach einer Ernennung von je zwei Verwaltungsräten für die Elisabethbahn und die Buschtěhrader Bahn nur wenig abgewinnen zu können, da man bereits in der Vergangenheit mit den staatlichen Eisenbahnkommissären schlechte Erfahrungen gemacht habe622. Plener betonte jedoch, dass „das Handelsministerium von dem Gebaren der Eisenbahnverwaltungen gar nichts erfährt und über die wichtigsten Maßregeln oft erst durch die Zeitungen in Kenntnis gesetzt wird“, und beharrte deshalb auf seinem Antrag, der gegen die Stimme des Finanzministers zum Beschluss erhoben wurde623. Im Ministerrat vom 26. Juni musste Plener der Konferenz jedoch mitteilen, dass der Verwaltungsrat der Elisabethbahn die Ernennung der beiden Verwaltungsräte davon abhängig machte, dass der Staat sein Aktienpaket nicht abstoße624. Während sich die Regierung gegen den Verwaltungsrat der Elisabethbahn durchsetzte, erhob auch die Buschtěhrader Bahn Einspruch gegen die Bestellung der zwei von der Regierung ernannten Verwaltungsräte625, worauf das Kabinett sein Verlangen zurückzog626. Der an diesem Beispiel evidente Mangel an Wille und an Möglichkeit, die Geschäftstätigkeit der Bahngesellschaften zu kontrollieren oder darauf Einfluss zu nehmen, stellt rückblickend betrachtet einen der Hauptgründe dafür dar, dass zahlreiche Unternehmen bereits vor dem Börsenkrach von 1873 in erhebliche wirtschaftliche Probleme gerieten627.

ℹ️c) Weitere Investitionsprojekte

Die rege Bau- und Investitionstätigkeit der ausgehenden Gründerzeit abseits des Eisenbahnbaus bildet sich in den Ministerratsprotokollen nur zu einem geringen Teil ab. Nur wenige von der Staatsverwaltung selbst in Auftrag gegebene Projekte gelangten auf die Tagesordnung des Ministerrates, darunter der Bau des Justizpalastes in Wien628 sowie die Errichtung eines Gebäudes für die technische Akademie in Lemberg629. An Bauvorhaben der verkehrstechnischen Infrastruktur wurden neben dem Ausbau der Hafenanlagen an der Adria630 vor allem die Errichtung neuer Donaubrücken in Linz631 und Wien632 im Ministerrat behandelt, wobei in der Regel Finanzierungsfragen diskutiert wurden. Einen immer wiederkehrenden Tagesordnungspunkt bildete auch das Telegrafenwesen, wobei Fragen der Errichtung von Infrastruktur633, darunter auch des neuen Telegrafenamtes in Wien634, der Herstellung von Verbindungen ins Ausland635 sowie der Abschluss von Verträgen über den Telegrafenverkehr mit den Nachbarstaaten636 besprochen wurden. Maßnahmen der Länder waren dagegen nur selten Gegenstand der Beratungen. Auf der Tagesordnung standen etwa die ah. Sanktionierung von Landesgesetzen über die Herstellung und den Erhalt von Straßen637 oder die Ablehnung der Bauordnung von Czernowitz wegen der Nichteinhaltung feuerpolizeilicher Grundsätze638.

Weitere Themen im Ministerrat

ℹ️Die zwischen Jänner 1868 und November 1871 mit Abstand am häufigsten auf die Tagesordnung gelangende Materie bildete die Verleihung von Auszeichnungen an mehr oder weniger verdiente Personen. In insgesamt 142 Sitzungen beschäftigte sich der Ministerrat damit639. ℹ️Den zweithäufigsten Diskussionsgegenstand bildeten Steuerfragen, worüber das Kabinett auf 104 Sitzungen diskutierte640. Besprochen wurden dabei sowohl ganz Cisleithanien betreffende Steuergesetze und Rechnungsabschlüsse als auch die Regelung von Abgaben der Kronländer und Gemeinden. Ein Beispiel für letzteres bildete die im Jahr 1871 im Wege eines Majestätsgesuchs vorgebrachte Bitte der Stadt Salzburg, die Einreihung der Gemeinde in eine höhere Fleischsteuerklasse aufgrund des bei der Volkszählung von 1869 festgestellten Bevölkerungszuwachses rückgängig zu machen. Finanzminister Holzgethan bezeichnete die vom Salzburger Gemeinderat vorgebrachten Argumente insgesamt als nicht stichhaltig, und Unterrichtsminister Jireček bemerkte in Zusammenhang mit dem Gesuch trocken: „Das Petitium komme gewissermaßen darauf hinaus, als ob Salzburg von der mehr als 20.000 betragenden Einwohnerzahl dispensiert werden wollte, eine Dispens von Tatsachen könne aber nicht stattfinden.“ Die Eingabe wurde darauf über Antrag des Finanzministers abgewiesen641. ℹ️Gleichfalls mit großer Regelmäßigkeit standen Fragen des Vereinsrechts sowie Angelegenheiten konkreter Vereine auf der Tagesordnung. Bis Ende 1871 behandelte die Konferenz insgesamt 59 mal Fragen aus diesem Themenkreis642. Darunter befanden sich auch zahlreiche politische Vereine, die sich in dieser Zeit konstituierten oder versuchten, ihren Tätigkeitsbereich durch Zusammenschlüsse oder die Gründung von Zweigvereinen auf überregionaler Ebene zu erweitern643. Zahlreiche dieser Organisationen, so etwa die Arbeiter-, Bildungs- und Turnvereine, bildeten in den folgenden Jahrzehnten die Basis für die Entstehung politischer Parteien in Cisleithanien644.

ℹ️Ebenfalls mehrfach Thema im Ministerrat war die Ostasiatische Expedition645, die im Frühjahr 1868 für den Abschluss von Handelsverträgen und zur Herstellung von Wirtschaftskontakten in den fernen Osten entsandt worden war. Die Tagesordnungen des Ministerrates geben dabei Aufschluss über den Verlauf der Expedition sowie deren geradezu österreichisches Schicksal. Im Mai 1868 debattierte man über einen Nachtragskredit für die Expedition646, im August 1869 stand neuerlich deren finanzielles Mehrerfordernis auf der Tagesordnung647 und schließlich beschäftigte man sich mit der Möglichkeit eines Abbruchs des Unternehmens wegen der fehlenden finanziellen Bedeckung648. Nach der tatsächlichen Rückbeorderung der Expedition im Oktober 1869649 besprach der Ministerrat im Mai 1870, im Jänner 1871 sowie im Februar 1871 jeweils noch einmal Möglichkeiten für die Begleichung der nicht gedeckten Mehrkosten650. Abschließend, offenbar nach der Klärung der finanziellen Fragen, wurde schließlich im Juli 1871 die Verleihung von Auszeichnungen an verdiente Expeditionsmitglieder diskutiert651. ℹ️Daneben warfen bereits andere Ereignisse ihre Schatten voraus. Die für das Jahr 1873 anberaumte Wiener Weltausstellung war bis November 1871 insgesamt 13 Mal auf der Tagesordnung des Ministerrates652, wobei auch bereits organisatorische Detailfragen geklärt wurden. Neben solchen umfangreicheren Materien mit staatpolitischer oder wirtschaftlicher Tragweite fanden auch Themen scheinbar geringerer Wichtigkeit ihren Weg in den Ministerrat, die jedoch auf längere Sicht betrachtet eine große Bedeutung erlangten. ℹ️Per Ministerratsbeschluss vom 7. August 1869 wurde zunächst nur für die Verwendung im Inland die Korrespondenzkarte im Postverkehr zugelassen, die bald auch von den ausländischen Postverwaltungen akzeptiert und übernommen wurde653. Somit geht die Einführung der Post- und Ansichtskarten auf einen Vorschlag des cisleithanischen Handelsministers Plener zurück, auf dessen Vortrag hin sich der Ministerrat „mit dieser, als höchst zweckmäßig erkannten Maßregel einhellig einverstanden“ erklärte654.

ℹ️Überlieferung

Die Protokolle der Jahre 1868–1871 sind durch den Justizpalastbrand sehr stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Von den Protokollen der insgesamt 618 Sitzungen des Ministerrates zwischen Jänner 1868 und November 1871 blieben lediglich 73 Protokolle erhalten655. Die erhaltenen Dokumente weisen zudem häufig brandbedingte Lücken auf, wobei es jedoch in allen Fällen möglich ist, den Sinn der besprochenen Materien zu erfassen. Rekonstruiert werden konnten zudem auch einzelne Tagesordnungspunkte aus 14 weiteren Sitzungen durch Abschriften, Auszüge sowie eine Ansprache des Kaisers im Ministerrat aus anderen Archivbeständen656. Dennoch fehlen aus vielen Schlüsselphasen der behandelten Zeitperiode sämtliche Protokolle. Nicht dokumentiert ist die Zeit der Krise des Bürgerministeriums im Herbst/Winter 1869 sowie die letztlich gescheiterte Verständigungsaktion des Ministeriums Potocki mit der tschechischen staatsrechtlichen Opposition in Böhmen im Frühjahr 1870. Überdauert haben dagegen die Aufzeichnungen zu vier wesentlichen, zwischen November 1869 und März 1870 abgehaltenen Sitzungen zur geplanten Wahlrechtsreform des Abgeordnetenhauses, die mit dem Richtungsstreit um den Ausbau der Verfassung in Zusammenhang stand657. Gleichfalls erhalten sind die Protokolle von September bis November 1871, welche das Scheitern der böhmischen Ausgleichsaktion und den Sturz des Kabinetts Hohenwart dokumentieren658. Außerdem wurden die Abschriften zweier Protokolle vom 8. November 1868 sowie vom 10. November 1869 in den Band aufgenommen, die bereits publiziert sind und als Typoskripte im Familienarchiv Taaffe einliegen659. Sie dokumentieren Diskussionen der Minister zur Wahlrechtsreform sowie andere grundlegende Auseinandersetzungen innerhalb der Regierung. Da es sich dabei aber um keine ordentlichen Ministerratsprotokolle handelt, wurden sie als „Protokolle anderer Provenienz“ in den Band aufgenommen.

Die 87 ganz oder teilweise erhalten gebliebenen „regulären“ Protokolle stellen keineswegs nur isolierte, unbedeutende Überreste eines größeren Ganzen dar. Vielmehr liefern sie wertvolle Hinweise auf praktische Fragen zum Aufbau des neuen Staates, zur öffentlichen Verwaltung sowie zu den Beziehungen zu Ungarn. Dokumentiert sind neben legislativen Fragen Infrastrukturprojekte, wie die Vergabe von Konzessionen für den Eisenbahnbau660, die eng mit den gleichfalls wiederholt im Ministerrat zur Sprache gekommenen Wirtschafts- und Handelsfragen661 in Verbindung stehen. Zusätzlich geben die vollständig erhaltenen und in diesem Band publizierten Tagesordnungen Rückschlüsse darauf, welche Themenkomplexe wann und wie oft Diskussionsgegenstand im Ministerrat waren. Die Tagesordnungen dokumentieren auch die in diesen Jahren noch überaus rege Partizipation des Kaisers an den Sitzungen und damit an der Regierungstätigkeit an sich. Franz Joseph leitete 65 der 618 Sitzungen selbst, wobei sich der Monarch üblicherweise dann für eine Teilnahme entschied, wenn für ihn persönlich relevante Themen behandelt wurden. Dazu zählten neben Wehrfragen und religiösen Angelegenheiten auch die Schulgesetze662, Aspekte der ministeriellen Verwaltung (Eidesleistung663) sowie des Staatsaufbaus (Verfassungs- und Wahlreform664). Von den unter Vorsitz des Monarchen abgehaltenen Sitzungen sind dreizehn Protokolle erhalten665. Sie zeigen die Detailkenntnis Franz Josephs666, sein aktives Eingreifen in die Regierungsarbeit durch kritische Rückfragen sowie den Umstand, dass er sich vielfach über die begründeten Einwendungen der Ressortminister hinwegsetzte.