MRP-2-0-07-0-19170122-P-0021.xml

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Gemeinsamer Ministerrat, 22. 1. 1917

I. Zur Frage des rücksichtslosen U-Bootkrieges

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_VII/pdf/oe_hu_mrp_VII_z21.pdf.

   Schliesslich hält sich der k.k. Ministerpräsident für verpflichtet, auf
die seinen Nachrichten zufolge in allen Teilen Österreichs rapid zunehmende
Kriegsmüdigkeit hinzuweisen.

            Original-Reinschrift. -- Die Einsichtnahme wurde auf dem Mantelbogen des
        Protokolls von sämtlichen Teilnehmern des Ministerrates bestätigt. Neben der Unter¬
        schrift Conrads mit Bleistift geschrieben: »Bleistiftl(iche) Correcturen beigefügt«. -- Auf
        dem letzten Blatt die Kenntnisnahme durch den Herrscher: »Baden, 2. Februar
         1917.« T inks unten die Unterschrift Colloredos. Die Unterschrift des Ministers des
        Äußern fehlt. -- Ebd. das handschriftliche Konzept des Protokollführers mit vielen,
        von ihm vorgenommenen Korrekturen. Ohne Unterschrift und Handzeichen. Auf dem
         Mantelbogen seitwärts rechts mit Bleistift, mit der Handschrift Czernins: »3 Rein¬
        schriften für S.M. pro actis und das pol. Tagebuch Cz.« -- Ebd. auch eine einfache
        maschinengeschriebene Kopie (mit der Aufschrift »Abschrift«).

                                                                                            21.

                                                                                   Wien, 22. Januar 1917

         Debatte über den uneingeschränkten Unterseebootkrieg. Der Kronrat nimmt für
         denselben Stellung.

            Die Chancen für eine siegreiche Beendigung des Krieges durch die Mittelmächte
         werden selbst in den Augen der optimistischen führenden Politiker immer geringer.
         Da entschloß sich die Deutsche Oberste Heeresleitung, ihren letzten Trumpf auszuspie¬
        len. Am 9. Januar 1918 wurde im deutschen Hauptquartier der Beschluß gefaßt, zum
         uneingeschränkten U-Boot-Krieg überzugehen. Obwohl Reichskanzler Bethman-
         Hollweg gegen diesen verhängnisvollen Schritt war, weil er mit Recht den Kriegsein¬
         tritt der Vereinigten Staaten von Amerika befürchtete, gab Kaiser Wilhelm dem
         Drängen der Deutschen Obersten Heeresleitung nach. Er stellte nur die eine, kaum
         mehr als formelle Bedingung, den Herrscher der Österreichisch-Ungarischen Monar¬
         chie und seine Regierung vorher davon zu unterrichten und ihre Zustimmung ein¬
         zuholen. Aus den Memoiren Ottokar Czernins (Im Weltkriege, S. 161 ff., besonders
         S. 167) wissen wir, daß der Befragung Karls und seiner Mitarbeiter keinerlei prak¬
         tische Bedeutung zukam. Ihre Gegenargumente wurden auch nicht im gemeinsamen
         Kronrat, sondern in zwei vorangegangenen, am 20. Januar abgehaltenen vertraulichen
         Besprechungen in Anwesenheit der Vertreter des Deutschen Reiches, Admiral Holtzen-
         dorffs, und des Staatssekretärs für Auswärtiges, Zimmermann, vorgebracht. Der
         Kronrat vom 22. Januar 1917 nahm einstimmig für den uneingeschränkten Unter¬
         seebootkrieg Stellung. Die deutsche Reichsregierung teilte am 31. Januar den Ver¬
         einigten Staaten in einer Note mit, daß sie vom nächsten Tage, dem 1. Februar an
         ihre Unterseeboote uneingeschränkt einsetzen werde.

Protokoll des zu Wien am 22. Jänner 1917 abgehaltenen Ministerrates für gemein¬
same Angelegenheiten, unter dem Allerhöchsten Vorsitze Seiner Majestät des Kai¬
sers und Königs.

 452
<pb/>    K.Z. 5. - G.M.K.P.Z. 532.

    Gegenwärtige: der Minister des k.u.k. Hauses und des Äußern Graf C z e r n i n,
 der kgl. ung. Ministerpräsident Graf T i s z a, der k.k. Ministerpräsident Graf
 C1 a m - M a r t i n i c, der k.u.k. Chef des Generalstabes FM. Freiherr von
 Conrad, der k.u.k. Kriegsminister G. O. Freiherr von K r o b a t i n, der
 Vorstand der Militärkanzlei Seiner Majestät des Kaisers und Königs, FML.
  Ritter von Marterer.

     Protokollführer: Legationsrat Graf Colloredo.

     Gegenstand: Zur Frage des rücksichtslosen U-Bootkrieges.

     Seine k.u.k. Apostolische Majestät geruhen, den Ministerrat zu
  eröffnen, indem Allerhöchstderselbe bemerkt, dass Seine Majestät der Deutsche
  Kaiser Allerhöchstihm die Entscheidung über das Einsetzen des verschärften
  U-Bootkrieges überlassen habe. Seine Majestät lege Wert darauf, die gegen¬
  ständliche Ansicht der Anwesenden zu hören, bevor Er diesbezüglich einen
  Entschluss fasse. Seine Majestät geruhen sodann dem Minister des Äussern das
  Wort zu erteilen.

     Graf C z e r n i n führt zunächst aus, dass nichts unversucht bleiben dürfe,
  um ein baldiges Ende des Krieges herbeizuführen. Deshalb habe er auch bei
  Übernahme seines Amtes sich dafür entschieden, die von seinem Amtsvorgänger
  begonnene Friedensaktion weiterzuführen,1 obwohl er -- angesichts der dama¬
  ligen Sachlage -- deren Einsetzen für verfrüht ansah und es vorgezogen hätte,
  wenn dieselbe erst dann initiiert worden wäre, wenn die zu erwartende General-
  offensive unserer Gegner zu einem Misserfolge geführt haben würde. Der Auf¬
  nahme des rücksichtslosen U-Bootkrieges gegenüber habe er sich bisher ablehnend
  verhalten. Die Gründe, welche ihn zu dieser Auffassung veranlasst hätten,
  basierten zunächst auf der zuversichtlichen Darstellung, welche vornehmlich
* deutscherseits über die militärische Lage des Vierbundes gegeben wurde. Auch sei
  er stets der Ansicht gewesen, dass die Chancen, England auf die Knie bringen zu
  können, sehr geringe seien. Weiters habe er die Perspektive eines Eingreifens
  Amerikas und des hieraus resultierenden Eindruckes auf die übrigen Neutralen
  als eine höchst bedenkliche angesehen. Dies sei bis vor kurzem seine Ansicht gewe¬
  sen. Nun werden aber von den Deutschen seit einiger Zeit die Dinge in einem
  ganz anderen Lichte dargestellt. Es heisse nunmehr, dass die kommende Entente-
  Offensive für die Westfront so manche Gefahrmomente in sich berge, falls nicht
  durch rücksichtslose Ausnützung der U-Bootwaffe die Zufuhr an Rohstoffen
  und fertiger Munition unterbunden und auf diese Weise die Wucht des gegneri¬
  schen Angriffes abgeschwächt werden kann. Aber selbst wenn es gelingen sollte,
   den Anprall unserer Gegner aufzuhalten, müsse -- so argumentiere man jetzt
   in Deutschland -- unbedingt gegen Ende des Jahres 1917 für den Vierbund eine
   höchst kritische Situation eintreten. Wir würden sozusagen automatisch in ein
   Stadium der Agonie verfallen und infolge von Entkräftung schhesslich zusammen¬
   brechen. Falls dieses pessimistische Bild zutreffen sollte, dann müssten selbstre-

       1 St. Buriän a.a.O., S. 154 ff.

                                                                                                       453
<pb/>dend auch die deutscherseits vorgeschlagenen Konsequenzen gezogen und der
rücksichtslose U-Bootkrieg als einziges zu Gebote stehendes Korrektivmittel
herangezogen werden. Der zu fassende Entschluss müsse also vor allem auf das
Fachurteil der militärischen Organe basiert werden, weshalb es notwendig er¬
scheine, die Ansicht dieser Faktoren über die Richtigkeit der deutschen Besorg¬
nisse zu hören.

   Mit Allerhöchster Ermächtigung ergreift sodann der k.u.k. Chef des
Generalstabes das Wort. Baron Conrad erklärt zunächst, dass die deutsche
Darstellung der Lage vollkommen den Tatsachen entspreche und dass infolge¬
dessen die deutscherseits präkonisierten Konsequenzen aus derselben abgeleitet
werden müssen. Es bestehe wohl die Möglichkeit, den Anprall der Gegner auf¬
zuhalten, von einer diesbezüglichen Sicherheit könne aber nicht die Rede sein.
Mit aleatorischen Momenten müsse im Kriege immer gerechnet werden, wofür
die Lucker Ereignisse2 den besten Beweis böten. Es müsse daher alles aufgeboten
werden, um unsere gefährdeten Fronten tunlichst zu entlasten und hiezu
gebe es kein anderes Mittel, als das Einsetzen des rücksichtslosen U-Boot-
krieges.

   Der k.u.k. Kriegsminister, welcher hierauf zu Worte gelangt, erklärt
sich gleichfalls aus militärischen Rücksichten für die Verschärfung des U-Boot-
krieges. Bezüglich der Möglichkeit einer Aushungerung Englands sei der Minister
zwar skeptisch, aber der oberste Grundsatz in der Kriegführung sei die Schädi¬
gung des Gegners und dieser Grundsatz müsse unbedingt befolgt werden. England
sei der Träger des Gedankens der Fortsetzung des Krieges -- es müsse daher
das Übel an der Wurzel gefasst und die Schädigung des Hauptgegners, d. i.
Englands, unverzüglich und wirksamst in Angriff genommen werden. Zudem
dürfe nicht vergessen werden, dass die Lage am Balkan keine Mehrbelastung
vertrage; wir können dorthin keine wesentlichen Verstärkungen schicken, daher
müsse eine Stärkung der gegnerischen Balkanarmeen unbedingt verhindert werden.
Das einzige Mittel hiezu erblicke er im verschärften U-Bootkriege. Ferners müsse
man bedenken, dass unser Menschenmaterial nach und nach versiegt, dass wir
in einigen Monaten Mangel an den zur Munitionserzeugung notwendigen Metallen
leiden werden und dass endlich auch die Ernährungsfrage in Anbetracht der sich
progressiv verschlechternden Ernteerträgnisse sich immer schwieriger gestalten
müsse.

   Zusammenfassend gibt Baron Krobatin seiner Ansicht dahin Ausdruck, dass
im Winter 1917--18 sozusagen automatisch eine äusserst kritische Situation ein-
treten müsse, wenn nicht vorher mittels Anwendung des rücksichtslosen U-Boot-
krieges unsere Gegner zur Raison gebracht werden können.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident, welcher mit Allerhöchster Geneh¬
migung sodann in die Debatte eingreift, führt zunächst aus, er sei bis vor kurzem
ein entschiedener Gegner des U-Bootkrieges gewesen und hätte stets dafür plä¬
diert, dass der U-Bootkrieg im bisher ausgebüten Massstabe (Versenkung von
zirka 400.000 Tonnen per Monat) fortgeführt werden sollte. Erst in einem späteren

   2 Durchbruch der Russen unter General Brussilow bei Luck am 8. Juni 1916.

454
<pb/>Zeitpunkte -- wenn einmal England eine bedeutende Menge von Schilfsraum
eingebüsst haben werde, hätte man dem Gedanken einer Verschärfung näher
treten können. Zu dieser seiner bisherigen Stellungnahme habe sich Graf Tisza
vor allem durch die Erwägung veranlasst gesehen, dass er die Illusionen, respek¬
tive unbestimmten Hoffnungen, welche an die Aushungerung Englands die weit¬
gehendsten Erwartungen knüpfen, nicht teilen könne. An der Hand der statisti¬
schen Daten führt der Minister sodann aus, wie wenig Wahrscheinlichkeit dafür
bestehe, dass diese Träume in Erfüllung gehen. Auch habe er stets der Ansicht
gehuldigt, dass Amerika ein keineswegs zu unterschätzender Gegner sei. Dem
vom k.u.k. Kriegsminister aufgestellten Grundsätze, wonach der Gegner wo und
wie immer geschädigt werden müsse, pflichte er sicherlich bei, falls man sich durch
ein derartiges Vorgehen nicht neue Gegner auf den Hals schaffe, denn dann würde
dieses im Grunde gewiss unanfechtbare Prinzip ad absurdum geführt. Nun aber
stehe man angesichts der deutschen Besorgnisse bezüglich der weiteren Ent¬
wicklung der Kriegslage vor einer ganz neuen Situation. Während bisher die
militärische Lage zuversichtlich betrachtet wurde, halte man namentlich die
Westfront für gefährdet, falls keine Entlastung durch den U-Bootkrieg geschaffen
wird.

   In Anbetracht dieser nunmehr geänderten Situation sehe sich Graf Tisza ver¬
anlasst, an den Chef des Generalstabes nachfolgende Fragen zu richten:

   1. Sind seitens des Vierbundes in absehbarer Zeit irgendwelche offensive
Aktionen in Aussicht genommen oder haben sich die Heeresleitungen für rein
defensive Massnahmen entschieden?

   2. Wie schätzten die Heeresleitungen die Stosskraft der zu erwartenden Offen¬
sive, namentlich Russlands ein?

   3. Wie beurteilt der Chef des Generalstabes die Situation an der deutschen
Westfront und wird die an dieser Front zu erwartende anglo-französische Offen¬
sive -- nach Ansicht der kompetenten Faktoren -- mit erheblich grösseren Kräf¬
ten einsetzen als denjenigen, welche zur Zeit der Somme-Offensive dem Gegner
zur Verfügung standen?

   Entscheide man sich für den rücksichtslosen U-Bootkrieg, dann dürfe man nicht
vergessen, dass die zweifelsohne in allen Ländern bestehenden Friedensstimmungen
mit einem Schlage verschwinden und dass wir fortan alles aufbieten müssten,
um den Gegner tatsächlich auf die Knie zu bringen.

   Resümierend gibt Graf Tisza ebenfalls seiner Ansicht dahin Ausdruck, dass
die Entscheidung von der Beurteilung der militärischen Lage und deren voraus¬
sichtlicher Entwicklung in der Zukunft abhängig gemacht werden müsse.

   Der k.u.k. Chef des Generalstabes, welcher sodann das Wort
erhält, bemerkt zu Beginn seiner Ausführungen, dass eine präzise Beantwortung
der an ihn gestellten Fragen kaum möglich sei, da man sich im Kriege, wie er
bereits hervorgehoben habe, nicht auf Prophezeiungen einlassen könne.

   Was zunächst den ersten der von Grafen Tisza aufgestellten Fragepunkte anbe¬
langt, erklärt Baron Conrad, dass mangels verfügbarer Kräfte die Offensive in

                                                                                                    455
<pb/>Rumänien abgestoppt werden müsse, sobald die Serethlinie erreicht sei. Man
habe zwar einen Offensivstoss in Ostgalizien in Betracht gezogen, habe aber diesen
Plan fallen lassen müssen, weil eben nicht die genügenden Kräfte zur Verfügung
standen. In zwei Monaten werde man klar sehen und beurteilen können, ob eine
Offensivaktion möglich oder aber ein bloss defensives Verhalten angezeigter sei.

   Hinsichtlich des zweiten und dritten Punktes erwarten die Heeresleitungen sowohl
an der Westfront wie auch wahrscheinlich am Isonzo gegnerische Angriffe grössten
Stiles mit einem kolossalen Aufgebote von Artillerie und Munition und mit der
vornehmlichen Tendenz der Vernichtung unseres Menschenmateriales. Hier könne
Baron Conrad seine Besorgnisse nicht unterdrücken. Man dürfe nicht vergessen,
dass die Deutschen im Monate Dezember bei Vaux, wo sie 200 Geschütze, dar¬
unter 100 schwere, einbüssten, eine empfindliche Niederlage erlitten haben. Der¬
artige Fälle könnten sich leicht wiederholen und grössere Dimensionen annehmen,
was dann auf die Gesamtlage einen bedenklichen Einfluss ausüben könnte.
Daher müsse zu dem Auskunftsmittel der Unterbindung des Nachschubes an
Munition und Rohmaterial aus Amerika gegriffen werden, was eben nur durch
eine Verschärfung des U-Bootkrieges erreicht werden könne.

   Was die Schlagkraft der russischen Armee anbelangt, so fasst der Chef des
Generalstabes seine Meinung dahin zusammen, dass das russische Heer zweifels¬
ohne qualitativ schlechter sei als vor einem oder eineinhalb Jahren; es kämen
zahlreiche Fälle von Desertion und Gehorsamsverweigerung vor; verfehlt wäre
es indessen, von einer Dekomposition der russischen Armee zu sprechen, denn
Menschen werden derselben auch in Zukunft hinreichend zur Verfügung stehen
und an Kriegsmitteln werde sie auch keinen Mangel leiden.

   Die Armee Sarail habe infolge von Krankheiten und anderer Umstände bisher
noch nicht viel geleistet, immerhin sei der Erfolg bei Monastir nicht zu unter¬
schätzen. Bezüglich der künftigen Entwicklung der Dinge an dieser Front sei es
schwer, irgend etwas zu sagen.

  An der italienischen Front sei das Zahlenverhältnis wie 2 : 1 zu unseren Ungun¬
sten. Zudem geniesse Italien die Vorteile des engen Raumes sowie einer vorzüg¬
lichen Ausrüstung zumal in Artillerie und Minenwerfern.

   Wie immer aber die Lage angesehen werden mag, eines steht fest: die zu erwar¬
tenden Kämpfe werden eine Kraftprobe allerersten Ranges bedeuten, wobei zu
bedenken sei, dass die gegnerischen Angriffe nicht nach einigen Tagen ablaufen,
sondern, wie bei der Somme-Offensive, Wochen andauern werden.

   Gelingt es, die Tonnage Englands in kurzer Zeit erheblich zu verringern, dann,
so meint Baron Conrad, werde das Inselreich einlenken in der Erwägung, dass
eine weitere Schädigung seiner Handelsflotte nur Amerika und Japan zugute
kommen könne und dass diese Staaten bei Fortsetzung des Krieges ihm leicht
den Rang der ersten seefahrenden Nation der Welt ablaufen könnten.

   Schliesslich spricht der Chef des Generalstabes noch den Wunsch aus, dass
die Verschärfung des U-Bootkrieges nicht auf den atlantischen Ozean beschränkt
bleibe, sondern auch auf das Mittelmeer ausgedehnt werde.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident, welchem Seine Majestät sodann
das Wort zu erteilen geruht, nimmt zu den Ausführungen des Chefs des General-

456
<pb/>Stabes Stellung, welche er dahin auslegen zu können glaube, dass sich die Heeres¬
leitung für die nächsten zwei Monate für eine zuwartende Haltung entschieden
habe und dass sich die Heeresleitung vom Einsetzen des U-Bootkrieges eine
wesentliche Beeinflussung des Gelingens der gegnerischen Offensivabsichten ver¬
spreche. (Baron Conrad erwidert, dass diese Auffassung seiner Worte die
richtige sei.)

   In Anbetracht der von Baron Conrad und Baron Krobatin hinsichtlich der
militärischen Lage gegebenen Aufschlüsse erklärt Graf T i s z a, dass nichts
anderes übrig bleibe, als gewisse, von ihm früher berührte Friedensmöglichkeiten
vorderhand aufzugeben und sich für die rücksichtslose Verwendung der U-Boot-
wafle auszusprechen. Graf Tisza gibt hiebei der Erwartung Ausdruck, dass
Deutschland nochmals auf die Gefahren aufmerksam gemacht werden möge,
welche die Aufnahme der in Rede stehenden Aktion in politischer Hinsicht nach
sich ziehen könnte, sowie dass die k.u.k. Regierung die deutschen Illusionen
bezüglich einer baldigen Aushungerung Englands nicht teilen könne. Sollte aber
der rücksichtslose U-Bootkrieg beschlossen werden, dann möge man Deutschland
erklären, dass wir mit ganzer Kraft und ohne Hintergedanken mittun wollen.
Sei die Aktion einmal eingeleitet, dann müsse sie ohne Schwanken durchgeführt
werden. Man dürfe keinesfalls in den Fehler verfallen, halbenwegs stehen zu blei¬
ben. Auch dies müsste Deutschland gelegentlich der Zustimmungserklärung klipp
und klar gesagt werden. Endlich müsste einverständlich mit Deutschland ein
Modus gefunden werden, um der Schweiz gegebenenfalls mit Nahrungsmitteln
auszuhelfen und auf diese Weise ein notgedrungenes Abschwenken dieses Landes
ins Ententelager zu verhindern.

   In Übereinstimmung mit den Vorrednern spricht sich auch der klg. ung.
Ministerpräsident für die Ausdehnung des rücksichtslosen U-Bootkrieges auf
das Mittelländische Meer aus, indem er darauf hinweist, dass in keinem anderen
Lande das Volk so impressionabel sei, wie in Italien, und dass daher ein wirksames
Eingreifen der U-Bootwafie vor allem in diesem Lande weitgehende Folgen
zeitigen könnte.

   Hierauf erhält der k.k. Ministerpräsident das Wort und führt aus,
dass man bezüglich der Möglichkeit des Gelingens der geplanten Aktion voll¬
ständig auf die Auskünfte und Daten der maritimen Fachleute angewiesen sei,
da der Laie in die technischen Details keinerlei Einblick haben und sich über die
ganze Frage schwer ein zuverlässiges Urteil bilden könne. Im Vertrauen auf die
seitens der kompetenten Faktoren gegebenen Auskünfte, weiters in Anbetracht
der militärischen Besorgnisse und schhesslich in Ansehung unserer wirtschaft¬
lichen Schwierigkeiten, sowie der herrschenden Volksstimmung müsse auch er
sein Wort zu Gunsten des Einsetzens des verschärften U-Bootkrieges in die
Wagschale werfen, einfach aus dem Gefühle heraus, dass uns nichts anderes
übrig bleibt. Sollte indessen sich im Verlaufe der weiteren Begebenheiten die
Möglichkeit des Abschlusses eines billigen Friedens ergeben, so bitte Graf
Clam, dass diese Gelegenheit nicht -- etwa in der Anhoffhung unsicherer
fernerer Erfolge -- versäumt, sondern entschieden die dargebotene Hand er¬
griffen werde.

                                                                                                              457
<pb/>   Über Aufforderung Seiner Majestät gibt hierauf der Chef des General¬
stabes über die Stärke der Armeen der neutralen Staaten folgende Auf¬
schlüsse :

Schweden:      9 Infanterie-Divisionen, 1 Kavallerie-Division;

Norwegen:      4--6 Infanterie-Divisionen;

Dänemark:      4 Infanterie-Divisionen;

Holland:       y24 -- 5 starke Infanteriedivisionen (ä 18 Bataillons);
Spanien:
               20 Infanterie-Divisionen, 2 Kavallerie-Divisionen;

Nord-Amerika:

Stehendes Heer: 3 Infanterie-Divisionen,

               1 Kavallerie-Division (7107 Offiziere, 125.000 Mann),

Miliz im Frieden nur en cadre:

               8900 Offiziere

Schweiz:       119.000 Mann;

               y6 Infanterie-Divisionen, davon 3 2 mobilisiert,

               1 Kavallerie-Division.

Seine Majestät geruhen sodann die vorstehenden Ausführungen dahin zu

resümieren, dass Allerhöchstihm von allen an dem gemeinsamen Ministerrate

beteiligten Herren geraten werde, den deutschen Vorschlag auf rücksichtsloses

Einsetzen des U-Bootkrieges anzunehmen, worauf der Kronrat geschlossen wird.

   Original-Reinschrift. -- Die Einsichtnahme wurde auf dem Mantelbogen des
Protokolls von sämtlichen Teilnehmern des Ministerrates bestätigt. Auf demselben
Bogen unten links mit Bleistift geschrieben: »Gelesen K(arl)«. -- Auf dem letzten
Blatt die Kenntnisnahme durch den Herrscher: »Baden, 2. Februar 1917.« Links
unten die Unterschrift von Colloredo-Mansfeld. Die Unterschrift des Ministers des
Äußern fehlt. -- Ebd. das handschriftliche Konzept des Protokolls aus der Feder des
Protokollführers. Mit ebenfalls von ihm stammenden Korrekturen.

                                                                                           22.

                                                                                 Wien, 24. Februar 1917

        Die Probleme der Kriegsmaterial- und Geschützproduktion sowie der militärischen
        Investitionen. Arbeitermangel in den Fabriken. Transportschwierigkeiten. Inter¬
        essengegensätze zwischen dem österreichischen und dem ungarischen Finanzkapital.

        Ende August 1916 kamen Hinderiburg und Ludendorff an die Spitze der Deutschen
        Obersten Heeresleitung. Die Berufung Hindenburgs und mehr die Ludendorffs auf
        den höchsten militärischen Posten war mit der höchsten Anspannung der militärischen
        Kräfte gleichbedeutend. Der Name Hindenburgs drückte auch dem Programm den
        Stempel auf, das das gesamte deutsche Wirtschaftsleben und die Arbeitskraft der
        ganzen deutschen Gesellschaft in den Dienst der Kriegführung stellen wollte. (Das
        Programm, das den im zweiten Weltkrieg aufgekommeüen Begriff »totaler Krieg« fast

45»
<pb/>