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Gemeinsamer Ministerrat, 12. 1. 1917

I. Die polnische Frage. Unsere Kriegsziele in Verbindung mit der Friedensfrage

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_VII/pdf/oe_hu_mrp_VII_z20.pdf.

zwar beschlagnahmt und der Kriegsproduktengeseilschaft abzuliefern; doch nütze
eine Requisition nur wenig, weil dieser Artikel in durchwegs kleinen 10 -- 20 Kilom
Posten bei den Produzenten verteilt und daher schwer zu ergreifen sei.

   Rollgerste könne in Ungarn wegen des festgestellten Defizits aus ungarischer
Gerste nicht erzeugt werden; doch wäre es möglich, den Bedarf aus den rumäni¬
schen Importen zu decken, weil es sich mit Einrechnung des Malzkaffees um eine
unerhebliche Menge, im ganzen 3000 Waggons handle.

   Bezüglich Rollgerste wird demnach die Deckung des Heeresbedarfes in der Weise
vorgesehen, dass die aus Rumänien bezogene Gerste zunächst auf Rollgerste für
die Heeresverwaltung verarbeitet werden soll und erst nach Deckung dieses Be¬
darfes die weiter eingeführte Gerste anderweitig verwendet würde. Um den augen¬
blicklichen Bedarf der Heeresverwaltung decken zu können, übernimmt die
kgl. ung. Regierung die vorschussweise Erzeugung von Rollgerste aus ungarischer
Gerste, welche seitens der Heeresverwaltung aus den rumänischen Importen in der
Weise zurückzuerstatten sein werde, dass die entsprechende Menge von dem unga¬
rischen Mehlkontingente abgerechnet wird.

   Der Vorsitzende schliesst die Sitzung um V2 7 Uhr abends.

            Original-Reinschrift. -- Die Einsichtnahme wurde auf dem Mantelbogen des Proto¬
        kolls von sämtlichen Teilnehmern des Ministerrates bestätigt. Auf demselben Blatt
        links oben mit Bleistift geschrieben: »gelesen K(arl)« -- in der rechten Ecke ebenfalls
        mit Bleistift geschrieben: »f(ertig)«. Außerdem einige Ziffern und Buchstaben. -- Auf
         dem letzten Blatt die Kenntnisnahme durch den Herrscher: »Laxenburg, am 14.
        April 1917.« Unter dem Text rechts die Unterschrift Czernins, links die von Joanno-
        vics. -- Ebd. das maschinengeschriebene Konzept des Protokolls. Am Rubrum das
        Handzeichen Czernins, auf dem letzten Blatt die Unterschrift von Joannovics.

                                                                                                     20.

                                                                                 Baden, 12. Januar 1917

        Was soll mit Polen geschehen? Die maximalen und minimalen Friedensziele der
        Monarchie. Tiszas Standpunkt in der rumänischen und serbischen Frage. Der Kronrat
        sieht den Zweck des Krieges in der Aufrechterhaltung der Integrität der Monarchie.

            Ende 1916 zeigte sich bei den Völkern der Entente, besonders aber bei denen der
        Mittelmächte in immer zahlreicheren Anzeichen die Kriegsmüdigkeit und die Friedens¬
        sehnsucht wurde immer stärker. In der großen Politik trat dies in Form von Friedens¬
        fühlern und Friedensversuchen in Erscheinung. Durch das Scheitern der Friedensange¬
        bote wurden die führenden Politiker der Monarchie gezwungen, die Grundsätze ihrer
        Außenpolitik zu überprüfen. So kam im gemeinsamen Ministerrat vom 12. Januar
        auch die polnische Frage wieder auf die Tagesordnung. Ein neuer Zug dieser Frage ist,
        daß die Hoffnung der Deutschen, bei Kriegsende im Westen einen zumindest geringen

   m) Nachträgliche Eintragung Ghillänys: »10--20 Kilo«.

440
<pb/>         Gebietszuwachs zu erreichen, auf ein Minimum zusammengeschrumpft war. Deutsch¬
        land hat nun, als stärkerer unter den Mittelmächten, seine Kompensationsansprü¬
         che im Osten notwendigerweise mit größerem Nachdruck geltend gemacht. Von den
        Teilnehmern am gemeinsamen Ministerrat hat wohl Tisza daraus am schroffsten die
         Konsequenzen gezogen: die austropolnische Lösung der polnischen Frage wurde zu
         Grabe getragen. (Über das polnische Problem siehe die Kommentare zu den Proto¬
         kollen vom 6. Oktober 1915 und 7. Januar 1916.)

            In der zweiten Hälfte der Beratungen versuchte der Ministerrat, die Friedensziele
         bzw. die Bedingungen festzusetzen, unter denen mit dem Feinde Frieden geschlossen
         werden könnte. Zehn Tage vor der berühmten Rede Wilsons wurde auf diesem Mini¬
         sterrat der Begriff eines Friedens ohne Sieger und Besiegte vom Außenminister Czernin
        fast wortwörtlich so formuliert wie später vom Präsidenten der Vereinigten Staaten.
        Der Gedanke eines mit dem Zarenreich abzuschließenden eventuellen Bündnisses
         (Dreikaiserbündnis) wurde im Weltkrieg nur in dieser Ministerkonferenz aufgeworfen.
         Über die Friedensziele der Monarchie wurde noch im Ministerrat vom 22. März 1917,
         27. September, 2. und 22. Oktober 1918 beraten.

Protokoll des zu Baden am 12. Jänner 1917 abgehaltenen Ministerrates für gemein¬
same Angelegenheiten, unter dem Allerhöchsten Vorsitze Seiner Majestät des Kaisers
und Königs.

   K.Z. 4. - G.M.K.P.Z. 530.

   Gegenwärtige: der Minister des k.u.k. Hauses und des Äußern Graf C z e r~
n i n, der kgl. ung. Ministerpräsident Graf Tisza, der k.k. Ministerpräsident
Graf C1 a m-M a r t i n i c, der k.u.k. Chef des Generalstabes FM.
Freiherr von Conrad, der Stellvertreter des Vorstandes der Militärkanzlei
Seiner Majestät des Kaisers und Königs, FML. Ritter von Marterer.

   Protokollführer: Legationssekretär Graf Colleredo.

   Gegenstand: Die polnische Frage. Unsere Kriegsziele in Verbindung mit der
Friedensfrage.

   Seine k.u.k. Apostolische Majestät geruhen den Ministerrat mit der Bemerkung
zu eröffnen, dass in der heutigen Beratung zwei Fragenkomplexe zur Diskussion
gelangen sollen:

   1. die polnische Frage,
   2. die Friedensfrage in Verbindung mit den anzustrebenden Kriegszielen.
   Was die erste dieser Frage anbelangt, nämlich die polnische, so geben Seine
Majestät Allerhöchst ihrer Meinung dahin Ausdruck, dass die österreichisch¬
ungarische Monarchie das Militär-Generalgouvernement Lublin,1 welches ein
wertvolles Pfand für die Wiedergewinnung der derzeit noch vom Feinde besetzten
Gebiete Ostgaliziens und der Bukowina darstelle, unbedingt in der Hand behalten
müsse. Die Errichtung eines selbstständigen polnischen Staates währepd des

   1 Nach dem Durchbruch bei Gorlice-Tarnow und nach den Siegen vom Sommer 1915 wurde
das Militär-Generalgouvernement Lublin im unter österreichischer Verwaltung stehenden,
südlichen Teile Polens eingerichtet. Der nördliche Teil Polens gehörte zum deutschen General¬
gouvernement Warschau.

                                                                                                               44L
<pb/>Krieges sei ein Ding der Unmöglichkeit, da man im Rücken unserer Armee kein
staatliches Gebilde schaffen dürfe, von welchen man heute keineswegs Voraussa¬
gen könnte, wie es sich zu den Zentralmächten stellen werde. Nach Allerhöchster
Ansicht sollten wir uns darauf beschränken, die Verwaltung in Kongress-Polen
auszubauen, weiter aber nichts verfügen.

   Was die Regentenfrage anbetreffe, geruhen Seine k.u.k. Apostolische Majestät zu
bemerken, dass die Übertragung dieser Würde an ein Mitglied des Allerhöchsten
Kaiserhauses in Anbetracht der noch so ungeklärten Verhältnisse als untunlich
erscheint. Die Berufung einer der polnischen Aristokratie angehörenden Persön¬
lichkeit hingegen Hesse sich eher denken.

   Seine k.u.k. Apostolische Majestät geruhen hierauf dem Minister des Äussern
das Wort zu erteilen.

   Graf C z e r n i n beginnt seine Ausführungen mit einer Schilderung des Stan¬
des der polnischen Frage zur Zeit seines Amtsantrittes. Der Minister kann nicht
umhin zu erklären, dass er dieselbe in einem höchst unerfreulichen Stadium vorge¬
funden habe, betont aber gleichzeitig, dass er sich der von Seiner Majestät geäu-
sserten Meinung vollauf anschliesse dahingehend, dass die österreichisch-unga¬
rische Monarchie das Militär-Generalgouvernement Lublin unbedingt als Kom¬
pensationsobjekt behalten müsse, infolgedessen nicht der Verwirklichung des
unabhängigen polnischen Staates während des Krieges das Wort reden könne.
Deutschland strebte seiner Zeit die Verwirklichung der polnischen Selbständigkeit
an, weil ihm vor allem die Errichtung einer polnischen Armee am Herzen lag.
Da Deutschland von diesem Plane nunmehr abgegangen ist, entfalle naturgemäss
auch die Notwendigkeit der Verwirklichung der polnischen Staatsidee, welcher ja
die Armeebildung als Hauptmotiv zu Grunde lag. Die Monarchie stehe heute
allerdings vor einem fait accompli, allein die haupttreibende Kraft, nämlich die
Forderung der Errichtung einer polnischen Armee entfalle. Nach Ansicht des
Ministers des Äussern müsse sich die Monarchie nunmehr freie Hand für alle
Eventualitäten bewahren. Die günstigste Eventualität erblicke er selbstredend in
einer Lösung der polnischen Frage ohne Zutun der Entente; es müsse aber auch
die Eventuaütät einer Lösung der Fragen im Verhandlungswege mit der Entente
respektive mit Russland in Betracht gezogen werden. Für diese Eventualität sei es
vor allem notwendig, schon jetzt vorzubeugen, dass die deutsche Präponderanz
allzu grosse Dimensionen annehme.

   GelegentHch seines jüngsten Besuches in Berlin hätte die deutsche Regierung
folgende Postulate aufgestellt: Räumung des k.u.k. Okkupationsgebietes und
Errichtung einer deutschen Verwaltung unter einem sächsischen Prinzen als
Regenten. Angesichts der katastrophalen Folgen, welche ein derartiger Schritt
auf das Verhältnis Galiziens zu Österreich ausgeübt hätte, habe Graf Czernin die
deutschen Vorschläge als undiskutabel zurückgewiesen, worauf die deutsche
Regierung dieselben fallen Hess. In einer sodann von den beiderseitigen leitenden
Staatsmännern unterfertigten Abmachung sei hierauf festgelegt worden, dass die
polnische Frage bis zum Kriegsende offen bleibt. Gleichzeitig sei auch dem
Wunsche Ausdruck verliehen worden, dass eine grössere Harmonie zwischen Öster¬
reich-Ungarn und Deutschland in dieser Frage anzustreben sei.

442
<pb/>   Graf Czernih schliesst seine Ausführungen, indem er der Meinung Ausdruck
gibt, dass rebus sic stantibus von der deutschen Regierung nicht mehr zu erreichen
war, als die Erhaltung des Status quo.

   Hierauf ergreift mit Allerhöchster Genehmigung der kgl. ung. Minister¬
präsident das Wort. Graf Tisza meint, dass man es eigentlich mit zwei
getrennten Fragen zu tun habe, erstens mit der Frage, was jetzt mit Polen zu
geschehen habe, und zweitens mit jener, wie sich die Dinge nach dem Kriege
gestalten sollen.

   Was die erste Frage betrifft, so pflichtet auch Graf Tisza der Ansicht bei, dass
das k.u.k. Militär-Generalgouvernement als Pfand und Tauschobjekt in der Hand
der Monarchie verbleiben und nicht an Deutschland, sondern erst nach dem Kriege
an das zu errichtende polnische Staatswesen herausgegeben werden sollte.

   Hinsichtlich der zweiten Frage erklärt Graf Tisza, dass die Zukunft Polens eine
so weitgehende unmittelbare Wirkung auf die inneren Zustände des österreichi¬
schen Staates ausübe, dass&quot; er sich infolgedessen tunlichst den österreichischen
Wünschen anpassen wolle, selbst für den Fall, dass seine einschlägigen Ansichten
von den österreichischen divergieren sollten. Ihm (Grafen Tisza) schweben zwei
Lösungsmodalitäten vor:

   1. die sogenannte austropolnische,
   2. die deutsche Lösung, welche in der Errichtung eines Pufferstaates kulminiert, ob¬
wohl der Ausdruck auf die diesbezüglichen deutschen Aspirationen, welche dahin
gehen, aus Polen einen deutschen Vasallenstaat zu machen, nicht gut anwendbar sei.
   Graf Tisza gibt hierauf einen Rückbhck auf die Entwicklung der deutschen Poli¬
tik in der polnischen Frage und begründet den deutschen Frontwechsel mit der
erst nach und nach eingetretenen Erkenntnis, dass die zu Kriegsbeginn bestandenen
Hoffnungen auf Gebietserweiterungen im Westen irrealisabel seien und dass daher
im Osten ein Regress gesucht werden müsse. So kam Deutschland nach und nach
zur Forderung der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eingliederung
des ressourcenreichen Polens in das deutsche Reich.
   Graf Tisza wirft nun die Frage auf, wie sich die k.u.k. Monarchie zu dieser
Sachlage zu stellen habe. Anfangs habe er den Standpunkt vertreten, dass das
Terrain gegen wirtschaftliche und finanzielle Kompensationen Deutschland über¬
lassen werden sollte; er sei aber mit seiner Meinung nicht durchgedrungen. Das
hierauf inaugurierte System des Parallelismus oder Kondominiums sei auf die
Dauer unhaltbar, hauptsächlich wegen der Sprunghaftigkeit der deutschen Poli¬
tik, welche uns gerade in der polnischen Frage so manche unliebsame Überra¬
schungen bereitet habe. In Anbetracht dieser Komphkationen hielte es Graf Tisza
noch immer für die klügste Politik, wenn unsererseits die Opposition gegen die
deutsche Lösung nach und nach aufgegeben und als Entgelt grösstmögliche wirt¬
schaftliche Kompensationen herausgeschlagen werden könnten. Wir sollten
trachten, uns im vorangedeuteten Sinne mit Ehren aus der Affaire zu ziehen. Also:
kein Kondominium, das zu Reibungen mit Deutschland führen muss und die

    a) In der Reinschrift des Protokolls wurde von Tisza nachträglich an Stelle von »vor allem
eine österreichische Frage sei« der mit »eine so« beginnende und mit »aussübe, dass« endende
Teil gesetzt.

                                                                                                    443
<pb/> Gefahr des Verdrängtwerdens, respektive eines schliesslichen Fiaskos, in sich
 schliesst, sondern wirtschaftliche Kompensationen.

    In der Regentenfrage sollte nach Ansicht des Redners der Zukunft in keiner
Weise präjudiziert werden; er würde es für besser halten, wenn man von der
Einsetzung eines Regenten ganz absehen könnte; wäre dies nicht angängig, so
sollte ein polnischer Aristokrat zur Regentschaft berufen werden, der aber für den
Königsthron nicht in Betracht kommen dürfe.

   Auf die Haltung der Galizianer übergehend, führt der kgl. ung. Ministerpräsi¬
dent aus, dass er die Gefahr einer polnischen Irredenta in Galizien in dem Falle am
leichtesten überwinden zu können glaube, wenn6 Kongresspolen unter deutsche
Oberhoheit gelangt. Die deutsche Faust würde so schwer auf Kongresspolen lasten,
dass sich kein Galizianer einen engeren Anschluss an dieses Land verlangen werde.

   Seine Majestät geruhen hier einzuwerfen, dass die Monarchie bei der von
Grafen Tisza geschilderten Sachlage leicht in Konflikt mit Deutschland geraten
könnte, worauf Graf Tisza seine Ansicht dahin resümiert, dass das Militär-Gene¬
ralgouvernement Lublin nicht an Deutschland herausgegeben werden dürfe, dass
aber schon jetzt gewisse Massnahmen in Ansehung des nach dem Kriege zu schaffen¬
den Zustandes getroffen werden sollten.

   Hierauf ergreift mit Allerhöchster Genehmigung der k.k. Ministerprä¬
sident das Wort, indem er zu den zwei vom kgl. ung. Ministerpräsidenten
formulierten Punkten Stellung nimmt. Bezüglich des ersten Punktes teile Graf
Clam die Ansicht seines ungarischen Kollegen, nämlich dass vorerst am Status quo
festgehalten werden müsse, was hingegen den zweiten Punkt anbetrifft, so könne
er sich mit den Ausführungen des Grafen Tisza nicht einverstanden erklären. In
seinen (Grafen Clams) Augen sei die Gefahr der Entwicklung irredentistischer
Strömungen in Galizien eine sehr grosse, selbst wenn das Schalten und Walten
der deutschen Faust die von Grafen Tisza skizzierten Resultate in Kongresspolen
zeitigen sollten, denn das ideelle Moment der Vereinigung aller Konnationalen
unter einem Dache sei ein nicht zu übersehender Faktor. Überdies sei es heute nicht
ausgemacht, dass Deutschland in Polen eine Germanisierungspolitik treiben wird.
Wird diese Richtung eingeschlagen, dann seien Reibungen, ja Konflikte mit unse¬
ren Bundesbrüdern höchst wahrscheinlich. Der Redner erblicke daher in der
Rückkehr zur austropolnischen Formel die einzige Möglichkeit, um die verschie¬
denen, von ihm angedeuteten Klippen zu umschiffen. Er sei sich zwar vollauf
bewusst, dass die Realisierung der von ihm angestrebten Lösung eine reine Macht¬
frage sei. Vom Standpunkte Österreichs sowie der Gesamtmonarchie sehe er aber
in dieser Lösung den einzig gangbaren und vorteilhaften Weg.

   In einer kurzen Erwiderung auf die Darlegungen des Grafen Clam bemerkt
der kgl. ung. Ministerpräsident, auch er würde die austropolnische
Lösung trotz mancher Schattenseiten für die glücklichste halten, allein er halte
dieselbe für undurchführbar, da sie in seinen Augen endgiltig begraben sei.

   b) In der maschinengeschriebenen Reinschrift des Protokolls wurde der Text »Angst vor dem
Erwachen irredentistischer Velleitäten nicht teilen könne, vorausgesetzt, daß« von Tisza nachträg¬
lich durch den mit »Gefahr einer« beginnenden und »glaube, wenn« endenden Teil ersetzt.

444
<pb/>  Seine Majestät geruhen zu bemerken, dass in Ententekreisen in letzter
Zeit gewisse Stimmen sich hörbar machen, die sich der austropolnischen Formel
gegenüber nicht ablehnend verhalten.

  Hierauf geruhen Seine Majestät dem Minister des Äussern aber¬
mals das Wort zu erteilen. Graf Czernin dankt zunächst dem Grafen Tisza für
sein Entgegenkommen gegenüber den österreichischen Wünschen bei Besprechung
des polnischen Problems und hebt hervor, dass ebenso wie Serbien hauptsächlich
in den speziellen Interessenkreis Ungarns gehöre, so auch die fernere Gestaltung
Polens zunächst eine österreichische Angelegenheit sei.

  Was die zukünftige Haltung Deutschlands gegenüber den Polen anbelangt, so
neigt Graf Czernin der Ansicht zu, dass Deutschland dort ein strammes Regime
einführen werde. Reüssiert die deutsche Politik in Polen, dann würde die Attrak¬
tion des neuen Staates auf unsere Polen eine ausserordentlich starke werden, reüs¬
siert sie nicht, dann werden die Polen aus dem Königreiche ihre Zuflucht bei
Russland suchen und finden und dann müssen auch wir mit einem elementaren
Anschwellen der Russophilie in Galizien rechnen. Die für die Monarchie momentan
einzig vernünftige Politik sei daher, dahin zu wirken, dass uns alle Eventualitäten
offen bleiben; in Anbetracht dieser Richtlinie müsse infolgedessen von der Ein¬
setzung eines Regenten Abstand genommen werden, und auch die Eidesformel
für die polnische Armee eine strikt paritätische bleiben.

   Seine Majestät geruhen sodann dem Chef des Generalstabes das
Wort zu erteilen.

   Feldmarschall Baron Conrad führt aus, dass man erst bei Kriegsende wird klar
sehen können, was eigentlich zu erreichen sein wird, daher stimme er der Ansicht
des Ministers des Äussern zu, welcher sich die Hände nicht binden wolle. Nach
Ansicht Baron Conrads gebe es drei Lösungsmodalitäten: 1. die austropolnische,
2. die Teilung mit Deutschland und 3. den Verzicht auf unser Okkupationsgebiet
zugunsten Deutschlands unter entsprechenden Garantien für den Fall eines aber-
maligen Krieges gegen Russland. Denn Russland werde noch für lange Zeit der
Feind der Zentralmächte bleiben, daher müssten wir uns für alle Zukunft die
Kooperation einer polnischen Armee sichern. Auch Baron Conrad bezeichnet
die austropolnische Formel als die beste, würde für den Fall, dass diese Lösung
nicht erreichbar wäre, als nächstbeste Lösung eine Teilung Kongresspolens nach
Analogie der im Jahre 1795 bereits erfolgten Demarkation erblicken und schliess¬
lich in der Abtretung der links der Weichsel gelegenen Gebiete an Deutschland
immer noch eine akzeptablere Lösung sehen, als in der Rückgabe dieser Gebiete
an Russland, denn dann würde Polen unfehlbar in die Arme Russlands getrieben
werden. Welche von diesen möglichen Lösungen erreichbar sei, werde sich erst
gelegentlich der Friedensverhandlungen herausstellen.

   Mit Bezug auf die Äusserungen des Grafen Tisza bemerkt der Chef des
Generalstabes, dass die polnische Frage nicht als rein österreichische Frage
betrachtet werden könne. Die bestmöglichste Lösung dieser Frage herbei¬
zuführen, sei ein eminentes Interesse beider Staaten der k.u.k. Monarchie,
denn auch Ungarn werde, wie der Verlauf des Krieges deutlich zeige, in Galizien
verteidigt.

                                                                                                    445
<pb/>   Auf diese letzte Bemerkung Baron Conrads reflektiert Graf T i s z a mit einer
kurzen Entgegnung, indem er seine vom Chef des Generalstabes berührte Äusserung
dahin erläutert, dass die polnische Frage, vom aussenpolitischen Standpunkte
aus betrachtet, gewiss eine Angelegenheit der ganzen Monarchie sei, vom inner¬
politischen Standpunkt jedoch ein Spezialproblem Österreichs bilde.

   Hiemit ist die Debatte über die polnische Frage abgeschlossen.
   Seine Majestät geruhen hierauf die Frage der Kriegsziele zur Diskus¬
sion zu stellen. Allerhöchstderselbe gibt der Ansicht Ausdruck, dass es sich
empfehlen wird, diesbezüglich ein Maximal- und ein Minimalprogramm aufzu¬
stellen. Das Maximalprogramm würde die Angliederung Kongresspolens, Mon¬
tenegros und der Macwa beinhalten, ferner gewisse Rektifikationen der sieben-
bürgischen Grenze und schliesslich in Serbien die Ersetzung der Dynastie Kara-
georgewich durch ein anderes Königshaus. Das Minimalprogramm hingegen
würde sich auf die Forderung der vollen Integrität des Gebietes der Monarchie, auf
die Erwerbung des Lovcen und auf den Wechsel der Dynastie in Serbien beschrän¬
ken.
   Zu diesem Thema äussert sich der Minister des Äussern, welchem
Seine Majestät das Wort zu erteilen geruht, wie folgt:
   Die Monarchie, welche einen Verteidigungskrieg führt, wird viel erreicht haben,
wenn sie den Krieg unter Wahrung ihrer territorialen Integrität abschliesst. Ein
Plus in dieser Richtung währe gewiss eine sehr erfreuliche Zugabe, doch sei es
unmöglich, diesbezüglich schon jetzt eine Prognose zu stellen. Eine gänzliche
Bezwingung des Feindes gehöre in das Gebiet des Unwahrscheinlichen, daher müsse
mit einem Kompromissfrieden gerechnet werden.
   Beim Friedensschlüsse kämen zunächst rein militärische Konsiderationen in
Betracht. Zu diesen gehöre unbedingt die Erwerbung des Lovcen sowie gewisse
Grenzrektifikationen in der Gegend des Eisernen Tores, sowie an der sieben-
bürgischen Grenze bei Brassö. In dieser Hinsicht ein positives Programm aufzu¬
stellen, erscheine derzeit unmöglich, doch müsste die Notwendigkeit des Vorranges
der militärischen Petite schon jetzt hervorgehoben werden.
   Eine vollständige Zertrümmerung der kleinen Balkanstaaten wird die Entente
kaum zulassen, am ehesten würde sie noch eine starke Beschneidung Rumäniens
hinnehmen, denn der Hass und die Verachtung gegen Rumänien sei eben so stark,
wie die Gefühle, welche die Zentralmächte gegen dieses Land hegen. Überdies
liege diesbezüglich das Präzedens aus dem Jahre 1877 vor.2 Es müsse daher die
Frage aufgeworfen werden, wie sich die Monarchie zu einer eventuellen Anglie¬
derung der Moldau an Russland zu stellen hätte. Vielleicht liege in einer derarti¬
gen Lösung die Möglichkeit, nach dem Kriege zu Russland ein besseres Verhält¬
nis herbeizuführen, was umso mehr zu begrüssen wäre, als eine Aussöhnung mit
Rumänien ein Ding der Unmöglichkeit sei.
  Auf die Frage einer Kriegskontribution übergehend, meint Graf Czernin, dass
es ihm zwecks Herbeiführung eines baldigen Friedens ratsam erscheine, der

   2 Anspielung darauf, daß 1877, als Rumänien sich auf russischer Seite in den russisch¬
türkischen Krieg einschaltete, russische Truppen Rumänien besetzten. Im Frieden von San
Stefano (1878) gewann Rußland den 1856 verlorenen Teil von Bessarabien.

446
<pb/>Entente und namentlich England vorzutäuschen, dass es weder Sieger noch Be¬
siegte gebe. Eine solche Taktik würde aber naturgemäss den Erhalt einer Kriegs¬
kontribution ausschliessen, denn eine solche könnte nur einem offenkundig über¬
wundenen Gegner auferlegt werden.

   Schliesslich bemerkt Graf Czernin, dass es vor allem darauf ankomme, dass das
Gebiet der Monarchie bei Eintritt in Friedensverhandlungen vom Feinde gesäu¬
bert sei. In dieser Hinsicht sei zu bedenken, dass wir uns momentan Italien gegen¬
über in einer unerfreulichen Lage befinden.

   Der kgl. ung. Miinsterpräsident, welcher hierauf mit Ermächtigung
Seiner Majestät in die Debatte eingreift, bezeichnet die Sicherung unserer Interes¬
sen am Balkan als ein Hauptpostulat unserer Politik, er könne aber nicht umhin,
hiebei die Frage aufzuwerfen, ob Russland soweit gebracht werden könnte, seiner
traditionellen Politik zu entsagen und ob es in der Folge möglich sein werde, mit
Russland im Frieden zu leben. Dies wäre erreichbar, wenn Russland zur Einsicht
käme, dass die Verwirklichung seiner Balkanträume irrealisabel ist. Wir müssten
daher eine solche territoriale Erweiterung Russlands auf dem westlichen Ufer des
Schwarzen Meeres jedenfalls hintanhalten, welche eine Etappe auf dem Wege
nach Konstantinopel bedeuten würdet

   Die Möglichkeit einer mässigend Beteiligung Russlands mit rumänischen Terri¬
torien dürfe deswegen^ nicht aus dem Auge gelassen werden; durch eine derartige
Massnahme würde nämhch Russland in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu
Rumänien geraten, was unseren Interessen gewiss zweckdienlich wäre. Auch wäre
dies eine heilsame Lektion für alle anderen Balkanstaaten.

   Das Leitmotiv unserer Politik am Balkan sollte eine grösstmögliche Schwächung
Serbiens und eine grösstmögliche Stärkung Bulgariens sein.

   Was die Expansion Bulgariens anbelangt, so müsste an dem Prinzipe festgehalten
werden, dass eine gemeinsame russisch-bulgarische Grenze unseren Interessen
zuwiderläuft und dass Russland-^ an der unteren Donau nicht weiter® Vordringen
dürfet Die territoriale Kontinuität zwischen der Monarchie und Bulgarien müsse
hingegen unbedingt gewahrt bleiben und müsse in der Zukunft dahin gewirkt
werden, dass zwischen Ungarn und der Türkei eine das serbische Gebiet nicht
berührende Bahnlinie ausgebaut werde.

   Im übrigen müsste der Lovcen von Montenegro abgetrennt sowie dieser Staat
zur Herausgabe Antivaris verhalten werden, um es von der Adria fernzuhalten.

   Dieser Teil der Auslassungen des Grafen Tisza veranlasst Seine Maje¬
stät zu der Zwischenbemerkung, dass Montenegro ohne einen Zugang zum Meere
nicht leben könne, worauf der kgl. ung. Ministerpräsident repliziert,

   c) Der mit »Wir müssten« beginnende und mit »bedeuten würde« endende Teil ist eine
nachträgliche Eintragung Tiszas in die maschinengeschriebene Reinschrift.

   d) An Stelle von »der« wurde von Tisza »einer mässigen« gesetzt.
   e) Von Tisza nachträglich eingetragen: »deswegen«.
   f) Das Wort »Bulgarien« des maschinengeschriebenen Textes wurde von Tisza in »Russ¬
land« verbessert.
   g) Das nach dem Wort »weiter« stehende Wort »westlich« wurde von Tisza gestrichen.
   h) Nach dem Wort »dürfe« wurde der Teil »höchstens bis Galatz« von Tisza gestrichen.

                                                                                                               447
<pb/>dass Montenegro gewisse wirtschaftliche Vorteile zugestanden werden könnten in
Gestalt eines internationalen Freihafens mit einer entsprechend garantierten Zu¬
fahrtslinie zu demselben.

   Auch erklärt Graf Tisza seine Bereitwilligkeit, einem entsprechend geschwächten
und reduzierten Serbien wirtschaftliche Erleichterungen zu gewähren, d. h. das¬
selbe in die Zollgemeinschaft aufzunehmen. In einer Vereinigung Serbiens mit
Montenegro erblickt Graf Tisza kein Schreckgespenst, vorausgesetzt, dass die
territoriale Kontinuität zwischen der Monarchie und Bulgarien gewahrt bleibt, er
wäre daher geneigt einer solchen Combination keinen Widerstand zu leisten, falls
der Friede hiedurch erleichtert würde.&#39;

   Hinsichtlich Albaniens vertritt der kgl. ung. Ministerpräsident die Ansicht, dass
eine möglichste Ausbreitung Griechenlands in Südalbanien entschieden zu befür¬
worten wäre, um dieses Land in Gegensatz zu Italien zu bringen und zu erhalten.
Ein Verbleiben Italiens in Valona könnte für die Monarchie nur üble Folgen
zeitigen, daher wäre auch nichts dagegen einzuwenden, wenn die Säuberung dieses
Platzes Griechenland oder Bulgarien übertragen würde. Auf Mittel- und Nordal¬
banien sollte die Monarchie die Hand behalten, um russischen, serbischen oder
italienischen Velleitäten in diesen Gegenden einen Riegel vorzuschieben, ohne
jedoch der Aussenwelt gegenüber das Protektorat allzusehr zu affichieren. Die
Hauptsache bleibe, dass jedwede Einflussnahme eines mit uns jetzt im Kriegs¬
zustände befindlichen Landes dort ausgeschaltet bleibe.

   Auf die Frage der Kriegskontributionen eingehend, äussert sich Graf Tisza
dahin, dass diesbezüglich nur Rumänien in Betracht kommen könne, aus welchem
Lande immerhin einige hundert Millionen herauszudrücken sind.

   Seine Majestät geruhen sodann die Frage eines Bündnisses mit Russ¬
land aufzuwerfen, welches Allerhöchstderselbe als sehr anstrebenswert bezeichnet,
insbesondere in Anbetracht der offenbaren Unmöglichkeit einer Annäherung an die
Westmächte oder an das treubrüchige Italien.

   Der k.k. Ministerpräsident, welcher hierauf zum Worte kommt, er¬
klärt sich mit den in der bisherigen Debatte formulierten Kriegszielen einver¬
standen, fühlt sich aber verpflichtet, der südslavischen Frage einige Worte zu
widmen, indem er darauf hinweist, dass seiner Ansicht nach die Konzentrations¬
bestrebungen der Südslaven nicht aufzuhalten seien und dass es daher politisch
klug wäre, diese Konzentrationsbestrebungen in die Wege zu leiten und innerhalb
der Monarchie zu verwirklichen. Ein geschwächtes Serbien unter einer neuen
Dynastie wäre gewiss als Fortschritt zu betrachten, allein wer bürgt dafür, dass
Russland nicht abermals mit Geld und guten Worten dort den Hebel ansetzt und
abermals von diesem kleinen Staate aus den Keim der Zersetzung in die Monarchie
zu tragen bestrebt sein wird. Wäre es angesichts dieser Möglichkeiten nicht besser,
jene Länder -- sofern ein Friedensschluss unter solchen Modalitäten erreichbar
 wäre -- innerhalb unserer Grenzen der Kontrolle der Monarchie zu unterwerfen ?
 Sollte dies sich als undurchführbar erweisen, dann müssten Serbien und Monte-

     i) Der mit »er wäre« beginnende und mit »erleichtert würde« endende Teil wurde von Tisza
 nachträglich in die maschinengeschriebene Reinschrift eingefügt.

 448
<pb/>negro im Interesse eines möglichen Zusammenlebens mit der Monarchie gewisse
territoriale und wirtschaftliche Existenzmöglichkeiten gesichert werden.

   Die Realisierung der von Seiner Majestät aufgeworfenen Frage eines Dreikai¬
serbündnisses bilde den sehnlichsten Wunsch des Grafen Clam.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident, dem Seine Majestät sohin das Wort
zu erteilen geruht, sieht in einer entgegenkommenden Haltung der Monarchie
bei Lösung der Meerengenfrage den Weg, ein besseres Verhältnis mit Russland
anzubahnen, was umso eher im Bereiche der Möglichkeit sei, als die Türkei über
diesen Punkt mit sich reden Hesse.

   Was die vom k.k. Ministerpräsidenten aufgeworfene südslavische Frage anbe¬
langt, so wolle Graf Tisza dieselbe nur rein akademisch besprechen, denn seiner
Ansicht nach werden wir eben nicht in die Lage kommen, die Frage einer Annexion
Serbiens oder Montenegros ernstUch diskutieren zu müssen. Wie dem auch sei,
die Ansicht, dass die durch Russland unterstützten zentrifugalen Tendenzen des
serbischen Volkes durch eine Eingliederung in die Monarchie begraben werden
könnten, müsse er als Illusion bezeichnen. Ein serbischer Hafen an der Adria,
welcher die Möglichkeit eines direkten Verkehres mit Italien und Russland schaffen
würde, wäre für uns eine grosse Gefahr, denn Serbien würde auf diese Weise von
uns wirtschaftlich emanzipiert. Die Monarchie ihrerseits würde ihrer Haupt¬
waffe gegen den unruhigen kleinen Nachbarn verlustig gehen. Graf Tisza spricht
sich trotz des Widerstandes, welchem die Realisierung eines derartigen Projektes
in Ungarn begegnen würde, abermals für ein wirtschaftliches Entgegenkommen
gegenüber Serbien aus, doch müsste stets daran festgehalten werden, dass der
serbische Handel seinen Weg über die Monarchie nehme.

   Graf Tisza erörtert sodann in grossen Zügen die Modalitäten, unter welchen ein
derartiges Entgegenkommen effektuiert werden könnte und bezeichnet diesbe-
züghch die Zollunion als das weitestgehende Zugeständnis.

   Der Minister des Ausser n, welcher sodann das Wort erhält, führt
zum Thema der südslavischen Frage aus, er stimme dem kgl. ung. Ministerpräsi¬
denten darin bei, dass wir voraussichtHch nicht die physische MögHchkeit haben
werden, ganz Serbien einzuverleiben, dagegen teile er die Ansicht des k.k. Minister¬
präsidenten, dass die Einigkeitsbestrebungen der Südslaven sich mit elementarer
Gewalt durchsetzen werden, sei es mit uns oder gegen uns. Er sehe daher in einem
schrittweisen wirtschaftlichen Entgegenkommen gegenüber Serbien den besten
Weg, die Interessen der Monarchie zu wahren. Dieses Entgegenkommen könnte
auf zweifache Art in die Wege geleitet werden, indem Serbien entweder der Zugang
zur Adria gewährt wird oder aber indem die Monarchie dem Nachbarstaate
direkte handelspolitische Vorteile zugesteht. Den letzteren Modus würde Graf
Czernin vorziehen, denn im Gefolge einer handelspoHtischen Annäherung wür¬
den sich auch die rein politischen Beziehungen bessern.

   Seine Majestät geruhen hierauf dem Chef des Generalstabes das
Wort zu erteilen. Baron Conrad führt zum Thema der miHtärischen Notwendig¬
keiten aus, dieselben könne man in zwei Kategorien einteilen: 1. die rein militäri¬
schen, sozusagen handwerksmässigen und 2. die militärisch-poHtischen. Zu der
ersten Kategorie gehören gewisse Grenzverbesserungen, der Besitz von militärisch

29 Komjäthy: Protokolle  449
<pb/>wichtigen Höhen, Hafenplätzen und dergleichen, zu der zweiten7 beispielsweise der
Besitz des Lovcen, weil mit dem Besitze dieses Berges wichtige militärische Macht¬
mittel* unbedingt in unsere Hand gelangen. Zur zweiten Kategorie aber gehören
jene grossen Fragen, welche die Gesamtmachtmittel der Monarchie erhöhen und
günstige Constellationen für künftige Kriege schaffen, beziehungsweise Verhält¬
nisse ausschalten, an welchen die Monarchie bisher krankte, z. B. ein selbständiges
Serbien und Montenegro an seinen südslawischen Gebieten und dgl.(

   Baron Conrad hält es für zwecklos, ein Maximal- und Minimalprogramm auf¬
zustellen, weil wir heute nicht sagen können, was wir beim Friedensschlüsse errei¬
chen können, er schlage daher vor, dass sämtliche in das Kapitel Kriegsziele ge¬
hörenden Materien von den diversen hiebei in Betracht kommenden Faktoren
gründlichst durchgesprochen werden, damit wir vollkommen gerüstet in die
Friedensverhandlungen eintreten können, bei welchen sodann je nach der Situation
die grösstmöglichen Vorteile herausgeschlagen werden müssten.

   In die Details eingehend, bezeichnet Baron Conrad den Besitz des Lovcen sowie
der beiden Donauufer beim eisernen Tor, sowie gewisse Grenzrektifikationen in
Siebenbürgen und gegen Italienm als die zunächst in Betracht kommenden mili¬
tärischen Petite. Bezüglich Serbiens und Montenegros spricht sich der Chef des Ge¬
neralstabes im Sinne der Ausführungen des k.k. Ministerpräsidenten für die
Annektierung dieser Länder aus.

   Albanien bezeichnet der Redner als ein Verlegenheitsobjekt, plädirt aber für die
Annexion Nordalbaniens bis zum Mati, unter der selbstverständlichen Voraus¬
setzung,&quot; dass Montenegro das gleiche Schicksal zu Teil wird.0 Bezüglich Valonas
führt Baron Conrad aus, dass es gegenwärtig nicht in unserer Macht liegt, die
Italiener von dort zu vertreiben; sollte es indessen gelingen, direkt gegen Italien
einen Schlag zu führen -- eine Eventualität, welche er nach wie vor im Auge be¬
halte, von der aber jetzt noch nicht gesagt werden könnte, ob sie durchführbar sei --
und so die Herausgabe Valonas zu erzwingen, dann würde er diesen wichtigen
Hafenplatz am liebsten im Besitze der Monarchie sehen; allenfalls könnte er
Griechenland oder Bulgarien, keinesfalls aber Itahen überlassen werden. Hin¬
sichtlich Rumäniens tritt Baron Conrad für den Fall, dass Russland in den Besitz
der Moldau gelangen sollte, für die Angliederung der Walachei an die Monarchie
ein, jenes reichen Gebietes aus welchem wir nunmehr schon seit zwei Jahren unse¬
ren Mehrbedarf an Nahrungsmitteln decken, umsomehr, als jeder Gebietserwerb

   j) Nachträgliche Einfügung Conrads: »zu der zweiten«.
    k) Das im maschinengeschriebenen Text stehende Wort »Machtmittel« wurde von Conrad
durch das Wort »Vortheile« ersetzt.
    l) Nachträgliche Einfügung Conrads: von »Zur zweiten Kategorie« bis »an seinen südslawi¬
schen Gebieten und dgl.« Die Lesung »grossen« ist nicht sicher. Auf diese Eintragung
wurde von Conrad auf dem Mantelbogen bei der Einsichtnahme neben seiner Unterschrift
verwiesen.
    m) Im Text wurde nach »in Siebenbürgen« von Conrad »und gegen Italien« eingeschoben.
    n) Im maschinengeschriebenen Text wurde an Stelle von »vorausgesetzt« von Conrad
nachträglich »unter der selbstverständlichen Voraussetzung« gesetzt.
    oj In der maschinengeschriebenen Reinschrift wurde von Conrad nachträglich an SteUe
von »werden sollte« das Wort »wird« gesetzt.

450
<pb/>einen Machtzuschuss bedeutet. Sollte hingegen Rumänien wieder aufgerichtet
werden, dann müsste es in möglichst enge Beziehungen zur Monarchie gebracht
werden, in ein Verhältnis ähnlich dem Bayerns zum Deutschen Reiche.

   Gegen eine Lösung der Meerengenfrage unter Anpassung an die russischen
Wünsche hat der Chef des Generalstabes nichts einzuwenden, vorausgesetzt, dass
die Russland zu gewährenden Vorteile diesem Lande allein und nicht auch den
anderen Ententeländern zu gute kämen und Konstantinopel sowie die den Darda¬
nellen vorgelagerten Inseln im Besitze der Türkei verblieben.

   Bezüglich der Möglichkeit, eine dauernde Besserung unseres Verhältnisses zu
Russland herbeizuführen, äussert sich Baron Conrad sehr skeptisch. Russland
werde kaum auf die zwei Kardinalpunkte seines aussenpolitischen Programmes,
d.i. den Besitz Konstantinopels und die Vereinigung aller Slaven unter seiner
Oberhoheit, verzichten; der Weg nach Konstantinopel aber gehe nach Graf
Ignatiews Ausspruch über Wien und Budapest.

   Der Minister des Äussern kommt mit Allerhöchster Genehmigung
auf die Frage der zukünftigen Gestaltung Rumäniens zurück und weist daraufhin,
dass er in der Zuteilung der Moldau einen Schritt weiter in der Richtung zum Frie¬
den erblicke, während eine Besitzergreifung der Walachei durch uns, für welche
Baron Conrad eintritt, den Friedensschluss nur erschweren würde.

   Bezüglich der Realisierbarkeit eines Dreikaiserbündnisses könne Graf Czernin
die grosse Skepsis des Chefs des Generalstabes nicht teilen, denn Konstantinopel
und die Meerengen stünden ebensosehr zwischen den Westmächten und Russland
wie zwischen der Monarchie und Russland.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident, welcher sodann zum Worte gelangt,
kommt abermals auf die südslawische Frage zurück und warnt nachdrücklichst,
irrealisierbaren, ja schädlichen Träumen nachzujagen. Die Annexion Serbiens
und Vereinigung aller südslawischen Gebiete wäre nicht nur für Ungarn, sondern
für die ganze Monarchie das grösste Unglück und würde zweifellos die katastro¬
phalsten Folgen zeitigen.

   Seine Majestät geruhen sodann die Diskussion dahin zu resümieren,
dass in der polnischen Frage der Status quo aufrecht zu erhalten sei, dass unser
Hauptkriegsziel die Erhaltung der Integrität der Monarchie bilde, dass ferner Ser¬
bien weitgehende Existenzmöglichkeiten gesichert werden müssen und dass
schliesslich eine Annäherung an Russland angestrebt werden solle.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident kommt sodann auf die Erweiterung
der Landsturmpflicht zu sprechen und äussert gegen die von militärischer Seite
geforderte baldige Einbringung des diesbezüglichen Gesetzes in Anbetracht des
schlechten Eindruckes, welchen ein derartiger Vorgang im gegenwärtigen Momente
im Auslande zeitigen würde, die schwersten Bedenken. Graf Tisza befürchtet, dass
hiedurch unsere Friedensaktion kompromittiert werden könnte und beantragt, die
Einbringung des Gesetzes bis zum Frühjahr hinauszuschieben, wohingegen er
sich für eine glatte Erledigung des Gesetzes verpflichten würde.

   Der Chef des Generalstabes sagt zu, dem vom kgl. ung. Minister¬
präsidenten vorgebrachten Wunsch, soweit derselbe mit den mihtärischen Not¬
wendigkeiten in Einklang gebracht werden kann, Rechnung zu tragen.

    29* 45i
<pb/>   Schliesslich hält sich der k.k. Ministerpräsident für verpflichtet, auf
die seinen Nachrichten zufolge in allen Teilen Österreichs rapid zunehmende
Kriegsmüdigkeit hinzuweisen.

            Original-Reinschrift. -- Die Einsichtnahme wurde auf dem Mantelbogen des
        Protokolls von sämtlichen Teilnehmern des Ministerrates bestätigt. Neben der Unter¬
        schrift Conrads mit Bleistift geschrieben: »Bleistiftl(iche) Correcturen beigefügt«. -- Auf
        dem letzten Blatt die Kenntnisnahme durch den Herrscher: »Baden, 2. Februar
        1917.« Links unten die Unterschrift Colloredos. Die Unterschrift des Ministers des
        Äußern fehlt. -- Ebd. das handschriftliche Konzept des Protokollführers mit vielen,
        von ihm vorgenommenen Korrekturen. Ohne Unterschrift und Handzeichen. Auf dem
        Mantelbogen seitwärts rechts mit Bleistift, mit der Handschrift Czernins: »3 Rein¬
        schriften für S.M. pro actis und das pol. Tagebuch Cz.« -- Ebd. auch eine einfache
        maschinengeschriebene Kopie (mit der Aufschrift »Abschrift«),

                                                                   21.

                                                                                   Wien, 22. Januar 1917

         Debatte über den uneingeschränkten Unterseebootkrieg. Der Kronrat nimmt für
        denselben Stellung.

            Die Chancen für eine siegreiche Beendigung des Krieges durch die Mittelmächte
        werden selbst in den Augen der optimistischen führenden Politiker immer geringer.
        Da entschloß sich die Deutsche Oberste Heeresleitung, ihren letzten Trumpf auszuspie¬
        len. Am 9. Januar 1918 wurde im deutschen Hauptquartier der Beschluß gefaßt, zum
        uneingeschränkten U-Boot-Krieg überzugehen. Obwohl Reichskanzler Bethman-
        Hollweg gegen diesen verhängnisvollen Schritt war, weil er mit Recht den Kriegsein¬
        tritt der Vereinigten Staaten von Amerika befürchtete, gab Kaiser Wilhelm dem
        Drängen der Deutschen Obersten Heeresleitung nach. Er stellte nur die eine, kaum
        mehr als formelle Bedingung, den Herrscher der Österreichisch-Ungarischen Monar¬
        chie und seine Regierung vorher davon zu unterrichten und ihre Zustimmung ein¬
         zuholen. Aus den Memoiren Ottokar Czernins (Im Weltkriege, S. 161 ff., besonders
         S. 167) wissen wir, daß der Befragung Karls und seiner Mitarbeiter keinerlei prak¬
         tische Bedeutung zukam. Ihre Gegenargumente wurden auch nicht im gemeinsamen
         Kronrat, sondern in zwei vorangegangenen, am 20. Januar abgehaltenen vertraulichen
         Besprechungen in Anwesenheit der Vertreter des Deutschen Reiches, Admiral Holtzen-
         dorffs, und des Staatssekretärs für Auswärtiges, Zimmermann, vorgebracht. Der
         Kronrat vom 22. Januar 1917 nahm einstimmig für den uneingeschränkten Unter¬
         seebootkrieg Stellung. Die deutsche Reichsregierung teilte am 31. Januar den Ver¬
         einigten Staaten in einer Note mit, daß sie vom nächsten Tage, dem 1. Februar an
         ihre Unterseeboote uneingeschränkt einsetzen werde.

Protokoll des zu Wien am 22. Jänner 1917 abgehaltenen Ministerrates für gemein¬
same Angelegenheiten, unter dem Allerhöchsten Vorsitze Seiner Majestät des Kai¬
sers und Königs.

452
<pb/>