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Gemeinsamer Ministerrat, 14. 9. 1912

I. Die bevorstehende Delegationsession

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_VI/pdf/oe_hu_mrp_VI_z31.pdf.

Nr. 31 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. 9. 1912         485

Nr. 31 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. September 1912

   RS. (und RK.)
   Gegenwärtige: der k. k. Ministerpräsident Graf Stürgkh, der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. v.
Lukäcs, der k. u. k. Kriegsminister GdI. Ritter v. Auffenberg, der k. u. k. gemeinsame Finanzmini¬
ster Ritter v. Bilinski (25. 9.), der k. u. k. Marinekommandant Admiral Graf Montecuccoli (20. 9.).
   Protokollführer: Hof- und Ministerialrat Ritter v. Günther.
   Gegenstand: Die bevorstehende Delegationssession.

   KZ. 51-GMKPZ. 495
   Protokoll des zu Wien am 14. September 1912 abgehaltenen Ministerrates für
gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze des Ministers des k. u. k. Hau¬
ses und des Äußern Grafen Berchtold.

   Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung um 3 Uhr nachmittags mit der
Mitteilung, daß er über Ah. Befehl die Konferenz einberufen habe, um verschie¬
dene Fragen, die sich durch die bevorstehende Tagung der Delegationen ergeben,
zu beraten.1 Es handle sich darum, zunächst festzustellen, ob die Delegationen
einen glatten Verlauf nehmen werden und dann, wie man sich zu verschiedenen
Anfragen stellen solle, die aus Anlaß der in die Öffentlichkeit gedrungenen An¬
forderungen für die Neubewaffhung der Artillerie und der Ausgestaltung der Ma¬
rine von den Delegierten vorgebracht werden dürften.

   Was speziell die ungarische Delegation betreffe, so wäre es nicht ohne Gefahr,
wenn die Opposition ihre Taktik auf dieselbe übertragen wollte, denn ein Schei¬
tern der Delegationsberatungen würde einen außerordentlich peinlichen Eindruck
in Auslande hervorrufen.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident weist darauf hin, daß die
Lage wohl bekannt sei. Die Opposition ist sehr verbittert und kann daher voraus¬
gesehen werden, daß es im ungarischen Parlamente am 17. zu sehr unangeneh¬
men Szenen kommen wird, obgleich es nicht ausgeschlossen sei, daß bis zu die¬
sem Termine eine friedlichere Auffassung durchdringe. Immerhin müsse man
nicht nur mit Skandalen im ungarischen Reichstage, sondern auch mit unliebsa¬
men Szenen in der Delegation rechnen. Letzteres sei aber nicht allzu wahrschein¬
lich, denn einige Herren der Opposition seien entschieden dagegen. Die Opposi¬
tion werde sich vermutlich an der Delegation nicht beteiligen, sie werde die
Einladung, sich wählen zu lassen, zurückweisen. Sollte sie an den Wahlen teil¬
nehmen und in Wien erscheinen, werde sie sich vielleicht darauf beschränken,
gegen die ungarische Regierung loszuziehen. Die Geschäftsordnung, welche zu¬
dem in einem Tage verschärft werden kann, gebe dem Präsidenten die Möglich¬
keit, die Ruhe herzustellen. Die Beschlußfassung sei unter allen Umständen gesi¬
chert. Jeder Delegierte habe das Recht, zu jeder Frage zweimal zu sprechen.

Fortsetzung des GMR. v. 8. und 9. 7. 1912, GMKPZ. 494.
<pb/>486 Ni: 31 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. 9. 1912

   Ist dies geschehen, wird der Präsident die Debatte schließen und den Beschluß
der Majorität enunzieren. Eine Garantie für den ruhigen Verlauf könne er nicht
übernehmen, wohl aber für die Beschlußfassung.

   Der Vorsitzende möchte zur Diskussion bringen, wie man sich zu ver¬
halten habe, wenn eine größere Anzahl von oppositionellen Delegierten herauf¬
käme, beziehungsweise wenn die Räumung des Sitzungssaales oder der Strasse
in Frage käme.

   Der k. k. Ministerpräsident führt aus, daß die Wiener Polizei
das ungarische Palais auch in normalen Fällen, wie zum Beispiel wenn ungari¬
sche Minister nach Wien kommen, dann bei jeder Delegationstagung beobachte
und überwache. Ebenso werde sie gewissen Demonstrationen, etwa denjenigen
kroatischer Studenten entgegentreten. Dies sei zweifellos ihre Pflicht. Anders
verhalte es sich mit den Vorgängen im Innern des den Schutz der Exterritorialität
genießenden Gebäudes und gegenüber auf der Straße exzedierenden ungarischen
Parlamentariern. Hier sei die Verwendung der Wiener Polizei nicht tunlich, zumal
sie von der öffentlichen Meinung nicht gutgeheißen würde. Die Polizei könne
sonach nur den Schutz des Gebäudes beziehungsweise der Beratungen vor De¬
monstrationen übernehmen, nicht aber gegen aus internen Gründen hervorgegan¬
gene Weiterungen, sei es im Gebäude oder vor dem Gebäude, einschreiten und
namentlich nicht an ungarische Delegierte Hand anlegen. Dies müsse ängstlich
vermieden werden. Würde man da sub titulo Freiheit der Passage Vorgehen, so
käme es im österreichischen Parlamente zu den stürmischesten Szenen. Ebenso
würde der Wiener Gemeinderat Stellung nehmen.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident macht darauf aufmerksam,
daß die Exterritorialität des ungarischen Gebäudes nirgends schriftlich oder ak¬
tenmäßig festgelegt sei. In der Praxis käme die Polizei allerdings nur dann hinein,
wenn sie gerufen werde. Er müsse zugeben, daß die Sache sehr heikel sei und das
Betreten des ungarischen Gebäudes durch die Polizei sehr böses Blut machen
würde. Der Präsident könne die Polizei aber im Falle der Gewalt rufen. Falls eine
oder zwei Sitzungen gestört würden, werde übrigens Vorsorge getroffen werden,
daß nur Personen mit Legitimationskarten das Gebäude betreten können, bei der
Ausgabe dieser Karten werde man es an der nötigen Vorsicht nicht fehlen lassen
und am Tore Kontrollorgane aufstellen. Wenn aber Leute kommen, diese Organe
wegstoßen und eindringen, dann liege Gewalt vor. Die Immunität der ungari¬
schen Abgeordneten gelte in Wien nicht.

   Der k. k. Ministerpräsident macht dem gegenüber aufmerk¬
sam, daß man in Ungarn sagen würde, man habe die Gelegenheit benützt und
über Anordnung der ungarischen Regierung die österreichische Polizei zu Ge¬
waltakten gegen ungarische Parlamentsmitglieder verwendet, während man in
Österreich die Regierung beschuldigen werde, sie habe unberufen zu Gunsten der
Knebelung der ungarischen Opposition Partei genommen.
<pb/>Nr. 31 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. 9. 1912  487

   Wenn schon Gewalt angewendet werden müsse, so hätte seiner Ansicht nach
das Militär einzugreifen.2

   Der k. u. k. Kriegsminister erklärt, daß - wenn gewünscht -
eine Kompagnie eines ungarischen Infanterieregimentes bereit gehalten werden
wird.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident glaubt nicht, daß Gewalt¬
maßregeln notwendig sein werden. Durch eventuelles Hinausziehen der Beratun¬
gen werde man erreichen, daß die Opposition die Geduld verliert und schon aus
materiellen Gründen - der Aufenthalt in Wien koste Geld - abreisen wird.3

   Der k. k. Ministerpräsidet bespricht den voraussichtlichen Ver¬
laufder österreichischen Delegation, der sich normal gestalten würde, wenn nicht
Angelegenheiten aufs Tapet kämen, die nicht dazu gehören. Er meine da in erster
Linie die Dinge in Kroatien. Die Südslawen, flankiert von anderen Parteien, wer¬
den in höchst temperamentvoller Weise die dortigen Ereignisse diskutieren.4 Die
betreffenden führenden Delegierten werden diese Angelegenheit sowohl ihm ge¬
genüber als gegenüber dem Minister des Äußern und dem gemeinsamen Finanz¬
minister mit großer Entschiedenheit berühren. Aus den Berichten der Statthalter
in Triest und Zara und aus anderen Relationen entnehme er die wachsende Erre¬
gung unter den Südslawen. Er wolle sich darauf beschränken, dies zu konstatie¬
ren und festzustellen, daß dieser Zustand insbesondere auf die Person, die das
jetzige System in Kroatien verkörpert, zurückzuführen sei.

   Auf eine Bemerkung des kgl. ung. Ministerpräsidenten, in der ungarischen
Delegation würde der Präsident jedem Redner, der sich in innere Angelegenhei¬
ten Österreichs einmischen wollte, das Wort entziehen, sagt der gemeinsa¬
me Finanzminister, daß in der österreichischen Delegation seit Jahren
die Praxis bestehe, über alles reden zu lassen, daß aber auch ein psychologisches
Moment berücksichtigt werden müsse, das Empfinden der österreichischen Süd¬
slawen, bei dem es kein staatsrechtliches Bedenken gebe.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident erklärt, daß die Majorität
des Agramer Landtages für die Separierung von Ungarn gewesen sei, es war da-

Die Anweisungen an die k. k. Behörden wegen der Behandlung ungarischer Delegationsmit¬
glieder und Reichstagsabgeordneter im Erlaß (Abschrift) des k. k. Innenministers an den
Statthalter von Niederösterreich o. D. in Ka., KM., Präs. 37--4/8/1912.
Mit Schreiben Lukdcs&#39; an Auffenberg v. 20. 9. 1912 wurde die Entsendung einer 100 Mann
starken Abteilung der ungarischen Staatspolizei nach Wien bekanntgegeben, ebd., Präs. 37-
4/15/1912.
Gemeint ist die Sistierung der kroatischen Verfassung im April 1912 durch die Errichtung
eines Kommissariats unter dem bisherigen Bonus Cuvaj. Diese Sistierung hatte Folgen für
die gemeinsamen Angelegenheiten, weil die ungarische Delegation keine Vertreter des - auf¬
gelösten - kroatisch-slavonischen Sabors haben konnte. Wegen ihrem Fehlen bestritten die
südslawischen Vertreter der cisleithanischen Delegation schon in der Sitzung der Delegatio¬
nen im April 1912 die Rechtmäßigkeit der ungarischen Delegation, Gross, Erzherzog Franz
Ferdinand 291.
<pb/>488 Nr. 31 Gemeinsamer Ministeirat, Wien, 14. 9. 1912

her die elementarste Pflicht der Regierung, ein solches Votum zu verhindern. Dar¬
an könne nichts geändert werden, solange nicht die Möglichkeit vorhanden sei,
eine ungamfreundliche Majorität wählen zu lassen. Er glaube an diese Möglich¬
keit, weil hiefür Anzeichen vorhanden sind. Er werde auch, sobald dies im unga¬
rischen Parlamente durchführbar sei, die Eisenbahner-Sprachenfrage regeln.

   Der gemeinsame Finanzminister äußert sich dahin, daß er
wohl der letzte sei, der für den Trialismus eintreten würde; auch die Bosnier wol¬
len ihn nicht, die wollen ein selbständiges Bosnien. Nachdem er dies vorausge¬
schickt, müsse er auf die Worte des Grafen Stürgkh hinsichtlich des königlichen
Kommissärs zurückkommen. Dieser ist außerordentlich verhaßt. Und da könne
er nicht umhin, auf gewisse Dinge zu verweisen zum Beispiel auf die Unterdrük-
kung der Presse, die als Leitartikel Modeberichte bringt, weil sie politische Auf¬
sätze nicht publizieren dürfe.

   Der k. k. Ministerpräsident hat beste Informationen, wonach
in Kroatien alle Mühe vergeblich wäre, so lange dort eine Persönlichkeit walte,
die man mit Gessler vergleiche. Man glaube allgemein an eine Entspannung und
an ein gedeihliches Ende, wenn eine andere Persönlichkeit die Verhandlungen
führte. Wenn er sich erlaube, diese Dinge zu berühren, so habe er eine gewisse
Legitimation in der kolossalen Rückwirkung auf die österreichischen Südslawen
und den Fortschritt der serbischen Propaganda.

   Der Vorsitzende teilt die Besorgnisse des Grafen Stürgkh von seinem
Standpunkte aus; die letzte Tagung der österreichischen Delegation sei fast aus¬
schließlich von der kroatischen Frage beherrscht worden. Man dürfe die Südsla¬
wen nicht abstoßen und sie zu den Serben drängen, sie im serbischen Königreiche
die Hoffnung der Zukunft erblicken lassen. Die ungarische Regierung habe ge¬
wiß die beste Absicht, doch könne man an den zutage tretenden bedauerlichen
Ereignissen nicht vorübergehen, weshalb er, wenn da nicht eine baldige Ände¬
rung eintrete, starke Befürchtungen hege.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident erwidert hierauf, daß auch
die Opposition in Ungarn sage, er und Graf Tisza mögen zurücktreten, dann wer¬
de alles in Ordnung kommen und dennoch sei es sicher, daß dies nicht wahr wäre,
es würde alles beim alten bleiben.

   Nachdem Graf Stürgkh seiner Meinung Ausdruck gegeben, daß vielleicht ein
General berufen werden könnte, wie seinerzeit Baron Ramberg, weist Ritter
v. B i 1 i n s k i auf die Beliebtheit des Generals Potiorek in Bosnien hin. Der
gemeinsame Finanzminister glaubt, daß es nur einem neuen Manne gelingen
dürfte, die Mittel, welche die ungarische Regierung zur Verfügung stellen will,
fruchtbringend zu verwerten. Unter dem jetzigen Kommissär wären die vielen
Millionen für Flußregulierungen und so weiter umsonst aufgewendet.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident gibt zu, daß die Ernennung
eines Generals in Kroatien angenehm berühren könnte, in Ungarn wäre aber das
gerade Gegenteil der Fall.
<pb/>Nr. 31 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. 9. 1912  489

   Es wird nun zur Frage der Beantwortung etwaiger Interpellationen über die
Projekte der Kriegsverwaltung übergegangen und nach längerer Debatte be¬
schlossen, daß der Kriegsminister ganz entschieden gegen die Behaup¬
tung der Unzulänglichkeit der Feldartillerie, speziell der Feldkanonenbatterien
aufzutreten habe. Er werde betonen, daß man diesbezüglich keine Besorgnisse zu
hegen brauche. Werde er weiter gedrängt, werde er sich auf sein erstes Expose
vom Dezember 1911 berufen.5 Sollten durch fortgesetzte Interpellationen weitere
Aufklärungen unausweichlich werden, so würde der Kriegsminister in vertrauli¬
cher Sitzung alle jene Daten vortragen, welche er erst in der Budapester Session
Vorbringen wollte und aus denen zu entnehmen ist, daß und in welcher Hinsicht
materielle Rückständigkeiten tatsächlich bestehen. Er und der Marinekomman¬
dant werden ferner erklären, daß sie pflichtgemäß vor Ablauf der bestehenden
Abmachungen beziehungsweise des gegenwärtigen Schiffsbauprogrammes ihre
Vorschläge erstatten und versuchen werden, die beiden Regierungen für die Zu¬
stimmung zur Einbringung bezüglicher Vorlagen zu gewinnen, damit einerseits
vorhandene Rückständigkeiten beseitigt werden, andererseits der natürlichen
Entwicklung Rechnung getragen werde. Bei dieser Gelegenheit stellt Graf
S t ü r g k h , welcher im übrigen Baron Heinolds Erklärungen in der letzten
Ministerkonferenz aufrecht erhält, fest, daß langfristige Programme vom finanzi¬
ellen, parlamentarischen und technischen Standpunkte aus nicht aufgestellt zu
werden vermöchten.6

   Graf Berchtold führt nun mit der Bitte um strengste Geheimhaltung
folgendes aus:

   ,,Es ist uns schon seit längerer Zeit bekannt gewesen, daß zwischen Bulgarien
und Serbien ein Allianzverhältnis defensiver Natur unter russischer Patronanz
hergestellt worden ist, dessen Ursprung wohl auf die seinerzeitigen, das ist nach
der Annexion Bosniens und der Herzegowina in Erscheinung getretenen russi¬
schen Bemühungen zur Bildung eines Balkanbundes zurückzuführen ist.

   Im Laufe dieses Sommers hat sich überdies - nach unseren Informationen -
eine Annäherung Griechenlands an Bulgarien ergeben, bei welcher jedoch Ru߬
land seine Hand nicht im Spiele hatte.

   Der Sturz des Jungtürkentums und der Schwächezustand der derzeitigen türki¬
schen Regierung hat die Wechselbeziehungen zwischen diesen Balkanstaaten,
denen sich auch Montenegro zugesellt hat, wesentlich gefordert und inniger ge¬
staltet und ihnen einen konkreten Inhalt gegeben, der geeignet ist, Besorgnis für

Zum ExposeAuffenbergs von Dezember sieheAnm. 9 zum GMR. v. 8. und9. 7.1912, GMKPZ.
494.

Stellungnahme Heinolds in GMR. v. 8. und 9. 7.1912, GMKPZ 494. Vortrag Berchtolds v. 23.
9. 1912 [siel], in dem um die Einberufung der ungarischen Delegation für den 23. 9. 1912
nach Wien angetragen wurde. MitAh. Handschreiben v. 14. 9. 1912 an Berchtold undLukdcs
wurde die ungarische Delegation nach Wien einberufen, HHStA., Kab. Kanzlei, KZ.
2279/1912. Fortsetzung über das Budget für 1912 wegen eines außerordentlichen Heeres¬
und Marinekredites in GMR. v. 3. 10. 1912, GMKPZ. 496.
<pb/>490 Nr. 31 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 14. 9. 1912

die Erhaltung des Friedens am Balkan zu wecken. Soweit wir Einblick in die
einschlägigen Verhältnisse gewinnen können, scheint für gewisse Eventualitäten
ein einmütiges Vorgehen dieser Staaten gegen die Türkei vorgesehen zu sein.

   In welcher Weise der Stein ins Rollen gebracht werden wird, läßt sich heute
allerdings nicht mit Sicherheit feststellen. Es kann aber eventuell schon in näch¬
ster Zukunft die Frage an uns herantreten, welche Stellung wir zu den Ereignissen
nehmen werden.

   Meines Erachtens wäre es unsere oberste Aufgabe, dem Ausbruche eines Kon¬
fliktes, bei welchem wir nichts zu gewinnen hätten, tunlichst vorzubeugen, wenn
dies aber nicht gelingen sollte, die Konflagration nach Möglichkeit zu lokalisie¬
ren.

   Zwei Wege werden uns im gegebenen psychologischen Momente offen ste¬
hen:

   Entweder nach vergeblicher Mahnung zur Ruhe die Erklärung abzugeben, daß
wir die Verantwortung für das Vorgehen den Balkanstaaten überlassen und von
vomeherein erklären müßten, keine Veränderung des Status quo ohne unsere Zu¬
stimmung zuzulassen, oder die energischere, daher vielleicht wirksamere, aber
auch ein größeres Risiko in sich bergende Alternative, darin bestehend, in Bel¬
grad zu verstehen zu geben, daß wir ein Überschreiten der türkischen Grenze
durch die serbischen Truppen nicht zugeben könnten und uns für diesen Fall die
Freiheit unserer Entschließungen Vorbehalten müßten.

    Nachdem hier die Eventualität weittragender Entschlüsse in Frage kommt,
würde ich Wert darauf legen, die Auffassung der Chefs der beiden Regierungen
sowie des Herrn Kriegsministers über die erwähnten Alternativen der Orientie¬
rung unserer Außenpolitik in einem gegebenen Momente zu vemehnen.&quot;

    Die Rede des Vorsitzenden gibt zu längerer Diskussion Anlaß, in deren Verlau¬
fe der Kriegsminister über Befragen hervorhebt, daß eine militärische Aktion,
welche Aussicht auf Erfolg haben soll, nur über Serbien, also durch das Morava¬
tal vor sich gehen müßte; alle anderen Richtungen wie zum Beispiel jene durch
den Sandjak kämen für größere Körper nicht in Betracht oder wären von so vielen
anderen Bedingungen abhängig, daß ihre Realisierung kaum möglich wäre. Dar¬
unter ist speziell eine - öfters ventilierte - Aktion von der Seeseite her gegen
Albanien zu verstehen. Im allgemeinen aber wären Aktionen, welche zu großen
Konflagrationen führen könnten, lieber zu vermeiden, angesichts der wenig gün¬
stigen Verfassung des Heeres hinsichtlich belangreicher materieller Ausgestal¬
tungen. Der k. k. Ministerpräsident ist der Meinung, daß die eine
Drohung enthaltende Alternative eine große Gefahr beinhalte, denn Drohungen
führen leicht zum Kriege. Er möchte sich Zeit erbitten, um sein Votum abzuge¬
ben.
<pb/>Nr. 32 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 3. 10. 1912                     491

   Beide Ministerpräsidenten geben der Hoffnung Raum, daß es
zu keinem Kriege kommen werde, der riesige Opfer kosten würde und wobei,
wie Dr. v. Lukäcs hinzufügt, nichts zu gewinnen sei.

   Der Vorsitzende schließt hierauf um Vi 6 Uhr die Sitzung.

                                                                                            Berchtold

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen.
Wien, am 3. Oktober 1912. Franz Joseph.

       Nr. 32 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 3. Oktober 1912

   RS. (und RK.)
   Gegenwärtige: der k. k. Ministerpräsident Graf Stürgkh, der kgl. ung. Ministerpräsident v.
Lukäcs, der k. u. k. Kriegsminister GdI. Ritter v. Auffenberg, der k. u. k. gemeinsame Finanzmini¬
ster Dr. Ritter v. Bilinski (21. 10.), der k. k. Finanzminister Dr. Ritter v. Zaleski, der kgl. ung.
Finanzminister Dr. Teleszky, der k. u. k. Marinekommandant Admiral Graf Montecuccoli (31. 10.).
   Protokollführer: Legationsrat Graf Hoyos.
   Gegenstand: Außerordentliche Nachtragsforderungen für Heer und Marine.

   KZ. 58 - GMKPZ. 496
   Protokoll des zu Wien am 3. Oktober 1912 abgehaltenen Ministerrates für ge¬
meinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze des k. u. k. Ministers des k. u. k.
Hauses und des Äußern Grafen Berchtold.

   Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung mit der Bemerkung, er habe den
Ministerrat einberufen, um darüber zu beraten, inwiefeme es möglich wäre, die
im Juli d. J. im gemeinsamen Ministerrat zurückgestellten Forderungen der Hee¬
res- und Marineverwaltung angesichts der veränderten politischen Situation
schon jetzt in Beratung zu ziehen und dieselben den jetzt tagenden Delegationen
noch vorzulegen.1 Die politische Lage sei eine sehr ernste. Obwohl derzeit nicht
vorauszusehen sei, daß sie Komplikationen auf internationalem Gebiete in naher
Zukunft zur Folge haben werde, so müsse die Monarchie für alle Fälle gesichert
sein.

   Bei Ausbruch des türkisch-italienischen Krieges habe man hoffen können, daß
derselbe nicht von langer Dauer sein werde. Diese Hoffnung habe sich als trüge¬
risch erwiesen, der Krieg, der noch nicht beendet sei, habe vielmehr weitere Krei¬
se um sich gezogen und eine bedrohliche Komplikation am Balkan gezeitigt.

I

       Zu den vom gemeinsamen Ministerrat abgelehnten Kreditforderungen von Heer und Marine
       siehe GMR. v. 8. und 9. 7. 1912, GMKPZ. 494.
<pb/>