MRP-2-0-07-0-19180927-P-0039.xml

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Gemeinsamer Ministerrat, 27. 9. 1918

I. Beprechung der durch das Separatfriedensangebot Bulgariens geschaffenen Situation. Lösung der südslawischen Frage. Rekonstruktion Österreichs. Friedensfrage

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_VII/pdf/oe_hu_mrp_VII_z39.pdf.

Abbau der militärischen kriegswirtschaftlichen Einrichtungen beabsichtigt und die
Versorgung der Armee Aufgabe der zivilen Ressorts sei, von der Errichtung eines
neuen militärischen Amtes Abstand zu nehmen.

   Der k.u.k. Kriegsminister erwidert hierauf, dass kein neues Amt
geschaffen werden soll. Es handle sich vielmehr um die Konzentrierung aller auf
die Beschaffung des Armeebedarfes bezüglichen Agenden der einzelnen Abteilun¬
gen des k.u.k. Kriegsministeriums. Es geschehe dies rein aus Gründen der Zweck¬
mässigkeit, weswegen die geplante Zusammenfassung der vorerwähnten Agenden
auch im Frieden weiterbestehen soll. Mit dem Abbau der kriegswirtschaftlichen
Einrichtungen beschäftige auch er sich und es stehe eine einschlägige Note an die
beiden Regierungen in Vorbereitung.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident stellt an den Vertreter des Armeeo¬
berkommandos das Ersuchen, Vorsorge zu treffen, damit den ungarischen Fabriken
Seidencocons aus den besetzten italienischen Gebieten zur Verfügung gestellt
werden.

   Der Vertreter des Armeeoberkommandos nimmt diesen
Wunsch zu Bericht.

   Der Vorsitzende schliesst sonach die Sitzung um 2 Uhr nachmittags.

            Original-Reinschrift. -- Die Einsichtnahme wurde auf dem Mantelbogen des
        Protokolls mit Ausnahme des österreichischen Landwehrministers Czapp und des
        Obersten i. Gstb. Pflug, dem Vertreter des Armeeoberkommandos, von sämtlichen
        Teilnehmern des Ministerrates bestätigt. Einige machten in einigen Zeilen gewisse
        Vorbehalte. Der österreichische Ministerpräsident Hussarek machte folgende Bemer¬
        kung: »Ges. unter Berufung auf die Bemerkung Sr. Exz. des H. Finanzministers Frh. v.
        Wieser!« -- Die Anmerkung Wiesers: »mit dem Bemerken (gegenüber der Äußerung
        des kgl. ung. Handelministers), daß die Kompensation für Ungarn mit 10 Mill. Kronen
        richtig berechnet ist, weil von den für Ungarn zugestandenen 30 Mill. Kronen die
        österreichische Gegenforderung von 20 Mill. Kronen abzuziehen ist.« Szterenyi hat
        den Bogen mit folgendem Vorbehalt unterschrieben: »mit der Bemerkung, daß im Be¬
        schlüsse über die an Ungarn zu entfallende Kompensation irrtümlich 10 Millionen Kronen
        geschrieben ist, dies soll heißen 30 Millionen, was übrigens sich auch daraus ergibt,
        daß 60 Millionen halbiert nicht 10, sondern 30 Millionen ergeben.« -- Auf dem letzten
        Blatt die Kenntnisnahme durch den Herrscher: »Reichenau, am 14. Oktober 1918.«
        Unter dem Text rechts die Unterschrift Buriäns, links unten die des Protokollführers
        Nicki. -- Ebd. das maschinengeschriebene Konzept des Protokolls mit den Unter¬
        schriften Buriäns und Nickis.

                                                                                                                39.

                                                                             Wien, 27. September 1918

        Der Ministerrat befaßt sich mit den durch den Zusammenbruch der bulgarischen Front
        entstandenen außen- und innenpolitischen Fragen. Den Ausweg aus der schwierigen
        Lage sieht der Ministerrat in der raschen Lösung der südslawischen und der polnischen
        Frage, in der Rekonstruktion der Staatsorganisation Österreichs, in der möglichst

68o
<pb/>          baldigen Ratifizierung des Bukarester Friedens. In der Frage des Friedens soll auf
          Deutschland ein Druck ausgeübt werden.

             Der konzentrische Angriff der Entente vom 15. bis 24. September hatte den Durch¬
          bruch der bulgarischen Front und die Auflösung des bulgarischen Heeres zur Folge.
          Da der mit Rumänien am 7. Mai 1918 abgeschlossene Bukarester Friede noch nicht
         ratifiziert und ein bedeutender Teil der rumänischen Armee noch kampfbereit war,
          stand zu befürchten, daß auf der geschwächten Balkanfront der Mittelmächte auch
         die Rumänen angreifen würden. Dies hätte jedoch die Kapitulation der Österreichisch-
         Ungarischen Monarchie nach sich gezogen.

             Unter solchen Umständen war der gemeinsame Ministerrat am 27. September 1918
         zu seiner Sitzung zusammengetreten, und versuchte einen Ausweg aus der Krise zu
         finden.

             Über den politischen Hintergrund des starren, vielfach überholten Festhaltens am
         Dualismus wird der Leser in der Einleitung orientiert. Über die polnische und die
         südslawische Frage siehe den Kommentar zum Protokoll vom 7. Januar 1916.
         Über die Friedensziele der Monarchie war im gemeinsamen Ministerrat vom 12.
         Januar und 22. März 1917 die Rede, und dann, den veränderten Verhältnissen entspre¬
         chend, in den beiden letzten Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates, am 2. und 22.
         Oktober 1918. Über Wilson siehe die Kommentare zu den letzteren Protokollen.

Protokoll des zu Wien am 27. September 1918 abgehaltenen Ministerratesfür gemein¬
same Angelegenheiten, unter dem Allerhöchsten Vorsitze Seiner Majestät des
Kaisers und Königs.

   K.Z. - G.M.K.P.Z. 550.

   Gegenwärtige: der k.u.k. Minister des k.u.k. Hauses und des Äussern Graf
B u r i ä n, der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. W e k e r I e, der k.k. Minister¬
präsident Freiherr von Hussarek, der k.u.k. Kriegsminister GO. Freiherr von
Stöger-Steiner, der k.u.k. Chef des Generalstabes GO. Baron Arz,
General Freiherr von Waldstätten.

   Schriftführer: Legationsrat Graf C o 11 o r e d o .

   Gegenstand: Besprechung der durch das Separatfriedensangebot Bulgariens
geschaffenen Situation. Lösung der südslawischen Frage. Rekonstruktion Öster¬
reichs. Friedensfrage.

    Seine k. u. k. Apostolische Majestät geruhen den Kronrat mit
dem Hinweis auf die durch das Ausspringen Bulgariens1 geschaffene Situation zu
eröffnen, welche eine Besprechung der zu ergreifenden Massregeln erfordere. Im
Zusammenhänge mit der aussenpolitischen Lage dränge sich die Notwendigkeit
einer Rekonstruktion im Innern, namentlich im Hinblicke auf die südslawische
Frage auf, welche Gegenstand der Erörterungen zu bilden hätte. Schliesslich er¬
scheine noch eine Besprechung der Friedensfrage geboten.

   1 Nachdem die bulgarische Front zwischen dem 15. und 24. September von den Entente-
Truppen durchbrochen worden war, hat die bulgarische Regierung am 20. September den
Waffenstillstand mit den Entente-Mächten abgeschlossen.

                                                                                                              68l
<pb/>   Seine k.u.k. Apostolische Majestät geruhen hieraufdem Minister des Äusseren das
Wort zu erteilen, welcher nachstehendes ausführt:

   Die bulgarische Katastrophe hat unsere Lage in jeder Hinsicht -- namentlich in
militärischer und politischer -- ganz bedeutend verschlimmert. Sie wird unmittel¬
bare Auswirkungen zeitigen und ferners Effekte hervorrufen, die erst nach und nach
wahrnehmbar sein werden. Vor allem sei mit einer unmittelbaren Einwirkung auf
die Nerven unserer Bevölkerung zu rechnen. Schon unsere Misserfolge an der
Piave,2 ferner der -- wie wohl vorübergehende -- Echec in Albanien und vollends
die Ereignisse an der deutschen Westfront waren eine starke Belastungsprobe für die
Zuversicht unserer kriegsmüden und notleidenden Völkerschaften. Das Aussprin¬
gen Bulgariens schlägt dem Fass den Boden aus.

   Was die Wirkung auf das Ausland anbelangt, so ist der Wegfall unserer albani¬
schen Bestrebungen auf absehbare Zeit als eine unabwendbare Tatsache anzu¬

sehen.
   Ein sehr gefährlicher Punkt in unserer nächsten Nachbarschaft ist Rumänien,

welches zwar heute noch nicht im Stande sein dürfte, gegen uns kriegerisch aufzu¬
treten, dessen hostile Gesinnung jedoch durch die Wendung der Dinge am Balkan
bedeutend intensiver werden wird. Rumänien bereitet sich vor, und wird den
Augenblick abwarten, an dem es gefahrlos gegen uns Vorgehen zu können glauben
wird. Der Gefahr eines möglicherweise länger andauernden Unternehmens wer¬
den sie sich wohl nicht aussetzen wollen, schon wegen des Mangels an verfügbarer
Munition. Unter den gegebenen Verhältnissen und in Anbetracht des vorstehen¬
den müssen wir mithin bestrebt sein, den Friedensvertrag mit Rumänien durch
eheste Vornahme der Ratifikation so rasch als möglich unter Dach und Fach zu
bringen. Die Deutschen, welche die Ratifikation hinausziehen und den Abschluss
der Verhandlungen über die Übergabe der Landesverwaltung abwarten wollen,
müssen wir von der Notwendigkeit raschen Handelns überzeugen. Ansonsten
müssen wir uns notgedrungen darauf beschränken, durch Mahnungen und Rat¬
schläge Rumänien von einem neuen Abenteuer zurückzuhalten. Die bisher in die¬
ser Richtung durch das Armeekommando Mackensen unternommenen Schritte
haben befriedigende Resultate gezeitigt, allerdings fallen diese noch in die Zeit vor
 dem bulgarischen Zusammenbruch. Vom Ministerium Marghiloman dürfte kein
 Abschwenken zu erwarten sein, doch kann der Fall eintreten, dass der gegen¬
 wärtige Regierungschef der Lage nicht mehr Herr bleibt und sich zum Rücktritte
 entschliesst, um seinem Widersacher, dem Friedensgegner Avarescu, den Platz zu
 räumen. Der Eintritt dieses Wechsels wäre ein böses Anzeichen des kommenden
 Sturmes.

    In weiterer Folge kommt die Entwicklung der Dinge in Serbien in Betracht.
 Unter der Annahme, dass Bulgarien neutral bleibt, wird Serbien voraussichtlich
 wieder zum Kampfplatz. Die Saloniker Armee zählt heute 6 serbische Divisionen,
 deren Herannahen die während des Krieges herangewachsene serbische Jugend zu
 neuer Begeisterung anfachen wird. Es ist sohin mit der Eventualität eines serbischen
 Aufstandes zu rechnen, dessen Rückwirkungen auf unsere Südslawen -- und hier

     2 Die österreichisch-ungarische Offensive scheiterte an der unteren Piave (15--24. Juni).

 682
<pb/> geht Graf Buriän auf die Probleme der inneren Politik über -- nicht abzusehen sind.
 Die südslawische Gefahr rückt in ihrem ganzen Umfange in allernächste Nähe und
 erheischt gebieterisch eine Entscheidung. Die staatsfeindliche Bewegung, deren
intensivste Form als Korosec-Bewegung bezeichnet werden kann, hat in der letz¬
ten Zeit rapideste Fortschritte gemacht. Fleute ist zum Erwägen keine Zeit mehr,
es muss gehandelt werden, und zwar so rasch, als möglich, solange wir den An¬
 schein des Zwanges vermeiden können. Es ist kein Tag zu verlieren. Es müssen
 Entschlüsse gefasst werden, wenn anders man vermeiden will, dass die Völker selbst
ihr Schicksal in die Hand nehmen und über die Köpfe der Regierenden hinweg über
ihre Zukunft Beschlüsse fassen. Mit dem Hinweis auf den Status quo ante oder auf
das Gesetz kann man heute das Auslangen nicht mehr finden, auch nicht mehr auf
die Machtmittel pochen, die uns zur Wahrung der Gesetze zur Verfügung stehen,
denn das Gesetz ist häufig einem Rade vergleichbar, das sich im Leeren bewegt. Je
länger die Lösung hinausgeschoben wird, desto ungünstiger wird die Rückwirkung
der südslawischen Bewegung auf die übrigen innerpolitischen Probleme. Heute sind
Lösungsmodalitäten z. B. der böhmischen Frage noch denkbar. Hat sich aber ein¬
mal der südslawische Staat aus freien Stücken konstituiert, dann wird die böhmische
Frage zur Quadratur des Zirkels. Es muss daher rasch Ordnung gemacht werden,
und zwar sowohl in Kroatien, als auch in Bosnien und der Herzegowina. Oberstes
Grundprinzip muss lauten: Beibehaltung der dualistischen Gestaltung der Mon¬
archie, hinsichtlich Kroatiens ist der bereits vorgesehene Banuswechsel unauf¬
schiebbar; eine weitere Klärung werden die derzeit im Gange befindlichen
Verhandlungen der ungarischen Regierung mit kroatischen Parlamentariern
bringen.

   Was Bosnien und die Herzegowina anbelangt, so muss vor allem ein Unrecht
gutgemacht werden, welches die Bevölkerung dieser Länder als harte Zurückset¬
zung empfindet. Dieses Unrecht würde dadurch beseitigt werden, dass den Bos-
niaken und Herzegowcen die Rechtsgleichheit mit den übrigen Untertanen Seiner
k.u.k. Apostolischen Majestät zugestanden wird. Sie dürfen nicht weiterhin quasi
als Staatsbürger zweiter Ordnung behandelt werden. Den Ausgangspunkt einer
jeden staatsrechtlichen Neuregelung in Bosnien und der Herzegowina bildet das
Gesetz vom Jahre 1880,3 welches diesbezüglich eine vorherige Einigung der k.k. und
kgl. ung. Regierung und hierauf die Einigung des österreichischen und ungarischen
Parlamentes vorsieht. So wie die Dinge heute stehen, ist aber von dieser schwerfäl¬
ligen Maschinerie allein das Heil nicht zu erwarten. Es handelt sich also darum,
um das Gesetz vom Jahre 1880 herumzukommen. Dies könnte auf die Weise
geschehen, dass dem Schlagworte »Selbstbestimmungsrecht der Völker« in einer
Regierungserklärung, welche gleichzeitig mit dem Banuswechsel zu erfolgen hätte,
Rechnung getragen würde. Diese Erklärung würde die definitive Entscheidung
über die Zugehörigkeit Bosniens und der Herzegowina dem Votum des ad hoc
einzuberufenden Sabors anheimgeben. Das Inkrafttreten der diesbezüglich gefassten

    3 Das österreichische Gesetz v. 22. Februar 1880 und der ungarische Ges.Art. VI. v. J.
1880 basieren auf dem § 25 des am 13. Juli 1878 abgeschlossenen Berliner Vertrages bzw. auf
der zwischen Österreich-Ungarn und der Türkei am 21. April 1879 abgeschlossenen Durch¬
führungskonvention.

                                                                                                               683
<pb/>Beschlüsse müsste indessen in Anbetracht der obwaltenden Schwierigkeiten vor¬
nehmlich technischer Natur auf einen unmittelbar nach Friedensschluss gelegenen
Zeitpunkt verschoben bleiben.

  Bezüglich Dalmatiens wird es Sache der österreichischen Regierung sein, die
entsprechenden Schritte einzuleiten; ein mit den vorskizzierten analoges Vorgehen
scheint auch hier geboten.

   Die slowenische Frage bezeichnet Graf Buriän als eine junge und gekünstelte,
deren Tragweite nicht überschätzt werden dürfe.

   Was nun die Rückwirkung der bulgarischen Ereignisse auf das übrige Inland
betrifft, so werden sie angesichts der allenthalben zunehmenden Kriegsmüdigkeit
zweifellos ein starkes Vibrieren zur Folge haben. Es wird daher Sache der presspoli¬
tischen Klugheit sein, die eingetretene Wendung vorsichtig zur Kenntnis der
Öffentlichkeit zu bringen.

   Auch unsere Verbündeten stehen heute vor einem Problem, das namentlich für
die Türkei ganz ausserordentliche Gefahren in sich birgt, insoferne als die Mög¬
lichkeit, von den Zentralmächten abgeschnitten zu werden, wieder aktuell wird.
Auch wenn diese Gefahr beseitigt werden kann, so sind von einem eventuell neutra¬
len Bulgarien bezüglich der glatten Abwicklung der Durchfuhr so manche Schwie¬
rigkeiten zu gewärtigen.

   Und nun zu Deutschland: Die erste Aufgabe, die wir mit Deutschland zu lösen
haben, ist die Aufstellung einer neuen Front gegen die Salonikiarmee, entweder
mit den Resten der noch verlässlichen bulgarischen Heeresteile, im Notfälle auch
ohne dieselben. Dieser neuen Heeresfront wird es vor allem obliegen, das Vordrin¬
gen der Ententearmee aufzuhalten und, wenn tunlich, den Weg nach Konstan¬
tinopel frei zu halten. In diplomatisch-politischer Hinsicht muss der Friedensfa¬
den unbedingt fortgesponnen werden. Diesbezüglich wird es sich vielleicht als
notwendig erweisen, ein konkretes Friedensangebot zu stellen, welches noch vor
dem 15. Oktober zu lancieren wäre und in ziemlich präziser Form unsere Friedens¬
bedingungen zu formulieren hätte. In dieser Hinsicht ist ein reger Gedanken¬
austausch mit der deutschen Regierung im Zuge. Dem k.u.k. Botschafter in Berlin
sind folgende Instruktionen erteilt worden:

   1. Der deutschen Regierung dringend nahezulegen, ihre inneren Verhältnisse so
rasch als möglich in Ordnung zu bringen, denn ein Grossteil, des deutschen Volkes
hat heute das Vertrauen in seine Regierung und in das derzeit herrschende poli¬
tische System eingebüsst.

   2. Das Berliner Kabinett zur Festlegung seiner Friedensbedingungen zu veran¬
lassen. In dieser Hinsicht wird die deutsche Regierung darüber aufzuklären sein,
dass unter Umständen und zwar im Interesse der Rettung des Ganzen -- auch
ihrerseits Opfer gebracht werden müssen. Das wirksamste Opfer zwecks Herbei¬
führung des Friedens erblickt die k.u.k. Regierung in einer Revision der Besitz¬
verhältnisse in Elsass-Lothringen, schlimmsten Falles in einer zum mindesten
partiellen Abtretung dieser Gebiete. Hiebei wird hervorzuheben sein, dass das noli
me tangere, welches diese Länder heute gegenüber französischen Petiten bilden, ein
Credo neueren Datums darstellt, während Deutschland in den ersten Phasen des
Krieges -- allerdings im schroffsten Gegensatz zur deutschen Obersten Heereslei-

684
<pb/>tung - zu Verhandlungen über die Zukunft Elsass-Lothringens mit unseren
Feinden bereit war.

   3. Fortsetzung der Beratungen über die Regelung der polnischen Frage mit
dem Endziel: Austro-polnische Lösung.

   4. Der deutschen Regierung unablässig vor Augen zu führen, dass eine Fort¬
führung des Krieges über das Jahr 1918 hinaus für die Monarchie ein Ding
der Unmöglichkeit ist.

   Hiemit schliesst Graf B u r i ä n seine Ausführungen.
   Als nächster Redner kommt der kgl. ung. Ministerpräsident zum
Wort. Dr. Wekerle erklärt sein Einverständnis mit dem Gedankengange des
Grafen Buriän und stimmt dem von demselben vorgeschlagenen modus procedendi
vollinhaltlich zu. Auch er sei überzeugt, dass aus wirtschaftlichen, militärischen
und innerpolitischen Gründen eine längere Fortführung des Krieges ausgeschlossen
sei. Bezüglich der innerpolitischen Neuordnungen müsse das Festhalten am Dualis¬
mus unbedingt oberster Grundsatz bleiben. (Im Zusammenhänge hiemit hebt
Dr. Wekerle hervor, dass das Verhältnis zwischen den beiden Staaten der Monar¬
chie bedauerlicherweise noch nie so schlecht war, wie im gegenwärtigen Augen¬
blicke.) Was unsere Friedensbedingungen anbelangt, so wünscht der kgl. ung.
Ministerpräsident, dass wenn irgendwie möglich, an dem Prinzipe der Aufrechter¬
haltung der Integrität der Monarchie festgehalten werde -- und dies nicht nur
in territorialer Hinsicht. Vor allem müsste ein Festsetzen der Italiener am östlichen
Ufer des adriatischen Meeres verhindert werden. Auch wäre es im höchsten
Interesse Ungarns, wenn die im Bukarester Frieden verlangte Grenzrektifikation,4
welche ja grossenteils nur die Wiederherstellung eines früheren Grenzzuges
darstelle, nicht wieder aboliert würde. Dr. Wekerle warnt diesbezüglich eindring¬
lichst vor übereilten Schritten.
   Hierauf erteilt Seine k.u.k. Apostolische Majestät dem k.k. Minister¬
präsidenten das Wort. Auch Freiherr von Hussarek erklärt, seine Überein¬
stimmung hinsichtlich des von Grafen Buriän in der aussenpohtischen und Friedens¬
frage erörterten Gedankenganges. Eine wesentliche Unterstützung in der von den
Regierungen zu bewältigenden Arbeit erblickt er in einer ruhigen, zielbewussten
journalistischen Beruhigungs- und Aufklärungs-Arbeit. Was die innerpolitische
Rekonstruktion Österreichs anbelangt, werde er demnächst Gelegenheit nehmen,
vor dem Parlamente sein Programm zu entwickeln. Anknüpfend an eine Bemer¬
kung Dr. Wekerles, welcher sich für die Wahrung der Integrität der Monarchie
eingesetzt habe, reflektiert Freiherr von Hussarek auf Punkt 10 des Wilsonschen
Januar-Programms,5 welcher eine Befriedigung der italienischen Petite nach klar
erkennbaren Grenzen vorsieht. Im Friedensvertrag, welcher den Krieg mit Italien
im Jahre 18668 zum Abschluss brachte, sei -- so führt der k.k. Ministerpräsident

   4 Der am 7. Mai 1918 abgeschlossene Friedensvertrag vonBukarest sah einige, unbedeutende
Grenzrektifikationen an der ungarisch-rumänischen Grenze vor.

   5 Wilsons Punkt 10 wollte den Völkern Österreich-Ungarns die Freiheit zu autonomer
Entwicklung sichern, ohne die Monarchie zu zerschlagen.

   6 Auf Grund des Wiener Friedens vom 3. Oktober 1866 fand in Venedig eine Volksabstim¬
mung statt, die sich fast einstimmig für den Anschluß an Italien erklärte. Istrien, Friaul und
Südtirol blieben weiterhin österreichisch.

                                                                                                              685
<pb/>aus -- eine endgiltige Abgrenzung zwischen Italien und Österreich zu erblicken,
umso mehr als die in diesem Vertrage festgelegten territorialen Verhältnisse durch
ein mehr als dreissigjähriges Allianzverhältnis sanktioniert worden seien. Im
übrigen fürchte Freiherr von Hussarek im Trentino das Votum eines Plebiszits
keineswegs, zumal wirtschaftliche Erwägungen den Anschluss dieses Landesteiles
an Österreich fordern. Was das Verhältnis zu Ungarn anbelangt, so steht auch
Freiherr von Hussarek grundsätzlich auf dem Boden des Dualismus, doch möchte
er zu bedenken geben, dass territoriale Neuordnungen, z. B. die Angliederung
Polens in dieser Hinsicht gewisse Korrekturen notwendig machen könnten. Hin¬
sichtlich der südslawischen Frage bemerkt der k.k. Ministerpräsident, dass in der
breiten österreichischen Öffentlichkeit, namentlich in parlamentarischen Kreisen
die Meinung obwaltet, dass sämtliche südslawische Landesteile als ein separates
Ganzes vereinigt werden sollten -- eine Meinung, der er persönlich auch bei¬
pflichten möchte. Der vom Grafen Buriän vorgeschlagene modus procedendi
entspreche auch seiner Auffassung und würde er vor allem möglichst rasches
Handeln begrüssen. Was im speziellen Dalmatien anbetrifft, so liege eine Mani¬
festation des dalmatinischen Landesausschusses und der dortigen Reichsrats¬
abgeordneten vor, welche den Zusammenschluss Dalmatiens, Bosniens, der Herze¬
gowina, Kroatiens und Slawoniens -- aber unabhängig von Ungarn -- fordert.
Auch der Angliederung der slowenischen Landesteile sei in dieser Manifestation,
allerdings ohne viel Nachdruck, gedacht. Diese Manifestation kann eigentlich
bereits als Willensmeinung der dalmatinischen Bevölkerung angesehen werden.
Die Einberufung des dalmatinischen Landtages ohne Einschluss der übrigen
Landtage würde Schwierigkeiten begegnen und müsste diese Seite der Frage erst
gründlich durchberaten werden.

   Die übrigen innerpolitischen Probleme Österreichs bilden derzeit den Gegen¬
stand eifrigster Erwägung und intensiver Beratung im Schosse des k.k. Kabinetts.
Zuerst werde die Zweiteilung der böhmischen Landesverwaltung durchgeführt
werden müssen, worauf die Regierung mit den Parteien in Verhandlungen über
 die Neugestaltung einzutreten gedenkt. Viel Erfolg erwartet sich Freiherr von
 Hussarek allerdings vorerst nicht, doch werde der Welt ad oculos demonstriert
 werden, dass wir uns der Notwendigkeit einer Rekonstruktion nicht verschliessen.
 Die Welt werde uns gleichsam an der Arbeit sehen. Auf eine Äusserung des
 königl. ungarischen Ministerpräsidenten reflektierend, derzufolge das Verhältnis
 zwischen Österreich und Ungarn vieles zu wünschen übrig lasse, richtet Freiherr
 von Hussarek einen dringenden Appell an seinen ungarischen Kollegen, bezüglich
 der Unterstützung mit Nahrungsmitteln so large als möglich vorzugehen.

    Als letzter ergreift der Chef des Generalstabes das Wort und
 erörtert die zu ergreifenden militärischen Massnahmen: Räumung Albaniens
 und rasches Aufhalten der Saloniker Ententearmee bei tunlichster Sicherung
 des Weges nach Konstantinopel. (Das Aufstellen einer entsprechenden Abwehr¬
 front auf serbischem Gebiete würde angesichts der sehr mangelhaften Bahn¬
 verbindungen zirka 30 Tage in Anspruch nehmen.) Was den Geist in der Armee
 anbelangt, so bessere sich derselbe zusehends mit der Ernährung. Ein Truppen¬
 körper, dem unlängst das Gerücht von der beabsichtigten Abtretung Südtirols

 686
<pb/>zu Ohren gekommen war, habe energisch gegen eine solche Gebietszession Ein¬
spruch erhoben. Sehr schlecht sei es mit der Bekleidung der Armee sowie mit
dem Munitionsersatz bestellt. Bis zu Jahresschluss könne mit den vorhandenen
Vorräten das Auslangen gefunden werden -- von da ab wird es aber unausweich¬
lich bergab gehen, so dass -- wenn der Krieg nicht früher beendet wird -- die
Armee eventuell von einer Katastrophe bedroht werden könnte.

  Seine k.u.k. Apostolische Majestät resümiert hierauf die während des Kronrates
vorgebrachten Vorschläge wie folgt:

   1. Rascheste Ersetzung des Banus von Kroatien-Slawonien.
   2. Enunziation der k.k. und kgl. ung. Regierung in der südslawischen Frage,
dahin gehend, dass die definitive Entscheidung über die Zugehörigkeit Bosniens
und der Herzegowina sowie Dalmatiens den in Betracht kommenden Volks¬
vertretungen Vorbehalten bleibt.
   3. Rascheste Inangriffnahme der inneren Rekonstruktion Österreichs.
   4. Ehetunlichste Ratifizierung des Bukarester Friedens.
   5. Fortgesetzte Beratung der polnischen Frage unter Festhalten an der austro-
polnischen Lösung.
   6. Energischer Druck auf Deutschland in der Friedensfrage.

            Original-Reinschrift. -- Die Einsichtnahme wurde auf dem Mantelbogen des
        Protokolls von sämtlichen Teilnehmern des Ministerrates bestätigt. In der rechten
        oberen Ecke dieses Blattes folgender Vermerk: »nach Reinschrift zurück an Herrn
        Baron Kazy«. -- Auf dem letzten Blatt die Kenntnisnahme durch den Herrscher:
        »Reichenau, am 14. Oktober 1918.«-- Unten links die Unterschrift des Protokollführers
        Colloredo. Die Unterschrift des Ministers des Äußern fehlt. -- Ebd. das Konzept des
        Protokolls, das den Ministerrat »Kronrat« nennt. Dieses Exemplar wurde vom Mini¬
        ster des Äußern Buriän in der Liste der Anwesenden mit seiner Unterschrift signiert.

                                                                                                               40.

                                                                                  Wien, 2. Oktober 1918

        In seiner Vormittagssitzung beschließt der Ministerrat nach längerer Debatte, auf
        das Friedensangebot Wilsons über die schwedische Regierung zu antworten. In seiner
        Nachmittagssitzung konnte über den Antrag des Ministers des Äußern zur Lösung
        der südslawischen Frage keine Einigung erzielt werden. Es ergab sich ein scharfer
        Gegensatz zwischen dem dualistischen und dem trialistischen Standpunkt.

            Österreich-Ungarn hatte am 14. September 1918 an den amerikanischen Präsidenten
        Wilson eine Note gerichtet, in der die Einberufung einer Friedenskonferenz vorge¬
        schlagen wurde. Wilson, der bereits zur Zeit der Friedensverhandlungen in Brest-
        Litowsk, in seiner am 8. Januar 1918 gehaltenen Rede die von ihm als prinzipielle
         Grundlage der Friedensverhandlungen gedachten Punkte bekanntgegeben und seine
        prinzipielle Stellung auch nachher in wiederholten Erklärungen, so zuletzt in seiner
        am 27. September gehaltenen Rede dargelegt hatte, hat das österreichisch-ungarische
        Friedensangebot abgewiesen. Das Expose Buriäns zielt auf die Rede des Präsidenten

                                                                                                               687
<pb/>