Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)
EINLEITUNG I. Gemeinsame Regierung und gemeinsamer Ministerrat Mit den Protokollen eines Ministerrates hält der Forscher in der Regel eine der wesentlichen Quellen für die Beurteilung der Tätigkeit einer Regierung in Hän¬ den. Dies gilt jedoch nicht für die gemeinsamen Ministerratsprotokolle. Denn es ist fraglich, ob die Protokolle Zeugnisse für die Tätigkeit der gemeinsamen Re¬ gierung sind. Ob es eine gemeinsame Regierung überhaupt gegeben hat, wurde vielfach untersucht und diskutiert.1 Die gemeinsamen Ministerratsprotokolle sind ein mit eigenen Aktenzahlen versehener und gesondert hinterlegter 553 Protokol¬ le umfassender Archivbestand. Existenz und Wesen der gemeinsamen Regierung hingegen sind kaum definierbar. Zur Begrifflichkeit: „Beide Teile der Monarchie" steht für Cisleithanien und Ungarn und wird statt der durch die Diskussionen um das Wesen der Monarchie belasteten Bezeichnun¬ gen „Reichshälften", „Staatsgebiete" und „Staaten" verwendet. „Regierung" steht für die damalige übliche Bezeichnung „Ministerium", um leichter zwischen Gesamt- und Einzelministerium unterscheiden zu können. „Beide Regierungen" bedeutet „die Regierungen der beiden Teile der Monar¬ chie", also die cisleithanische und die ungarische Regierung. Unter „gemeinsam" wird verstanden, wenn verschiedene Faktoren etwas zu¬ sammen erledigen und dabei in dieser Angelegenheit zu einer Einheit werden, Zur Frage der Existenz einer gemeinsamen Regierung siehe besonders Somogyi Eva, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867-1906, Rumpler Helmut, Die rechtlich-organisatorischen und sozialen Rahmenbedingungen für die Außenpo¬ litik der Habsburgermonarchie 1848-1918. In: Wandruszka Adam-URBANixscH Peter (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Band VI: Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, 1. Teilband (Wien 1989) 1-121, besonders 36-41, sowie die Einleitungen von Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-unga¬ rischen Monarchie [weiterhin zit. als Gmr.] 1/1: 1867-1870, bearbeitet von Eva Somogyi (Budapest 1999), Gmr. IV: 1883-1895 bearbeitet von Istvän Diöszegi (Budapest 1993), Gmr. V: 1896-1907, bearbeitet von Eva Somogyi unter Mitarbeit von Inge Sieghart (Budapest 1991); Komjathy. Miklös, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätig¬ keit während des Weltkrieges. In: Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der öster¬ reichisch-ungarischen Monarchie (1914--1918), eingeleitet und zusammengestellt von Miklös Komjäthy (Budapest 1966) 1-137. || || 10 Einleitung beispielsweise Cisleithanien und Ungarn in den pragmatischen Angelegenhei¬ ten. „Gemeinschaftlich" bedeutet im Gegensatz dazu, daß verschiedene Faktoren etwas zusammen beschließen, ohne dabei ihre Unterschiedlichkeit aufzugeben, also dabei nicht zu einer Einheit werden, wie z. B. Cisleithanien und Ungarn in den paktierten Angelegenheiten. 1. Gab es eine gemeinsame Regierung? Am 2. Juli 1904 richtete der Sektionschef des gemeinsamen Finanzministeriums Lajos v. Thallöczy an den Sektionschef im Außenministerium Läszlö Müller v. Szentgyörgy eine Anfrage, ob es eine „gemeinsame Regierung" gäbe und in wel¬ cher Beziehung sie zum „gemeinsamen Ministerrat" stünde. Dabei führte Thallöczy einige Gründe an, die ihm und anderen Ministerialbeamten des ge¬ meinsamen Finanzministeriums gegen die Existenz einer gemeinsamen Regie¬ rung sprachen. Eines der Argumente war: „Unsere [von Beamten des gemeinsa¬ men Finanzministeriums] Auffassung geht dahin, daß von einem Kabinette keine Rede sein kann. Gerade auf Grund dieser Erklärung [§ 27 des GA. XII/1867] hängt die Entlassung oder Entfernung eines Ministers nicht vom Willen des Prä¬ sidenten ab, wie dies bei den parlamentarisch verantwortlichen Regierungen Usus ist. Das Ministerium hat demnach kein Haupt."2 Ein Leiter der Regierung, der die Entlassung seiner Regierungsmitglieder nicht in der Hand habe, sei kein Regierungschef,3 eine Regierung ohne Regierungschef aber keine Regierung. Der Leugnung einer gemeinsamen Regierung durch Thallöczy setzte Außen¬ minister Agenor Graf Gohichowski eine Erklärung des ungarischen Ministerprä¬ sidenten Istvän Graf Tisza entgegen: „Die gemeinsamen Ministerconferenzen sind notwenig, schon die Feststellung des gemeinsamen Budgets kann im Sinne des G.-A.-s XIEI867 nur in einer gemeinsamen Ministerconferenz geschehen. In dieser muß es natürlich auch einen Präsidenten geben, und ich glaube, die richti¬ ge Lösung ist die, wenn nicht der Chef der einen oder anderen Regierung, son¬ dern das gemeinsame Organ, der gemeinsame Minister des Aeussem den Vorsitz führt."4 Die Position Tiszas und des Außenministers war, daß der Außenminister Präsident des gemeinsamen Ministerrates sei, weil es einen gemeinsamen Mini¬ sterrat und damit dessen Präsidenten geben müsse. Schon Müller bezweifelte die Richtigkeit dieser Interpretation, doch mußte er sich in seiner Antwort an Thallöczy an Müller v. 2. 7. 1904 (deutsche Übersetzung), HHStA., PA. I, CdM., CdM. 410/1904 fol. 21v, zit. auch bei Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat 87 f. Zur Ernennung und Entlassung der gemeinsamen Minister siehe Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat 80-84 und 87-91. Erklärung Tiszas in der ungarischen Delegation v. 28. 5. 1904 (deutsche Übersetzung), HHStA., PA. I, CdM., CdM. 410/1904 fol. 9r, zit. bei Somogyi, Einleitung GMR. V XIV. || || Einleitung 11 Thallöczy der Auffassung seines Ministers beugen.5 Auch Thallöczy meinte in seinem Dankesschreiben an Müller: „Die historische Deduction würde zwar zu einer anderen Auslegung berechtigen, doch ist dies nicht aktuell."6 Mit der Übernahme dieser Erklärung Tiszas als Antwort aufThallöczys Frage, ob es eine gemeinsame Regierung gäbe, setzte Gohichowski die Begriffe „ge¬ meinsamer Ministerrat" und „gemeinsame Regierung" gleich. Der Aussage Thallöczys, es gäbe keine gemeinsame Regierung, weil sie kein Haupt habe, ließ der Außenminister entgegnen, es gäbe einen Regierungschef, weil es im gemein¬ samen Ministerrat einen geben müsse. Das Problem besteht zunächst nicht in dieser Gleichsetzung an sich. Vielmehr ist problematisch, daß die von Tisza an¬ gesprochenen Ministerratssitzungen eindeutig die beiden Ministerpräsidenten inkludierten, die gemeinsame Regierung aber nur aus den drei gemeinsamen Mi¬ nistem bestehen konnte. Kurz, der gemeinsame Ministerrat, den Tisza beschrieb, konnte unmöglich als Synonym für „gemeinsame Regierung" verstanden wer¬ den. Somit blieb Thallöczys Frage nach der Existenz einer gemeinsamen Regie¬ rung letztlich ohne Antwort. Der dualistischen Aufbau der Monarchie basierte auf dem staatsrechtlichen Ausgleich von 1867, der in zwei Gesetzen verankert war: für Ungarn im Gesetz¬ artikel7 XII/1867 und für Cisleithanien im Gesetz vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 146/1867, dem sogenannten Delegationsgesetz.8 Diese Gesetze bestimmten, welche politischen Bereiche von beiden Teilen der Monarchie gemeinsam, wel¬ che gemeinschaftlich und welche separat zu erledigen waren. Beide Gesetze wa¬ ren vollkommen unterschiedlich strukturiert und textlich nicht deckungsgleich; aber auch inhaltlich ergaben sich große Differenzen. Gemeinsam war die „Zusammenverteidigung"9, aus der die Gemeinsamkeit der Außenpolitik10 und des Kriegswesens11 sowie deren Ausgabenverwaltung12 resultierte. Da für Ungarn die Grundlage der Gemeinsamkeit der „Zusammenver¬ teidigung" die Pragmatische Sanktion war, die Ungarn im Jahr 1723 angenom¬ men hatte, hießen sie auch „pragmatische Angelegenheiten". Sie wurden von sogenannten gemeinsamen Ministem verwaltet - Außenminister, Kriegsminister und gemeinsamer Finanzminister -, die weder Mitglieder der cisleithanischen, 5 Siehe dazu die undatierten Bemerkungen Müllers, HHSxA., PA. I, CdM. CdM. 410/1904 fol 6v, 30r. 6 Ebd., fol. 18r. 7 Weiterhin GA. 8 Weiterhin DG. 9 Zolger übersetzte das Wort együtt immer mit zusammen und nicht als simultan, wie es u. a. infrüheren Übersetzungen üblich war, Zolger Ivan, Der staatsrechtliche Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn (Leipzig 1911) 60-68. Daher gibt er együttes vedelem als Zusam¬ menverteidigung wieder, ebd. 90. 10 GA. XII/1867, § 8 undDG., § 1 a). 11 GA. XII/1867, § 9 und DG., § 1 b). 12 GA. XII/1867, § 16 undDG., § 1 c). || || 12 Einleitung noch der ungarischen Regierung waren. Die jährlich festzustellenden Ausgaben der gemeinsamen Ministerien wurden auch nicht durch die beiden Parlamente bewilligt. Speziell zu diesem Zweck wurde jedes Jahr vom cisleithanischen Reichsrat und vom ungarischen Reichstag je eine Delegation gewählt, denen die gemeinsamen Minister gegenüber verantwortlich waren.13 Die Delegationen tag¬ ten und beschlossen getrennt, jedoch beendeten erst gleichlautende Beschlüsse ihre Tätigkeit. So waren sie nur gemeinsam handlungsfähig. Diese Delegationen sind nach § 28 des GA. XII/1867 nicht als Zentralparlament zu verstehen.14 Ne¬ ben den gemeinsamen Ministem waren sie aber faktisch eine zweite gemeinsame Institution. Nun gab es zwar gemeinsame Ausgaben, ihnen standen aber keine gemeinsamen Einnahmen gegenüber.15 Somit mußten beide Teile der Monarchie das Geld dafür aufbringen. Ein Abkommen zwischen Cisleithanien und Ungarn bestimmte, wieviel Prozent davon jeder Teil zu tragen hatte. Das war die soge¬ nannte „Quote". Die Bestimmung der Quote erfolgte durch beide Regierungen und beide Parlamente. Somit waren nicht die gemeinsamen, sondern die separa¬ ten Institutionen zur Bestimmung der Quote bemfen. Die Frage der Höhe der gemeinsamen Ausgaben war daher eine „gemeinsame" Angelegenheit, jene der Aufteilung der Kosten auf beide Teile der Monarchie hingegen eine „gemein¬ schaftliche". Außer den drei pragmatisch-gemeinsamen Angelegenheiten gehörten alle an¬ deren Aufgaben nicht in die gemeinsame Verwaltung der Monarchie. Es gab aber viele Bereiche des Militärs, der Wirtschaftspolitik und die gesamte Zollgesetzge¬ bung, die zwar getrennt verwaltet wurden, aber nach gleichen Grundsätzen zu behandeln waren. Zu diesem Zweck hatten sich Cisleithanien und Ungarn regel¬ mäßig - faktisch alle zehn Jahre - auf ein Wehrgesetz sowie ein Zoll- und Han¬ delsbündnis zu einigen. Diese, wie alle damit im Zusammenhang stehenden Ge¬ setze und Verordnungen, wurde von beiden Regierungen ausgehandelt und dann von beiden Parlamenten beschlossen. Für sie waren nicht gemeinsame, sondern die separaten Institutionen zuständig. Da das Wesen dieser Aufgaben die gemein¬ schaftliche Erledigung war, wurden sie auch „paktierte Angelegenheiten" ge¬ nannt. Alle anderen politischen Agenden waren weder pragmatisch-gemeinsam, noch gemeinschaftlich-paktiert, sondern wurden von beiden Teilen der Monar¬ chie separat bestimmt und verwaltet. 13 Zu den Delegationen siehe besonders Somogyi Eva, Die Delegation als Verbindungsinstituti¬ on zwischen Cis- und Transleithanien. In: Rumpler Helmut-URBANixscH Peter (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, 1. Teilband: Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften (Wien 2000) 1107-1176, hier 1135 f. 14 GA. XII/1867, §28. 15 Auch die Zölle waren dejure keine gemeinsame Einnahme, sondern eine separate Einnahme beider Teile der Monarchie. Diese verpflichteten sich aber, ihre Zolleinnahmen zur Deckung der gemeinsamen Ausgaben zu verwenden. || || Einleitung 13 Die rechtlichen Grundlagen der gemeinsamen Regierung Im DG. waren die Aufgaben der gemeinsamen Regierung in § 5 verankert: „Die Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten wird durch ein gemeinsames ver¬ antwortliches Ministerium besorgt, welchem jedoch nicht gestattet ist, neben den gemeinsamen Angelegenheiten auch die besonderen Regierungsgeschäfte eines der beiden Reichsteile zu führen." GA. XII/1867 führte im § 27 aus: „Ein ge¬ meinsames Ministerium muß errichtet werden hinsichtlich jener Gegenstände, welche, als in Wirklichkeit gemeinsame, unter die besondere Regierung weder der Länder der ungarischen Krone, noch der übrigen Länder Seiner Majestät ge¬ hören. Dieses Ministerium kann neben den gemeinsamen Angelegenheiten die Geschäfte der besonderen Regierung weder des einen, noch des anderen Teiles führen, auf dieselben einen Einfluß nicht üben." Hinzu kommt, daß der ungari¬ sche Gesetzartikel mit „gemeinsamem Ministerium" ein aus mehreren Personen bestehendes Gremium voraussetzte, das gemeinsam Beschlüsse fassen konnte. So hieß es am Ende des § 27: „auch das ganze Ministerium wird zusammen ver¬ antwortlich sein hinsichtlich solcher seiner amtlichen Verfügungen, die es zusam¬ men getroffen hat." Eine ähnliche Voraussetzung kam auch im DG., § 16 vor: „Bei Verletzung eines für die gemeinsamen Angelegenheiten bestehenden verfas¬ sungsmäßigen Gesetzes kann jede Delegation einen der anderen Delegation mit¬ zuteilenden Antrag auf Anklage des gemeinsamen Ministeriums oder eines ein¬ zelnen Mitgliedes desselben stellen." Beide Ausgleichsgesetze kannten also durchaus eine gemeinsame Regierung mit der Fähigkeit, gemeinsame Beschlüsse fassen zu können. Daher konnte Ivan Zolger festhalten: „Die Behauptung also, daß der [ungarische] Gesetzartikel nur gemeinsame Minister, aber kein gemeinsames Ministerium kenne, ist im Hin¬ blick auf die Diktion des § 27 (siehe auch §§ 39, 50) unzutreffend."16 So eindeutig beide Ausgleichsgesetze von einer gemeinsamen Regierung spra¬ chen und nicht nur von gemeinsamen Ministem, so problematisch ist es, den Aufgabenbereich dieser gemeinsamen Regierung zu bestimmen. Grundsätzlich wurden ihr die „pragmatisch-gemeinsamen" Angelegenheiten zugewiesen: die Außenpolitik, das Kriegswesen und die Verwaltung der daraus resultierenden Ausgaben. Für alle anderen Agenden sollten hingegen die beiden Regierungen zuständig sein, der GA. XIEI867 schloß sogar jegliche Einflußnahme der ge¬ meinsamen Regierung aus. Zumindest theoretisch ergaben sich dabei für das DG. keine Probleme, weil die pragmatischen Bereiche von den anderen klar getrennt worden waren. Zum ersten sah das Gesetz keine direkten Zuständigkeiten der beiden Regierungen bei den pragmatischen Angelegenheiten vor, zum zweiten aber hieß es im § 5: „welchem [das gemeinsame Ministerium im Sinne von Re¬ gierung] jedoch nicht gestattet ist, neben den gemeinsamen Angelegenhei¬ ten auch die besonderen Regierungsgeschäfte eines der beiden Reichsteile zu 16 Zolger, Der staatsrechtliche Ausgleich 171, Anm. 2. || || 14 Einleitung fuhren." Die unbedingte Zuständigkeit für die pragmatischen Angelegenheiten war somit eindeutig formuliert worden. Diese Eindeutigkeit fehlt hingegen dem GA. XII/1867. Zunächst wurde in § 8 bestimmt, daß „Verfügungen, die rück¬ sichtlich der internationalen Verträge auftauchen können", nur getroffen werden können „im Einverständnisse mit den Ministerien beider Teile und unter deren Zustimmung".17 Zudem mußten internationale Verträge dem ungarischen Reichs¬ tag und dem cisleithanischen Reichsrat von ihren eigenen Regierungen mitgeteilt werden, weder sollte eine gemeinsame konstitutionelle Institution informiert werden, wie es z. B. die Delegationen hätten sein können, noch sollte dies die gemeinsame Regierung oder der Außenminister tun. In Ungarn entwickelte sich ein System, in dem die ungarische Regierung dem eigenen Parlament für diese Verträge verantwortlich war, wie letztlich für alle im Reichstag kundgemachten Entscheidungen der gemeinsamen Minister. Ein weiterer Unterschied zum DG. aber war, daß im § 27 der pragmatische Aufgabenbereich über die Nichtzustän¬ digkeit der beiden Regierungen definiert wurde: „Ein gemeinsames Ministerium muß errichtet werden hinsichtlich jener Gegenstände, welche, als in Wirklichkeit gemeinsame, unter die besondere Regierung weder der Länder der ungarischen Krone, noch der übrigen Länder Seiner Majestät gehören." Miklös Komjäthy hat zu recht darauf hingewiesen, daß damit der Aufgabenbereich der gemeinsamen Regierung negativ definiert worden war.18 Hieraus ergaben sich aber ganz hand¬ feste Probleme. Wenn nämlich Teile der Außenpolitik im Einverständnis und un¬ ter Zustimmung der ungarischen Regierung zu gestalten waren, und wenn die ungarische Regierung ihrem Parlament gegenüber für die internationalen Verträ¬ ge verantwortlich war, so ist zumindest fraglich, ob damit diese pragmatisch-ge¬ meinsamen Gegenstände nicht auch „unter die besondere Regierung gehören", die die gemeinsame Regierung eben „nicht führen, einen Einfluß nicht üben" durfte. Zudem ergaben sich beim Kriegswesen praktische Schwierigkeiten. Gro¬ ße Bereiche der Militärangelegenheiten wurden von den Regierungen und Parla¬ menten Cisleithaniens und Ungarns bestimmt, wie Rekrutierung, Dislokation und Verpflegung der Truppen, oder die Feststellung des Wehrsystems.19 Hier befan¬ den sich verschiedene Aufgaben, die nicht voneinander getrennt werden konnten, teilweise in der Zuständigkeit der gemeinsamen, teilweise in jener der beiden Regierungen. Das gemeinsame Finanzministerium schließlich war aufreine Aus¬ gabenverwaltung beschränkt worden; es verfügte über keinerlei eigene Einnah¬ men, sondern erhielt seine Gelder über die Zolleinnahmen und die Beitragszah¬ lungen beider Teile der Monarchie entsprechend der Quote.20 Während sich also die gemeinsame Regierung nicht in die Angelegenheiten mischen durfte, die zum 17 GA. XII/1867, § 8. Dieses Einverständnis beider Regierungen kannte das DG. nicht: DG. § la). 18 Komjäthy, Entstehung des gemeinsamen Ministerrates 22-30. 19 GA. XII/1867, §§ 12 und 13, entsprechend DG. § 1 b). 20 GA. XII/1867, §§16 und 17, entsprechend DG. § 1 c). || || Einleitung 15 Aufgabenbereich beider Regierungen gehörten, lagen viele wichtige Agenden, die die gemeinsamen Minister direkt oder indirekt betrafen, im Mitbestimmungs¬ oder Alleinentscheidungsbereich der beiden Regierungen. Betrachtet man die pragmatischen Angelegenheiten, so stellt man fest, daß ein Teil in einem Graubereich lag, wobei dieser nach den Bestimmungen beider Ge¬ setze unterschiedlich groß war. Die Agenden der gemeinsamen Regierung hingen letztlich von momentanen Beurteilungen oder Zuständigkeitsinterpretationen ab, die durchaus veränderlich waren. Damit ergab sich aber ein weiteres Problem: Man hatte einerseits ganz präzise definierte pragmatische Angelegenheiten, ande¬ rerseits nur eine sehr vage Zuständigkeit der gemeinsamen Regierung. Des wei¬ teren wurden lediglich zwei gemeinsame Minister explizit genannt und das nur im GA. XII/1867: im § 8 der Außenminister und im § 41 der gemeinsame Finanz¬ minister. Das DG. erwähnt keinen einzigen gemeinsamen Minister. Die Agenden des Außenministers waren selbstverständlich die Gegenstände der Außenpolitik. Diese konnten aber durch das „Einverständnis" und die „Zustimmung" der bei¬ den Regierungen, die GA. XII/1867 ja vorsah, in dem Graubereich der Zustän¬ digkeit der gemeinsamen Regierung liegen. Es muß daher einerseits die Zustän¬ digkeit des Außenministers als klar bestimmt angesehen werden, die der gemeinsamen Regierung hingegen nicht. Folge war, daß der Außenminister nur für jenen Bereich seiner Aufgaben als Mitglied der gemeinsamen Regierung an¬ gesehen werden konnte, der in der jeweiligen konkreten Situation als Gegenstand der gemeinsamen Regierung betrachtet wurde. In den anderen Agenden muß er hingegen als außerhalb jeder Regierung stehender Minister gewertet werden. Dasselbe trifft auf die militärischen Aufgaben zu. Das ungarische Ausgleichsge¬ setz erwähnte zwar keinen Kriegsminister, aber § 11 legte die gemeinsamen Mi¬ litärangelegenheiten direkt in die Hände des Monarchen. Es war ihm überlassen, die Verwaltung der pragmatischen Teile der Kriegsverwaltung zu regeln und er konnte einem Kriegsminister die Leitung der Verwaltung übertragen. Dies bedeu¬ tete konkret, daß die Aufgabenbereiche sowohl des Außen- wie des Kriegsmini¬ sters nicht auf den vom GA. XII/1867, § 27 bestimmten Kompetenzrahmen der gemeinsamen Regierung beschränkt werden konnten, oder anders formuliert: die Einschränkungen des § 27 konnten nur die gemeinsame Regierung, nicht aber den Außen- und den Kriegsminister betreffen. Das Verbot beider Ausgleichsge¬ setze, daß die gemeinsame Regierung die Geschäfte der beiden Regierungen nicht führen dürfe, ist zwar „dahin zu verstehen, das [sic!] kein gemeinsamer Minister gleichzeitig Leiter eines österreichischen] oder ungar[ischen] Ressorts sein kann und vice versa".21 Diesen beiden einzelnen Ministem war aber nicht untersagt worden „auf dieselben [die Geschäfte beider Regierungen] einen Ein¬ fluß [zu] üben" oder sie mit zu entscheiden, wenn die Angelegenheit auch ihr Ressort tangierte. Somit war es für das Kriegsministerium durchaus möglich, auf 21 Mischler Emst-ULBRiCH Josef (Hg.), Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des ge¬ samten öffentlichen Rechtes, 2. Bd. (Wien 21906) 354. || || 16 Einleitung die Bereiche des Kriegswesens, die in den §§12 und 13 des GA. XII/1867 der Zuständigkeit Ungarns Vorbehalten waren, zumindest einen Einfluß zu üben, ein Recht, das die gemeinsame Regierung nicht besaß. Insofern waren Kriegs- und Außenminister in bestimmten Ressortbereichen Mitglieder der gemeinsamen Re¬ gierung, konnten aber gleichzeitig in anderen Bereichen unabhängige Minister sein. Dieses Auseinanderfallen der Zuständigkeiten als gemeinsamer Minister und als Mitglied der gemeinsamen Regierung trifft auf den gemeinsamen Finanz¬ minister nicht zu. Sein Ressort konnte nur im Rahmen der gemeinsamen Regie¬ rung liegen. Nur jener Teil der pragmatischen Angelegenheiten kann daher eindeutig der Kompetenz der gemeinsamen Regierung zugewiesen werden, der für beide Aus¬ gleichsgesetze außerhalb des Graubereiches lag. Nur eine einzige Aufgabe wurde vom GA. XII/1867 explizit der gemeinsamen Regierung zugewiesen: im § 40 der gemeinsame Voranschlag. Zwar wurde hier auch die Einflußnahme beider Regie¬ rungen bestimmt.22 Da „Einfluß nehmen" aber kein Mitentscheidungsrecht bein¬ haltete, zudem das gemeinsame Budget nicht von beiden Parlamenten, sondern von den Delegationen zu votieren war, resultierte daraus keine Mitverantwort¬ lichkeit beider Regierungen. Insofern gehörte die Erstellung des gemeinsamen Voranschlages nicht „unter beide Regierungen". Mit der Okkupation Bosnien-Herzegowinas kam eine weitere Aufgabe für die gemeinsame Regierung hinzu. Sie wurde zunächst vom Monarchen beauftragt, die provisorische Verwaltung dieser beiden Provinzen zu leiten. Die konkrete Leitung der Verwaltung wurde dem gemeinsamen Finanzminister übertragen, der sie allerdings im Namen der gemeinsamen Regierung ausübte.23 Die prinzipielle Zuständigkeit der gemeinsamen Regierung wurde dadurch nicht berührt. Die Entschließung des Monarchen regelte sozusagen nur die Aufgabenverteilung in¬ nerhalb der Regierung. Provisorisch war die Verwaltung deshalb, weil die Pro¬ vinzen weiterhin Teil des Osmanischen Reiches blieben, lediglich übergangswei¬ se von Österreich-Ungarn verwaltet wurden. Der Zustand der Okkupation war daher kein Definitivum und damit auch die Verwaltung nur ein Provisorium. Es ist nicht verwunderlich, daß die gemeinsame Regierung mit der Leitung der „Ver¬ waltung" betraut wurde, weil diese am Berliner Kongreß 1878 Österreich-Ungarn übertragen worden war, also weder Ungarn, noch Cisleithanien, sondern der Ge¬ samtmonarchie. Es handelte sich daher um eine pragmatische Angelegenheit. Mit dem Gesetz vom 22. Februar 1880 für Cisleithanien und dem GA. VI/1880 für Ungarn wurde die staatsrechtliche Stellung der okkupierten Provinzen geregelt. In diesen hieß es in den ersten beiden Paragraphen:24 „§ 1. Das [cisleithanische, Das DG. kannte hier kein Recht der Einflußnahme beider Regierungen. Vortrag des gemeinsamen Ministerrates v. 24. 2. 1879, resolviert mit Ah. E. v. 26. 2. 1879, HHStA., Kab. Kanzlei, KZ. 857/1879. 24 Da diese beiden Gesetze im Gegensatz zum DG. und GA. XII/1867 gleich organisiert und wortgleich waren, muß nicht aufbeide Gesetze separat verwiesen werden. || || Einleitung 17 bzw. ungarische] Ministerium ist im Geiste der für die gemeinsamen Angelegen¬ heiten der Monarchie bestehenden Gesetze ermächtigt, beziehungsweise ange¬ wiesen, auf die durch das gemeinsame Ministerium zu leitenden provisorischen Verwaltung Bosniens und der Herzegowina unter verfassungsmäßiger Verant¬ wortung Einfluß zu nehmen", und im § 2: „Insbesondere hat die Feststellung der Richtung und Prinzipien dieser provisorischen Verwaltung und die Anlage von Eisenbahnen im Einvernehmen mit den Regierungen der beiden Ländergebiete der österreichisch-ungarischen Monarchie zu erfolgen." Im § 1 hieß es nur: „Ein¬ fluß zu nehmen", § 2 macht aber durch die Verbindung zu § 1 mit dem Wort „insbesondere" deutlich, daß „Einfluß nehmen" auch das „Einvernehmen" ein¬ schloß.25 Nicht für Cisleithanien -- weil im DG. ohnehin alle gemeinsamen Ange¬ legenheiten der gemeinsamen Regierung zugewiesen worden waren -, sehr wohl aber für Ungarn ist dies bedeutend. Denn mit § 1 war die Agenda „Leitung der provisorischen Verwaltung Bosnien-Herzegowinas" eindeutig der gemeinsamen Regierung zugewiesen worden, obwohl es zumindest als fraglich angesehen wer¬ den mußte, ob Teile dieser Aufgaben auch „unter die besondere Regierung" so¬ wohl Cisleithaniens, als auch Ungarns gehörten. Für Ungarn klärte daher nicht GA. XII/1867 eindeutig die Zuständigkeit der gemeinsamen Regierung für die provisorische Verwaltung Bosnien-Herzegowinas, sondern GA. VI/1880 direkt, mit der Festlegung im § 1: „durch das gemeinsame Ministerium zu leitende pro¬ visorische Verwaltung". Somit war die Situation folgende: Für Cisleithanien war nach dem DG., § 5 die gemeinsame Regierung für die Leitung der Verwaltung zuständig, weil es eine pragmatische Angelegenheit war. In Ungarn wurde die Zuständigkeit der gemeinsamen Regierung nicht eindeutig durch GA. XII/1867 zugewiesen, sondern durch GA. VI/1880 vorausgesetzt. Mit allerhöchster Entschließung vom 26. Februar 1879 wurde die konkrete Aufgabe der Leitung der Verwaltung dem gemeinsamen Finanzminister übertra¬ gen, der sie im Namen der gemeinsamen Regierung führte. Dies war aber nur eine Aufgabenverteilung innerhalb der gemeinsamen Regierung. Daher war für Cisleithanien und Ungarn formal die gemeinsame Regierung, praktisch der ge¬ meinsame Finanzminister Ansprechpartner in Angelegenheiten Bosnien-Herze¬ gowinas. Anders war es für den Außen- und den Kriegsminister. Bei jenen ihrer Agenden, die innerhalb des Aufgabenbereichs der gemeinsamen Regierung la¬ gen, war formal und praktisch der gemeinsame Finanzminister zuständig; für den Bereich ihrer Aufgaben außerhalb der Zuständigkeit der gemeinsamen Regierung war es hingegen die gemeinsame Regierung, an die sie sich zu wenden hatten. Die gemeinsame Regierung wurde konkret durch den gemeinsamen Finanzmini¬ ster repräsentiert. Somit konnte -- zumindest auf ungarischer Rechtsgrundlage -- die durchaus paradoxe Situation eintreten, daß sich der Außen- oder Kriegsmini- 25 Zur Rolle des gemeinsamen Finanzministeriums und beider Regierungen in der Verwaltung Bosnien-Herzegowinas siehe auch Vrankic Petar, Religion und Politik in Bosnien und der Herzegowina (1878-1918) (Paderbom-München-Wien-Zürich 1998) 37-40. || || 18 Einleitung ster in Fragen Bosnien-Herzegowinas formal an die gemeinsame Regierung zu wenden hatte, als einer für ihn in dieser Frage außenstehenden Institution, da diese nur durch den gemeinsamen Finanzminister vertreten wurde. Noch parado¬ xer wäre die Lage dann geworden, wenn der gemeinsame Finanzminister selbst ein solches Problem im Rahmen der gemeinsamen Regierung zur Sprache ge¬ bracht hätte. In diesem Fall wäre der anffagende gemeinsame Minister in einer prekären Position gewesen: als Anffagender wäre er als „Außenstehender" in die Angelegenheit verwickelt gewesen, als „Mitglied der gemeinsamen Regierung" hingegen als deren Teil. Ob es je eine solche rechtliche Situation tatsächlich ge¬ geben hat, ist kaum zu ergründen, da die Definition der Zuständigkeit der gemein¬ samen Regierung abhängig von wandelbaren Interpretationen war. Allerdings konnte jede Situation nahe daran heranführen, in welcher der Kriegs- oder Au¬ ßenminister in eine Problematik zu Bosnien-Herzegowina sowohl durch sein Ressort, als auch - unabhängig davon - als Teil der gemeinsamen Regierung in¬ volviert sein konnte, z. B. bei Fragen des Eisenbahnbaus, der Annexion oder der Landesverfassung. Wenn daher die gemeinsamen Minister über Angelegenheiten Bosnien-Herzegowinas berieten, konnten sie entweder die zuständige gemeinsa¬ me Regierung sein, oder der außerhalb der gemeinsamen Regierung stehende Außen- oder Kriegsminister, als welche sie mit dem gemeinsamen Finanzmini¬ ster als dem Vertreter der gemeinsamen Regierung gemeinschaftlich berieten. Zusammenfassend können somit zwei Zentralaufgaben der gemeinsamen Re¬ gierung rechtlich genau ausgemacht werden: die jährliche Erstellung des Voran¬ schlages, der den Delegationen vorzulegen war und die Leitung der provisori¬ schen Verwaltung von Bosnien-Herzegowina. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß mit der Feststellung der rechtlichen Existenz und eines rechtlich fi¬ xierten Wirkungskreises davon gesprochen werden kann, daß diese gemeinsame Regierung auch tatsächlich existiert habe. Man kann formal, wie dies Thallöczy 1904 tat, die Kriterien feststellen, die eine Regierung ausmachen. Eine solche Überlegung würde aber nichts über das Wirken oder die Entscheidungsfahigkeit dieser Regierung an sich sagen. Angenommen, man würde zu dem Resultat kom¬ men, daß es keine gemeinsame Regierung gegeben hat. Dann müßte man aber daraus schließen, daß das, was in den Ausgleichsgesetzen „gemeinsames Mini¬ sterium" genannt wurde, als eine besondere Art von Regierung verstanden wer¬ den muss. Thallöczy begründete sein Urteil, es gäbe keine gemeinsame Regie¬ rung, damit, daß dasVorhandenseineinesRegierungschefs „beidenparlamentarisch verantwortlichen Regierungen Usus ist". Damit hatte Thallöczy aber bestenfalls nur bewiesen, daß die gemeinsame keine „parlamentarisch verantwortliche Re¬ gierung" war, aber nicht, daß sie gar nicht als Regierung, d. i. Entscheidungsor¬ gan, angesehen werden konnte. Eine „parlamentarische" Verantwortlichkeit war aus der ganzen Konzeption des staatsrechtlichen Ausgleiches gar nicht möglich, weil die Delegationen gerade aus ungarischer Sicht niemals als Parlament ver¬ standen wurden. Zudem vermied es GA. XII/1867 peinlichst, die gemeinsame Regierung „verantwortlich" zu nennen, obwohl er eine Verantwortlichkeit vor- || || Einleitung 19 sah. Die Existenz der gemeinsamen Regierung kann nur über ihr Wirken über¬ prüft werden. Formale Argumente dafür oder dagegen können bestenfalls als In¬ diz dienen. Die politisch-rechtliche Wirklichkeit Die Zuständigkeit der gemeinsamen Regierung für die Ausarbeitung des gemein¬ samen Kostenvoranschlages wurde in GA. XII/1867 im § 40 festgelegt: „Die Feststellung des gemeinsamen Kostenvoranschlages wird der jährlich vorkom¬ mende wichtigste Teil der Aufgabe dieser Ausschüsse [Delegationen] sein. Die¬ sen Kostenvoranschlag, der sich lediglich aufjene Kosten erstrecken kann, wel¬ che in dem gegenwärtigen Beschlüsse als gemeinsam bezeichnet sind, wird das gemeinsame Ministerium mit Einflußnahme der beiden besonderen verantwortli¬ chen Ministerien anfertigen [...]". Im DG. fand die Erstellung des Voranschlages keine eigene Erwähnung. Daher wurde auch keine Einflußnahme der cisleithani- schen Regierung bestimmt. Hier wurde in § 14 nur allgemein gesagt: „Regie¬ rungsvorlagen gelangen durch das gemeinsame Ministerium an jede der beiden Delegationen abgesondert." In beiden Fällen war es also die gemeinsame Regie¬ rung, die die Voranschläge - mit oder ohne Einflußnahme beider Regierungen - zu beschließen und diese den Delegationen vorzulegen hatte. Diese Delegationen bestimmten dann das Budget. Das könne dann, wie GA. XII/1867, § 41, aus¬ drücklich festhielt: „nicht mehr durch die einzelnen Länder [Cisleithanien und Ungarn] einer Verhandlung unterzogen werden." Das gemeinsame Budget war daher eine Angelegenheit, die nicht von beiden Teilen der Monarchie bestimmt wurde, sondern nur von den gemeinsamen Institutionen. Nun waren aber die Delegationen auf das engste mit den Parlamenten beider Teile der Monarchie verbunden, weil die Mitgliederjeder Delegation Abgeordne¬ te ihrer Parlamente waren und weil die Delegationen nur für ein Jahr gewählt wurden. Die Delegationen repräsentierten daher die beiden Parlamente. Diese enge Verbindung der Delegation mit dem eigenen Parlament war vom GA. XII/1867 vorgesehen.26 Daher betrachteten beide Delegationen ihre Aufgaben nicht von der Position der Gesamtmonarchie aus, sondern aus dem Blickwinkel ihres Teiles. Die fehlende Gesamtposition trifft sowohl zu, wenn man jede Dele¬ gation für sich alleine nimmt, als auch beide zusammen. Denn ein Kompromiß der Separatinteressen muß nicht deckungsgleich mit dem Gesamtinteresse sein. Da nun die Delegationen aus der Position je ihres Teiles der Monarchie handel¬ ten, waren die gemeinsamen Minister auch in dieser Frage gezwungen, ihre Aus¬ gaben in Einklang mit den Separatinteressen beider Teile der Monarchie zu brin¬ gen. Insofern war auch die Einflußnahme beider Regierungen aufdas gemeinsame Budget, wie sie § 40 des GA. XII/1867 vorschrieb, keineswegs nur ein Anhö- 26 GA. XII/1867, § 28, siehe auch Somogyi, Delegation als Verbindungsinstitution 1109. || || 20 Einleitung rungsrecht. Hinter dieser „Einflußnahme" stand die Möglichkeit der Annahme oder Ablehnung durch die eine oder andere Delegation. Diese Abhängigkeit der gemeinsamen Regierung von beiden Regierungen stellte Franz Joseph schon auf dem ersten offiziellen gemeinsamen Ministerrat vom 31. Dezember 1867 fest: „Seine Majestät der Kaiser heben hervor, daß das ungarische Ministerium ge¬ wonnen werden müsse. Sei dieses gut, sei es auch die [ungarische] Delegation. Minister Graf Festetics27 sei so oft als tunlich den Beratungen des Reichsministe¬ riums beizuziehen."28 Am 31. Dezember 1867 war das cisleithanische DG. gerade einmal zehn Tage alt. So sehr die Erstellung des Budgets de jure eine Angelegen¬ heit der gemeinsamen Regierung war, so wenig konnte diese de facto alleine für sich, ohne Zustimmung beider Regierungen, entscheiden. Diese politisch-rechtli¬ che Wirklichkeit spiegelt sich in den Ministerratsprotokollen wieder: interne Budgetberatungen der gemeinsamen Minister waren letztlich nur Vorberatungen und wurden des öfteren auch so genannt; beschlossen wurde der Voranschlag erst nach der Zustimmung beider Regierungen. Die im § 40 des GA. XIEI 867 den beiden Regierungen eingeräumte „Einflußnahme" war in Wirklichkeit das Recht ihrer Zustimmung. Somit war die gemeinsame Regierung in ihrem eigentlichen Kompetenzbereich nicht allein entscheidungsfähig. Sie konnte in dieser Frage de facto keine Beschlüsse fassen, sondern stand unter der Kontrolle beider Regie¬ rungen; daher füngierte sie in Budgetfragen faktisch nicht als Regierung, weil ihr die Fähigkeit fehlte, alleine den Voranschlag festzulegen. Für die Leitung der provisorischen Verwaltung von Bosnien-Herzegowina war die gemeinsame Regierung ohnehin nur nominell zuständig. Denn das gemeinsa¬ me Finanzministerium führte diese Agenda in den zivilen Angelegenheiten letzt¬ lich alleine; es übte seine Aufgabe lediglich im Namen der gemeinsamen Regie¬ rung aus. Der gemeinsame Ministerrat in der Zeit zwischen 1883 und 1907 hat sich mit Bosnien-Herzegowina nur unter zwei Gesichtspunkten beschäftigt: dem Eisenbahnbau aus Anlaß eines außenpolitischen Großprojektes, der sogenannten Saloniki- oder Sandzakbahn, und in den 1890er Jahren mit der Frage, wie eine zukünftige Annexion dieser Provinzen durchgeführt werden könne. Bei diesen Sitzungen waren ausnahmslos auch beide Ministerpräsidenten vertreten, die ihre 1880 gesetzlich verankerten Mitspracherechte wahmahmen.29 In keinem der Fäl¬ le kann man daher davon ausgehen, daß hier die gemeinsame Regierung in Ange¬ legenheiten Bosnien-Herzegowinas selbständig handelte. Somit bleibt zunächst festzuhalten, daß die gemeinsame Regierung in der Fra¬ ge des gemeinsamen Budgets nicht selbständig entscheiden konnte und die Ver¬ waltung Bosnien-Herzegowinas aufden gemeinsamen Finanzminister übertragen worden war, so daß die gemeinsame Regierung in ihren beiden eigentlichen Auf- Ungarischer Minister am Ah. Hoflager. Gmr. 1/1, Nr. 1. Siehe auch: Somogyi, Delegation als Verbindungsinstitution 1158 f. 29 Für Ungarn GA. VI/1880 undfür Cisleithanien Gesetz v. 22. 2. 1880, RGBl. Nr. 18/1880, für den Eisenbahnbau § 3 undfür Änderungen des Verhältnisses zur Monarchie § 5. || || Einleitung 21 gaben nicht wirklich wirken konnte. Diesen äußerst unbefriedigenden Zustand versuchte Aehrenthal zu ändern. Reformen waren notwendig, weil 1897 mit den Badenischen Sprachenverordnungen für die beiden cisleithanischen Kronländer Böhmen und Mähren eine Vielzahl an Krisen ihren Anfang nahm, die sich über das gescheiterte wirtschaftliche Ausgleichsprovisorium Ende 1897 auf die pak¬ tierten Angelegenheiten übertrug, 1899 und 1903 zum Sturz zweier ungarischer Regierungen führte und 1905/06 in die große ungarische Krise mündete, in der die Gemeinsamkeit des Heeres in Frage gestellt und damit direkt am pragma¬ tisch-gemeinsamen Bereich des staatsrechtlichen Ausgleichs von 1867 gerüttelt ·wurde. Die Doppelmonarchie schien in ihre beiden Teile zu zerfallen. Von diesen Krisen war auch das Außenministerium direkt betroffen, wie durch die Unter¬ zeichnung der Brüsseler Zuckerkonvention von 1902 offenbar wurde. Die rechtliche Stellung des Außenministers Neben der Verwaltung Bosnien-Herzegowinas und der Erstellung des gemeinsa¬ men Voranschlages existierte die gemeinsame Monarchie formell noch in einem weiteren Bereich: in den internationalen Beziehungen. Dem Ausland gegenüber trat der Außenminister als Vertreter der k. u. k. gemeinsamen Regierung auf.30 Zu seinen Agenden gehörte die Aushandlung von Verträgen mit anderen Staaten, auch wenn sie inhaltlich in die Kompetenz der Ressortminister beider Regierun¬ gen fielen. So war es der Außenminister, der mit dem Ausland Handelsverträge aushandelte. Seine Direktiven erhielt er bei Handelsverträgen von den beiden Regierungen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts schloß der Vertreter des Außenmini¬ steriums in der Regel die internationalen Vereinbarungen ab. Zwar war die Form der Unterzeichnung von Verträgen durchaus keine einheitliche.31 Dennoch war es in erster Linie der Außenminister, der dem Ausland gegenüber die Einheit beider Teile der Monarchie vertrat. 30 Im Gegensatz zur damaligen Terminologie dieses Ministergremiums, die nicht von „gemein¬ samer Regierung " sondern immer von „gemeinsamem Ministerium " sprach, wurde im inter¬ nationalen Verkehr tatsächlich der Begriff„ gemeinsame Regierung " verwendet. Die Gleich¬ setzung dieser beiden Begriffe darf keineswegs auch auf die damaligen Begrifßichkeiten übertragen werden. Anders gesagt, unter der in internationalen Verträgen genannten „ge¬ meinsamen Regierung" ist nicht das durch die Ausgleichsgesetze geschaffene „gemeinsame Ministerium " der drei gemeinsamen Minister, sondern die gemeinsame Herrschaft Franz Josephs über beide Teile der Monarchie zu verstehen. Stourzh Gerald, Der Dualismus 1867 bis 1918: Zur staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Problematik der Doppelmonarchie. In: Rumpler Helmut-URBANixscH Peter (Hg.), Die Habs¬ burgermonarchie 1848-1918, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, 1. Teilband: Verfas¬ sungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften (Wien 2000) 1177-1230, hier 1200 f. || || 22 Einleitung Doch mit der Unterzeichnung der Brüssler Zuckerkonvention 190232 geriet das einheitliche Auftreten Österreich-Ungams gegenüber dem Ausland ins Wanken. Diese Konvention war nämlich von Österreich-Ungarn, von „Österreich und von Ungarn unterschrieben worden. Schon seit den 1870er Jahren kamen verschiedene Formen der Unterzeichnung von internationalen Verträgen vor, z. B. im Bereich des Postwesens. Aber in der Brüssler Zuckerkonvention von 1902 wurde aus¬ drücklich festgehalten, daß beide Teile der Monarchie als eigene vertragschließen¬ de Parteien anzusehen seien. Es ging nicht mehr nur um die formale Frage, wie man einen internationalen Vertrag unterschrieb, es ging um die entscheidende in¬ haltliche Frage, wer dies tat bzw. zu tun berechtigt war. Um zu verstehen, wieso diese Frage 1902 solch enorme Sprengkraft hatte, während sie davor anscheinend wenig bis gar keine Beachtung fand, ist die rechtliche Grundlage der Zuständig¬ keit des Außenministers für die internationalen Beziehungen zu klären. Die Zuständigkeit basierte auf zwei Grundlagen: auf den Ausgleichsgesetzen von 1867 und auf dem Zoll- und Handelsbündnis zwischen Cisleithanien und Un¬ garn. Wenn man die beiden Ausgleichsgesetze betrachtet, so stellt man eine erheb¬ liche inhaltliche Differenz fest. Das cisleithanische Delegationsgesetz hielt ledig¬ lich kurz und bündig fest: „Nachfolgende Angelegenheiten werden als den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern und den Ländern der ungari¬ schen Krone gemeinsam erklärt: a) Die auswärtigen Angelegenheiten [...]"33 Die entsprechende Stelle des GA. XIEI867, § 8, lautete: „Diese zweckmäßige Leitung [der auswärtigen Angelegenheiten] erheischt Gemeinsamkeit hinsichtlich jener auswärtigen Angelegenheiten, welche die unter der Herrschaft seiner Majestät ste¬ henden sämtlichen Länder zusammen betreffen."34 Das cisleithanische Gesetz er¬ klärte alle auswärtigen Angelegenheiten für gemeinsam, womit jede Beziehung zum Ausland zur gemeinsamen Angelegenheit wurde, egal wen es innerhalb der Monarchie betraf: die gemeinsame Monarchie, beide oder auch nur einen Teil. Ungarn hatte hingegen nur jene Beziehungen zum Ausland in die Hände des Au¬ ßenministers gelegt, die beide Teile der Monarchie „zusammen betreffen , nicht jedoch jene, die nur auf einen Teil der Monarchie und auch nichtjene, die zwar auf beide Teile Bezug hatten, aber beide nicht als Gemeinschaft, sondern jeden für sich. Die Aufgabe des Außenministeriums war es, „Österreich-Ungarn" nach au¬ ßen zu vertreten, nicht aber Cisleithanien und/oder Ungarn. Das ist ein großer Unterschied. Somit klassifizierte das ungarische Ausgleichsgesetz nicht einmal die gemeinsamen Handelsbeziehungen zum Ausland als Agenden des Außenmini¬ sters, weil die Handelsverträge eben nicht die gemeinsame Monarchie, sondern beide Teile betrafen. Nun stammte diese konkrete Formulierung im GA. XIEI 867 32 Vertrag v. 5. März 1902, RGBl. Nr. 25/1903. 33 DG., § 1. 34 Diese Einschränkung aufdie gemeinsamen Angelegenheiten dem Ausland gegenüber kannte das cisleithanische Delegationsgesetz -§ 1 a) - nicht. Hier waren es nur die auswärtigen Angelegenheiten ohne genau zu bestimmen, wessen. || || Einleitung 23 aus der Zeit vor dem Krieg Österreichs mit Preußen 1866, als ein Teil der Monar¬ chie noch Mitglied des Deutschen Bundes war. Es ging den ungarischen Politikern darum, eine Formulierung zu finden, die gemeinsamen auswärtigen Angelegen¬ heiten von denjenigen zu trennen, die sich nur auf die zum Deutschen Bund gehö¬ renden Teile der Monarchie bezogen. Dennoch wurde die aus 1866 stammende Formulierung 1867 in den Gesetzartikel aufgenommen, obwohl der Deutsche Bund nicht mehr existierte. Ob die Übernahme dieser Formulierung nur von Beust übersehen worden war, wie Louis Eisenmann meinte,35 wird sich wohl nicht mehr eindeutig klären lassen. Wenn man annimmt, daß die Passage mit Absicht im Ge¬ setz verblieb, stellt sich die Frage nach der Bewertung des Wortes „együtt", das Zolger 1911 als „zusammen" übersetzt, während andere Übersetzungen, auf die auch Bematzik zurückgriff, für dieses Wort „simultan" nahmen.36 Es muss offen bleiben, ob man diese Formulierung des ungarischen Gesetzes¬ textes als bloßes historisches Relikt betrachten muss, das nur in bezug auf den Deutschen Bund vor 1867 seine Erklärung hatte, oder ob dahinter nicht doch eine innere prinzipielle Logik des ungarischen Ausgleichswerkes steht. Das ungari¬ sche Gesetz ist getragen von einer historisch-rechtlichen Herleitung der Gemein¬ samkeit Ungarns mit „den übrigen Ländern". Fundament war die „Zusammen- verteidigung", die Ungarn mit der Pragmatischen Sanktion 1723 angenommen hatte. Genau - und nur - daraufbasierte die Gemeinsamkeit der Außenpolitik. So hieß es gleich zu Beginn des § 8 des GA. XII/1867: „Das eine Mittel der aus der pragmatischen Sanktion fließenden gemeinsamen und Zusammen-Verteidigung ist die zweckmäßige Leitung der auswärtigen Angelegenheiten." Daher konnte die Außenpolitik als Mittel der „Zusammenverteidigung" als gemeinsam angese¬ hen werden. So heißt es in § 8 weiter unten: „Infolgedessen gehören die [...] Vertretung des Reiches [...] unter die Agenden des gemeinsamen Ministers des Auswärtigen."37 Diese Formulierung wurde und wird nicht im Zusammenhang mit dem Deutschen Bund gesehen. Im ungarischen Text wurde das Wort „biroda- lom" - übersetzt als „Reich" - verwendet. Zolger widmete der Erläuterung der Bedeutung dieses Wortes eine elfeinhalbseitige Fußnote.38 Auch wenn seine Ana¬ lyse auf eine andere Problematik abzielte, so kristallisierte er die Bedeutung her¬ aus: „die Gesamtheit der unter der Herrschaft Seiner Majestät stehenden Länder".39 In dieser Version wurde daher dem Außenminister nur die Vertretung der Monar¬ chie in ihrer Gesamtheit zugewiesen, nicht aber die Vertretung ihrer Teile. Durch die Begründung der Gemeinsamkeit der Außenpolitik enthielt § 8, GA. XII/1867 letztlich zwei Aussagen, die sich gegenseitig bedingten: aus der von Ungarn 1723 35 Eisenmann Louis, Die Zersetzung des ungarischen Ausgleiches vom Jahre 1867. In: Öster¬ reichische Rundschau, Heft 23 (1905) 1-17, hier 3. 36 Zolger, Der staatsrechtliche Ausgleich 90, Bernatzik Edmund, Österreichische Verfassungs¬ texte mit Erläuterungen (Wien 21911), Nr. 119. 37 GA. XII/1867, § 8. Zolger, Der staatsrechtliche Ausgleich, Anm. 17 zu § 8 96-107. 39 Ebd. 103. || || 24 Einleitung akzeptierten Zusammen-Verteidigung folgt die Gemeinsamkeit der Außenpolitik, und gemeinsam ist die Außenpolitik als Mittel der Zusammen-Verteidigung. Kei¬ neswegs wurde gesagt, daß alle außenpolitischen Akte gemeinsam waren. Die gemeinsame Monarchie gesamt gesehen existierte nur im Bereich der „Zusam¬ menverteidigung", d. h. in den pragmatisch-gemeinsamen Angelegenheiten. Die außenpolitische Vertretung der gemeinsamen Monarchie - birodalom - konnte sich daher nur auf die außenpolitische Zusammen-Verteidigung beziehen. Damit fielen aber alle anderen internationalen Angelegenheiten nicht darunter, speziell also auch die auf den Handel abzielenden Abmachungen. Im Gegensatz dazu enthielt das cisleithanische Ausgleichgesetz keine Begründung der Gemein¬ samkeit, und es war daher keine inhaltliche Rückkopplung der Definition des Aufgabenbereiches des Außenministers möglich, außenpolitische Beziehungen waren per se gemeinsam. Daher liefen - auch - in diesem Punkt beide Ausgleichs¬ gesetze inhaltlich sehr weit auseinander. § 58 GA. XII/1867 spricht klar aus, daß die Regelung der Handelsangelegen¬ heiten -- darunter explizit angeführt ist die Zollinie -- in den Bereich fallt, den Ungarn prinzipiell alleine zu regeln habe, weil keine Gemeinsamkeit aus der Pragmatischen Sanktion abgeleitet werden konnte. Daß gleich der nächste Para¬ graph eine andere Rechtsbasis der Gemeinschaftlichkeit schuf, ist unerheblich. Es bleibt festzuhalten, daß alle Agenden der Wirtschaft und des Handels nicht im Sinne der Pragmatischen Sanktion gemeinsam waren. Da aber § 8 die Gemein¬ samkeit der Außenpolitik mit der Pragmatischen Sanktion begründete, kann dar¬ unter eben nicht die Regelung der internationalen Handelsbeziehungen Ungarns (z.B. Zollgesetzgebung) verstanden werden. Dieses Argument wird durch § 68 verstärkt, wo ganz deutlich ausgesprochen ist, daß die Zoll- und Handelsgemein¬ schaft beider Teile der Monarchie keine untrennbare sei, im Gegensatz zu den pragmatisch-gemeinsamen Angelegenheiten, also auch der gemeinsamen Außen¬ politik. Die Gemeinsamkeit der Außenpolitik konnte auch aus diesem Grund nicht Agenden umfassen, die nur unter bestimmten Bedingungen gemeinschaft¬ lich waren. Daher legte das ungarische Ausgleichsgesetz lediglich jenen Teil der internationalen Beziehungen in die Hände des Außenministers, die sich auf Österreich-Ungarn - als der gesamten gemeinsamen Monarchie - bezogen, nicht aber die internationalen Beziehungen seiner Teile. Die Handelsbeziehungen zum Ausland waren aber durch das Zoll- und Handelsbündnis, der zweiten rechtlichen Säule des Dualismus, der Zuständigkeit des Außenministeriums zugewiesen wor¬ den. Erst durch dieses Bündnis wurden für Ungarn die auf Handel und Wirtschaft bezughabenden internationalen Verträge in den Agendenbereich des Außenmini¬ sters gereiht. Zwar waren die Ausgleichsgesetze die rechtliche Basis des Zoll- und Handelsbündnisses, das die einheitliche Zollgrenze schuf. Sie wiederum be¬ dingte gleiche Handelsbeziehungen zum Ausland. Die Verwaltung dieser paktierten Angelegenheiten erfolgte aber nicht durch gemeinsame Institutionen, sondern durch die separaten Cisleithaniens und Ungarns. Daher hätten Handels- || || Einleitung 25 Verträge beide Teile der Monarchie nicht „zusammen betroffen" - wie § 8, GA. XII/1867 forderte sondern vielmehr jeden für sich. Artikel III des Zoll- und Handelsbündnisses lautete: „Die Negoziierung und der Abschluß neuer derartiger Verträge geschieht vorbehaltlich der verfassungsmäßi¬ gen Genehmigung beider Legislativen durch den Minister des Äußern auf Grund¬ lage der Vereinbarungen, welche zwischen den betreffenden Ressortministern bei¬ der Teile stattzufinden haben."40 DieserArtikel III hatte in Cisleithanien und Ungarn einen unterschiedlichen Stellenwert. Während er in Cisleithanien nur klärte, wie die wirtschaftspolitischen Ziele bestimmt wurden, die der Außenminister aufgrund des DG. international zu vertreten hatte, legte in Ungarn erst dieser Artikel die wirtschaftlichen internationalen Beziehungen in die Hände des Außenministers. Durch die unterschiedliche Rechtsgrundlage ergaben sich in Ungarn auch un¬ terschiedliche Zuständigkeiten des Außenministers für die Beziehungen der ge¬ meinsamen Monarchie zumAusland undjenen ihrer Teile. Während GA. XII/1867 „die Vertretung des Reiches" ganz generell dem Außenminister zuwies, waren es bei den Handelsbeziehungen nur „die Negoziierung und der Abschluß" neuer Verträge. Zudem vertrat er nach ungarischem Recht in Handelsfragen nicht die gemeinsame Monarchie „Österreich-Ungarn", sondern war Vertreter der Teile Cisleithanien und Ungarn. Nach den gesetzlichen Bestimmungen Cisleithaniens repräsentierte der Außenminister hingegen immer „Österreich-Ungarn", da die gesamten auswärtigen Angelegenheiten pragmatisch waren. Durch Interpretation der Gesetzestexte, aber auch ganz praktisch, bedingt durch den politischen Willen, konnte man daher in Ungarn mehr oder weniger Gewicht auf diese rechtlichen Differenzen legen. Man konnte sie rein formal einklagen, aber auch mit praktischen Folgen drohen. Man war auch in der Lage, bei einer der regelmäßig notwendigen Erneuerungen des Zoll- und Handelsbünd¬ nisses die Aufgaben des Außenministers bei den Handelsbeziehungen zum Aus¬ land durch Änderungen im Bündnis (ab 1908 ein Vertrag) ganz neu festzulegen. Dies konnte dann zwar mit den gesetzlichen Bestimmungen in Cisleithanien kol¬ lidieren, aber das war letztlich nicht das Problem Ungarns. 1897 wurde das Zoll- und Handelsbündnis nicht nach den gesetzlichen Bestimmungen des Ausgleiches von 1867 verlängert oder erneuert. Damit erhielt Ungarn, nach § 68 des GA. XII/1867, sein „selbständiges gesetzliches Selbstbestimmungsrecht" in den bis¬ her gemeinschaftlich mit Cisleithanien zu regelnden Wirtschaftsfragen zurück. Da nun aber beide Teile keine Wirtschaftstrennung wollten, wurde als Ausweg die „imabhängige Aufrechterhaltung" gefunden. Inhaltlich änderte sich dabei nichts, sehr wohl aber rechtlich. Denn damit war der gesetzliche Boden von 1867 Hier das Zoll- und Handelsbündnis von 1878: für Cisleithanien Gesetz vom 27. 6. 1878, RGBl. Nr. 62/1878, für Ungarn GA. XX/1878. In diesem Zusammenhang ist eine kleine stilistische Änderung gegenüber dem Zoll- und Handelsbündnis von 1867 bemerkenswert. 1867 hieß es noch: geschieht [...] nur durch den Minister des Äußern [...]. Eigene Her¬ vorhebung. Für Cisleithanien Gesetz v. 24. 12. 1867, RGBl. Nr. 4/1868, für Ungarn GA. XVI/1867. Dieses nurfiel dann 1878 weg. || || 26 Einleitung - wenn auch nicht endgültig - verlassen worden. Dies fand zunächst seinen Aus¬ druck darin, daß man das Zoll- und Handelsbündnis für das Jahr 1898 - und in weiterer Folge bis Ende 1907 - nicht „verlängerte", sondern nur „seine Bestim¬ mungen aufrechterhielt". Das Bündnis selbst war am 31. Dezember 1897 ausge¬ laufen. Somit hielt kein Bündnis mehr die Wirtschaftsgemeinschaft Cisleithani- ens und Ungarns zusammen, sondern nur mehr zwar inhaltlich gleiche, aber unabhängig voneinander zustande gekommene gesetzliche Regelungen, die jeder Teil im Prinzip für sich hätte abändem können. Notwendige Folge dieser Locke¬ rung der wirtschaftlichen Bindung aneinander war, daß Ungarn wesentlich mehr Wert auf seine eigenen gesetzlichen Bestimmungen in den gemeinsamen Berei¬ chen legen mußte, nicht zuletzt, weil politische Strömungen gestärkt wurden, die nach mehr Selbständigkeit Ungarns innerhalb der Monarchie verlangten. Deren Forderungen mußten die bis 1905 regierenden gemäßigteren Kräfte zumindest in formalen Fragen entgegenkommen. Die 1898 erfolgte Lockerung der Wirtschaftsgemeinschaft, verstärkt durch die Nationalitätenkonflikte in Cisleithanien, gab der Unterzeichnung der Brüsseler Zuckerkonvention von 1902 ihre politische Bedeutung. Die Konvention hatte zwar ihre Ursache in Zuckerexportförderungsgesetzen vieler Staaten Europas, mit denen die Schutzzölle anderer Länder unterlaufen werden sollten, sie be¬ schränkte sich aber keineswegs auf Bestimmungen des internationalen Handels. Viele Artikel behandelten Regelungen der Zuckerbesteuerung. Sie war daher letztlich keine „Regelung wirtschaftlicher Beziehungen zum Auslande", sondern vielmehr eine Abmachung verschiedener Staaten, wie diese intern Steuer und Zölle für Zucker zu handhaben sich verpflichteten. Zudem handelte es sich um eine Konvention und nicht um einen Vertrag. Damit fiel diese Zuckerkonvention nach den ungarischen Bestimmungen auch nicht in den Zuständigkeitsbereich des Außenministers. Im Gegensatz dazu handelte es sich für Cisleithanien bei der Zuckerkonvention um eine internationale, d. i. auswärtige Angelegenheit, und diese war daher ipso facto vom gemeinsamen Außenminister zu behandeln. Die Brisanz der Unterzeichnung dieser Konvention war, daß Ungarn erfolgreich sei¬ ne gesetzlichen Bestimmungen über die Zuständigkeiten der Teile durchsetzte, d. h. die Aufgaben des Außenministers gegenüber der bisherigen Praxis drastisch beschnitt. Auch mußte die explizite Nennung „Österreichs" und Ungarns als ge¬ trennten vertragschließenden Parteien nach außen als weitere Lockerung ihrer Gemeinschaft verstanden werden. Das bisherige einheitliche Auftreten Öster¬ reich-Ungams auf internationalem Parkett war mehr als in Frage gestellt. Der Versuch Aehrenthals, die „gemeinsame Regierung" zu reformieren Im Gesamtrahmen von Aehrenthals Reformideen bemühte sich der Außenmini¬ ster auch, dem Auseinanderstreben beider Teile der Monarchie entgegenzutreten, indem er darauf drängte, den Aufgabenbereich des Außenministers stärker abzu- || || Einleitung 27 sichern, die de jure Zuständigkeit für die Verwaltung Bosnien-Herzegowinas der gemeinsamen Regierung zu erhalten und für den eigentlichen, durch die Aus¬ gleichsgesetze von 1867 festgelegten Aufgabenbereich der gemeinsamen Regie¬ rung - der Erstellung des gemeinsamen Voranschlages - einen neuen Rahmen zu finden, um die gemeinsame Regierung „regierungsfähig" zu machen. Als Aehrenthal am 24. Oktober 1906 zum Außenminister ernannt wurde, war in Ungarn eine Koalition aus Parteien an der Regierung, die entweder den staats¬ rechtlichen Ausgleich von 1867 ganz ablehnten oder zumindest die Rechte Un¬ garns umfassender sichern wollten. Die Verhandlungen über die Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses waren in vollem Gange, Ungarn forderte die Aner¬ kennung seiner durch GA. XII/1867 eingeräumten außenpolitischen Rechte. Am 11. September sowie am 9. und am 13. Oktober 1907 trat der gemeinsame Mini¬ sterrat zusammen, um einerseits über eine neue Bezeichnung des Zollgebietes zu diskutieren, andererseits zu fixieren, wer - gemeinsame Monarchie und/oder ihre Teile - bei welcher Art internationaler Abmachungen wie aufzutreten und zu un¬ terzeichnen berechtigt sei.41 Zunächst stieß sich Aehrenthal an den von beiden Regierungen geplanten Be¬ griffen „vereinigtes Zollgebiet Österreichs und Ungarns", bzw. „vereinter Zollta¬ rif Österreichs und Ungarns", die an die Stelle „österreichisch-ungarisches Zoll¬ gebiet" und „österreichisch-ungarischer Zolltarif4 treten sollten. Die neuen Bezeichnungen hätten die Einheit der Monarchie nach außen sichtbar in Frage gestellt, weil nun nicht mehr die gemeinsame Monarchie Österreich-Ungarn, sondern die beiden Teile mit Namen genannt würden.42 In dem Vertrag vom 8. Oktober 1907 „betreffend die Regelung der wechselseitigen Handels- und Ver¬ kehrsbeziehungen zwischen den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern und den Ländern der heiligen ungarischen Krone" - wie das vormalige „Zoll- und Handelsbündnis" nun hieß - wurden als neue Bezeichnungen „Ver¬ trags-Zollgebiet der beiden Staaten der österreichisch-ungarischen Monarchie", bzw. „Vertrags-Zolltarif der beiden Staaten der österreichisch-ungarischen Mon¬ archie" gewählt, womit im Vertragstitel weiterhin die einheitliche Monarchie er¬ schien.43 Doch hieß es im Schlußprotokoll, daß diese Ausdrücke nur „die von ei¬ ner einheitlichen Zollgrenze umgebenen Gebiete der beiden vertragschließenden Teile" beschrieben. Während man also der Form nach dem Wunsch des Außen¬ ministers Rechnung trug, und nur die gemeinsame Monarchie direkt genannt wurde - während die Teile namenlos blieben -, machte das Schlußprotokoll deut¬ lich, daß nicht die gemeinsame Monarchie, sondern ihre beiden Teile das einheit¬ liche Zollgebiet waren. Wirtschaftlich verband beide nicht die gemeinsame Mon¬ archie Österreich-Ungarn, sondern nur der Vertrag zwischen Cisleithanien und 41 Gmr. V, Nr. 72, 73 und 14. 42 GMR. v. 9. 10. 1907, Gmr. V, Nr. 73 560. 43 Nach parlamentarischer Annahme sanktioniert in Cisleithanien als Gesetz v. 30. 12. 1907, RGBl. Nr. 278/1907 sowie in Ungarn als GA. LIV/1907. || || 28 Einleitung Ungarn. Diese Interpretation wurzelte schon im GA. XII/1867, nur wurde sie 1907 zur offiziellen Auslegung, die nun auch Cisleithanien anerkannte. Damit im Zusammenhang stand auch ein zweiter Punkt, den Aehrenthal auf den gemeinsamen Ministerratssitzungen vom 11. September, sowie vom 9. und vom 13. Oktober 1907 ansprach: die Bestimmung des Schlußprotokolls zum Ar¬ tikel III des „Vertrages der Handels- und Verkehrsbeziehungen", daß Handelsver¬ träge nicht nur von dem Vertreter des gemeinsamen Außenministeriums zu unter¬ zeichnen waren, sondern auch von Vertretern beider Regierungen. Gegen deren Unterschrift hatte Aehrenthal im Prinzip nichts einzuwenden, nur wünschte er, daß diese nicht offiziell als „Delegierte der österreichischen, bzw. ungarischen Regierung" ausdrücklich genannt würden.44 Das Ergebnis der Diskussionen war die protokollarische Vereinbarung vom 31. Jänner 1908, in der präzise angeführt wurde, wer wie bei welcher Art internationaler Abmachung auffiat und diese zu unterzeichnen hatte.45 Als Ergebnis wurde hinsichtlich der Unterzeichnung fest¬ gestellt: Verträge im Bereich der pragmatisch-gemeinsamen Angelegenheiten nur vom gemeinsamen Vertreter des Außenministeriums im Namen der „k. u. k. ge¬ meinsamen Regierung"; Verträge im Bereich der gemeinschaftlich-paktierten Angelegenheiten (Handelsabkommen), sowohl von einem gemeinsamen Vertre¬ ter des Außenministers im Namen der gemeinsamen Regierung, als auch von Delegierten beider Teile der Monarchie im Namen je ihres Teiles; Verträge im Bereich der separaten Angelegenheiten von einem gemeinsamen Vertreter - im Namen der vertragsschließenden Teile -, als auch von den Vertretern beider Teile, wenn sich diese Abmachung auf beide, oder nur von einem Teil, wenn sich die Abmachung nur auf diesen einen bezog, je im Namen ihres Teiles. Ein separater Vertrag wäre z. B. ein Auslieferungsabkommen flüchtiger, polizeilich gesuchter Personen gewesen. In der Mehrzahl der Verträge trat die gemeinsame Monarchie als vertragschließender Teil auf. Dieselbe Vertretungsproblematik stellte sich für internationale Konferenzen. Für sie hing Auftreten und Unterzeichnung davon ab, in welche der drei Angelegenheiten das Thema fiel, wobei es möglich war, daß gar kein gemeinsamer Vertreter in Erscheinung trat. Somit hatte Aehrenthal zumindest die Beteiligung des Außenministeriums bei allen internationalen Verträgen durchgesetzt, unabhängig, ob sie sich auf die ge¬ meinsame Monarchie oder ihre Teile bezogen. Zudem vertrat das Außenministe¬ rium in internationalen pragmatischen und paktierten Themen die „k. u. k. ge¬ meinsame Regierung". Dieses Symbol der Einheit blieb nach außen erhalten. Allerdings fungierte die gemeinsame Regierung nur als Symbol. Denn gemein¬ sam waren nur die pragmatischen Angelegenheiten, und auch diese fielen - im Sinne des § 27, GA. XII/1867 - keineswegs sicher in den Aufgabenbereich der gemeinsamen Regierung, weil sie auch als „unter beide Regierungen gehörend" gewertet werden konnten. Die Nichtzuständigkeit der gemeinsamen Regierung 44 Gmr. V, Nr. 73 558. 45 Publiziert bei Stourzh, Der Dualismus 1213-1222. || || Einleitung 29 wird dadurch deutlich, daß an den genannten drei gemeinsamen Ministerratssit¬ zungen außer dem Außenminister kein anderer gemeinsamer Minister teilnahm. D. h. die Frage der internationalen Nennung der „k. u. k. gemeinsamen Regie¬ rung" betraf das Kollektivorgan der gemeinsamen Regierung gar nicht, sondern nur den Außenminister und die Regierungen Ungarns und Cisleithaniens.46 Damit war Aehrenthals Kampfum die Sicherung der gemeinsamen Regierung keineswegs beendet. Neben der Erhaltung des Begriffes der „gemeinsamen Re¬ gierung" in den internationalen Beziehungen ging es ihm auch um deren Wir¬ kungskreis. 1908 erfolgte die Annexion von Bosnien-Herzegowina. Damit wurde es notwendig, diesen Provinzen ein Landesstatut zu geben. Dies hatte zur Folge, daß die Diskussion über die Leitung der provisorischen Verwaltung neu aufge¬ rollt werden mußte. Am 7. Juni 1909 fand eine Konferenz der gemeinsamen Mi¬ nister statt, in der sie sich intern auf einen Statutenentwurf einigten. Diesen teil¬ ten sie beiden Ministerpräsidenten mit, die sich zu den Statuten äußern sollten. Nach Erhalt der Antworten traten die gemeinsamen Minister erneut zu einer in¬ ternen Konferenz zusammen, um zu klären, welche Position sie zu den Wünschen beider Regierungen einnehmen sollten. Erst danach wurden die Statuten zusam¬ men mit beiden Regierungen in vier gemeinsamen Ministerratssitzungen beraten. Schon zum ersten Entwurf stellte die ungarische Regierung den Antrag, es solle statt der Formulierung „gemeinsames Ministerium" - im Sinne „gemeinsame Re¬ gierung" - heißen: „der gemeinsame Finanzminister". Dabei gestand Aehrenthal zu, daß es zwar de facto richtig sei, daß der gemeinsame Finanzminister die Lei¬ tung der Verwaltung führe, de jure sei es aber das Kollektivgremium der gemein¬ samen Regierung, in dessen Namen der gemeinsame Finanzminister die Leitung ausübte. Der Änderungsantrag der ungarischen Regierung ging folglich dahin, der gemeinsamen Regierung diese Agenda auch de jure zu entziehen. Dagegen verteidigte Aehrenthal die Zuständigkeit der gemeinsamen Regierung als Kollek¬ tivgremium. Er nutzte allerdings die Gelegenheit, eine prinzipielle Klärung her- beizufuhren, wann das gemeinsame Finanzministerium und wann die gemeinsa¬ me Regierung für die Verwaltung zuständig war: „Um dem heute de jure und de facto bestehenden Zustande in der Leitung der bosnisch-herzegowinischen Ver¬ waltung Rechnung zu tragen und den Status quo möglichst unverrückt zu belas¬ sen, insbesondere aber aus rein praktischen Gründen, müßte demnach, so setzt der Minister des Äußern fort, an allen in Betracht kommenden Gesetzesstellen eine präzise Unterscheidung zwischen dem nach dem Gesetze zur obersten Lei¬ tung der Landesverwaltung berufenen Kollegium der drei gemeinsamen Ministe¬ rien und dem Bosnien und die Herzegowina heute im Namen des Kollegiums tatsächlich verantwortlichen Einzelministerium (derzeit das gemeinsame Finanz- 46 In diesem Zusammenhang sei nochmals aufdie Differenz der offiziellen Benennung einerseits der gemeinsamen Regierung der drei gemeinsamen Minister als „gemeinsames Ministeri¬ um " und der gemeinsamen Herrschaft des Monarchen, in dessen Namen der Außenminister dem Ausland gegenüber auftrat, als „ gemeinsame Regierung " hingewiesen. || || 30 Einleitung ministerium) gemacht werden. [...] Der Vorsitzende schlägt daher vor, in den Gesetzentwürfen überall dort, wo es sich lediglich um die Adresse der mit der Verwaltung heute tatsächlich betrauten Zentralstelle handle, den Ausdruck: ,Das mit der Führung der bosnisch-herzegowinischen Verwaltung betraute gemeinsa¬ me Ministerium' beziehungsweise ,Der mit der Führung der bosnisch-herzego¬ winischen Verwaltung betraute gemeinsame Finanzminister' zu setzen, während an all jenen Stellen, wo es sich um die oberste Leitung, also um Fragen prinzipi¬ eller Natur handelt, im Sinne des Gesetzes der Ausdruck, das k. u. k. gemeinsame Ministerium' zur Anwendung zu kommen hätte."47 Mit dieser Position setzte sich dann Aehrenthal auch durch. So hieß es gleich im § 1 des Landesstatuts von Bosnien-Herzegowina: „Bosnien und die Herzegowina bilden ein einheitliches besonderes Verwaltungsgebiet, welches [...] unter der verantwortlichen Leitung und Oberaufsicht des k. u. k. gemeinsamen Ministeriums [= gemeinsame Regie¬ rung] steht. Die Verwaltung dieses Landes sowie die Vollziehung und Handha¬ bung der Gesetze obliegt der Landesregierung in Sarajewo, welche dem mit der Leitung der bosnisch-herzegowinischen Verwaltung betrauten gemeinsamen [Fi- nanz-]Ministerium unterstellt und für ihre gesamte Amtsführung verantwortlich ist."48 Somit war es Aehrenthal doch gelungen, diese Agenda der Form nach für die gemeinsame Regierung zu wahren. Darüber hinaus sicherte er dieser Regierung mit der konkreten Trennung der Aufgaben in jene, für die der gemeinsame Fi¬ nanzminister alleine und jene, für die das Kollektiv der drei gemeinsamen Mini- Protokoll der Konferenz der gemeinsamen Minister v. 6. 9. 1909, ergänzendes Protokoll an¬ derer Provenienz V dieses Bandes. Gesetz- und Verordnungsblatt für Bosnien und die Hercegovina Nr. 19/1910. Die gleiche Bezeichnung von gemeinsamem Ministerium für „gemeinsame Regierung" und für „ge¬ meinsames Finanzministerium "führte damals wie heute zu der irrigen Annahme, in beiden Sätzen sei immer dieselbe Institution gemeint, entweder das gemeinsame Gesamtministerium oder das gemeinsame Finanzministerium. Schon Schönaichs vermutete in seinem Schreiben v. 14. 4. 1910 an Aehrenthal: Demgegenüber erlaube ich mir festzuhalten, daß sowohl durch die 1880er Gesetze, als auch durch den 1. Absatz des Landesstatutes diese Leitung dem ge¬ meinsamen Ministerium in seiner Gesamtheit (Ministerium des Äußern, Knegsministerium und gemeinsames Finanzministerium) übertragen ist, und daß unter dem Ausdruck gemein¬ sames Ministerium im 2. Absatz des § 1 sinngemäß auch nur das gemeinsame Ministerium in seiner Gesamtheit verstanden sein kann, welcher Sinn übrigens auch aus dem sonstigen In¬ halte des Landesstatuts hervorgeht. Randbemerkung vom Ministerium des Äußern nicht rich¬ tig. Vgl. Abs. 1 § 1 des Landesstatuts u. § 38 dieses Statuts. HHStA., PA. XL, Liasse LIX b, bosnisch-hercegowinisches Wehrgesetz, Z. 23986/1910. Die umgekehrte Auffassung, es sei beide Male vom gemeinsamen Finanzministerium die Rede, findet sich in Schmid Ferdinand, Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Österreich-Ungams, Leipzig 1914 29 oder Heuberger Valeria, Politische Institutionen und Verwaltung in Bosnien und der Herce¬ govina 1878 bis 1918. In: Rumpler Helmut-URBANiTSCH Peter (Hg.), Die Habsburgermonar¬ chie 1848-1918, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, 2. Teilband: Die regionalen Re¬ präsentativkörperschaften 2383-2425, hier 2415 f. || || Einleitung 31 ster zuständig war, nun auch einen genau definierten Arbeitsbereich, den die ge¬ meinsame Regierung bisher nicht innehatte. Die prinzipielle Zuständigkeit der gemeinsamen Regierung verteidigte Aeh- renthal, nicht nur gegen die ungarische Regierung, sondern auch gegen die bei¬ den anderen gemeinsamen Minister. In der gemeinsamen Ministerratssitzung vom 6. Jänner 1911 einigten sich die beiden Regierungen und die gemeinsame Regierung auf die Finanzierung der seit langem als notwendig erkannten Wehr¬ gesetzreform. Damit begannen intensive Verhandlungen über die Umgestaltung des Heeres und der Landwehren, in deren Zentrum die Erhöhung des Rekruten¬ kontingentes stand. Auf Grund des Ausgleichs von 1867 wurden die Wehrgesetze für Ungarn und Cisleithanien durch ihre Gesetzgebungen verabschiedet. Daher war es auch notwendig, ein separates Wehrgesetz für Bosnien-Herzegowina zu erarbeiten. Dieses war - vor jenen für Ungarn und Cisleithanien - Mitte 1911 fertiggestellt und kam am 13. Juni 1911 vor den gemeinsamen Ministerrat.49 Grund der Zusammenkunft war eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Kriegs- und dem gemeinsamen Finanzminister, wer von beiden mit dem Vollzug des Gesetzes betraut werden solle. Die Differenz wurde dadurch bereinigt, daß die Vollzugsklausel einfach weggelassen wurde. Das Bemerkenswerte in diesem Zusammenhang aber ist, daß die Vollzugsklausel, die Aehrenthal vorschlug, nicht mit dem Text der verschiedenen vorhergehenden Entwürfen des Wehrgesetzes übereinstimmte. In den Auflagen bis 1911 hieß es noch: „im Einvernehmen mit dem mit der Leitung der bosnisch-hercegovinischen Verwaltung betrauten ge¬ meinsamen Minister".50 Nach den Referentenberatungen, an denen auch ein Ver¬ treter des Außenministeriums teilnahm, zitierte Aehrenthal im gemeinsamen Mi¬ nisterrat jedoch: „im Einverständnis mit den übrigen gemeinsamen Ministem im Wege des mit der Leitung der bosnisch-herzegowinischen Verwaltung betrauten Ministers". Auch wenn nicht dezidiert von „gemeinsamer Regierang" die Rede war, so weist diese Vollzugsklausel doch eindeutig auf das Kollektiv der gemein¬ samen Minister als dem für die Verwaltung Bosnien-Herzegowinas zuständigen Gremium.51 Aehrenthal verlangte also auch gegenüber dem Kriegs- und dem ge¬ meinsamen Finanzminister die Zuständigkeit der gemeinsamen Regierung. Die strittige Vollzugsklausel wurde schließlich einfach weggelassen. Die Versuche Aehrenthals, die Aufgaben und die internationale Nennung der gemeinsamen Regierung zu konservieren, können also als durchaus erfolgreich angesehen werden. Im außenpolitischen Bereich blieb der Name „k. u. k. gemein- 49 GMR. V. 13. 6. 1911, GMKPZ. 487. 50 Z. S. 1. Auflage, Provisorischer Entwurf des Wehrgesetzes für Bosnien und die Hercegovina, Wien 1910, § 87, 4. Alinea. 51 Siehe zu diesen Überlegungen die rechtlichen Erörterungen zum Wehrgesetz för Bosnien- Herzegowina vom Ministerium des Äußern v. 5. 5.1910 über die interministeriellen Beratun¬ gen vom März 1910, HHStA., PA. XL, Liasse LIX b, bosnisch-herzegowinisches Wehrge¬ setz, Z. 23896/1910, sowie die Reflexion des Ministerium des Äußern Vollzugsklausel im bosnisch-herzegowinischen Wehrgesetzentwurf v. 11. 6. 1911, ebd., Z. 35051/1911. || || 32 Einleitung same Regierung" als Symbol der Einheit Cisleithaniens und Ungarns auch bei Handelsverträgen erhalten. In der Frage der Verwaltung Bosnien-Herzegowinas sicherte Aehrenthal nicht nur die bisherige De-jure-Zuständigkeit der gemeinsa¬ men Regierung, er schuf ihr auch einen kleinen De-facto-Aufgabenbereich inner¬ halb dieser Agenda. Somit sicherte Aehrenthal mit Zustimmung Ungarns die in¬ ternationale Nennung der gemeinsamen Regierung und definierte einen tatsächlichen Aufgabenbereich in einer Zeit, in der besonders Ungarn eigentlich bestrebt war, die Zuständigkeit der gemeinsamen Regierung zu Gunsten der Teile einzuengen. Aber die gemeinsame Regierung war im Ausgleich von 1867 weder für die Verwaltung Bosnien-Herzegowinas noch als Symbol der Einheit der ge¬ meinsamen Monarchie geschaffen worden. Ihre eigentliche Funktion als Kollek- tivgremium sollte nur das jährlich zu erstellende gemeinsame Budget sein. Gera¬ de hierin war die gemeinsame Regierung alleine aber nicht entscheidungsfähig. Durch die faktische Abhängigkeit der gemeinsamen Minister von den beiden Re¬ gierungen konnten sie erst nach deren Zustimmung das gemeinsame Budget be¬ schließen. Wegen der Bestimmungen von 1867 war jeder Versuch, die gemeinsa¬ me Regierung funktionstüchtig zu machen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Auch eine gesetzliche Änderung des Ausgleiches mußte angesichts der vehementen ungarischen Forderungen nach größerer Selbständigkeit als unmög¬ lich angesehen werden. Aehrenthal mußte mit den bestehenden Normen und Praktiken auskommen. Andererseits war es notwendig, die gemeinsame Regie¬ rung in diesem Bereich fünktionstüchtig zu machen, damit die gemeinsame Mon¬ archie nicht als Bittsteller gegenüber ihren Teilen auftrat,52 und so ihr Ansehen ständig darunter litt. Es war daher notwendig, den gemeinsamen Bereich zu festi¬ gen und zu einer wirklichen Entscheidungszentrale umzugestalten, um so dem Auseinanderstreben der Teile entgegentreten zu können. Aus dieser Zwangslage - einerseits die gemeinsame Regierung in der Frage der Finanzierung der ge¬ meinsamen Aufgabenbereiche handlungsfähig machen zu müssen, andererseits dies weder im Rahmen der bestehenden Gesetze noch über Gesetzesänderungen erreichen zu können - mußte Aehrenthal einen Ausweg finden. Die Lösung fand er darin, daß er zwar den bestehenden Modus zur Erstellung des gemeinsamen Voranschlages beibehielt, jedoch die beiden Ministerpräsiden¬ ten wie Mitglieder der gemeinsamen Regierung behandelte. Dies fand seinen Ausdruck zunächst darin, daß er die Ministerpräsidenten wesentlich intensiver über gemeinsame Angelegenheiten informierte.53 Dann änderte er formal den Rahmen des Beschließens der den Delegationen vorzulegenden gemeinsamen Voranschläge. Während bei seinen Vorgängern die gemeinsamen Minister zu ei- Diese Bittstellerrolle der gemeinsamen Regierung ist nicht gegenüber bestimmten Institutio¬ nen - wie z. B. den Delegationen sondern im übertragenen Sinn gegenüber den beiden Teilen generell zu verstehen. Somogyi Eva, Aehrenthals Reformbestrebungen 1906-1907. Die Dualismus-Interpretation des Ministers des Äußern. In: Österreichische Osthefte, Bd. 30 (1988) 60-75, hier 66. || || Einleitung 33 nem gemeinsamen Ministerrat zusammentraten, um sich intern über das Budget zu einigen, und erst danach die beiden Regierungen hinzugezogen wurden, fan¬ den seit der Amtsübernahme Aehrenthals die internen Vorberatungen der gemein¬ samen Minister selten statt und wenn, nur mehr als „Konferenz der gemeinsamen Minister"54 - unter seinem Nachfolger Leopold GrafBerchtold sogar lediglich als „Besprechung der gemeinsamen Minister"55 - und nicht als „gemeinsamer Mini¬ sterrat". Der gemeinsame Ministerrat war den Verhandlungen der gemeinsamen Minister mit den Ministerpräsidenten und mit den beteiligten Ressortministern beider Regierungen Vorbehalten. So wenig dies die Verhandlungen direkt beein¬ flußte, so sehr wertete die Einbeziehung der beiden Ministerpräsidenten das Gre¬ mium „gemeinsame Regierung" doch auf. Während früher erst die Zustimmung der beiden Ministerpräsidenten die gemeinsame Regierung beschlußfähig mach¬ te, stellte sich die Einigung nun als gemeinschaftlicher Beschluß der gemeinsa¬ men Regierung mit den beiden Ministerpräsidenten dar. Dadurch aber, daß nun die Ministerpräsidenten dem Voranschlag nicht mehr nur zustimmten, sondern ihn faktisch mit beschlossen, waren die beiden Regierungen ganz anders in die Finanzierung der gemeinsamen Ausgaben involviert, waren sozusagen mit ver¬ antwortlich. Die gemeinsame Regierung überwand damit ihre bisherige faktische Position als Bittsteller. Dies trifft zu, obwohl sich letztlich nichts an den unter¬ schiedlichen inhaltlichen Positionen der beteiligten Faktoren oder an der beste¬ henden Abhängigkeit der gemeinsamen Regierung von beiden Regierungen ge¬ ändert hatte. Die Reform Aehrenthals stand außerhalb der rechtlichen Bestimmungen von 1867. Er setzte der rechtlichen Wirklichkeit der Ohnmacht der gemeinsamen Re¬ gierung mit der Integration der beiden Ministerpräsidenten in diese Regierung im Rahmen gemeinschaftlicher Beschlußfassung von gemeinsamer Regierung und beiden Ministerpräsidenten eine Wirklichkeit entgegen, die die gemeinsame Re¬ gierung zumindest der Form nach aus dieser Ohnmacht befreite. Aehrenthals Re¬ formbestrebungen zur Aufwertung der gemeinsamen Regierung liefen zweigelei¬ sig. Während er in den Bereichen, in denen die gemeinsame Regierung tatsächlich in Erscheinung trat, nicht bereit war, irgendeine Änderung des Status quo zu ak¬ zeptieren, gab er in dem Bereich, in dem sie nur de jure, aber nicht de facto vor¬ handen war, den rechtlichen Boden freiwillig auf, um außerhalb des gesetzlichen Rahmens eine Form zu finden, in der die gemeinsame Regierung handlungsfähig wurde. Sein Kampf für die gemeinsame Regierung diente dem Erhalt der ge¬ meinsamen Monarchie. Es war kein Kampfum Inhalte, um eine tatsächliche Um¬ gestaltung der Monarchie; dazu wäre niemand in der Lage gewesen. Es war ein Ringen um ein zentrales Symbol der gemeinsamen Monarchie Österreich-Un- Konferenz der gemeinsamen Minister v. 9. 4. 1908, ergänzendes Protokoll anderer Proveni¬ enz II dieses Bandes. Besprechung der gemeinsamen Minister v. 21. 5. 1912, ergänzendes Protokoll anderer Pro¬ venienz VI dieses Bandes. || || 34 Einleitung gam. Die Kritik des gemeinsamen Finanzministers Istvän Baron Buriän, daß der „beweinte Status quo ante [...] mit dem Festhalten an Terminologien nicht geret¬ tet werden" könne,56 trifft daher nicht ganz zu. Auch der Kampf Ungarns um größere Selbständigkeit gegenüber der gemeinsamen Monarchie war lange Zeit nur ein Ringen um Terminologien, Formen und Formeln, die aber praktische Konsequenzen hatten -- man denke an die Wandlung des offiziellen cisleithani- schen Begriffes für beide Teile der Monarchie, die auf ungarisches Drängen ge¬ ändert wurden: von „Reichshälften" über „Staatsgebiete" zu „Staaten". Es soll nicht behauptet werden, daß die Änderungen in der Terminologie das Auseinan¬ derdriften beider Teile zur Folge hatten. Aber die Änderung der Terminologie machte eine neue Sichtweise deutlich. Diese wurde dann von außen wahrgenom¬ men, verstärkte und beschleunigte damit diese Entwicklung. Genau das Gegen¬ teil erhoffte sich vermutlich Aehrenthal mit seinem Ringen um die „gemeinsame Regierung". Inwieweit eine gewisse Konsolidierung, die mit Aehrenthals Übernahme des Außenministeriums sichtbar einsetzte -- die Annexion Bosnien-Herzegowinas war nur durch die beruhigtere Situation in und zwischen beiden Teilen überhaupt möglich -, Folge seiner Bemühungen war, wird sich wohl nicht eindeutig belegen lassen. Letztlich begann aber diese Entwicklung schon vor ihm und fußt vermut¬ lich auf der Erkenntnis Ungarns, daß die Gemeinschaft mit Cisleithanien Vorteile bot, die es alleine für sich nie gehabt hätte. Dennoch bleibt als Faktum festzuhal¬ ten, daß es Aehrenthal gelang, die gemeinsame Regierung als außenpolitisches Symbol der gemeinsamen Monarchie in den außenpolitischen pragmatischen und paktierten Angelegenheiten zu erhalten und damit nach innen und außen Stabili¬ tät zu signalisieren, daß er ihr in der Frage der Leitung der Verwaltung Bosnien- Herzegowinas einen realen Arbeitsbereich schuf und daß er beim Budget einen Weg fand, mit welchem die gemeinsame Regierung nicht mehr als Bittsteller den Teilen gegenüber, sondern als gleichberechtigter Partner auftrat. Dies alles änderte zwar nichts direkt an den realen Verhältnissen, aber an deren Beurteilung und damit möglicherweise doch indirekt an den Verhältnissen. Zudem erwiesen sich seine Änderungen als stabil und wurden von Berchtold beibehalten. Aehrenthal gab der virtuellen, wie der realen gemeinsamen Regierung eine neue Form, die in dem komplizierten und krisenanfälligen dualistischen System funktionierte. Schon alleine das war eine Kunst. 56 Tagebuch Buriäns, 8. 10. 1907, zit. nach Somogyi, Aehrenthals Reformbestebungen 73 und dies., Der gemeinsame Ministerrat 244. || || Einleitung 35 2. Teilnehmer und Themen des gemeinsamen Ministerrates Die Frage nach der gemeinsamen Regierung war eine theoretische. Die Frage nach dem gemeinsamen Ministerrat ist im Gegensatz dazu eine konkrete, sie bezieht sich auf reale und teilweise bedeutende Entscheidungen. Da der gemeinsame Mi¬ nisterrat kein gesetzlich definiertes Fomm war, kann er nur anhand der Praxis analysiert werden. Die zu untersuchende Periode beginnt mit dem ersten Protokoll der Ära Aehrenthal (6. Jänner 1907) und endet mit dem letzten Protokoll vor der Julikrise (24. Mai 1914). Eine Untersuchung des gemeinsamen Ministerrates für sich, ohne eine Beziehung zur gemeinsamen Regierung vorauszusetzen, konzen¬ triert sich aufzwei Problemstellungen: welche Themen wurden behandelt und wer nahm an den Sitzungen teil. Oder: wer wurde zu welchen Themen zu einer ge¬ meinsamen Ministerratssitzung eingeladen? Der Grund der Teilnahme ist oft schwer zu erkennen. Eindeutiger läßt sich erklären, wamm der eine oder andere Minister bei einem bestimmten Thema nicht teilnahm. Als amtliche Bezeichnung wurde für die Sitzungen der Begriff verwendet: „Ministerrat für gemeinsame An¬ gelegenheiten". Die Aktenzahl führte das Kürzel GMCPZ., ab 1911 GMKPZ., also: gemeinsame Ministerratskonferenz-Protokollzahl. Daneben tauchte schon damals parallel der Begriff „gemeinsame Ministerkonferenz" auf.57 Zwei Tabellen zeigen, welche Themen an wie vielen gemeinsamen Minister¬ ratssitzungen behandelt wurden und welche Personen an wie vielen teilnahmen. Behandelte Themen des gemeinsamen Ministerrates5* Thema 1907-1912 1912-Mai 1914 31 Konferenzen 21 Konferenzen mit 24 gemeinsamer Budgetvoranschlag (Ära Aehrenthal) und Delegationen TOP 12 38,7 % (Ära Berchtold vor dem 1. Weltkrieg) 6 28,6 % zusätzliche Geldforderungen von - - 3 14,3 % Heer und Marine Zu den inhaltlichen Differenzen zwischen „Ministerrat" und „Ministerkonferenz" im Falle der Umbenennung des österreichischen Kollegiums 1852 siehe Rumpler Helmut, Ömr. Ein- leitungsband (Wien 1970) 46-50. Tagesordnungspunkte einer Sitzung werden nur dann einzeln gezählt, wenn sie in unter¬ schiedliche Rubrikenfallen. Für die Zeit vor 1907 vgl. Somogyi, Der gemeinsame Minister¬ rat, Die Gegenstände im gemeinsamen Ministerrat Tabelle 2 und Die Themen der Minister¬ ratssitzungen, Tabelle 3 95 ff. || || 36 Einleitung Thema 1907-1912 1912-Mai 1914 31 Konferenzen 21 Konferenzen mit 24 Handelsverträge (Ära Aehrenthal) TOP staatsrechtliche Fragen 6 19,4% (Ära Berchtold vor dem 1. 3 9,7 % Annexion von Bosnien- 2 6,5 % Weltkrieg) Herzegowina 1 4,8 % Landesverfassung von Bosnien- Herzegowina -- Eisenbahnbau in Bosnien- -- Herzegowina 4 12,9 % - - sonstige Themen zu Bosnien- Herzegowina 2 6,5 % 6 28,6 % Balkankrieg, außenpolitische Lage 2 6,5 % 3 14,3 % Orientalische _ - 3 14,3 % Eisenbahngesellschaft - - 2 9,5 % Häufigkeit der Anwesenheit im gemeinsamen Ministerrat59 Monarch 1907-1912 1912-Mai 1914 31 Konferenzen 21 Konferenzen (Ära Aehrenthal) (Ära Berchtold vor dem 1. _ __ Weltkrieg) __ Außenminister 31 100 % 21 100% 59 Ebd., Häufigkeit der Anwesenheit im Ministerrat 1868-1877, Tabelle 4 112 und 1883-1906, Tabelle 5 116. || || Einleitung 37 gern. Finanzminister 1907-1912 1912-Mai 1914 Kriegsminister 31 Konferenzen 21 Konferenzen beide Ministerpräsidenten (Ära Aehrenthal) (Ära Berchtold vor dem 1. ein Ministerpräsident Marinekommandant 23 74,2 % Weltkrieg) Fachminister 21 67,7 % Ministerialbeamte 29 93,5 % 20 95,2 % Chef des Generalstabes Zivil- und Militärgouvemeur von 1 3,2 % 20 95,2 % Bosnien-Herzegowina 11 35,5 % 27 87,1 % 17 81,0% 7 22,6 % 2 6,5 % 3 14,3 % 1 3,2 % 10 47,6 % 17 81,0% 4 19,0 % 2 9,5 % 1 4,8 % Der Monarch Es ist einigermaßen erstaunlich, daß der Monarch ab 1906 dem gemeinsamen Ministerrat bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges nicht mehr beiwohnte. In den ersten zehn Jahren des Bestehens der dualistischen Monarchie nahm Franz Joseph an ungefähr der Hälfte der Sitzungen teil, in der Zeit von den 1880er Jahren bis Ende der Ära Gohichowski noch an ca. 30 %. Am 22. August 1905 leitete Franz Joseph das letzte Mal einen gemeinsamen Ministerrat im Frieden.60 Erst am 19. August 1914, also neun Jahre später und unter dem Eindruck des gerade begon¬ nenen Krieges, führte der Monarch wieder im gemeinsamen Ministerrat den Vor¬ sitz.61 Die Anwesenheit des Monarchen ergab sich in der Regel aus zwei unterschied¬ lichen Anlässen: wenn eine Einigung in einer wichtigen Angelegenheit erzielt worden war und in einem gemeinsamen Ministerrat durch das Beisein des Mon- Gmr. V, Nr. 61. Protokolle des gemeinsamen Ministerrates (1914-1918), Nr. 5. || || 38 Einleitung archen sozusagen ihren „krönenden" Abschluß fand; oder wenn in strittigen Dis¬ kussionen keine Einigung erzielt werden konnte.62 Solche Anlässe hätte es in der Zeit zwischen 1907 und 1914 genügend gegeben, wie die politisch wichtige Ei¬ nigung über das Landesstatut für Bosnien-Herzegowina Anfang 1910. Die jahre¬ lange Diskussion um das von allen Seiten als militärisch dringend notwendig er¬ kannte Eisenbahnbauprojekt für Bosnien-Herzegowina führte zu keiner Einigung, da hätte der Monarch als Vermittler auftreten können. In zwei Fällen wurde auch ein gemeinsamer Ministerrat unter Vorsitz des Monarchen in Erwägung gezogen. Der Leiter der Marinesektion Rudolf Graf Montecuccoli beantragte 1911 förm¬ lich einen gemeinsamen Ministerrat unter Vorsitz des Monarchen. Sein Schreiben blieb jedoch unbeantwortet.63 Auch der gemeinsame Finanzminister Leon Ritter v. Bilihski hielt im gemeinsamen Ministerrat vom 14. März 191264 fest, daß er einen gemeinsamen Ministerrat unter Vorsitz des Monarchen zu beantragen ge¬ denke, sollten die cisleithanische und die ungarische Regierung seinen Anträgen zur Eisenbahnffage in Bosnien-Herzegowina nicht zustimmen. Doch obwohl die ungarische Regierung Bilihskis Vorschlag ablehnte, kam es zu keinem Minister¬ rat unter dem Vorsitz Franz Josephs. Das Fehlen des Monarchen ist aber keine Besonderheit des gemeinsamen Mi¬ nisterrates. Auch dem cisleithanischen Ministerrat wohnte Franz Joseph in dieser Zeit niemals bei, und den ungarischen Ministerrat leitete er nur zweimal, am 20. Oktober und 23. November 1909, wegen der Krise der ungarischen Regierung Wekerle.65 Der Außenminister Die einzige Person, die an jedem gemeinsamen Ministerrat teilnahm, war der Außenminister. Er führte den Vorsitz, wenn der Monarch nicht anwesend war - in der Periode 1907 bis Mai 1914 also immer. Warum aber war der Außenminister der einzige, der jedem gemeinsamen Ministerrat beiwohnte? Diese Frage scheint insofern einfach damit beantwortet zu sein, daß der Außenminister vom Monar¬ chen auch zum Vorsitzenden dieser Konferenz ernannt wurde. Doch seine Anwe¬ senheit hatte weniger eine formale als vielmehr eine prinzipielle Ursache. Zu den Sitzungen in handelspolitischen Fragen schreibt Somogyi: „Den Vorsitz führte der Außenminister, und wollte man seine Funktionen - die als Minister des Äu¬ ßern, des kaiserlichen Hauses sowie die des Vorsitzenden des gemeinsamen Mi¬ nisterrates - voneinander trennen, so nahm er am Ministerrat vor allem in seiner 62 Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat 130 ff. 63 Siehe dazu GMR. v. 6. 1. 1911, GMKPZ. 484. 64 GMKPZ. 491. 65 HHStA., Kab. Kanzlei, deutsche Übersetzungen der ungarischen Ministerratsprotokolle, un¬ garisches Ministerratsprotokoll v. 20.10. 1909 KZ. XXIII/1909 sowie ungarisches Minister¬ ratsprotokoll v. 23. 11. 1909 KZ. XXVII/1909. || || Einleitung 39 dritten Funktion teil, d. h., er führte lediglich den Vorsitz, war bemüht zu vermit¬ teln und hütete sich, die Standpunkte sachlich zu beeinflussen, da dies über seine Kompetenz hinausgegangen wäre."66 Der Grund, warum sich der Außenminister zu Handelsverträgen nicht inhaltlich äußerte, ergibt sich eindeutig aus Artikel III des Zoll- und Handelsbündnisses: „Die Negozierung und der Abschluß neuer derartiger Verträge geschieht vorbehaltlich der verfassungsmäßigen Genehmi¬ gung beider Legislativen durch den Minister des Äußern auf Grundlage der Ver¬ einbarungen, welche zwischen den betreffenden Ressortministern beider Teile stattzufinden haben."67 Die Feststellung der Richtlinien, nach denen der Außen¬ minister Handelsverträge mit dem Ausland abzuschließen hatte, lag in den Hän¬ den der beiderseitigen Ressortminister - ab 1908 beider Regierungen. Der Au¬ ßenminister war demnach tatsächlich nicht kompetent, sich inhaltlich zu äußern. Dennoch räumte das Zoll- und Handelsbündnis68 dem Außenminister nicht nur das Recht ein, Mitglied der Zoll- und Handelskonferenzen zu sein, die sich mit Gegenständen der Verhandlung der wirtschaftlichen Verhältnisse zum Ausland befaßten; ihm stand auch ab 1878 das Recht zu, in dieser Angelegenheit selbst eine Zoll- und Handelskonferenz einzuberufen. Wenn daher der Außenminister keine Kompetenz hatte, sich inhaltlich zu den Handelsverträgen zu äußern, so berührte die Frage der Handelsverträge sein Ressort durchaus prinzipiell. Anders formuliert, der Außenminister konnte die konkreten Verhandlungsziele nicht mit¬ entscheiden, durchaus aber, ob, wann und wie diese Verhandlungen generell zu führen seien. Die Frage, ob man vom Verhandlungspartner bessere Exportbedin¬ gungen oder schlechtere Importmöglichkeiten bei der einen oder anderen Ware fordern solle, war eine rein wirtschaftliche Agenda, daher außerhalb des Aufga¬ benbereiches des Außenministers. Er konnte aber auf eine Einigung beider Re¬ gierungen in der Festsetzung der Richtlinien drängen, um die Verhandlungen schneller fortsetzen zu können, er konnte im Interesse guter internationaler Be¬ ziehungen zum jeweiligen Staat Kompromißbereitschaft gegenüber dessen For¬ derungen empfehlen und er konnte von Verhandlungen aus außenpolitischen Rücksichten abraten. Als der cisleithanische Innenminister Artur Graf Bylandt- Rheidt eine Einigung mit Serbien durch offiziöse Vorfühlaktionen in die Wege leiten wollte, setzte sich Außenminister Gofuchowski durch, der einen Handels¬ krieg anstrebte. Der Schritt der Annäherung sollte von Serbien ausgehen.69 Der Außenminister war also durchaus in der Lage, seine außenpolitischen Ziele bei Handelsverträgen einzubringen. Aber auch die konkreten Verhandlungsziele in¬ teressierten den Außenminister eben gerade in seiner Eigenschaft als Außenmini¬ ster, auch wenn deren Bestimmung „über seine Kompetenz" hinausging. Immer- 66 Somogyi, Einleitung Gmr. V, LIII f. 67 Zoll- und Handelsbündnis von 1878: för Cisleithanien Gesetz vom 27. 6. 1878, RGBl. Nr. 62/1878, /ür Ungarn GA. XX/1878. 68 ArtikelXXI im Zeitraum 1868 bis 1897, aufrechterhalten 1898 bis 1907, ab 1908ArtikelXXII des Vertrages der wechselseitigen Handels- und Verkehrsbeziehungen. 69 GMR. v. 2. 2. 1906/IV, Gmr. V, Nr. 68. || || 40 Einleitung hin war er es, der nach diesen Richtlinien die Verhandlungen mit dem Ausland zu fuhren hatte. Jeder gemeinsame Ministerrat beschäftigte sich letztlich mit Themen, die auch in den Aufgabenbereich des Außenministers fielen. So gehörten neben den dezi¬ diert außenpolitischen Themen genauso das gemeinsame Budget, das Statut für Bosnien-Herzegowina, Fragen der Oberleitung der Verwaltung Bosnien-Herze¬ gowinas, wichtige militärische Angelegenheiten, die Einfluß aufdie Außenpolitik hatten, aber auch die Handelsverträge allesamt zum Aufgabenbereich des Außen¬ ministers. Das ist natürlich kein Beweis, daß es prinzipiell unmöglich gewesen wäre, Themen zur Sprache zu bringen, die nicht zum Aufgabenbereich des Au¬ ßenministers gehörten. Dies läßt sich nicht klären, da niemals ein Themenkanon für den gemeinsamen Ministerrat erstellt worden ist.70 Allerdings spricht ein In¬ diz gegen diese Möglichkeit. Am 18. November 1912 fand eine „Ministerbespre¬ chung" des Kriegsministers mit den Vertretern beider Regierungen statt,71 die sich mit der Neuaufstellung von Armee-, Landwehr- und Honvedartillerieforma- tionen beschäftigte, also mit rein militärischen Fragen, die in den Kompetenzbe¬ reich des Kriegsministers und der beiden Regierungen fielen, nicht aber in den des Außenministers. Zwar betonte Kriegsminister Moritz Ritter v. Auffenberg, daß diese Sitzung „im vollen Einvernehmen mit dem Herrn Minister des Äußern" stattfinde, aber Berchtold nahm nicht daran teil. Es gab also gemeinsame Angele¬ genheiten, für die nicht der Außenminister, jedoch der Kriegsminister und beide Regierungen zuständig waren. Diese wurden nicht im gemeinsamen Ministerrat, wo der Außenminister „nur" den Vorsitz geführt hätte, sondern ohne ihn in spezi¬ ellen „Ministerbesprechungen" behandelt. Definitiv kann nur gesagt werden, daß der Außenminister an allen gemeinsa¬ men Ministerratsitzungen teilnahm und sich alle Sitzungen mit Themen beschäf¬ tigten, die ihn in seiner Eigenschaft als Außenminister betrafen. Der Kriegsminister und der gemeinsame Finanzminister Im Gegensatz zum Außenminister nahmen die anderen beiden gemeinsamen Mi¬ nister nicht an allen gemeinsamen Ministerratssitzungen teil. Von den 31 Sitzun¬ gen der Ära Aehrenthal nahm der Kriegsminister an 21, der gemeinsame Finanz¬ minister an 23 teil, in der Ära Berchtold wurde der Kriegsminister zu 20, der gemeinsame Finanzminister zu allen 21 Sitzungen eingeladen, fehlte aber in der vom 21. Februar 1913.72 Von den zehn, bzw. acht Sitzungen der Ära Aehrenthal, an denen der Kriegsminister, bzw. der gemeinsame Finanzminister nicht teilnah- Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat 92. Ministerbesprechung v. 18. 11. 1912, ergänzendes Protokoll anderer Provenienz VII dieses Bandes. 72 GMKPZ. 504. || || Einleitung 41 men, beschäftigten sich drei mit staatsrechtlichen Fragen, die die Bezeichnung des gemeinsamen Zollgebietes und die Unterzeichnung von Staatsverträgen be¬ trafen73 sowie sechs (Kriegsminister), respektive fünf (gemeinsamer Finanzmini¬ ster) mit Themen zu Handelsverträgen.74 Diese Ministerratssitzungen hatten also die Thematik „internationale Beziehungen" zum Inhalt, für die das Kriegs- und gemeinsame Finanzministerium sowie die gemeinsame Regierung nach ungari¬ schem Recht nicht zuständig waren. Daher wurden diese beiden gemeinsamen Minister auch nicht zu solchen Sitzungen eingeladen. Wie sehr die Einladung zum gemeinsamen Ministerrat davon abhing, ob die Beratungsfragen zum Kompetenzbereich des entsprechenden Ministers gehörten, zeigte der gemeinsame Ministerrat vom 22. November 1908,75 der sich auch mit Handelsverträgen (zu den Balkanstaaten) beschäftigte. Aehrenthal forderte auch den gemeinsamen Finanzminister Buriän auf, an der Beratung teilzunehmen.76 Den mehr inoffiziellen Charakter, den Buriän auf diesem gemeinsamen Minister¬ rat einnahm, unterstrich jedoch die Form der Einladung. Er wurde nämlich nicht, wie sonst üblich, mit dem gleichlautenden Schreiben an alle anderen Teilnehmer zum Erscheinen gebeten, sondern mittels eines Privatschreibens Aehrenthals. Zu zwei Themen meldete sich Buriän zu Wort: Zur Frage, ob man nicht Rinder aus Montenegro zur Fleischversorgung der Bocche di Cattaro zollfrei über die dalma¬ tinische Grenze ins Land lassen könne, bemerkte Buriän, daß die Versorgung Cattaros auch durch Bosnien-Herzegowina geschehen könne. In einer zweiten Wortmeldung äußerte er sich zur Problematik einer Eisenbahnverbindung Serbi¬ ens mit der dalmatinischen Küste durch Bosnien-Herzegowina. Buriän beschränk¬ te sich also darauf, zu konkreten Fragen die Möglichkeiten Bosnien-Herzegowi¬ nas zu erörtern. Er äußerte sich nicht zu den Interessen dieser Provinzen an den in Diskussion stehenden Handelsverträgen. Selbstverständlich galten alle Han¬ delsverträge auch für Bosnien-Herzegowina, und besonders die Verträge mit den Balkanstaaten waren durchaus von Interesse für diese Provinzen. Die Verhand¬ lungen von Verträgen mit dem Ausland gehörten aber in den ausschließlichen Kompetenzbereich des Außenministers und der beiden Regierungen. Es gab das Recht für den gemeinsamen Finanzminister, die Interessen Bosnien-Herzegowi- 73 GMR. v. 11. 9. 1907, GMR. v. 9. 10. 1907 und GMR. v. 13. 10. 1907, Gmr. V, Nr 72 73 und 74. 74 GMR. v. 6. 1. 1907, Gmr. V, Nr. 71, GMR. v. 28. 2.1909, GMCPZ. 470, GMR. v. 16. 3. 1909, GMCPZ. 471, GMR. v. 14. 4. 1909, GMCPZ. 472 und GMR. v. 28. 2. 1910, GMCPZ. 479. An der Sitzung des GMR. v. 22. 11. 1908, GMCPZ. 469, nahm der gemeinsame Finanzmini¬ ster teil. 75 GMCPZ. 469. 76 Einladung an die beiden Ministerpräsidenten und Ressortminister mit Schreiben (K.) Aeh¬ renthals v. 18. 11. 1908 an Wekerle und Bienerth, HHStA., PA. I, CdM., III/15, CdM., 678/1908. Mit Privatschreiben (K.) v. 20. 11. 1908 lud Aehrenthal auch Buriän ein, da er seinen Standpunkt als Leiter der bosnisch-herzegowinischen Verwaltung den anderen Teil¬ nehmern zur Kenntnis bringen sollte, ebd., Z. 712/1908. || || 42 Einleitung nas gegenüber Cisleithanien und Ungarn zu vertreten. Aber anscheinend war für dieses Anhörungsrecht der gemeinsame Ministerrat nicht das geeignete Forum. Aus diesem Grund ist es interessant festzuhalten, daß Buriän in dieser Sitzung eben nicht die einzelnen Handelsverträge aus der Sicht Bosnien-Herzegowinas erörterte, sondern nur über einen Aspekt des Binnenhandels sprach: die Möglich¬ keit der Fleischversorgung der Bocche di Cattaro (als einem Gebiet innerhalb der Monarchie) durch Bosnien-Herzegowina (als einem anderen Gebiet innerhalb der Monarchie). Die Fleischversorgung der Bocche di Cattaro aus Bosnien-Her¬ zegowina hätte dann natürlich Auswirkungen auf den Handelsvertrag mit Monte¬ negro gehabt, war aber eine Frage des Binnenhandels. In der Ära Berchtold beschäftigte sich der gemeinsame Ministerrat vom 16. und 17. Februar 1913 mit den wirtschaftlichen Beziehungen zu den Balkanstaa¬ ten.77 Wie sehr aber die Handelsverträge zu diesen Staaten seit dem Beginn der Balkankriege zu einem außenpolitischen Mittel der Machterhaltung der Monar¬ chie geworden waren, zeigt nicht nur die Diskussion im Ministerrat selbst. Allein die Tatsache, daß auch der gemeinsame Finanzminister und der Kriegsminister teilnahmen, beweist, daß nicht nur handelspolitische Fragen erörtert wurden, son¬ dern eine weit darüber hinausgehende Problematik höchster außenpolitischer Brisanz. Der Kriegsminister beteiligte sich außerdem nicht an zwei weiteren gemeinsa¬ men Ministerratssitzungen. Dabei muß der Grund des Fehlens offen bleiben, weil die Einladungen nicht mehr im Archivbestand einliegen.78 Die eine Sitzung be¬ schäftigte sich mit der sogenannten Kmetenablöse, der Grundentlastung in Bos¬ nien-Herzegowina.79 Obwohl der Kriegsminister an der Sitzung vom 21. Februar 191380 teilnahm, in der über den Kauf der Aktienmajorität der Orienteisenbahn¬ gesellschaft durch ein österreichisch-ungarisches Bankenkonsortium verhandelt wurde, fehlte er in der Sitzung vom 24. Mai 1914,81 als es um Verhandlungen dieser Eisenbahngesellschaft mit Serbien ging, weil Serbien bestrebt war, deren Streckennetz in Serbien zu verstaatlichen. Der gemeinsame Finanzminister war zum gemeinsamen Ministerrat vom 21. Februar 1913 zur Frage des Ankaufs der Aktien der Orientbahn zwar eingeladen worden, jedoch fehlte er.82 Der gemeinsa¬ me Finanzminister wurde nicht immer in seiner Eigenschaft als Finanzminister eingeladen, sondern oft als Leiter der bosnisch-herzegowinischen Verwaltung, da er nur über diese Funktion in ein bestimmtes Problem involviert war. Nicht immer behandelte der gemeinsame Ministerrat Themen, die alle gemein¬ samen Minister betrafen. Die Teilnahme hing davon ab, ob der entsprechende 77 GMKPZ. 503. 78 HHStA.,PA. I,CdM. III/15. 79 GMR. v. 28. 2. 1910, GMCPZ. 478. 80 GMKPZ. 504. 81 GMKPZ. 511. 82 GMKPZ. 504. Das Schreiben (K.) Berchtolds v. 20. 2.1913 erging auch an Bilinski, HHStA., PA. I, CdM., III/15, Z. 149/1913. || || Einleitung 43 gemeinsame Minister zu der speziell erörterten Frage eine Mitsprachekompetenz besaß oder nicht, und dies war - anders als beim Außenminister - für die beiden anderen gemeinsamen Minister eben nicht immer der Fall. Diese Mitsprache¬ kompetenz wiederum wurde nicht nur formal bestimmt, sondern auch unter dem Aspekt, wie die behandelte Frage betrachtet wurde. So war zwar das Thema Han¬ delsverträge generell nur dem Außenministerium und den beiden Regierungen Vorbehalten, jedoch beteiligte sich auch der gemeinsame Finanzminister an der Sitzung vom 22. November 1908. Da die Erörterung der handelspolitischen Be¬ ziehungen besonders zu Serbien nach Ausbruch der Balkankriege unter dem Aspekt der Machtpolitik gesehen wurde, waren neben dem Außenminister und den Vertretern beider Regierungen - als den eigentlich kompetenten Faktoren - auch die anderen beiden gemeinsamen Minister in die Diskussion mit einbezogen worden. Die beiden Ministerpräsidenten Bei vier gemeinsamen Ministerratssitzungen war nur ein Ministerpräsident anwesend,83 auf zwei Sitzungen fungierte ein Ressortminister als Vertreter des cisleithanischen Ministerpräsidenten.84 Der ungarische Ministerpräsident fehlte im gemeinsamen Ministerrat vom 21. Februar 1913, obwohl er eingeladen wor¬ den war.85 In allen vier Fällen waren auch Ressortminister beider Regierungen anwesend, so daß das Fehlen eines Ministerpräsidenten bei Anwesenheit des an¬ deren seine Ursache nicht in dem behandelten Thema haben konnte. Vielmehr ist zu beachten, daß im gemeinsamen Ministerrat keine Probleme erörtert wurden, die nur eine der beiden Regierungen betrafen. Zu zwei Sitzungen wurden beide Ministerpräsidenten nicht eingeladen;86 der gemeinsame Ministerrat vom 13. Juni 191187 beschäftigte sich mit der Vollzugsklausel des Wehrgesetzes für Bosnien- Herzegowina, und der vom 14. März 191288 mit der Stellung des Landeschefs von Bosnien-Herzegowina. Das Besondere dieser beiden Sitzungen war, daß die behandelten Themen durchaus auch zum Einflußbereich der beiden Regierungen 83 Der cisleithanische Ministerpräsidentfehlte bei GMR. v. 14. 4.1909, GMCPZ. 472, GMR. v. 8. und 9. 7. 1912, GMKPZ. 494 und GMR. v. 4. 1. 1913, GMKPZ. 502; der ungarische Mi¬ nisterpräsident war in GMR. v. 21. 2. 1913, GMKPZ. 504, nicht anwesend. 84 Im gemeinsamen Ministerrat vom 8. und 9. 7. 1912 war es der k. k. Innenminister, GMKPZ. 494 und im gemeinsamen Ministerrat vom 4. 1. 1913 der k. k. Finanzminister, GMKPZ. 502. 85 Das Einladungsschreiben (K.) Berchtolds v. 20. 2.1913 erging auch an Lukäcs, HHStA., PA. I, CdM., III/15, Z. 149/1913. 86 An der Sitzung v. 14. 3. 1912 nahm auch der Landeschefvon Bosnien-Herzegowina Potiorek teil. 87 GMKPZ. 487. 88 GMKPZ. 491. || || 44 Einleitung gehörten. Deshalb wurde am Ende beider Sitzungen festgehalten, daß der Gesetz- bzw. Verordnungsentwurf zunächst beiden Regierungen mitzuteilen sei, um ihre Zustimmung einzuholen. Warum wurden zu diesen zwei gemeinsamen Ministerratssitzungen beide Mi¬ nisterpräsidenten nicht eingeladen? Um diese Frage zu beantworten, muß geprüft werden, ob und in welchem Rahmen überhaupt interne Beratungen der gemein¬ samen Minister in der untersuchten Periode stattfanden, und was diese beiden Ministerratssitzungen miteinander verband, schließlich ob es Fälle gab, die auch diese Kriterien erfüllten, in denen aber anders verfahren wurde sowie schließlich warum es zu einer anderen Behandlung in der Auswahl der Teilnehmer kam. Daraus ergibt sich dann, was diese beiden Ministerratssitzungen von allen ande¬ ren unterschied und warum die gemeinsamen Minister intern berieten. Es kam auch in anderen Fragen durchaus vor, daß die gemeinsamen Minister zuerst intern berieten, bevor sie sich an beide Regierungen wandten. Diese inter¬ nen Treffen waren aber ab 1907 kein „gemeinsamer Ministerrat", sondern eine „Besprechung" oder „Konferenz der gemeinsamen Minister". In der „Konferenz" vom 9. April 1908 einigten sich die gemeinsamen Minister intern über das Bud¬ get für 1909, bevor es danach im Rahmen des gemeinsamen Ministerrates mit den beiden Regierungen verhandelt wurde.89 Auch wenn es vor 1907 durchaus zu gemeinsamen Ministerratssitzungen ohne die Beteiligung der beiden Minister¬ präsidenten kam, auch wenn in den 1870er Jahren eine Unterscheidung zwischen „gemeinsamem Ministerrat" als interner Besprechung der gemeinsamen Minister und „kombiniertem" oder „verstärktem Ministerrat", mit Einschluß der Minister¬ präsidenten, gemacht wurde und auch wenn Gohichowski noch in seinem Schrei¬ ben vom 7. September 1895 an Dezsö Baron Bänfify meinte, man könne bei Teil¬ nahme beider Ministerpräsidenten streng genommen nicht von einem „gemeinsamen Ministerrat" sprechen,90 so trifft die Beurteilung spätestens seit der Zeit Aehrenthals keineswegs mehr zu. Das genaue Gegenteil scheint der Fall gewesen zu sein: zu einem gemeinsamen Ministerrat kam es nur dann, wenn auch die beiden Ministerpräsidenten eingeladen wurden. Vorbesprechungen der ge¬ meinsamen Minister zum Budget, die noch unter Gohichowski im Rahmen eines gemeinsamen Ministerrates vorverhandelt wurden, fanden unter Aehrenthal und Berchtold nur mehr als „Konferenz" oder „Besprechung der gemeinsamen Mini¬ ster" statt. Die Protokolle wurden auch nicht in die Reihe der gemeinsamen Mi¬ nisterratsprotokolle aufgenommen, erhielten also auch keine „gemeinsame Mini¬ sterratskonferenz-Protokollzahl". Hingegen waren die beiden Besprechungen der gemeinsamen Minister vom 13. Juni 1911 und 14. März 1912 tatsächlich gemein- 89 Konferenz der gemeinsamen Minister v. 9. 4. 1908, ergänzendes Protokoll anderer Proveni¬ enz II dieses Bandes, GMR. v. 30. 4. 1908, GMCPZ. 465 und GMR. v. 17. und 21. 5. 1908, GMCPZ. 466. 90 Schreiben (K.) Goluchowskis an Bänjfy v. 7. 9. 1895, HHStA., PA. XL, Liasse XXX, mehr¬ fach zit., u. a. bei Somogyi, Ministerrat, 119. || || Einleitung 45 same Ministerratssitzungen, obwohl keine Vertreter beider Regierungen anwe¬ send waren und obwohl beide Ministerpräsidenten zu diesen Angelegenheiten Stellung zu beziehen hatten. Den beiden behandelten Themen war gemeinsam, daß sie sich mit einem Gesetz bzw. einer Verordnung für Bosnien-Herzegowina beschäftigten. Aber dies trifft genauso auf die Themen der bosnischen Verfassung oder der Ausgestaltung des Eisenbahnnetzes dieser Provinzen zu. In diesen Fällen waren aber beide Ministerpräsidenten in die Diskussion eingebunden worden. Im Fall des Landesstatuts kam es auch zu internen Besprechungen der gemeinsamen Mi¬ nister, die aber nicht im Rahmen des gemeinsamen Ministerrates abgehalten wur¬ den, sondern in Form von „Konferenzen der gemeinsamen Minister". Da der Landtag von Bosnien-Herzegowina den Eisenbahnbau zu votieren hatte, war es eine Frage der „Verwaltung des Landes".91 Diese fiel nach den Bestimmungen des § 1 des Landesstatuts in den Zuständigkeitsbereich des gemeinsamen Finanz¬ ministers und nicht der gemeinsamen Regierung. Somit traten die gemeinsamen Minister in dieser Frage nicht als Kollektivgremium auf. Entsprechend der Be¬ stimmungen des § 2 des Gesetzes vom 22. Februar 1880, RGBl. Nr. 18/1880, bzw. des GA. VI/1880, sollte die „Anlage von Eisenbahnen" in Bosnien-Herze¬ gowina „im Einvernehmen mit den Regierungen" Ungarns und Cisleithaniens erfolgen. Zudem war dieser Eisenbahnbau eine „bleibende Investition", für die „finanzielle Leistungen der Monarchie" in Anspruch genommen werden mußten, da sie von diesen Provinzen alleine nicht bezahlt werden konnten. Für diesen Fall verlangte § 3 der genannten Gesetze von 1880 zusätzlich „in beiden Teilen der Monarchie übereinstimmend zu stände gekommene Gesetze". Da nun einerseits die Frage des Eisenbahnbaus beide Regierungen direkt betraf, andererseits die gemeinsamen Minister hier kein Kollektivgremium bildeten, konnte das Thema des Eisenbahnbaus sinnvoll nur mit den Ministerpräsidenten und den zuständigen Ressortministern beider Regierungen verhandelt werden. Aber auch in der Frage der bosnischen Verfassung wurde ein anderer Weg gewählt, als bei der Vollzugsklausel des Wehrgesetzes oder der Stellung des Lan¬ deschefs dieser Provinzen: zuerst berieten die gemeinsamen Minister intern, aber eben nicht im Rahmen eines gemeinsamen Ministerrates, um diese Verfassung erst danach im „gemeinsamen Ministerrat" zusammen mit beiden Ministerpräsi¬ denten zu verhandeln. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Statut einerseits und der Wehrre¬ form sowie der Stellung des Landeschefs andererseits war, daß diese letzten beiden Themen im Rahmen des Landesstatus lagen. Dieses räumte nun in seinem § 1 den gemeinsamen Ministem einen festen Platz innerhalb der Verwaltung ein: als ge¬ meinsame Regierung waren die gemeinsamen Minister die „Leitung und Oberauf¬ sicht" Bosnien-Herzegowinas. Die Diskussion um das Statut selbst - wie der ge- 91 Bosnische Verfassung v. 17. 2. 1910, Gesetz- und Verordnungsblatt für Bosnien- und die Hercegowina Nr. 19/1910, § 1. || || 46 Einleitung samten Verfassung an sich - stand hingegen außerhalb dieses Rahmens; sie schuf ihn erst. Daher waren die gemeinsamen Minister in der Verfassungsffage nicht die „Leitung und Oberaufsicht", da es diese, so exakt wie im Landesstatut definiert, eben noch nicht gab. Die Fragen der Vollzugsklausel der Wehrreform und jene der Stellung des Landeschefs gehörten nach § 1 des Landesstatuts zur „Leitung Bosni¬ en-Herzegowinas". Wenn daher die gemeinsamen Minister am 13. Juni 1911 und am 14. März 1912 ohne beide Ministerpräsidenten zum gemeinsamen Ministerrat zusammentraten, obwohl beide Ministerpräsidenten auch ein Mitspracherecht be¬ saßen, so liegt der Schluß nahe, daß sich hier die gemeinsamen Minister als zustän¬ diges Kollektivgremium „gemeinsame Regierung" versammelten. Der gemeinsame Ministerrat konnte sowohl das Treffen der gemeinsamen Re¬ gierung sein, als auch das genaue Gegenteil, d. h. er konnte Themen behandeln, die nach GA. XII/1867 nicht zu den Aufgaben der gemeinsamen Regierung ge¬ hörten. Es kormten entweder pragmatisch-gemeinsame Themen (Bosnien-Herze¬ gowina) oder gemeinschaftlich-paktierte Themen (Handelsverträge) im gemein¬ samen Ministerrat entschieden werden. Die Handelsverträge in der ÄraAehrenthal und Berchtold wurden aber immer als Aspekt der pragmatisch-gemeinsamen Au¬ ßenpolitik diskutiert. Gemeinsame Themen Die Themen, zu denen immer alle gemeinsamen Minister und beide Ministerprä¬ sidenten eingeladen wurden, können in drei Gruppen zergliedert werden: Fragen um das gemeinsame Budget, also der Voranschlag, Nachtragsforderungen und die Einberufung der Delegationen; Fragen zu Bosnien-Herzegowina; außenpoli¬ tische Weichenstellungen. Themen um das gemeinsame Budget: GA. XII/1867 schrieb in § 40 vor, daß die gemeinsame Regierung berufen war, den Voranschlag zu erstellen. Wie schon gesagt trat die eigentliche gemeinsame Regierung, die drei gemeinsamen Mini¬ ster, alleine für sich in der Ära Aehrenthal und Berchtold in dieser Frage niemals als gemeinsamer Ministerrat zusammen. Dieser war in Budgetffagen ausschlie߬ lich dem Zusammentreffen aller drei gemeinsamen Minister mit beiden Minister¬ präsidenten - und den Fachministem beider Regierungen - Vorbehalten. Somit müssen diese Treffen als Versammlung der gemeinsamen Regiemng erweitert um beide Ministerpräsidenten verstanden werden, also als gemeinschaftliche Sitzung der gemeinsamen Regiemng mit beiden Ministerpräsidenten. Im Zusammenhang mit den Problemen um Bosnien-Herzegowina wurden - sieht man von der Anne- xionsffage ab, weil sie eher in die Rubrik der außenpolitischen Weichenstellun¬ gen gehört - zwei zentrale Themen immer von den drei gemeinsamen Ministem und beiden Ministerpräsidenten beraten: die Landesverfassung und ein groß an¬ gelegtes Eisenbahnbauprojekt. Die Landesverfassung wurde gemeinsam beraten, weil § 2 des Gesetzes von 22. Febmar 1880, RGBl. Nr. 18/1880, bzw. des GA. || || Einleitung 47 VI/1880 „die Feststellung der Richtung und Prinzipien dieser provisorischen Ver¬ waltung [...] im Einvernehmen" mit beiden Regierungen verlangte. Es war eine Angelegenheit, die aufjeden Fall beide Regierungen und die gemeinsame Regie¬ rung betraf. Auch wenn die gemeinsame Regierung diese Leitung eigentlich nur vermittels des gemeinsamen Finanzministers ausübte, trat sie als kollektive ge¬ meinsame Regierung beiden Ministerpräsidenten gegenüber, wie aus den Proto¬ kollen der „Konferenzen der gemeinsamen Minister" vom 7. Juni und 6. Septem¬ ber 1909 ersichtlich ist. Die gefaßten Beschlüsse waren „Anträge des k. u. k. gemeinsamen Ministeriums".92 Ließen Budgetffagen noch die Interpretationen zu, daß der gemeinsame Ministerrat das Treffen einer „erweiterten Regierung" sei, so trat in dieser Verfassungsangelegenheit die gemeinsame Regierung so deutlich als Einheit den Ministerpräsidenten gegenüber, daß sie nur als gemein¬ schaftliche Sitzung der gemeinsamen Regierung mit beiden Ministerpräsidenten verstanden werden kann. Ganz anders sah die Situation in der Problematik des Eisenbahnbaus aus. Da dieser Eisenbahnbau auch mit Zahlungen beider Teile der Monarchie finanziert werden sollte, war die Zustimmung der cisleithanischen und ungarischen Legis¬ lative vorgeschrieben.93 Dies erklärt die Zuständigkeit der beiden Ministerpräsi¬ denten. Die gemeinsamen Minister stellten in diesem Fall kein Kollektiv dar, weil es sich um „die Verwaltung des Landes" handelte, und nicht „um Fragen prinzi¬ pieller Natur".94 Somit war es letztlich nur der gemeinsame Finanzminister, der im Namen der gemeinsamen Regierung Bosnien-Herzegowina vertrat, während den Kriegs- und den Außenminister der Eisenbahnbau nur speziell von deren Ressort aus militärischen, bzw. internationalen Rücksichten interessierte. Nur der gemeinsame Finanzminister alleine vertrat die gemeinsame Regierung. Somit müssen diese Treffen als gemeinschaftliche Sitzung der einzelnen gemeinsamen Minister (nur der gemeinsame Finanzminister im Namen der gemeinsamen Re¬ gierung) und der beiden Ministerpräsidenten verstanden werden. In außenpolitischen Angelegenheiten waren die Bestimmungen des GA. XII/1867 in der Frage der Zuständigkeit der gemeinsamen Regierung nicht ein¬ deutig. Daher kann nicht klar bestimmt werden, ob in solchen Angelegenheiten die gemeinsamen Minister ein Kollektiv bildeten oder als drei einzelne gemein¬ same Minister vereint mit beiden Ministerpräsidenten zusammen saßen. Solch ein gemeinsamer Ministerrat kann als gemeinschaftliche Sitzung der gemeinsa¬ men Regierung mit beiden Ministerpräsidenten und genauso als gemeinschaftli¬ che Sitzung der einzelnen gemeinsamen Minister und beider Ministerpräsidenten angesehen werden. Z. B. Konferenz der gemeinsamen Minister v. 6. 9. 1909, ergänzendes Protokoll anderer Provenienz V dieses Bandes. § 3 dieser beiden Gesetze. So definiert von Aehrenthal in der Konferenz der gemeinsamen Minister v. 6. 9. 1909, ergän¬ zendes Protokoll anderer Provenienz Vdieses Bandes. || || 48 Einleitung Der erweiterte Ministerrat Bei Verhandlungen von Regierungsgremien kommt es regelmäßig vor, daß neben den zuständigen Ministem auch andere Personen beigezogen werden, so auch im gemeinsamen Ministerrat. Da er jedoch nicht das Treffen eines personell klar definierten Gremiums war, sondern die Teilnahme davon abhing, ob das behan¬ delte Thema einen Minister betraf, so ist im Einzelfall nicht immer eindeutig zu entscheiden, ob die eingeladenen Personen als „zuständige" oder „beigezogene Teilnehmer" anwesend waren. So muß z. B. der gemeinsame Finanzminister in der Sitzung vom 22. November 1908 - wegen Handelsverträgen mit den Balkan¬ staaten - als beigezogener, nicht aber als zuständiger Teilnehmer gewertet wer¬ den. Jedoch läßt sich generell festhalten, daß der Kreis, aus dem die jeweils „Zu¬ ständigen" kommen konnten, neben dem Außenminister auch die beiden anderen gemeinsamen Minister und die beiden Ministerpräsidenten umfaßte. Doch auch diese Einschränkung des Kreises der möglichen „Zuständigen" muß im Einzel¬ fall geprüft werden. Regelmäßig nahm der „k. u. k. Marinekommandant und Chef des Kriegsmini¬ steriums, Marinesektion" - so lautete der offizielle Titel - an den Beratungen des gemeinsamen Ministerrates teil. Die Sitzungen, zu denen er eingeladen wurde, behandelten auch oder ausschließlich Finanzfragen der Marine - Budget und Spezialthemen zur Finanzierung von Schiffsbauten. Zwar war der Marinekom¬ mandant kein Minister, sondern „nur" Chef der Marinesektion des Kriegsmini¬ steriums. Da jedoch er die Ausgaben für die Marine vor den Delegationen und daher auch im gemeinsamen Ministerrat vertrat und nicht der Kriegsminister, muß der Marinekommandant als „zuständiger Teilnehmer" gewertet werden. Diese Einschätzung wird dadurch gestützt, daß Montecuccoli 1911 sogar förm¬ lich einen gemeinsamen Ministerrat unter Vorsitz des Monarchen erbat, ein An¬ trag, den wohl nur ein zuständiger Teilnehmer stellen konnte. Bei über 80 % der Sitzungen waren neben den Ministerpräsidenten auch Fach¬ minister beider Regierungen anwesend. So nahmen an den Verhandlungen zum gemeinsamen Budget, zu Handelsverträgen oder zum Eisenbahnbau in Bosnien- Herzegowina der cisleithanische und der ungarische Finanzminister teil, bei Ver¬ handlungen zu Handelsverträgen wurden auch die Handels- und Ackerbaumini¬ ster beider Regierungen eingeladen, und an den Verhandlungen zum Eisenbahnbau in Bosnien-Herzegowina beteiligten sich der cisleithanische Handels- und der Eisenbahn- sowie der ungarische Handelsminister, der auch für die ungarischen Eisenbahnangelegenheiten zuständig war. Diese Fachminister vertraten im gemeinsamen Ministerrat ihr spezielles Res¬ sort, während die Ministerpräsidenten je ihre Regierung repräsentierten. Inner¬ halb des gemeinsamen Ministerrates bildeten aber alle Mitglieder jeder der bei¬ den Regierungen eine Einheit. Es kam vor, daß die Sitzung kurzfristig unterbrochen wurde, damit sich die Minister der einen oder anderen Regierung intern beraten konnten, um ad hoc Angebote machen oder Kompromissen zustimmen zu kön- || || Einleitung 49 nen, wie dies z. B. im gemeinsamen Ministerrat vom 28. und 29. Oktober 1911 an beiden Tagen geschah.95 Die Ressortminister wurden aus zwei Gründen einge¬ laden. Zum einen, um das Thema von ihrem Standpunkt aus darzulegen, zum anderen aber, um als verkleinertes Regierungskollektiv an Ort und Stelle Ent¬ scheidungen der jeweiligen Regierung zu treffen, die später im Ministerrat ihrer Regierung kaum abgelehnt werden konnten. Insofern waren die Fachminister beider Regierungen prinzipiell - mit einer Ausnahme - nur beigezogene Teilneh¬ mer, die aber eine zusätzliche Bedeutung dadurch erhielten, daß sie und ihr Mini¬ sterpräsident im gemeinsamen Ministerrat ein kompetentes und entscheidungsfä¬ higes Kollektiv bildeten. Die einzige Ausnahme waren Handelsverträge. Hier müssen die Ressortminister auch als „zuständige Teilnehmer" angesehen werden, weil es beiden Regierungen, damit aber besonders den Fachministem, oblag, die Verhandlungsdirektiven an den Außenminister zu bestimmen.96 Zu Themen der Handelsverträge, aber auch bei den Sitzungen vom 11. September sowie vom 9. und vom 13. Oktober 1907, die sich mit staatsrechtlichen Fragen des Auftretens der Monarchie und ihrer Teile gegenüber dem Ausland beschäftigten, wurden auch Fachreferenten des gemeinsamen Außen-, aber auch der beiden Handels¬ oder Ackerbauministerien eingeladen. Diese sollten nur Spezialffagen erörtern. Sie müssen daher als „beigezogene Teilnehmer" gewertet werden. Der Chef des Generalstabes wurde zu vier Sitzungen eingeladen. Zumindest in der Sitzung vom 5. März 191197 war er „zuständiger Teilnehmer", denn in dieser von Franz Joseph anberaumten Sitzung sollte Franz Conrad Freiherr v. Hötzen- dorf darlegen, wamm er das von den Delegationen schon votierte Heeresbudget als viel zu gering ansah. In den anderen gemeinsamen Ministerratssitzungen war der Chef des Generalstabes jedoch nur „beigezogener Teilnehmer". Der Landeschef von Bosnien-Herzegowina, der an zwei Sitzungen teilnahm, war immer nur „beigezogener Teilnehmer". Insgesamt läßt sich festhalten, daß der gemeinsame Ministerrat in der letzten Friedensphase der Monarchie eine Vielzahl an Beratungs- und Beschlusskompe¬ tenzen repräsentierte: Sitzungen der gemeinsamen Regierung, gemeinschaftliche Sitzungen der gemeinsamen Regierung mit beiden Ministerpräsidenten, gemein¬ schaftliche Sitzungen der gemeinsamen Minister - nicht als Kollektiv - und der beiden Ministerpräsidenten oder als Zusammenkunft des Außenministers mit den Ministerpräsidenten und Ressortministern beider Regierungen, ohne die beiden anderen gemeinsamen Minister. 95 GMKPZ. 488. Vor 1908 war es sogar nur die Aufgabe der Fachminister und nicht der beiden Regierungen gewesen, die DirektivenJur den Außenministerfestzulegen. 97 GMKPZ. 486. || || 50 Einleitung 3. Die Funktion des gemeinsamen Ministerrates Der gemeinsame Ministerrat war ein Beratungsgremium auf höchster Instanz, keinesfalls aber ein Beschlussorgan der gemeinsamen Regierung. Ein Treffen, zu dem, je nach Bedarf, Mitglieder der Regierung nicht, andere Personen aber sehr wohl geladen wurden, kann schon aus diesem formalen Grund nicht als Regie¬ rungsinstanz verstanden werden. Die gemeinsame Regierung „beschloß" auch nicht ausschließlich im „gemeinsamen Ministerrat". Politisch entscheidende Be¬ schlüsse der gemeinsamen Regierung wurden in der Ära Aehrenthal durchaus auch in „Konferenzen der gemeinsamen Minister" gefasst. Das Protokoll der „Konferenz der gemeinsamen Minister" vom 9. April 1908 zur Vorbesprechung des gemeinsamen Budgets für 1909 endete98: „Nach diesem Beschlüsse wurde die Konferenz für beendet erklärt." Dieses Protokoll spricht nicht eindeutig aus, daß es die gemeinsame Regierung war, die beschloß, und dieses Protokoll liegt zumindest unter den Protokollen des „gemeinsamen Ministerrates". Anders ver¬ hält es sich mit den „Konferenzen der gemeinsamen Minister" vom 7. Juni und 6. September 1909, in denen intern der Verfassungsentwurf des gemeinsamen Fi¬ nanzministers Buriän für Bosnien-Herzegowina beraten wurde.99 Im Protokoll der Konferenz vom 7. Juni 1909 stand100: „daß er [der Außenminister] den heute festgesetzten Text der Gesetzesprojekte [...] als einhelligen Beschluß des k. u. k. gemeinsamen Ministeriums den beiden Regierungen mit der Bitte übersenden werde, zu den Entwürfen auch ihrerseits schleunigst Stellung zu nehmen [...]". Im Protokoll der Konferenz vom 6. September 1909 wurde gesagt101: „Der Vor¬ sitzende schließt die Konferenz mit dem Bemerken, daß er die in der heutigen Sitzung gefaßten Beschlüsse in dem am 14. September d. J. stattfindenden ge¬ meinsamen Ministerrate als Anträge des k. u. k. gemeinsamen Ministeriums zur Sprache bringen werde." Es war also eindeutig die Rede davon, daß es sich auch bei den „Konferenzen" tatsächlich um Beschlüsse der gemeinsamen Regierung handelte. Zudem wurden die Konferenzprotokolle nicht mit denen der gemeinsa¬ men Ministerratssitzungen aufbewahrt. Die Ministerratsprotokolle sind unter den internen Akten (als Teil des PA. XL), diese beiden Konferenzprotokolle im „Ka¬ binett des Ministers" (Teil des PA. I), einer Art Präsidialkanzlei des Außenmini¬ sters in gemeinsamen Angelegenheiten, hinterlegt worden. Aus diesem Grund ist die Edition der „gemeinsamen Ministerratsprotokolle 1908-1914" keine Doku¬ mentation der Sitzungen der „gemeinsamen Regierung". Mit der Aufnahme der „Ergänzenden Protokolle anderer Provenienz" sind zwar Sitzungen dieser Regie¬ rung außerhalb des Rahmens der „gemeinsamen Ministerratsprotokolle" aufge- Konferenz der gemeinsamen Minister v. 9. 4. 1908, ergänzendes Protokoll anderer Proveni¬ enz II dieses Bandes. Ergänzende Protokolle anderer Provenienz IV und V dieses Bandes. Ergänzendes Protokoll anderer Provenienz IV dieses Bandes. 101 Ergänzendes Protokoll anderer Provenienz V dieses Bandes. || || Einleitung 51 nommen, aber diese Protokolle sind Zufallsfunde, die Dokumentation der Tätig¬ keit der gemeinsamen Regierung ist daher unvollständig. Da diese Sitzungen keine eigene Nummerierung und keine einheitliche Hinterlegung haben, kann ihre Vollständigkeit kaum geprüft werden. Was aber war der „gemeinsame Ministerrat" in der Ära Aehrenthal und Berchtold, wenn er nicht das - wie auch immer definierte - Treffen der „gemein¬ samen Regierung" gewesen ist? Was alle gemeinsamen Ministerratssitzungen miteinander verband, war lediglich die Anwesenheit des Außenministers. Er war die Konstante aber nicht nur durch seine Funktion als Vorsitzender. Er nahm an allen Sitzungen teil, weil die behandelten Themen zu seinem Ressortbereich als Außenminister gehörten. Somit muß der gemeinsame Ministerrat ab 1907 als Aktionsforum des Außenministers angesehen werden, in dem Angelegenheiten auf Ministerebene - gemeinsame Minister, beide Ministerpräsidenten und Res¬ sortminister beider Regierungen -- beraten und beschlossen wurden, für die er nicht alleine zuständig war. Der gemeinsame Ministerrat war in der ursprünglichen Konzeption sicherlich als Zusammenkunft der gemeinsamen Regierung gedacht, entwickelte sich aber mit der Zeit zunehmend zu einem Instrument seines Vorsitzenden. Statt Themen der gemeinsamen Regierung wurden zunehmend Themen des Außenministers beraten, die er nur mit anderen Ministem entscheiden konnte. Zumindest für die letzte Friedensepoche der Doppelmonarchie läßt sich festhalten, daß die gemein¬ same Regierung nur ein Aspekt des gemeinsamen Ministerrates war, so wie um¬ gekehrt die gemeinsame Regierung nur einen Teilbereich der Aufgaben des Au¬ ßenministers mit entschied. || || II. Die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates 1908-1914 1. Das gemeinsame Budget und die Delegationen Der Voranschlag Die Feststellung des gemeinsamen Voranschlages war die einzige Angelegenheit der gemeinsamen Regierung, die ihr durch den Ausgleich von 1867 eindeutig zugewiesen worden war. Die Erstellung dieses Voranschlages stellt daher eine jährlich wiederkehrende Konstante in den Themen des gemeinsamen Ministerra¬ tes dar.1 Sowohl dieser Voranschlag, als auch das von den Delegationen beschlos¬ sene gemeinsame Budget weichen von den Finanzgesetzen beider Teile der Mon¬ archie wesentlich ab. Der Voranschlag bestand aus den Einnahmen und Ausgaben der drei gemein¬ samen Ministerien und des gemeinsamen Obersten Rechnungshofes. Der Etat von Bosnien-Herzegowina wurde zwar vom gemeinsamen Finanzministerium verwaltet, stellte jedoch keinen Teil des Budgets des gemeinsamen Finanzmini¬ steriums dar. Er unterlag auch nicht der Zustimmung der Delegationen,2 wurde daher im Rahmen des Voranschlages nicht beraten. Aus den Landesmitteln dieser Provinzen wurden sowohl die für Bosnien-Herzegowina zuständige Sektion des gemeinsamen Finanzministeriums,3 als auch die bosnisch-herzegowinischen Truppen finanziert, beide gehörten daher nicht zum gemeinsamen Voranschlag. Anders verhielt es sich mit dem „außerordentlichen Heereserfordemis für die Kommanden, Truppen und Anstalten in Bosnien und in der Hercegovina", bis 1908 oft auch Okkupationskredit genannt. Es umfaßte die Kosten für die k. u. k. Truppen - also Einheiten, deren Rekrutierungsbezirke in Cisleithanien oder Un¬ garn lagen -, die in Bosnien-Herzegowina stationiert waren. Dies war daher eine gemeinsame Ausgabe und somit Teil des gemeinsamen Budgets. Der Ausbau des bosnischen Eisenbahnnetzes war eine Frage des bosnisch-herzegowinischen Budgets, wurde daher nicht im Rahmen des gemeinsamen Voranschlages, son¬ dern auf separaten Sitzungen verhandelt. Neben dem Voranschlag für das - in der Regel - kommende Jahr, wurden auch Nachtragsforderungen für das laufende Zum gemeinsamen Budget siehe besonders Somogyi, Gemeinsamer Ministerrat 195-209, Diöszegi, Einleitung GMR. IV 93-102 sowie Somogyi, GMR. V XXXVI-XL. Das bosnische Budget wurde den Delegationen nach der schon vollzogenen Sanktionierung lediglich mitgeteilt. Hauptmann Ferdinand, Die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien und der Herce¬ govina, Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsentwicklung (= Zur Kunde Südosteuropas 11/12, Graz 1983) 37 f. || || Einleitung 53 Budget und die Schlußrechnungen des gemeinsamen Obersten Rechnungshofes der abgeschlossenen Budgets den Delegationen vorgelegt. Bis einschließlich 1913 war das Budgetjahr mit dem Kalenderjahr identisch. Da aber Ungarn in einen Verzug mit der parlamentarischen Erledigung seiner Budgets gekommen war,4 plante man, das Budgetjahr auf den Zeitraum 1. Juli bis 30. Juni des Folgejahres zu verschieben. Damit war es aber notwendig, dies auch bei allen anderen Budgets der Monarchie durchzuführen. So gab es 1914 zu¬ nächst ein Halbjahresbudget sowohl in Ungarn, als auch in Cisleithanien und Bosnien-Herzegowina sowie für das gemeinsame Budget. Es folgte dann das Budget 1914/15. Das gemeinsame Budget bestand aus einer Auflistung der gemeinsamen Aus¬ gaben und der gemeinsamen Einnahmen sowie der Höhe der noch offenen Ko¬ sten und der Art ihrer Bedeckung. Die gemeinsamen Ausgaben wurden durch drei Arten von Einnahmequellen finanziert: geringfügige gemeinsame Einnah¬ men, die Zölle und die Quote. Die gemeinsamen Einnahmen bestanden aus klei¬ neren Taxen und Gefallen, wie Konsulartaxen oder den Einkommenssteuern der Bediensteten des jeweiligen gemeinsamen Ministeriums, die zusammen weniger als zwei Prozent des Budgets ausmachten. Zudem wurden sie nicht zentral vom gemeinsamen Finanzministerium verwaltet, sondern von jedem der drei gemein¬ samen Ministerien für sich. Für die Delegationen war nicht von entscheidendem Interesse, wie hoch die Geldbedürfhisse an sich waren, sondern nur, wie sehr die gemeinsamen Ausgaben beide Teile der Monarchie belasteten. Daher wurden die Einnahmen der gemeinsamen Ministerien gleich von ihren Ausgaben abgezogen. Im Gegensatz zu den Finanzgesetzen beider Teile der Monarchie handelte es sich daher nicht um ein Brutto-, sondern ein Nettobudget. Das gemeinsame Budget wurde von beiden Teilen der Monarchie finanziert. Die Art und Weise der Finanzierung der gemeinsamen Ausgaben legte ein alle zehn Jahre zu erneuerndes Quotenabkommen fest, auf das sich beide Teile zu ei¬ nigen hatten. Es bestimmte, daß die Zolleinnahmen für die Deckung der gemein¬ samen Ausgaben zu verwenden seien und die dann noch unbedeckten Kosten von beiden Teilen der Monarchie entsprechend der Quote zu bezahlen waren. Die Quote drückte das prozentuale Verhältnis aus, mit dem Cisleithanien und Ungarn diesen noch offenen Rest zu begleichen hatten. Im Wirtschaftsausgleich von 1907 war vereinbart worden, daß Cisleithanien 63,6 % und Ungarn 36,4 % davon tra¬ gen sollten. Insofern stellte das gemeinsame Budget den Ausgaben letztlich keine In Cisleithanien war der Voranschlagfir das Jahr 1910 das letzte ordentlich erledigte Bud¬ get, Finanzgesetzfiir das Jahr 1910 v. 29. 6.1910, RGBl. Nr. 122/1910.^6 1911 regeltenmr mehr Gesetze oder Notverordnungen die Forterhebung der Steuern und Abgaben sowie die Bestreitung des Staatsaufwandes. An die Stelle der Finanzgesetze trat die Verfassung des Staatsrechnungsabschlusses über den Staatshaushalt des Vorjahres; siehe z. B. Gesetz v. 25. 12. 1911, RGBl. Nr. 239/1911, § 9. Der Staatsrechnungsabschlußför das Budget 1914/15 wurde aufdiese Weise im Reichsgesetzblatt sogarpubliziert, kaiserliche Verordnung v. 28. 6. 1915, RGBl. Nr. 179/1915. || || 54 Einleitung Einnahmen entgegen, sondern nur die Art und Höhe der Bedeckung durch das Zollgefalle und die Quotenanteile. Eine weitere Besonderheit war, daß die ge¬ meinsamen Ausgaben keine Einheit darstellten. Die Delegationen faßten eine Vielzahl von einzelnen Beschlüssen, die sich in vier Gruppen gliedern lassen: von beiden Teilen aus den laufenden Einnahmen zu tragende Kosten; von beiden Teilen durch Kreditoperationen zu finanzierende Ausgaben; Nachtragskredite für das laufende Budget; die Schlußrechnungen mit Bewilligung der Budgetüber¬ schreitungen. Der erste Beschluß stellte das Budget mit Ordinarium und Extraordinarium der drei gemeinsamen Ministerien und des gemeinsamen Rechnungshofes dar, das aus den eigenen gemeinsamen Gefällen und Taxen, den Zöllen und den laufenden Einnahmen beider Teile gedeckt werden mußte. Getrennt davon wurde das „au¬ ßerordentliche Heereserfordemis für die Kommanden, Truppen und Anstalten in Bosnien und in der Hercegovina" festgestellt. Diesem folgte eine unterschiedli¬ che Anzahl von Beschlüssen für Ausgaben, die beide Teile der Monarchie nicht aus ihren laufenden Einnahmen zu finanzieren hatten, sondern über diverse Kre¬ ditoperationen decken konnten. Welche Ausgaben aus den laufenden Einnahmen und welche als Kreditoperationen figurieren sollten, war Diskussionspunkt in den gemeinsamen Ministerratssitzungen. So forderte Montecuccoli, Mehrkosten zur Beschleunigung von Schiffsbauten in das reguläre Budget für 1910 aufzuneh¬ men, „weil seiner Meinung nach die Anforderungen für Schiffsneubauten in den Voranschlag gehören. In den Budgets müsse hiefür vorgesorgt werden." Hinge¬ gen bestand Sändor Wekerle darauf, nur die normalen Baukosten im Budget auf¬ zunehmen, die durch die Beschleunigung entstehenden Mehrkosten hingegen durch Kreditoperationen zu finanzieren, weil „infolge seiner Initiative im Mari¬ nebudget 20 Millionen für Neubauten ausgewiesen sind, das macht in 30 Jahren 600 Millionen, entsprechend dem Werte unserer Flotte, so daß in dieser Zeit jedes Schiff ersetzt sein könne. Die jetzt mehr geforderten 18 Millionen für Beschleu¬ nigung des Baues könnten aber ganz gut in den außerordentlichen Kredit übertra¬ gen werden."5 Generell kann gesagt werden, daß in die Kredite hohe einmalige Extraausgaben aufgenommen wurden, wie teure Schiffsbauten oder Neubewaff¬ nung der Artillerie. Diese Kredite erstreckten sich über mehrjährige Zeiträume, wie z. B. der 145-Millionen Kredit zur Modernisierung der Artillerie, der über elf Jahre, 1904 bis 1914, verteilt wurde. Auch wenn der gemeinsame Ministerrat die gesamte Höhe und die Jahresraten für die ganze Zeit der Inanspruchnahme fest¬ legte, bewilligten die Delegationen nur die Raten für das entsprechende Jahr. Ein weiterer Beschluß der Delegationen bezog sich aufNachtragsforderungen für das - in der Regel - gerade laufende Budget. Zuletzt wurden die Rechnungsabschlüs¬ se einschließlich der Budgetüberschreitungen bewilligt. GMR. v. 14. und 18. 9. 1909, GMCPZ. 473. || || Einleitung 55 Die Budgetverhandlungen Am Beginn der Ermittlung des gemeinsamen Budgets standen die Verhandlun¬ gen innerhalb jedes gemeinsamen Ministeriums über ihre Erfordernisse für das kommende Jahr. Der Kriegsminister war für die Forderungen und für die Geba¬ rung des gesamten Militärbudgets verantwortlich, vertrat aber im gemeinsamen Ministerrat und in den Delegationen nur die Forderungen des Heeres, während die Marinesektion des Kriegsministeriums den Kostenvoranschlag der Marine erarbeitete und der Chef der Marinesektion diesen begründete. Beide Forderun¬ gen wurden nur dadurch zusammengehalten, daß sie die Teile A (Heer) und B (Marine) der Forderungen des Kriegsministeriums bildeten. Ansonsten wurden sie vollkommen getrennt behandelt und auch formal nicht addiert. Es wurde also keine Gesamtsumme des Kriegsministeriums ermittelt. Nach Fertigstellung der Forderungen wurden die Daten den anderen gemeinsamen Ministem und beiden Regierungen mitgeteilt. Waren besondere Schwierigkeiten durch beide Regiemn- gen zu erwarten, besprachen sich die gemeinsamen Minister zunächst intern, um sich gegebenenfalls gegenüber den beiden Regierungen abzustimmen. Diese Treffen fanden seit der Amtsübernahme durch Aehrenthal nicht mehr im Rahmen des gemeinsamen Ministerrates statt, sondern auf besonderen Konferenzen. Es folgte die Festlegung des gemeinsamen Voranschlages im gemeinsamen Mini¬ sterrat durch die gemeinsamen Minister, beide Ministerpräsidenten und die bei¬ den Finanzminister. Diese Einigung kam nicht durch einen Mehrheitsbeschluß, sondern nur durch die Zustimmung aller beteiligten Faktoren zustande. Die Behandlung im gemeinsamen Ministerrat gliederte sich regelmäßig in drei Phasen: Zu Beginn informierte der Außenminister ausführlich über die momen¬ tane außenpolitische Lage, danach kam es zur Behandlung der fünfVoranschlags¬ entwürfe -- Außenministerium, Heer, Marine, gemeinsames Finanzministerium und gemeinsamer Oberster Rechnungshof. Nach erfolgter Einigung wurde der Termin fixiert, an dem beide Delegationen zusammentreten sollten.6 Die Delega¬ tionsberatungen selbst kamen in der Periode 1908 bis 1914 mit Ausnahme der Sitzung des gemeinsamen Ministerrates vom 14. September 1912, GMKPZ. 495, nicht zur Sprache. Mit Vortrag des Außenministers wurde der Monarch um die Einberufüng der Delegationen zum vereinbarten Termin gebeten. Die Einberu¬ fung selbst erfolgte mittels Handschreiben an den Außenminister und an beide Ministerpräsidenten. Beide Parlamente wählten darauf aus ihrer Mitte je eine 60-köpfige Delegation, wobei beide gewählten Kammern je 40, die beiden Ober¬ häuser je 20 Mitglieder bestimmten. Diese Aufteilung, wie die genaue Fixierung auf 60 Mitglieder, war nur in Cisleithanien gesetzlich geregelt, Ungarn folgte nur diesen Bestimmungen. In ihrer Delegation stellten alle 60 Mitglieder zusammen Diese Reihenfolge wurde aber keinesfalls immer eingehalten. So wurde das Budgetfär das Jahr 1911 infünfSitzungen beraten. Die Einberufung der Delegationen kam zu Beginn der zweiten Sitzung zur Sprache, GMR. v. 22. 9. 1910, GMCPZ. 481. || || 56 Einleitung eine Einheit dar, d. h. eine Kammerzugehörigkeit gab es nicht. Der beschlossene Voranschlag wurde mit Vortrag der gemeinsamen Regierung dem Monarchen un¬ terbreitet und nach der (Vor-)Sanktion Franz Josephs den Delegationen vorge¬ legt. Nach diesem Prozedere traten die Delegationen zusammen, abwechselnd in Wien oder Budapest, sie tagten aber getrennt. In der ersten Sitzung hielt der Au¬ ßenminister in jeder Delegation sein Expose über die außenpolitische Lage, dann konstituierte sich jede Delegation, sie wählten die Mitglieder der verschiedenen Ausschüsse, und der gemeinsame Voranschlag wurde ihnen vorgelegt. Der näch¬ ste Programmpunkt war der feierliche Empfang jeder Delegation beim Monar¬ chen. Es folgte die Beratung des Voranschlages in den Ausschüssen; dabei stan¬ den die Ausschüsse nur informell im Kontakt mit den entsprechenden Mitgliedern der anderen Delegation. Schließlich legten die Ausschüsse ihre Voten dem Ple¬ num ihrer Delegation zur Beratung vor. Die Beschlüsse wurden der anderen De¬ legation schriftlich als sogenanntes Nuntium mitgeteilt. Diese beriet dann über bestehende Differenzen und teilte ihrerseits ihren Entschluß mit. Wenn nach drei Nuntienwechseln immer noch Differenzen bestanden, sollte es zu einer gemein¬ samen Sitzung beider Delegationen kommen, in der allerdings nicht verhandelt, sondern nur abgestimmt wurde. Die letzte gemeinsame Abstimmung erfolgte am 26. April 1882. Danach wurden Einigungen oft durch das informelle Zusammen¬ treten beider sogenannten Nuntienkommissionen erzielt.7 Nachdem beide Dele¬ gationen gleiche Budgetbeschlüsse gefaßt hatten, legte der Außenminister diese dem Monarchen vor, der beide getrennten Beschlüsse gemeinsam mit einer Sank¬ tion annahm. Weil die gemeinsamen Minister ihre Forderungen schon im Vorfeld über die Einbeziehung beider Ministerpräsidenten (und der beiden Finanzmini¬ ster) mit den Interessen beider Teile der Monarchie koordiniert hatten, wurde der Voranschlag von den Delegationen stets unverändert votiert. Allerdings konnte die eine oder die andere Delegation Anträge in gemeinsamen Angelegenheiten stellen. Diese waren aber keine Anträge beider Delegationen zusammen, sondern wurden von jeder Delegation separat vorgebracht. Teilweise fanden sie dann Ein¬ gang in die folgenden Voranschläge und wurden auch so motiviert. Franz Freiherr v. Schönaich begründete 1908 den erhöhten Posten für Mannschaftslöhnungen in seinem Voranschlag: „Die Erhöhung der Löhnung sei durch den Antrag Steiner angeregt worden. Die Kriegsverwaltung habe sofort auf die Verbesserung der Kost hingewiesen, doch die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten hätten ausdrücklich verlangt, daß der Mann die Erhöhung - fünfh täglich - auf die Hand bekommen [soll]. Es war also eine Art von Zwangslage geschaffen, gegen die seitens der Kriegsverwaltung schwer opponiert werden könne."8 Anders als in Cisleithanien wurden die Delegationen nicht als Parlament, son¬ dern als Ausschüsse ihrer entsendenden Parlamente verstanden. Daher besaß die Somogyi, Delegation als Verbindungsinstitution 1136. GMR. v. 17. und 21. 5. 1908, GMCPZ. 466. || || Einleitung 57 ungarische Delegation auch kein Gesetzgebungsrecht, weil das nur dem Parla¬ ment, nicht aber seinen Ausschüssen zukam. Da aber beide Delegationen nur gemeinsam entscheiden konnten, fällten sie nur Beschlüsse und verabschiedeten keine Gesetze. So wurde das gemeinsame Budget auch nie in einem Gesetzblatt, sondern nur - auf Veranlassung der cisleithanischen und der ungarischen Regie- mng - in den amtlichen Zeitungen veröffentlicht, der „Wiener Zeitung" und im „Budapesti Közlöny".9 Neben dem Budget selbst konnten daher auch Folgerege¬ lungen nicht als gemeinsames Gesetz in Kraft treten. So wurde mit der Zirkular¬ verordnung des Kriegsministeriums vom 26. November 1910 die Erhöhung der Mannschaftslöhnung ab 1. Dezember 1910 „auf Grund der von Seiner k. u. k. Apostolischen Majestät mit der Allerhöchsten Entschließung vom 22. November 1910 sanktionierten Delegationsbeschlüsse [also dem gemeinsamen Budget] für das Jahr 1910" verfügt.10 Die im Budget bereitgestellten Mittel bestimmten also die Höhe der Löhnung, und nicht umgekehrt die Höhe der Löhnung die im Bud¬ get bereitzustellenden Mittel.11 Nur über das ungarische und das cisleithanische Finanzgesetz fand das ge¬ meinsame Budget als Beitragsanteil zu den gemeinsamen Ausgaben in den Ge¬ setzblättern Cisleithaniens und Ungarns seinen Niederschlag. Doch bestand eine Differenz zwischen Cisleithanien und Ungarn. Während das cisleithanische Fi¬ nanzgesetz seine Zolleinnahmen sowohl bei den Einnahmen verbuchte, als auch als gemeinsame Ausgabe wieder abzog, tauchten die ungarischen Zolleinnahmen im ungarischen Finanzgesetz überhaupt nicht auf. Höhe des gemeinsamen Budgets Die Höhe der Rüstungsausgaben Österreich-Ungams ist häufig untersucht und mit den Daten anderer europäischer Staaten verglichen worden.12 Auf Grund des uneinheitlichen Charakters des gemeinsamen Budgets und weil die Rüstungsaus¬ gaben für die Landwehren beider Teile der Monarchie und die Kosten der bos- nisch-herzegowinischen Truppen auch berücksichtigt werden müssen, kommt es bei den Angaben in der Literatur zu Abweichungen. Es gilt zu unterscheiden zwi- Olechowski-Hrdlicka Karin, Die gemeinsamen Angelegenheiten der Österreichisch-Unga¬ rischen Monarchie (Frankfurt am Main-Berlin-Bem-Bruxelles-New York-Oxford-Wien 2001)412. Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer, Normalverordnungen 1910, Nr. 227/1910. Zur Problematik und der Entscheidung 1870, die Pensionsregelung der gemeinsamen zivilen Beamten und Militärangestellten durch beide Parlamente gesetzlich zu regeln siehe Somo- gyi, Delegation als Verbindungsinstitution 1145. Siehe z. B. Wagner, Die k. (u.) k. Armee - Gliederung und Aufgabenstellung 587-591 sowie Kronenbitter Günther, „Krieg im Frieden", Die Führung der k. u. k. Armee und die Gro߬ machtpolitik Österreich-Ungams 1906-1914 (= Studien zur internationalen Geschichte 13, München 2003) 145-149. || || 58 Einleitung sehen dem gesamten gemeinsamen Budget, das in den Beschlüssen der Delega¬ tionen festgestellt wurde und den gesamten Rüstungsausgaben, für die auch die Budgets Cisleithaniens, Ungarns und Bosnien-Herzegowinas herangezogen wer¬ den müssen. Das aus den laufenden Einnahmen zu finanzierende Budget steigerte sich von 423 Millionen Kronen für das Jahr 1910 auf 568 Millionen für das Verwaltungs¬ jahr 1914/15. Der Anteil von gemeinsamem Heer und Kriegsmarine belief sich auf über 95 %. Die Kosten des gemeinsamen Heeres stiegen von ca. 340 auf 470 Millionen, jene der Kriegsmarine von 67 auf 76 Millionen Kronen. Der Bedarf des Außenministeriums stieg von 15 auf 19, der des gemeinsamen Finanzministe¬ riums von 4,6 auf 5 Millionen Kronen. Zu diesem Budget kamen noch die über Kreditoperationen zu deckenden gemeinsamen Ausgaben hinzu. Die Marine konnte von 1910 bis 1913 jährlich über Kredite zwischen 50 und 70 Millionen Kronen für den Bau von Kriegsschiffen verfügen, ab 1914 sollten diese auf 100 Millionen Kronen erhöht werden. War ein Bauprojekt abgeschlossen, folgte das nächste. Beim gemeinsamen Heer schwankte die Höhe der Rüstungskredite be¬ trächtlich. Das Kriegsministerium kam mit den Summen meist nicht aus, auf die es sich langfristig gegenüber beiden Regierungen gebunden hatte. Von 1904 bis 1914 nahm die Armee einen 145-Millionenkredit zur Beseitigung der Rückstän¬ digkeiten der Artillerie in Anspruch. 1911 bis 1913 erhielt das Heer jährlich 20 bzw. 19-Millionenkredite zur Durchführung der Wehrreform. Infolge der Balkan¬ kriege wurde ein 125-Millionenkredit für die Zeit 1912/13 bis 1915 als erste Hälfte einer 250-Millionenanforderung des Heeres bewilligt, erneut zum Gro߬ teil für den Ausbau der Artillerie. Zu den Budgets 1909 bis 1911 beantragte das Militär keine Nachtragsforderungen; der Ministerrat hatte sich darauf geeinigt, in einem festgelegten Rahmen einfach das Budget zu überschreiten. 1908,1912 und 1913 benötigte das Kriegsministerium Nachtragskredite, bedingt durch die Arme¬ xionskrise bzw. die Balkankriege. Aber auch in diesen Jahren gab es deutliche Budgetüberschreitungen. Nimmt man das Jahr 1911, so betrug das gemeinsame Ordinarium und Extraordinarium ca. 449 Millionen, dazu 13 Millionen als außer¬ ordentliches Heereserfordemis für Bosnien-Herzegowina, an Krediten weitere 79 Millionen Kronen, an Nachtragskrediten 0,8 Millionen für das Außenministeri¬ um. 1914 wurde für 1911 eine Budgetüberschreitung des Kriegsministeriums al¬ lein an Naturalverpflegung für das Heer von 8 Millionen Kronen festgestellt. In Summe wurden also 1911 540 Millionen ausgegeben. Diesen Ausgaben für 1911 von 540 Millionen Kronen standen an präliminier- ten Zolleinnahmen ca. 171 Millionen entgegen, so daß 369 Millionen Kronen durch beide Teile der Monarchie entsprechend der Quote zu decken waren, also Cisleithanien 235 und Ungarn 134 Millionen Kronen aufzubringen hatten. In die¬ sem Jahr veranschlagte Cisleithanien seine Einnahmen und Ausgaben (abzüglich der Zolleinnahmen) auf 2,7 Milliarden Kronen, Ungarn bezifferte Einnahmen und Ausgaben mit 1,7 Milliarden. Der Anteil der gemeinsamen Ausgaben machte also in beiden Teilen der Monarchie 1911 unter 10 % ihrer Budgets aus. Aller- || || Einleitung 59 dings war das Jahr 1911 mit relativ geringen Kreditsummen belastet. Mit dem Ausbruch der Balkankriege 1912 begann besonders das Heeresbudget rasant zu steigen. Die im gemeinsamen Budget enthaltenen Militärausgaben umfaßten nicht die gesamten Rüstungsausgaben Österreich-Ungams. Wesentliche Bestand¬ teile der „bewaffneten Macht" waren die Landwehren beider Teile der Monar¬ chie. Ihre Ausgaben bildeten keinen Bestandteil des gemeinsamen Budgets, ge¬ nausowenig, wie es die Truppen aus Bosnien-Herzegowina waren. 1911 betrugen die Kosten der ungarischen Landwehr (Honved) ca. 61 Millionen,13 während Cis- leithanien in dem Finanzgesetzentwurf für 1911 die Ausgaben des Landesvertei¬ digungsministeriums mit 97 Millionen Kronen auswies, das allerdings 28 Millio¬ nen Gendarmerieausgaben enthielt, womit knapp 70 Millionen auf die Landwehr entfielen.14 Insgesamt standen daher 1911 beiden Landwehren 131 Millionen Kronen zur Verfügung, wobei die Aufrüstung nach Beginn der Balkankriege we¬ sentlich forciert und damit die Kosten erhöht wurden.15 Inklusive diverser Kredite betrug 1911 das Budget der gemeinsamen Armee 412, der Marine 124,16 der k. k. Landwehr 70, der ungarischen Landwehr 61 und der bosnisch-herzegowinischen Truppen sieben,17 zusammen daher 674 Millio¬ nen Kronen. Bezogen auf die Budgets der Monarchie mit 2,7 Milliarden für Cis- leithanien, 1,7 Milliarden für Ungarn, 79 Millionen für Bosnien-Herzegowina, 10 Millionen Einnahmen der gemeinsamen Ministerien und einem präliminierten Zollgefälle von 172 Millionen, zusammen rund 4660 Millionen Kronen machten die Militärausgaben 1911 mnd 14,5 % aller Budgets der Monarchie aus. Budgetdiskussionen im gemeinsamen Ministerrat Der gemeinsame Voranschlag bestand zu über 95 % aus Forderungen des Mili¬ tärs. Es ist daher kaum verwunderlich, daß die Diskussion über Heeres- und Ma¬ rineausgaben die Beratungen im gemeinsamen Ministerrat dominierte. Doch wurden auch die Voranschläge des Außen-, des gemeinsamen Finanzministers 13 Über das Staatsbudget für das Jahr 1911, GA. XIV/1911. 14 Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Hauses der Abgeordneten des öster¬ reichischen Reichsrates im Jahre 1911, XXL Session, Nr. 12. 15 Siehe u. a. Ministerbesprechung v. 18. 11. 1912, aufgenommen als ergänzendes Protokoll anderer Provenienz VII dieses Bandes. Da es sich bei dem gemeinsamen Heer und der Kriegsmarine um sogenannte Bruttobudgets handelt, wurde hier nicht die Endsumme, sondern die Summe vorAbzug der eigenen Einnah¬ men verwendet, beim Heer erhöht sich die Summe um 8,1 Millionen und bei der Marine um 400.000 Kronen. 17 Das bosnisch-herzegowinische Budgetfür 1911 in HHStA., Kab. Kanzlei, KZ. 2035/1911. Diese Summe bezieht sich allerdings nur aufdie reinen Aufwendungen der Truppen, nicht, wie in den anderen Fällen, auch aufdie Verwaltungskosten, da das Militär unter die inneren Agendenfiel und deren Verwaltungskosten nur gesamt ausgewiesen sind. || || 60 Einleitung und des gemeinsamen Obersten Rechnungshofes - meist sehr kurz - besprochen. Die Verhandlungen fanden immer zwischen beiden Regierungen einerseits - ver¬ treten durch die Ministerpräsidenten und Finanzminister - und dem jeweiligen gemeinsamen Minister, bzw. dem Chef der Marinesektion andererseits statt. Die vom gemeinsamen Finanzministerium veranschlagten Ausgaben für das eigene Ministerium und den gemeinsamen Obersten Rechnungshof-jedes Jahr um die 5 Millionen Kronen - wurden regelmäßig in voller Höhe akzeptiert. Im Budget für 1913 wurde lediglich die Forderung Bilihskis nach einer Erhöhung der Personalzulage für den Präsidenten des gemeinsamen Obersten Rechnungs¬ hofes um 10 000 Kronen vom Ministerrat nicht dem Präsidentenamt an sich, sondern nur dem Präsidenten „ad personam" gewährt. Außerdem hielten beide Regierungen Bilihski an, Beförderungen auf das Maß der anderen gemeinsamen Ministerien zu reduzieren.18 Im Budget 1914/15 wurde eine Lohnerhöhung für die Diener nicht angenommen, was den Voranschlag geringfügig reduzierte.19 Etwas mehr wurde um den Voranschlag des Außenministers gerungen, der sich von 14 Millionen Kronen 1909 auf 19 Millionen 1914/15 steigerte, doch wurden Differenzen meist schon in den Vorverhandlungen bereinigt. So teilte Aehrenthal im gemeinsamen Ministerrat lediglich mit, daß er auf die Errichtung von Missio¬ nen in Siam und Abessinien für 1911 verzichte, bekam aber gleichzeitig von bei¬ den Regierungen die Gelder für 1912 zugesagt.20 Direkte Auseinandersetzungen im Ministerrat gab es beim Voranschlag für 1909, als der cisleithanische Finanz¬ minister Withold Ritter v. Korytowski die Budgetsteigerung des Außenministeri¬ ums vergeblich von 400 000 auf 350 000 Kronen zu reduzieren versuchte.21 Ebenso beim Voranschlag für 1914/15, als Berchtold das Verlangen Tiszas nicht hinnehmen wollte, Erhöhungen der Funktionszulagen bei Konsularbeamten in einer Gesamthöhe von ca. 100 000 Kronen aus dem Voranschlag zu streichen. „Wenn ihm im Konsularetat Schwierigkeiten gemacht werden", meinte Berchtold, so könne er „die Verantwortung weder fürjetztnoch für die Zukunftübernehmen".22 Zweimal kam auch der sogenannte Dispositionsfonds zur Sprache, also die Gel¬ der, mit denen Spionagetätigkeiten finanziert wurden. Er lief über das Budget des Außenministeriums, wurde aber zum Teil weitergeleitet. So erhielt das Kriegsmi¬ nisterium bis 1910 150 000 der jährlichen 1,5 Millionen Kronen, aber auch die ungarische Regierung bekam 100 000 Kronen. Cisleithanien hatte seinen Anteil seit 1901 nicht mehr in Anspruch genommen. Nach der Annexionskrise sollte dieser Dispositionsfonds im Voranschlag für 1910 zugunsten der Heeresspionage vermehrt werden. Um dies zu verhindern, verzichtete Wekerle auf den ungari¬ schen Anteil, so daß dem Kriegsministerium 250 000 Kronen gegeben werden 18 GMR. V. 8. und 9. 7. 1912, GMKPZ. 494. 19 GMR. v. 14. 12. 1913, GMKPZ. 510. 20 GMR. v. 17. 5. 1910, GMCPZ. 480. 21 GMR. v. 30. 4. 1908, GMCPZ. 465. 22 GMR. v. 14. 12. 1913, GMKPZ. 510. || || Einleitung 61 konnten. Im Budget für 1913 wurde der Dispositionsfonds auf 2 Millionen Kro¬ nen erhöht, von denen die Militärverwaltung eine halbe Million erhielt.23 Die Hauptdiskussion drehte sich um den Heeres- und den Marinevoranschlag. Dabei liefen zwei Verhandlungen faktisch parallel, die Heeresausgaben mit dem Budget der Marine und die Kostenbewilligung für den Kriegschiffsbau. Sieht man zunächst vom Schiffsbau ab, so können die Verhandlungen generell in drei Phasen eingeteilt werden: die Zeit ohne Pakt (Voranschläge 1909 und 1910); die Phase des Schönaichschen Paktes (Voranschläge 1911 bis 1913); die vorzeitige Aufhe¬ bung des Schönaichschen Paktes mit der Annahme der „außerordentlichen Nach¬ tragsforderungen für Heer und Marine" nach Ausbruch der Balkankriege 1912. In der ersten Phase erarbeiteten Kriegsministerium und Marinesektion ihre Vöran- schlagsentwürfe, ohne an Absprachen mit beiden Regierungen gebunden zu sein. Die Diskussionen kreisten um das Ausmaß der Budgetsteigerungen: für 1909 for¬ derte das Heer um 19 Millionen Kronen mehr, als im Vorjahr bewilligt worden waren, 1910 waren es neben einem zusätzlichen Kredit von 163 Millionen Kro¬ nen für die Kosten der Annexionskrise Mehrforderungen von 60 Millionen. Die Ausgabensteigerungen im Voranschlag konnten die Ministerpräsidenten und Fi¬ nanzminister beider Regierungen nicht akzeptieren. Im gemeinsamen Ministerrat wurden die Mehranforderungen 1909 auf 16 und 1910 auf 17 Millionen reduziert. Allerdings wurden ca. 21 Millionen der gestrichenen Mehranforderungen auf den wegen der Annexionskrise anfallenden 163-Millionenkredit übertragen, der sich auf 184 Millionen Kronen erhöhte. Der Kriegsminister konnte letztlich 38 der geforderten 60 Millionen Mehrforderungen durchsetzen. Weitere 15 Millionen wurden Schönaich für das kommende Budget 1911 zusätzlich zugesagt. Ein wesentlicher Punkt der Budgetsteigerung für 1910 waren die sogenannten Sanierungen. Bei der Erstellung des Voranschlages wurden jedesmal einzelne Ausgabeposten mit zu geringen Geldmitteln veranschlagt, so daß das bewilligte Budget ständig überschritten werden mußte. Dieses Geld wurde dann über einen Nachtragskredit aufgebracht, oder es wurde einfach mehr Geld als bewilligt aus¬ gegeben. Diese Überschreitungen kamen in den Jahresschlußberichten des ge¬ meinsamen Obersten Rechnungshofes drei Jahre später vor die Delegationen. Schönaich meinte dazu am 14. September 1909: „Insbesondere liegen ihm die Sanierungsposten am Herzen, denn 24 Millionen Überschreitungen in der Schlu߬ rechnungskommission zu vertreten, werde von Jahr zu Jahr schwerer."24 Der wichtigste unterdotierte Ausgabeposten war die Naturalverpflegung, die jährlich 15 Millionen Kronen der Überschreitungen verursachte. Grund waren veraltete, viel zu niedrig bemessene Preise, mit denen das Kriegsministerium operierte. Um aber Nachtragskredite oder Budgetüberschreitungen zu verhindern, mußten die tatsächlichen, höheren Kosten im Budget eingestellt werden, und weil man sie 23 GMR. v. 14. und 18. 9. 1909, GMCPZ. 473 und GMR. v. 8. und 9. 7. 1912, GMKPZ. 494. Siehe auch Kronenbitter, „Krieg im Frieden" 243 f. 24 GMR. v. 14. und 18. 9. 1909, GMCPZ. 473. || || 62 Einleitung nicht durch Streichung anderer Ausgaben kompensieren konnte, bedingte dies eine zusätzliche Erhöhung des Budgets. Doch Wekerle wollte keine zu großen sichtbaren direkten Budgeterhöhungen. Er meinte: „daß wohl der von diesen Zentralstellen festgelegte Durchschnitt für Hafer usw. jetzt bei den hohen Preisen nicht zutreffe", doch mit Budgetüberschreitungen „könne man es auch in Hin¬ kunft tun".25 1911 sollte direkt mit der „Ausgestaltung der Wehrmacht" begonnen werden. Dahinter verbargen sich zwei sehr kostenintensive Vorhaben der Heeresumge¬ staltung: eine Wehrreform, mit der das Rekrutenkontingent erhöht werden sollte, und die Modernisierung der Artillerie. Da es sich um ein zehnjähriges Projekt handelte, benötigte das Kriegsministerium eine mehrjährige Zusicherung beider Regierungen. Aber auch beide Regierungen mußten wissen, welche Forderungen auf sie in den nächsten Jahren zukamen, um diese Mehrausgaben einplanen zu können. Daher standen die Beratungen des Voranschlages für 1911 ganz im Zei¬ chen eines langfristigen Programms zum Ausbau von Heer und Marine. In der gemeinsamen Ministerratssitzung vom 6. Jänner 1911 kam dann die Einigung im sogenannten „Schönaichschen Pakt" zustande, der die Forderungen des Kriegs¬ ministeriums für die nächsten fünf Jahre fixierte. Der Schönaichsche Pakt bezog sich auch auf die Budgetsteigerungen der Marine, ausgenommen die Schiffsbau- ten. Der Pakt sah eine Steigerung des Budgets von Herr und Marine von jährlich ungefähr 20 Millionen Kronen vor, demnach insgesamt bis 1915 um 100 Millio¬ nen. Damit sollten auch die Sanierungen finanziert zu werden, also die chroni¬ schen Unterdotierungen ein Ende finden. Zusätzlich wurde ein 100-Millionen Kredit in fünf Jahresraten zugesagt. Der Pakt stellte einen Kompromiß zwischen den gesamten Anforderungen von Heer und Marine und den finanziellen Mög¬ lichkeiten beider Teile der Monarchie dar. Cisleithanien und Ungarn sahen sich außerstande, das Geld sowohl für die Wehrreform, als auch für den Ausbau der Artillerie aufzubringen. Daher sah der Kompromiß vom 6. Jänner 1911 vor, in den nächsten fünf Jahren primär die Wehrreform durchzufuhren, um erst danach an den Ausbau der Artillerie - und anderer Modernisierungen - zu schreiten. Da dem Heer mit dem Schönaichschen Pakt bis 1915 um 250 Millionen weniger zugestanden wurden als das, was der Chef des Generalstabes Conrad als Mini¬ mum ansah, reichte er postwendend seinen Rücktritt ein. Franz Joseph lehnte den Rücktritt ab und gab Conrad nur die Gelegenheit, seine Position im gemeinsamen Ministerrat vorzutragen.26 An dem Pakt und den finanziellen Abmachungen än¬ derte das nichts. Die Diskussionen um die Voranschläge 1912 und 1913 kreisten um zwei Hauptprobleme: um die Verteilung der zugestandenen Erhöhungen auf Heer und Marine und um die Einhaltung des Paktes durch das Kriegsministerium. Der Chef der Marinesektion vertrat die Forderungen der Marine separat, verantwortlich 25 Ebd. 26 GMR. v. 5. 3. 1911 GMKPZ. 486. || || Einleitung 63 war jedoch der Kriegsminister. Somit war er es, der die Budgeterhöhungen auf Marine und Heer verteilte. 1911 hatte Montecuccoli jährliche Steigerungen des Marinebudgets um sechseinhalb Millionen Kronen als notwendig bezeichnet, mit dem Pakt hatte Schönaich der Marine zunächst viereinhalb Millionen zugesagt, um sie dann auf eine jährliche Steigerung von eineinhalb Millionen zu reduzie¬ ren. Daraufhin versuchte Montecuccoli seine Forderungen außerhalb des Schö- naichschen Paktes durchzusetzen. Dies wurde aber von beiden Regierungen ka¬ tegorisch abgelehnt. Sie hatten dem Heer und der Marine zusammen fixe Steigerungen zugesagt, die interne Verteilung sei eine Angelegenheit des Kriegs¬ ministeriums. Über den Pakt hinaus könne nichts bewilligt werden. Beim Voran¬ schlag für 1912 trat Kriegsminister Auffenberg weitere zwei Millionen an Mon¬ tecuccoli ab, nachdem dieser im Ministerrat mit seiner Demission gedroht hatte.27 Als Auffenberg für 1913 der Marine erneut nur eine Steigerung um eineinhalb Millionen Kronen zugestand, wiederholte Montecuccoli seinen Versuch, zusätz¬ liche Gelder außerhalb des Paktes zu erhalten. Auch diesmal verweigerten beide Regierungen jegliche Überschreitung der Abmachung von 1911.28 Ein anderes Problem war, daß der Nachfolger Schönaichs, Auffenberg, nicht bereit war, sich an den Rahmen des Paktes zu halten. Schon im Voranschlag für 1912 beantragte er einen zusätzlichen Kredit für Artillerie, Befestigungen und Flugzeuge, der aber von beiden Regierungen abgelehnt wurde.29 Für 1913 wie¬ derholte Auffenberg seine Forderung nach einem zusätzlichen Kredit, nun bezif¬ fert mit 250 Millionen Kronen.30 Auch wenn er erneut am unbedingten Veto Un¬ garns scheiterte, zeigten beide Regierungen anderen zusätzlichen Forderungen ein gewisses Entgegenkommen, indem dem Kriegsministerium verschleiert vier Millionen Kronen über den Pakt hinaus zugestanden wurden. Auf ungarischen Wunsch wurden die präliminierten Zolleirmahmen um vier Millionen herabge¬ setzt und gleichzeitig dem Kriegsministerium zugestanden, das Ordinarium um eben diese vier Millionen zu überschreiten: „Der Zweck dieser Bestimmung ist eine rein budgetäre Maßregel. Da nämlich der Zollgefällsüberschuß faktisch um 4 Millionen höher sein dürfte, so erscheint für die Bedeckung der ad b) erwähnten Überschreitung [des Kriegsministeriums] vorgesorgt."31 Damit entsprach der Voranschlag zwar ziffernmäßig den Paktbedingungen, faktisch hatte man aber die Ausgaben des Heeres um weitere vier Millionen erhöht. Angesichts des Ausbruchs der Balkankriege unternahm Auffenberg einen drit¬ ten Anlauf für den 250-Millionenkredit, diesmal als außerordentliche Nachtrags¬ forderung. Nun hatte er Erfolg. Seine Forderung nach dem 250-Millionenkredit, verteilt auf sechs Jahre, wurde als Kredit in Höhe von 125 Millionen Kronen, 27 GMR. v. 6. 12. 1911, GMKPZ. 490. 28 GMR. v. 8. und 9. 7. 1912, GMKPZ. 494. 29 GMR. v. 6. 12. 1911, GMKPZ 490. 30 GMR. v. 8. und 9. 7. 1912, GMKPZ. 494. 31 Ebd. || || 64 Einleitung verteilt auf drei Jahre - 1912/13 bis 1915 angenommen, mit der Zusicherung, einen Folgekredit ab 1916 einstellen zu können, erneut 125 Millionen verteilt auf drei Jahre.32 Daß damit der Schönaichsche Pakt gänzlich beseitigt worden war, zeigte sich schon im Ordinarium des Heeres für das erste Halbjahr 1914 und für 1914/15. Der 125-Millionenkredit hätte nämlich keine Auswirkungen auf das Or¬ dinarium des Heeres gehabt; nach den Bestimmungen des Paktes sollte der or¬ dentliche Militäretat von Heer und Marine zusammen um „nur" 20 Millionen pro Jahr - also 10 Millionen für ein Halbjahr - steigen. Während aber das Heeresbud¬ get im Ordinarium 1913 noch 394 Millionen Kronen betragen hatte, belief es sich für das erste Halbjahr 1914 auf 234 Millionen und für 1914/15 auf465 Millionen. Allein das Ordinarium des Heeres stieg also in eineinhalb Jahren statt um 30 um über 60 Millionen Kronen. Zusätzlich zeigte sich auch, daß alle bis 1912 vorge¬ brachten Bedenken, die Kriegsrüstung dürfe nicht die finanziellen Grundlagen gefährden, gefallen waren. Denn in der Besprechung des Budgets 1914/15 einig¬ te man sich auf Wunsch des ungarischen Finanzministers Jänos Teleszky darauf, die präliminierten Zolleinnahmen heraufzusetzen „bis zur Grenze der Realität, wenigstens aber soweit [...], daß die Heeressanierungen gedeckt erscheinen."33 Man ging also den umgekehrten Weg, wie beim Budget 1913. Da wurden die erwarteten Zolleinnahmen herabgesetzt. Damit sollten zwar zusätzliche Ausga¬ ben des Heeres verschleiert werden, aber finanziell war für sie vorgesorgt. Im Budget 1914/15 diente die Manipulation mit den Zolleinnahmen nicht der Höhe der Militärausgaben, sondern der fehlenden Bedeckung. Denn das, was an Zol¬ leinnahmen nicht aufgebracht werden konnte, mußte über die Quote von beiden Teilen der Monarchie abgedeckt werden, und diese Summe war ja für 1914/15 entsprechend zu niedrig bemessen worden, d. h. sie wurde faktisch budgetär nicht eingeplant. Zudem führte das Kriegsministerium die Sanierungen des Budgets nur teilweise durch. So wies die Schlußrechnung für das Jahr 1911 zwar nur mehr einen Betrag von acht Millionen Kronen über den bewilligten Geldern für Natu¬ ralverpflegung aus, statt zuvor 15 Millionen, doch blieb diese Summe dann ent¬ gegen dem Pakt konstant, statt weiter zu sinken. Zusätzlich stieg das außerordent¬ liche Heereserfordemis für Bosnien-Herzegowina von zuvor ca. 8 Millionen um 5 auf 13 Millionen Kronen in den Budgets 1911 bis 1913 und schnellte auf 18 Millionen im Budget 1914/15 hinauf. In all dem waren die Mehrausgaben für die militärischen Maßnahmen während der Balkankriege noch nicht enthalten. Die für das Budget der ersten Hälfte 1914 zusammengetretenen Delegationen stellten mit dem IX. Beschluß dem Heer für die zusätzlichen Ausgaben 1912 und 1913 einen Kredit von über 316 Millionen und der Kriegsmarine mit dem XIV. Be¬ schluß einen von über 40 Millionen Kronen zur Verfügung,34 oder anders formu- 32 GMR. v. 8. und 9. 10. 1912, GMKPZ. 497. 33 GMR. v. 14. 12. 1913, GMKPZ. 510. 34 Siehe hierzu Stenographische Sitzungs-Protokolle der Delegation des Reichsrates, 48. Session, der Beschluß .üf 1021 ff., der Beschluß XIV 1030 ff. || || Einleitung 65 liert, allein die Mobilisierungskosten 1912/13 machten etwa 7 % der Einnahmen beider Teile der Monarchie im Jahr 1913 aus. Mit dem Ausbruch der Balkankriege gaben also beide Regierungen ihren Plan auf, die Steigerung der Militärausgaben zu begrenzen. Auch schon davor war Auffenberg bemüht, den Pakt zu umgehen, direkt durch die Forderung nach ei¬ nem zusätzlichen Kredit, indirekt, indem er das Geld nicht so verteilte, wie es eigentlich vorgesehen war, womit er neue Überschreitungen produzierte, einge¬ plante Ausgaben auf Folgejahre verschob oder diese gar nicht durchfuhrte. So meinte der ungarische Finanzminister Teleszky in der Diskussion zum Voran¬ schlag 1913: „Schon das Budget 1912 entspricht nicht dem Programm, es sei wohl ziffermäßig richtig, nicht aber inhaltlich."35 Schönaichscher Pakt und Aus- gabenplanüng des Kriegsministeriums liefen ab 1912 zusehends auseinander, bis der Pakt wegen der Balkankriege faktisch aufgehoben wurde. Neben den Forderungen des Heeres und denen der Marine zum Unterhalt der Flotte gab es als einen weiteren großen Ausgabeposten für das Militär die Schiffs- baukosten.36 Die Marine war bestrebt, ältere Schlachtschiffe möglichst schnell durch neuere zu ersetzen. Das Außenministerium sah in einer kampfkräftigen Flotte eine gute Gelegenheit, Italien im Dreibund zu halten, ohne große politische Zugeständnisse machen zu müssen. Dabei konnte die Flotte sowohl zur Ein¬ schüchterung, als auch zur Unterstützung Italiens dienen. Die beiden Regierun¬ gen betrachteten hingegen den Schiffsbau primär als Kostenfaktor. Somit standen die Interessen der gemeinsamen Regierung denen beider Regierungen diametral entgegen. Für den Schiffsbau waren längere Bauprogramme notwendig, die De¬ legationen konnten aber nur die jährlichen Raten bewilligen. Mit diesen Program¬ men verpflichteten sich beide Regierungen, auch in den Folgejahren der Auftiah- me der vereinbarten Baukosten in die künftigen Voranschläge zuzustimmen und diese gegenüber den Delegationsmitgliedem zu rechtfertigen. Beide Regierungen vertraten die Position, daß erst ein Bauprogramm abgeschlossen sein müsse, be¬ vor Gelder für ein neues beantragt werden könnten. So setzten sie sich dafür ein, daß erst nach Fertigstellung der drei Schlachtschiffe der „Radetzky"-Klasse ein Bauprogramm für neue Schlachtschiffe der „Viribus Unitis"-Klasse den Delega¬ tionen vorgelegt werden könnte und erst nach deren Fertigstellung eines für die Ersatz-„Monarch"-Klasse. Eine andere Auffassung vertrat die Marinesektion. Der Schiffsbau erfolgte in zwei Phasen: zuerst auf dem Stapel, dann, nachdem die Schiffe zu Wasser gelassen worden waren, auf See. Die Marinesektion wollte mit dem Bau neuer Schiffe beginnen, sobald die Stapel leer waren. Es sollte also parallel gearbeitet werden. Dies bedeutete eine Beschleunigung der Bauge¬ schwindigkeit, aber auch eine Intensivierung der Kosten, was von beiden Regie¬ rungen kategorisch abgelehnt wurde. 1910 versuchte die Marinesektion diesen 35 GMX. v. 8. und 9. 6. 1912, GMKPZ. 494. 36 Zur Entwicklung der Flotte vor dem Ersten Weltkrieg siehe Sokol Hans Hugo, Österreich-Ungams Seekrieg 1914-1918 (Zürich-Leipzig-Wien 1933) 19^40. || || 66 Einleitung Widerstand zu brechen. Der Einwand beider Regierungen bezog sich auf den Zeitpunkt der Zahlungsverpflichtung, ihr Interesse lag aber auf dem Zeitpunkt des Baubeginnes. Nur der cisleithanischen und nicht der ungarischen Regierung unterbreitete Montecuccoli den Vorschlag, private Firmen die Schiffe auf eigenes Risiko bauen und eine offizielle Bestellung erst nach Bewilligung der Gelder durch die Delegationen folgen zu lassen. Während Richard Freiherr v. Bienerth eigentlich gar nicht, wenn aber nur mit Ungarn dem frühzeitigen Baubeginn zu¬ stimmen wollte, meinte Bilihski im gemeinsamen Ministerrat vom 18. September 1909: „Man müsse eventuell das Risiko übernehmen ohne Bewilligung".37 In ei¬ ner anscheinend nicht protokollierten Konferenz der gemeinsamen Minister fiel am 6. Oktober 1909 die Entscheidung für den Bau ohne bewilligte Gelder.38 Da¬ nach ließ die Marinesektion private Werften mit dem Bau von zwei Schlacht¬ schiffen beginnen, allerdings auf Risiko der gemeinsamen Regierung und nicht der privaten Firmen, wie es offiziell hieß: „Die hohe gemeinsame Regierung hat die Marineverwaltung ermächtigt, den Bau und die Zurüstung dieser Schiffe [...] gegen Zusicherung seinerzeitiger Übernahme durch die Kriegsmarine, zu begin¬ nen. Der Öffentlichkeit [...] gegenüber müßte jedoch festgehalten werden, daß der Bau dieser Schlachtschiffe seitens der Lieferfirmen aus eigener Initiati¬ ve [...] ausgefuhrt wird."39 Informell wurden zwar beide Regierungen infor- 37 Schreiben Bienerths an Montecuccoli v. 17. 9. 1909, Ka., KM., MS., PK. 1--4/9-3626/1909 und GMR. v. 14. und 18. 9. 1909, GMCPZ. 473. 38 Siehe HHStA., PA. I, CdM., XI/52, CdM. 507/1909 fol. 60r-61v sowie Ramoser Christoph, K. u. k. Schlachtschiffe in der Adria, Österreich-Ungams Tegetthoff-Klasse (Wien 1998) 80. Ramoser gibt neben den gemeinsamen auch die cisleithanischen Minister als Teilnehmer an. Dies geht aber aus den Bemerkungen des Außenministeriums über diese Konferenz nicht hervor, deren Reinschrift im Präsidium der Marinesektion einliegt, auf die Ramoser dabei verweist. Vielmehr ist anzunehmen, daß ausschließlich die drei gemeinsamen Minister und der Chefder Marinesektion anwesend waren. 39 Schreiben (K.) Montecuccolis an die Vertreter des Stabilimento tecnico Triestine, der Witko- witzer Bergbau-undEisenhütten-Gewerkschaft und der Skodawerke AG v. 14.10.1909, Ka., KM., MS., PK. 1-4/9-3896/1909. Man vergleiche den Unterschied der Formulierung der Verpflichtung der Marinesektionfür die Übernahme der Schlachtschiffe. In dem oben ange¬ führten Schreiben hieß es gegen Zusicherung seinerzeitiger Übernahme, während Montecuc¬ coli dem ungarischen Handelsminister Ferenc Kossuth schrieb, die Werften seien bereit zu bauen falls die Kriegsmarine die Uebemahme der Schiffe nach verfassungsmäßiger Bewilli¬ gung der entfallenden Kredite zusichert, Schreiben (K.) Montecuccolis an Kossuth v. 23. 12. 1909, ebd., PK. 1-4/9-4661/1909. Nach verfassungsmäßiger Bewilligung hätte die Frage offen gelassen, o b die Marinesektion die Schiffe überhaupt übernehmen müsse, während die von der Marinesektion benutzte Formulierung ihrer Verpflichtung seinerzeitiger in Wirk¬ lichkeit nur das wann offen ließ. Zum Bau dieser Schiffe siehe auch Gebhard Louis A. jr., Austria-Hungary's Dreadnought Squadron: the Naval Outlay of 1911. In: Austrian History Yearbook, Bd. IV-V (1968-1969) 245-258, hier 254. || || Einleitung 67 miert,40 aber erst im Mai 1910 gaben diese offiziell ihre Zustimmung zum früh¬ zeitigen Baubeginn und zu den dadurch anfallenden Zinsen, erst ab 6. Jänner 1911 konnte die erste Rate eines 312,4 Millionenkredites zum Bau der Schiffe in den Voranschlag 1911 aufgenommen werden und erst am 10. März 1911 sanktio¬ nierte Franz Joseph das gemeinsame Budget für 1911.41 Dieses unkoordinierte Vorgehen bei der Bau- und Finanzierungsplanung war nicht nur ein rechtliches Problem, es hatte auch konkrete finanzielle Folgen: zunächst dadurch, daß die anfängliche Finanzierung des Baues durch die Rüstungsfirmen selbst Zinsen ver¬ ursachte. Zusätzlich wurde für den Bau 1910/11 wesentlich mehr Geld ausgege¬ ben, als dann im Budget 1911 dafür bereitgestellt wurde. Den für 1911 bewillig¬ ten 55 Millionen Kronen standen tatsächliche Baukosten von 82 Millionen gegenüber. Auch dadurch vermehrten sich die Zinsen. Die projektierten Bauko¬ sten eines Schiffes der „Viribus Unitis"-Klasse bezifferte Montecuccoli im Jän¬ ner 1909 mit 50 Millionen - reine Baukosten im September 1909 - mit früh¬ zeitigem Baubeginn der Werften „auf eigenes Risiko" - mit 57 Millionen, der gemeinsame Ministerrat vom 20. November 1910 ging von 60,6 Millionen Kro¬ nen aus.42 Auch wenn die Summe von 50 Millionen möglicherweise nur eine grobe und zu niedrig bemessene Schätzung war, so wird doch die Verteuerung des Baues durch die Zinsen deutlich. Da 1912 wieder Stapel zum Bau von Schlachtschiffen frei wurden, versuchte die Marinesektion erneut mit dem Bau von neuen Schlachtschiffen schon während des laufenden Bauprogramms zu be¬ ginnen. In den Voranschlag für 1913 wollte Montecuccoli die erste Rate für ein Schiff der Ersatz-„Monarch"-Klasse in Höhe von 24 Millionen Kronen aufneh¬ men, was beide Regierungen verweigerten. Als nach Ausbruch der Balkankriege Auffenberg einen 250-Millionenkredit für „außerordentliche Nachtragsforderun¬ gen" des Heeres zur Sprache brachte, schloß sich Montecuccoli mit einem Kre¬ ditantrag über 144 Millionen Kronen für zwei neue Schlachtschiffe an. Auch diesmal lehnten beide Regierungen ab und bewilligten nur die zusätzliche An- schafftmg kleinerer Schiffe und die beschleunigte Fertigstellung der „Viribus Unitis"-Klasse, damit ab 1915 - und nicht erst ab 1916 - mit dem Bau neuer Schlachtschiffe begonnen werden könne. Doch schon im April 1913 trat der neue 40 So wurde die ungarische Regierung dadurch in Kenntnis gesetzt, daß ihr eine Antwort Mon- tecuccolis aufdie Anfrage der ungarischen Danubius Schiffsbau- und Maschinenfabriks AG. mitgeteilt wurde, in der ein ähnlicher indirekter Bauauftrag vorgeschlagen wurde, wie ihn zuvor die cisleithanischen Rüstungsfirmen erhalten hatten, Schreiben (K.) Montecuccolis an Wekerle v. 13. 12. 1909 mit Abschrift eines Schreibens (K.) Montecuccolis an Danubius vom selben Tag, Ka„ KM., MS., PK. 1-4/9-4328/1909. 41 Zustimmung beider Regierungen zum Alleingang der Marinesektion in GMR. v. 17. 5. 1910, GMCPZ. 480, definitive Feststellung des Bauprogramms in GMR. v. 6. 1. 1911, GMKPZ. 484, zum Budget 1911 siehe HHStA., Kab. Kanzlei, KZ. 839/1911. 42 50 Millionen im Vortrag Montecuccolis v. 25. 1. 1909, Ka., MKSM. 51--1/3/1909, fol. 2r, 57 Millionen im Vortrag Montecuccolis v. 24. 9.1909, ebd. 51--1/3--2/1/1909 und 60,6 Millionen in GMR. v. 20. 11. 1910, GMCPZ. 483. || || 68 Einleitung Marinekommandant und Chef der Marinesektion, Anton Haus, mit einem Ange¬ bot verschiedener Rüstungswerke an beide Ministerpräsidenten heran, ein Schlachtschiff schon jetzt auf „eigenes Risiko" der Firmen nach den Plänen der Marinesektion zu bauen und die offizielle Bestellung erst nach Bewilligung der Gelder folgen zu lassen. Diesem Vorschlag stimmte nun zwar die cisleithanische Regierung zu, die ungarische lehnte jedoch erneut und kategorisch ab, ein Vor¬ gang wie 1910 sei ausgeschlossen.43 Das Budget 1914/15 enthielt dann die erste Rate für die neuen Schlachtschiffe; der Bau wurde jedoch wegen des Ersten Welt¬ krieges nie begonnen. Generell kann gesagt werden, daß beim Heer ab 1912 die Ausgabenplanung des Kriegsministeriums mit den Bestimmungen des Schönaichschen Paktes von 1911 kaum harmonierten. Beim Heer war dies bedingt durch einen enormen Geldbedarf, um die Rückständigkeiten des gemeinsamen Heeres und der Land¬ wehren zu beseitigen. Die schon seit den 1890er Jahren als notwendig erachtete Wehrreform mit einer Vergrößerung des Rekrutenkontingentes konnte wegen der inneren politischen Wirren erst ab 1908 in Angriff genommen werden. Alleine daraus entstanden enorme Kosten. Die Wehrreform bedeutete eine Vergrößerung der bewaffneten Macht und machte somit auch eine Vermehrung der Artillerie notwendig. Daneben sollte aber auch die Anzahl der Geschütze pro Korps ver¬ mehrt, die Gebirgsartillerie zusätzlich ausgebaut, eine moderne Belagerungsartil¬ lerie geschaffen und veraltete durch moderne Geschütze ersetzt werden. Diesen vielfachen Anforderungen waren die Finanzen beider Teile der Monarchie nicht gewachsen. Es war notwendig, Schwerpunkte zu setzen. Mit dem Schönaich¬ schen Pakt 1911 wurden die Weichen gestellt, zunächst bis 1915 der Wehrreform die Priorität zu geben, um erst danach materielle Rückstände zu beseitigen. Aller¬ dings hielt sich Schönaichs Nachfolger Auffenberg nicht daran und versuchte, einerseits mit einem 250-Millionenkredit die Artilleriebeschaffüng parallel zur Wehrreform zu ermöglichen,44 andererseits gab er bei der generellen Budgetpla¬ nung der Wehrreform nicht die Priorität, die durch den Schönaichschen Pakt not¬ wendig war. Außerdem ließ er, ohne dafür die Mittel bewilligt bekommen zu haben, Ende 1911 schwere Belagerungsgeschütze bestellen.45 Somit stimmten die Forderungen, bzw. Zahlungsverpflichtungen des Heeres mit dem Pakt von 1911 nicht mehr überein. Die Ausgabenpolitik Auffenbergs mußte daher über kurz oder lang auch ohne spezielle außenpolitische Ursachen beide Regierungen vor die Wahl stellen, entweder an dem Schönaichschen Pakt festzuhalten oder die fi- 43 GMR. v. 14. 5. 1913, GMKPZ. 507. 44 So beschreibt Auffenberg sein erstes Zusammentreffen als Kriegsminister mit dem cisleitha- nischen Finanzminister Meyer: Er [Meyer] wolle auch gehört haben, daß ich sofort einen Nachtragskredit von 12 Millionen beanspruchen werde [...]. Ich beruhigte ihn, mußte aber im Stillen lächeln, daß mein Kollege glauben konnte, eine solch geringe Anforderung wäre das Ziel meiner Wünsche. Auffenberg-Komaröw Moritz, Aus Österreichs Höhe und Nieder¬ gang, Eine Lebensschilderung (München 1921) 155. 45 Ebd., 165 ff., 178, 206. || || Einleitung 69 nanziellen Beschränkungen des Paktes aufzugeben und alles parallel zu finanzie¬ ren.46 Es war aber nicht Auffenbergs Ausgabenpolitik, sondern der Ausbruch der Balkankriege, der das Fallenlassen des Paktes bewirkte. In noch viel stärkerem Maß triffl die Diskrepanz zwischen den internen Ge¬ samtplanungen und den Beschlüssen des gemeinsamen Ministerrates auf die Kriegsmarine zu. Wesentlich mehr als beim Heer war für die Marine das Ordina- rium der limitierende Faktor. Mit dem Ordinarium, das die konstanten Ausgaben beinhaltete, mußte die gesamte Flotte erhalten werden, ob es sich auf die Anzahl und Ausbildung der Matrosen oder die Instandhaltung der Schiffe und Hafenan¬ lagen handelte. Auch wenn jährlich konstante Summen zum Ersatz veralteter Schiffe in das Ordinarium aufgenommen wurden, lief die Finanzierung beson¬ ders der teuren Großkampfschiffe über spezielle Kredite. Mit diesen Krediten wurden die Schiffe gebaut, mit dem Ordinarium mußten sie dann erhalten wer¬ den. Es war daher eine zentrale Aufgabe der Marinesektion, die Schiffsneube- schaffimgen mit den finanziellen Erhaltsmöglichkeiten zu koordinieren. Obwohl die Marinesektion ihre Schwierigkeiten der Budgetsteigerungen zu¬ mindest seit dem Schönaichschen Pakt 1911 kannte, forcierte sie den Bau von Schiffen, die wesentlich mehr Unterhaltskosten etc. verursachten, als die Schiffe, die diese ersetzten. Immer wieder betonten Montecuccoli und Haus, daß sie mit den zugestandenen Budgetsteigerungen nicht auskommen könnten, weil die neu¬ en Schiffe mehr Besatzung, mehr Betriebsausgaben usw. erforderten. Kurz, sie richteten ihre Ausgabenplanung nach dem Bau der Schiffe und nicht den Bau der Schiffe nach dem Geld, das sie zum Erhalt zur Verfügung hatten. Dabei war der Marinesektion die Diskrepanz von Schiffsbau und Unterhalt durchaus bewußt. In seinem Vortrag vom 25. Jänner 1909 wies Montecuccoli eindrucksvoll nach, daß sich seit 1893 das Verhältnis von Marinebudgets zu den Kosten von einem gerade im Bau befindlichen Schlachtschiff ständig zuungunsten des Budgets verschö¬ be.47 Montecuccolis Fazit war, das Marinebudget müsse entsprechend angehoben werden,48 also die Schiffsbauten sollten das Budget bestimmen. Nachdem sich dies aber durch die Weigerung beider Regierungen nicht realisieren ließ, zog er nicht den umgekehrten Schluß, daß er den Schiffsbau nach den für ihn zur Verfü¬ gung stehenden Mitteln richten müsse. Das unkoordinierte Planen von Ordinari¬ um und Schiffsbau kommt in der Aussage des Nachfolgers Montecuccolis, Haus, zum Budget für das erste Halbjahr 1914 drastisch zum Ausdruck: „Nun sei der Die sich ständig ändernden Artillerieorganisationen 1910 bis zum Ersten Weltkrieg beurteilt Ortner: so läßt sich hinsichtlich der Veränderung der Artillerie keine einheitliche Planung erkennen, Ortner Mario Christian, Die Österreichisch-Ungarische Artillerie in den Jahren 1867 bis 1918, Organisation, technische Entwicklung und Kampfverfahren, phil Diss. (Wien 2005) 199. Vortrag Montecuccolis v. 25. 1. 1909, resolviert mit Ah. E. v. 30. 1. 1909, Ka., MKSM. 51-- 1/3/1909, fol. 2r. In GMR. v. 6. 10. 1910, GMCPZ. 482, bezeichnete Montecuccoli 150 Millionen Kronen als das richtige Marineerfordemis. || || 70 Einleitung Präsenzstand der Marine um 2000 Mann erhöht worden, die größeren Schiffe verlangen größere Erhaltungskosten und so habe sich von Jahr zu Jahr ein höhe¬ res Defizit eingestellt, es sei daher nicht ausgefuhrt worden, was dringend not¬ wendig war. Er habe eingesehen, daß diese 7 bis 8 Millionen nicht durchzubrin¬ gen seien und daher alles gestrichen, was nur irgend möglich war. Um Ersparungen zu erzielen, habe er die Sommermanöver aufgegeben, das feldmäßi¬ ge Schießen usw. eingestellt. [...] Der Marinekommandant bespricht ferner die Notwendigkeit eines weiteren außerordentlichen Kredites für den Ausbau der Flotte und die Beschaffung der erforderlichen Akzessorien. Die Monarch-Klasse müsse ersetzt werden. In der ganzen Welt verstehe man nicht, weshalb wir damit warten."49 In den letzten Jahren vor Beginn des Ersten Weltkrieges harmonierten beim Heer wie bei der Marine Budget mit der Verwendung der Gelder nicht miteinan¬ der. Das gleiche galt für die Ausgabenplanung von Heer und Marine zusammen. Zwar stellte sich Schönaich schon 1908 gegen den Bau der Schiffe der zukünfti¬ gen „Viribus Unitis"-Klasse: „Ich möchte schließlich noch alleruntertänigst be¬ merken, daß - falls die Monarchie in einen Krieg verwickelt würde, in welchem die Kriegsmarine auch hervortreten müßte - die letztere gewiß eine ihrer ruhm¬ reichen Tradition rechtfertigende Mitwirkung am Kampfe erwarten läßt und die¬ se Mitwirkung auch gewichtig in die Wagschale werfen wird, - daß aber die große Entscheidung im Ringen der Kriegsführenden zweifellos nur zu Lande fal¬ len kann und auch fallen wird."50 Von Seiten des Kriegsministeriums gab es zwar Widerstände gegen den Schiffsbau, „aber gegen den Willen des Thronfolgers ka¬ men sie nicht auf`.51 So begann die Monarchie mit dem Bau neuer Schlachtschiffe, für den ab 1911 ein Kredit von 312,4 Millionen Kronen in Anspruch genommen wurde. Zu die¬ sem Zeitpunkt ließen es die inneren politischen Verhältnisse in und zwischen beiden Teilen der Monarchie erstmals seit Jahrzehnten zu, die als notwendig an¬ erkannte Wehrreform durchzusetzen. Zusätzlich wurden große Summen für die Beschaffung von Artillerie als sehr dringend angesehen. Da beide Regierungen nicht alle Forderungen des Heeres und der Marine finanzieren konnten, mußten Schwerpunkte gesetzt werden. Dies waren der Schiffsbau und die Wehrreform, alles andere - die Beschaffungen von Artillerie und größere Steigerungen im Ma- rineordinarium - wurde bis 1916 zurückgestellt. Die Folge war, daß das Heer bis 49 GMR. V. 3. 10. 1913, GMKPZ. 508. 50 Alleruntertänigste Bemerkungen Schönaichs v. 31. 3.1908 zum Vortrag des Marinekomman¬ danten v. 31. 3. 1908, Ka., KM., MS., PK. XV-7/8/1909. Noch am 28. 8. 1909 setzte sich Conradfiir den Bau der Schlachtschiffe ein, Ka., KM., MS., Präs. 1-4/9-3456/1909 sowie Ramoser, K. u. k. Schlachtschiffe 79. Erst als es um deren Finanzierung im Budgetfür 1911 ging, plädierte Conrad für die Verwendung der Schiffsbaugelder für Heeresbedürfnisse, GMR. v. 5. 3. 1911, GMKPZ. 486. 51 Siehe Nachlaß Alfred Freiherr v. Koudelka, Memoiren „Es war einmal ..." Ka., Nachlässe und Sammlungen, B 1077 111. || || Einleitung 71 1916 auf eine Artillerievermehrung verzichten mußte und die Marine die neuen Schiffe nicht ausreichend erhalten konnte. Bei der Marine führte das zu Einspa¬ rungen im Ordinarium, z. B. an der Ausbildung, die auf Dauer die Sinnhaftigkeit der Flotte in Frage stellen mußten; beim Heer fing Auffenberg ab Ende 1911 an, das Geld nicht entsprechend des Schönaichschen Paktes auszugeben, sondern in eigenem Ermessen Gelder von der Wehrreform für die Beschaffung von Artillerie abzuzweigen. Es fehlte ein Gesamtkonzept für die beschränkten Geldmittel, ei¬ nes zwischen Heer und Marine und eines innerhalb der Marinesektion, Schiffs¬ bau und realisierbare Deckung der Unterhaltsausgaben zu koordinieren. Die Wei¬ sung Franz Josephs an die Marinesektion vom 5. März 1912, die die Geldgebarung der Marine letztlich unter die Kontrolle des Kriegsministeriums stellte, kam für den Bau der Schiffe der „Viribus Unitis"-Klasse zu spät, und danach war es das Engagement des Thronfolgers für die Marine, der eine einheitliche Planung un¬ terlief.52 Insofern verdeutlicht die Diskussion um den gemeinsamen Voranschlag im gemeinsamen Ministerrat einerseits die Abhängigkeit der gemeinsamen Regie¬ rung von der Zustimmung beider Regierungen. Es werden auch die Versuche des Kriegsministers und des Chefs der Marinesektion deutlich, durch ihre Ausgaben¬ politik beide Regierungen zur Aufgabe ihrer finanziellen Beschränkungen zu zwingen. Inwieweit diese Versuche Erfolg gehabt hätten, muß der Spekulation überlassen bleiben, da nicht die Finanzplanung von Kriegsministerium und Ma¬ rinesektion diese Ausgabenbeschränkung zu Fall brachten, sondern außenpoliti¬ sche Ereignisse. Deutlich wird, wie sich mit dem Ausbruch der Balkankriege die Einstellung beider Regierungen gegenüber den Militärforderungen veränderte. Bis Juni 1912 stand im Vordergrund der Interessen der Regierungen, den Voran¬ schlag der Leistungsfähigkeit anzupassen; so sagte 1910 der cisleithanische Fi¬ nanzminister Bilihski: „auch das ,muß` habe seine Grenze, dies gelte für jedes Ressort. Wenn die Finanzminister nicht können, höre sich das ,muß` auf." Ab Oktober 1912 stellte sich jedoch nicht mehr die Frage, ob, sondern nur mehr, wie die für das Heer benötigten Mittel beschafft werden könnten. Die geänderte Ein¬ stellung Bilinskis - jetzt gemeinsamer Finanzminister - gegenüber den Militär¬ forderungen kann, auch wenn andere Minister dies nicht so deutlich aussprachen, doch für die Teilnehmer des gemeinsamen Ministerrates wie die Delegationen, die diese Forderungen votierten, insgesamt gelten. Im Jänner 1913 formulierte er: „Wir müssen daher, bei der natürlichen Konfiguration der Monarchie, uns eben gegen drei Fronten schützen und die finanziellen Lasten tragen, au riscque, öko¬ nomisch ganz zusammenzubrechen."53 52 Siehe dazu Wagner Walter, Die obersten Behörden der k. und k. Kriegsmarine 1856-1918 87. 53 GMR. v. 20. 11. 1910, GMCPZ. 483 undGMR. v. 4. 1. 1913, GMKPZ. 502. Zur Entwicklung der Armee 1908 bis 1914 siehe auch Kjszling Rudolf, Die Entwicklung der österreichisch¬ ungarischen Wehrmacht seit der Annexionskrise 1908. In: Militärwissenschaftliche Mittei¬ lungen 65 (1934) 789-802. || || 72 Einleitung 2. Die Wehrreform Die Wehrreform mit ihren vielfältigen Vorbereitungsmaßnahmen durchzieht die Behandlung der Voranschläge des Kriegsministeriums im gemeinsamen Mini¬ sterrat und in den Delegationen. Die Wehrreform verursachte zwar Kosten - und wurde hauptsächlich unter diesem Aspekt diskutiert war jedoch nicht nur eine finanzielle Frage. Heeresorganisation und Wehrgesetz stehen in Wechselwirkung zueinander. Heeresorganisationen geben die Struktur einer Armee und die Soll¬ größe der sie bildenden Einheiten in Friedens- und Kriegszeiten an. Daraus ergibt sich ein Sollstand der Armee in Krieg und Frieden. Die für Armeen primäre Be¬ zugsgröße ist dabei der Kriegssollstand. Ein Wehrgesetz bestimmt, unter welchen Bedingungen, wie lange und in welchem Ausmaß die Einwohner eines Staates zum Militärdienst herangezogen werden können. In Österreich-Ungarn ergänzte sich seit 1868 die „bewaffnete Macht" - wie alle verschiedenen Teile der Armee zusammen hießen - durch die allgemeine Wehrpflicht. Die bewaffnete Macht bestand aus dem gemeinsamen k. u. k. Heer mit der Kriegsmarine, der cisleithanischen k. k. und der ungarischen Landwehr sowie bis zum Wehrgesetz von 1912 aus den bosnisch-herzegowinischen Trup¬ pen - danach waren diese Bestandteil des gemeinsamen Heeres. Da die „Feststel¬ lung und Umgestaltung des Wehrsystems" durch den Ausgleich eine Angelegen¬ heit beider Teile der Monarchie war,54 wurde sie in Cisleithanien und Ungarn durch getrennte, aber miteinander koordinierte Gesetze geregelt. Dabei legten beide Gesetze die Ergänzung der gemeinsamen Armee und je ihrer Landwehr fest. Für Bosnien-Herzegowina gab es seit 1881 ein provisorisches Wehrgesetz, nach dem die Truppen dieser Provinzen ab 1882 errichtet und ergänzt wurden.55 Diese Regelungen bedurften keiner legislativen Zustimmung, bis 1910 nicht, weil keine parlamentarische Vertretung existierte, ab 1910 nicht, weil Militär¬ agenden von der Kompetenz des Landtages ausgenommen waren. Von 1868 bis 1889 bestimmte das cisleithanische und das ungarische Wehrge¬ setz kein fixes Rekrutenkontingent, sondern die Sollstärke im Kriegsfall (800 000 GA. XII/1867, § 13, bzw. DG., § 1 b). Zur Problematik des ersten Wehrgesetzes von 1868 und der Differenzierung von gemeinsamer Armee und Landwehren siehe Somogyi, Einleitung GMR1/1 XXXI-XXXVIII. Zirkularverordnung v. 4. 11. 1881, Verordnungsblatt für das kaiserlich-königliche Heer, Normalverordnungen 1881, Nr. 159/1881. Zur Entstehung und Entwicklung der bosnisch- herzegowinischen Truppen siehe Wrede Alphons Freiherr v., Geschichte der k. u. k. Wehr¬ macht, Bd. I (=Supplement zu den „Mittheilungen des k. und k. Kriegs-Archivs", Hg. von der Direktion des k. und k. Kriegs-Archivs, Wien 1898)617 ff., sowie Neumayer Christoph- Schmidl Erwin Anton, Die bosnisch-herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee. In: Neumayer Christoph-ScHMiDL Erwin Anton (Hg.), Des Kaisers Bosniaken. Die bosnisch- herzegowinischen Truppen in der k. u. k. Armee (Wien 2008) 41-185, hier 48-52. || || Einleitung 73 Mann).56 Zum Erhalt dieser Sollstärke ergab sich die jährlich notwendige Menge an Rekruten (95 500 Mann), die von beiden Teilen der Monarchie entsprechend ihrer Bevölkerungsanteile zu stellen waren. Das Rekrutenkontingent wurde aber im Wehrgesetz nicht genannt. Mit dem Wehrgesetz von 1889 ging man dazu über, das Rekrutenkontingent nicht mehr anhand der Kriegssollstärke zu bestimmen, sondern das Kontingent ziffernmäßig mit 103 100 Mann zu fixieren.57 Somit stand das Kontingent in keinem definierten Verhältnis zur Sollstärke. Das Kontin¬ gent konnte um 8 % erhöht werden, ohne dabei die Sollstärke der Armee anzuhe¬ ben. Dies erlaubte es, der mit der Zeit eintretenden Reduktion jedes Rekruten¬ jahrganges durch nachträgliche Ausmusterungen etc. vorzubeugen.58 Damit war zwar der Erhalt der Sollstärke der gemeinsamen Armee in der Organisation von 1868 im Kriegsfall sichergestellt, eine Vergrößerung der Armee war aber nicht erfolgt. Seit 1892 drängte daher das Kriegsministerium auf einen Ausbau der Armee und damit auf eine weitere deutliche Erhöhung des Rekrutenkontingentes.59 Auf Grund der inneren politischen Lage in Cisleithanien und in Ungarn sowie auf Grund der Beziehungen zwischen den beiden Teilen der Monarchie war aber eine Wehrreform unmöglich. 1903 scheiterte die Anhebung des Rekrutenkontingentes auf 125 000 Mann am ungarischen Widerstand.60 Nur die k. k. Landwehr wurde deutlich ausgebaut: sie hatte bis 1902 ein Rekrutenkontingent von 10 000, 1903 bis 1907 von 14 500, 1908 bis 1911 von 19 240 Mann; hinzu kam noch das Landwehr-Rekrutenkontingent für Tirol und Vorarlberg, das bis 1903 413, 1903 bis 1907 550 und 1908 bis 1911 730 Mann betrug.61 Die ungarische Landwehr blieb seit 1890 bei einem Rekrutenkontingent von 12 500 Mann. Das Rekruten¬ kontingent der bosnisch-herzegowinischen Truppen stieg kontinuierlich auf4500 Mann an.62 Die technischen Fortschritte machten es in der gemeinsamen Armee notwen¬ dig, immer weniger Rekruten bei der Infanterie einzureihen und sie statt dessen 56 § 11 des Gesetzes v. 5. 12.1868, RGBl. Nr. 151/1868 sowie § 1 des Gesetzes v. 20. 12. 1879, RGBl. Nr. 145/1879. 57 Für Cisleithanien Gesetz v. 11. 4. 1889, RGBl. Nr. 41/1889,/w- Ungarn GA. VI/1889, je¬ weils § 14. 58 Siehe dazu Diöszegi, Einleitung GMR. IV 86-93. 59 Wagner, Die k. (u.) k. Armee 493. 60 Siehe dazu Somogyi, Einleitung GMR. V XLII-XLVII. 61 Das Rekrutenkontingent Tirol und Vorarlbergsfür die k. k. Landwehr wurde nicht in Reichs¬ gesetzen bestimmt, wiefür die anderen Truppen der k. k. Landwehr, sondern im Gesetz- und Verordnungsblatt für die gefürstete Grafschaft Tirol und das Land Vorarlberg. Die oben genannten Kontingentsziffem wurden in diesem Gesetzblattpubliziert als Gesetz v. 3. 4. 1895, Nr. 16/1895, als Gesetz v. 25. 12.1903, Nr. 66/1903 und als Gesetz v. 16. 12. 1908, Nr. 1/1909. 62 Z B.für das bosnisch-herzegowinische Kontingent 1911 siehe Militärstatistisches Jahrbuch für das Jahr 1911 (Wien 1912) 134-139. || || 74 Einleitung zur Artillerie und zu Spezialtruppen zu geben.63 Es wurde daher immer schwieri¬ ger, die Friedensstände der Infanteriebataillone akzeptabel zu halten und sie im Mobilisierungsfall mit ausgebildeten Mannschaften auf Kriegsstärke zu bringen. Um über genügend Infanterie zu verfügen, wurden beide Landwehren, die ur¬ sprünglich als sogenannte „Reservearmee" vorgesehen waren, zu Truppen erster Linie umgewandelt. Da nun die Landwehren bis 1912 nur aus Infanterie und Ka¬ vallerie bestanden,64 mußten Artillerie und Spezialtruppen von der gemeinsamen Armee gestellt werden. Die Einreihung in die erste Linie hatte nun zur Folge, daß der Landwehr auch entsprechend mehr Artillerie beigegeben werden mußte, wo¬ durch die gemeinsame Armee noch mehr Rekruten ihrer Infanterie entziehen mußte. Nachdem sich mit der Ernennung der Koalitionsregierung in Ungarn und mit der Regelung der Wirtschaftsgemeinschaft aufrechtlicher Basis von 1867 die Situation in Ungarn und zwischen beiden Teilen der Monarchie 1906/07 beruhigt hatte, konnte an die Durchführung der Wehrreform geschritten werden, in deren Zentrum die Erhöhung des jährlichen Rekrutenkontingentes stand. Ziel war aber nicht nur der Erhalt, sondern vielmehr die Vergrößerung der gesamten Armeeor¬ ganisation, einschließlich der Errichtung einer neuen Reservearmee, nachdem die Landwehren zu Truppen der ersten Linie geworden waren. Insofern ging es in der Diskussion um die Wehrreform nicht nur um die Erhöhung des Rekrutenkontin¬ gentes, als vielmehr um einen grundlegenden Umbau der gesamten bewaffneten Macht. Die Höhe des Rekrutenkontingentes war dabei zwar ein wichtiger, aber keinesfalls der einzige oder der erste Schritt. Eine grundsätzliche Entscheidung war die Beantwortung der Frage, ob mit der Wehrreform die dreijährige Dienstpflicht in der gemeinsamen Armee beibehal¬ ten, oder ob sie aufzwei Jahre verkürzt werden sollte.65 Solange diese Frage nicht definitiv entschieden war, mußte im Kriegsministerium für beide Fälle geplant werden. Zwar ging der Wunsch nach einer zweijährigen Dienstpflicht von den parlamentarischen Körperschaften beider Teile der Monarchie aus, doch waren die Kosten einer Umstellung auf zwei Jahre wesentlich höher. So bezifferte Con¬ rad 1911 die Kosten einer Wehrreform mit zweijähriger Dienstpflicht mit einma¬ ligen Ausgaben von 200 und mit jährlichen Mehrkosten von 120 Millionen Kro¬ nen, während sie bei Beibehaltung der dreijährigen Dienstpflicht einmalig 90 und jährlich 90 Millionen verursachen würden.66 Angesichts dieser Kostendifferenz Ortner, Die Österreichisch-Ungarische Artillerie 182, 190. 1906 wurde das Verbot von Artillerieformationenfür die Landwehrenfallengelassen, Somo- gyi, Einleitung GMR. V L ff. Während der aktiven Dienstpflicht versah der eingezogene Soldat seinen Dienst direkt bei der Truppe. Sie betrug bis zur Wehrreform in der gemeinsamen Armee und bei den bosnisch- herzegowinischen Truppen drei, in der Kriegsmarine vier und bei den Landwehren zwei Jah¬ re, Wagner, Die k. (u.) k. Armee 491 f. GMR. v. 5. 3. 1911, GMKPZ. 486. Zur genauen Kostenaufstellung dieser Summen siehe das Expose des cisleithanischen Ministersfür Landesverteidigung Georgi für den Vortrag im hohen Ministerrate, Ka., k. k. MLV, Präs., Faszikulatur 15 Wehrangelegenheiten, Z. 3912/1910. || || Einleitung 75 war es nicht klar, ob sich beide Teile der Monarchie trotz des Wunsches nach ei¬ ner zweijährigen Dienstpflicht für die kostengünstigere Variante entscheiden würden. Erst mit dem Schönaichschen Pakt im Jänner 1911 fiel die definitive Entscheidung für die zweijährige Dienstpflicht. Die kürzere Dienstpflicht verur¬ sachte deshalb größere Kosten, weil man nun mit zwei Jahrgängen die Einheiten in Friedenszeiten auf aktionsfähiger Größe halten mußte, statt mit drei Jahrgän¬ gen. Einem Rekrutenkontingent von 130 000 Mann bei drei Jahren, stand bei zwei Jahren ein notwendiges Rekrutenkontingent für die gemeinsame Armee von 160 000 gegenüber, mit entsprechend mehr Ausbildungspersonal und - nicht kurzfristig aber aufDauer - mehr Kaderpersonal für die sich schneller und größer entwickelnde Reservearmee. Die ersten Vorbereitungsschritte unternahm Schönaich schon 1907 für das Budget 1908, indem er den Offiziersberuf attraktiver machen wollte, einerseits durch die Erhöhung der Offiziersgagen,67 zum anderen aber durch bessere Auf¬ stiegsmöglichkeiten. Während die höheren Offiziersposten beibehalten wurden, wurden die niedrigeren Posten reduziert. So konnte man Offiziere schneller be¬ fördern.68 Dies bedeutete aber die Übertragung von Aufgaben, die bisher niedri¬ gere Offiziere erfüllten, auf untere Ränge (Unteroffiziere). Im Gegensatz zu den Offizieren mußten die Unteroffiziersstellen deutlich vermehrt werden, wegen der zusätzlichen Aufgaben und wegen der Vergrößerung der Armee an sich. Unterof¬ fiziere waren in der Regel Wehrpflichtige, die nach Ende ihrer dreijährigen Dienstzeit normal das Heer verließen, oder sich für wenige Jahre länger verpflich¬ teten. Nur in wenigen Fällen handelte es sich um dauerhafte Berufsposten. So bestand ein ständiger Bedarfan Freiwilligen. Um diese auch zu bekommen, mu߬ ten mehr Anreize für Unteroffiziersposten geschaffen werden. Nachdem schon ab Oktober 1908, bzw. Anfang 1909 eine Kostverbesserung der Mannschaft und eine indirekte Löhnungserhöhung um 25 Heller pro Monat stattgefimden hatte, wurde ab 1. Dezember 1910 die Löhnung der Wehrpflichtigen erneut und jetzt direkt angehoben.69 Da sich mit der Einführung der zweijährigen Dienstpflicht Soldaten, die Unteroffiziere werden wollten, für mindestens ein drittes Jahr län¬ ger verpflichten mußten, forderte Auffenberg 1912 weitere Anreize für diese Po¬ sten. Er schlug vor, daß Unteroffiziere, wenn sie den aktiven Dienst verließen, die Wahl haben sollten, entweder eine geringe Geldabfertigung mit oder eine hohe Abfertigung ohne Staatsanstellung zu erhalten. 1913 erhielt das Heer dafür zwei, die Marine eine Million Kronen.70 Die Vorbereitung der Wehrreform erstreckte sich auf nahezu alle Ebenen der Militärverwaltung. Als Beispiel seien die Stellungskommissionen angeführt, die 67 Zurfinanziellen Situation der Ojfiziere der k. u. k. Armee siehe Deäk Istvän, Der k. (u.) k. Offizier 1848-1918 (Wien-Köln-Weimar 1991) 146-151. 68 Die Problematik der Reserveoffiziere sei hier ausgeklammert. 69 GMR. v. 17. und 21. 5. 1908, GMCPZ. 466, bzw. GMR. v. 17. 5. 1910, GMCPZ. 480. 70 GMR. v. 8. und 9. 7. 1912, GMKPZ. 494. || || 76 Einleitung aus allen Stellungspflichtigen nur wenige Rekruten - ca. 140 000 - auszuwählen hatten. Somit konnten relativ hohe Anforderungen an körperliche Unversehrtheit und Leistungsfähigkeit gestellt werden, um einen Stellungspflichtigen auch als tauglich zu klassifizieren. Da dieses System bei einer Erhöhung des Rekruten¬ kontingentes nicht mehr aufrecht zu erhalten war, wurden die Musterungskom¬ missionen 1909, und, nachdem die „Bestimmungen [...] nicht allseits sinngemäß erfaßt" wurden,71 erneut 1910 angewiesen, die Stellungspflichtigen, die als min¬ der- oder untauglich bewertet wurden, zu klassifizieren, ob sie aus Rücksichten des militärischen Dienstes nicht doch als „Tauglich" oder zumindest „Tauglich zu Hilfsdiensten" angesehen werden könnten. Diese Maßnahme verfolgte einen doppelten Zweck: zum einen sollte grundsätzlich eruiert werden, welches Kon¬ tingent militärisch brauchbarer Stellungspflichtigerjährlich tatsächlich zur Verfü¬ gung stand. So war man in der Lage, anhand dieser Daten ein jährliches Maxi¬ malkontingent zu bestimmen, über das in den Wehrgesetzen nicht hinausgegangen werden konnte. Die zweite Aufgabe der Stellungskommissionen war es aber auch, Vorarbeiten für ein zukünftiges Bewertungssystem zu liefern, da „die Aus¬ wertung des Stellungsmaterials rationell und in dem Sinne erfolgen [soll], daß ein gegenüber dem jetzigen um 60 % erhöhtes Rekrutenkontingent kontinuierlich aufgebracht werden kann."72 Das Ergebnis der Assentierungskommissionen war, daß Österreich-Ungarn 1909 und 1910 jeweils ungefähr 230 000 Stellungspflich¬ tige hatte, die für den militärischen Dienst als tauglich und weitere 30 000, die als „Tauglich zu Hilfszwecken" bezeichnet werden konnten.73 Die Wehrgesetze für Cisleithanien, Ungarn und Bosnien-Herzegowina von 1912 sahen dann für die gesamte bewaffnete Macht eine kontinuierliche Anhebung des Rekrutenkontin¬ gentes auf gut 220 000 vor. Daneben liefen Planungen der neuen Organisation des gemeinsamen Heeres, um die größere Rekrutenanzahl ausbilden, sie danach Einheiten zuteilen zu kön¬ nen und um schließlich zu bestimmen, in welchen Formationen die Reservisten einzusetzen seien. Da diese neue Organisation nicht schlagartig mit der Wehrre¬ form die alte ersetzen konnte, mußte der Übergang schrittweise vor sich gehen. In einer Wechselwirkung war die Erhöhung des Rekrutenkontingentes und die Än¬ derung der Armeeorganisation vorgesehen. Im ersten Jahr der Wehrreform sollte das Rekrutenkontingent der gemeinsamen Wehrmacht von 103 100 auf 136 000 Mann, im zweiten Jahr auf 154 000 angehoben werden und erst im dritten Jahr sollte das ganze neue Kontingent von 159 500 Mann ausgeschöpfit werden. Par¬ allel dazu hatte auch das Rekrutenkontingent der cisleithanischen Landwehr bis 1917 auf 28 000, das der ungarischen Landwehr bis 1914 auf 25 000 und das 71 Erlaß des Kriegsministeriums an die Ergänzungsbezirks- und Korpskommandos, beide mit Ausschluß der ungarischen, Ka., KM., Präs. 26-1/3/1910, fol. 13r. 72 Ebd., fol. 13v-14r. 73 Assentergebnis nach dem in den Jahren 1909 und 1910 probeweise durchgeführten neuen Klassifikationsmodus, Ka., k. k. MLV., Präs., Faszikulatur 15 Wehrangelegenheiten, Karton 803, Z. 2712/1911. || || Einleitung 77 Bosnien-Herzegowinas bis 1917 auf 7763 Mann zu wachsen, so daß das jährliche Rekrutenkontingent der gesamten bewaffneten Macht von etwa 140 000 auf 220 000 Mann erhöht werden sollte. Am 5. Juli 1912 sanktionierte Franz Joseph die Wehrgesetze für Cisleithanien und Ungarn, am 11. August 1912 das für Bos¬ nien-Herzegowina.74 Das erste Jahr des neuen Wehrgesetzes war 1912, zwölfJah¬ re sollten die Bestimmungen des Rekrutenkontingentes gültig sein. Doch schon 1914 wurde ein weiterer Ausbau aller Teile der bewaffneten Macht beschlossen: bis 1918 sollte die gemeinsame Wehrmacht auf 177 500, die k. k. Landwehr auf 35 300, die ungarische Landwehr auf 31 000 und die bosnisch- herzegowinischen Truppen auf 8906, somit das gesamte jährliche Rekrutenkontin¬ gent auf über 250 000 Mann anwachsen.75 Wegen Beginn des Ersten Weltkrieges wurde das Friedenskontingent 1914 (knapp 230 000 Mann) niemals eingezogen. Die Umbenennung des Titels „Reichskriegsminister" in „Kriegsminister" 1911 kam es zu einer Änderung der Bezeichnung des Kriegsministers im gemein¬ samen Ministerrat, die von diesem Gremium aber nicht thematisiert wurde. In der Sitzung vom 13. Juni 1911 war das letzte Mal von „k. u. k. gemeinsamem Kriegsminister"76 die Rede; ab dem Ministerrat vom 28. und 29. Oktober 1911 hieß es dann „k. u. k. Kriegsminister".77 Ursache war der Erlaß der Militärkanzlei Franz Josephs an den Kriegsminister vom 21. September 1911: „In Übereinstim¬ mung mit der schon in verfassungsmäßiger Behandlung stehenden Wehrvorlagen angewendeten Benennung wurde S[eine] E[xzellenz] der Gdl. Ritter v. Auffen- berg zum ,Kriegsminister1 ernannt, daher auch das Reichskriegsministerium von nun an die Bezeichnung ,k. u. k. Kriegsministerium1 zu führen hat, die gleichmä¬ ßig in allen Korrespondenzen mit der k. k. und der k. ung. Regierung u. s. w. an¬ zuwenden ist."78 Damit wurde ein Schlußstrich unter eine langwierige Diskussion gezogen, die 1911 zu eskalieren drohte. 74 Für Cisleithanien Gesetz v. 5. 7. 1912, RGBl. Nr. 128/1912,/wr Ungarn GA. XXX/1912,/z7r Bosnien-Herzegowina Gesetz v. 11. 8. 1912, Gesetz- und Verordnungsblatt für Bosnien und DIE Hercegovina Nr. 59/1912, /wr Tirol und Vorarlberg wegen seiner k. k. Landwehrtrup¬ pen Gesetz v. 25. 5. 1913, Gesetz- und Verordnungsblatt für die gefürstete Grafschaft Tirol und das Land Vorarlberg Nr. 25/1913. 75 Für Cisleithanien die kaiserliche Verordnung v. 20. 3. 1914, RGBl. Nr. 59/1914, /wr Ungarn GA. VIII/1914, /ur Bosnien-Herzegowina Gesetz v. 15. 4. 1914, Gesetz- und Verordnungs¬ blatt für Bosnien und die Hercegovina Nr. 25/1914,/ür Tirol und Vorarlberg wegen seiner k. k. Landwehrtruppen Gesetz v. 31. 7. 1914, Gesetz- und Verordnungsblatt für die gefür¬ stete Grafschaft Tirol und das Land Vorarlberg Nr. 80/1914. 76 Im gemeinsamen Ministerrat v. 13. 4. 1896 wurde zum ersten Mal gemeinsamer Kriegsmini- ster statt Reichskriegsministerprotokolliert, Gmr. V, Nr. 1. 77 GMKPZ. 487 und 488. 78 Ka.,MKSM. 70-1/117/1911. || || 78 Einleitung Aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen beider Teile der Monarchie über das Wesen ihrer Gemeinsamkeit als einheitliches Reich mit zwei Teilen - cislei- thanische Sichtweise - oder als zwei unabhängige Staaten mit gemeinsamen Be¬ reichen - ungarische Auffassung bürgerte es sich schnell ein, daß die gemein¬ samen Ministerien, bzw. die gemeinsame Regierung in Ungarn als „gemeinsam" aufitraten, in Cisleithanien und im internen Bereich aber den Titel „Reichs-" führ¬ ten.79 So stand „Reich" als Symbol der cisleithanischen Auffassung, „gemein¬ sam" für die ungarische Interpretation des Wesens der Doppelmonarchie. Beide Titel konnten nebeneinander existieren, weil es sich um die Anwendung zweier unabhängiger Amtssprachen handelte, die deutsche in Cisleithanien und die un¬ garische in Ungarn. Die gemeinsamen Behörden bedienten sich intern und ge¬ genüber Cisleithanien der deutschen und gegenüber Ungarn der ungarischen Amtssprache. Ab den 1890er Jahren wurde aber in der deutschen Amtssprache die offizielle Bezeichnung „Reichs-" zunehmend durch „gemeinsam" ersetzt. Nur der Kriegsminister behielt bis 1911 im Deutschen den Titel „Reichskriegsmi¬ nister" bei.80 Die unterschiedliche Bezeichnung des Kriegsministeriums wurde aber bei den Vorbereitungen zum neuen Wehrgesetz zu einem Problem. Dieses bestand aus drei unterschiedlichen Gesetzen: dem vom cisleithanischen Reichsrat zu be¬ schließenden Gesetz für Cisleithanien, dem vom ungarischen Reichstag zu votie¬ renden ungarischen Gesetz und einem Gesetz für Bosnien-Herzegowina. Somit war die Bezeichnung des Kriegsministers in Cisleithanien und Ungarn je ihre Angelegenheit, aber für Bosnien-Herzegowina die beider Teile gemeinsam. Der offizielle Titel war in Cisleithanien und in Ungarn entsprechend der jeweiligen Amtssprache „Reichskriegsminister" oder „gemeinsamer Kriegsminister", da Schönaich von Franz Joseph auch so ernannt worden war. Daraus ergab sich kein gravierendes Problem, genausowenig wie für Bosnien-Herzegowina in der offizi¬ ellen deutschen Amtssprache. „Da trotz der deutschen Amtssprache [in Bosnien- Herzegowina] für die Bevölkerung doch die in der Landessprache erfolgenden amtlichen Publikationen maßgebend sind", wie Schönaich gegenüber Franz Fer¬ dinand hervorhob,81 stellte sich aber die Frage, wie man in Bosnien-Herzegowina den „Reichskriegsminister" in der serbokroatischen Übersetzung nennen sollte. Hätte man den für das Deutsche maßgebenden Titel „Reichskriegsminister" ein¬ fach übersetzt, so wäre der deutschen Amtssprache in einer Drittsprache außer¬ halb Cisleithaniens der höhere Stellenwert gegenüber der ungarischen eingeräumt worden. Daß dies auf den schärfsten Widerstand Ungarns stoßen musste, war offensichtlich. Hätte man aber „gemeinsamer Kriegsminister" übersetzt, wäre nicht nur die ungarische Amtssprache über die deutsche gesetzt worden, sondern Siehe dazu Somogyi, Einleitung GMR. 1/1 XXV ff. Stourzh, Der Dualismus 1194. 81 Promemoria Schönaichsfür Franz Ferdinand, das er mit seinem Vortrag v. 11. 5. 1910 unter¬ breitete, Ka., KM., Präs. 26-1/6/1910, fol. 115r. || || Einleitung 79 es wären zusätzlich zwei unterschiedliche Titel in Anwendung gewesen: „Reichs¬ kriegsminister" in der deutschen Amtssprache und „gemeinsamer Kriegsmini¬ ster" in der für die Bevölkerung maßgebenden serbokroatischen Version. Das Kriegsministerium wollte sowohl im Deutschen, wie im Serbokroatischen den Ausdruck „gemeinsamer Kriegsminister" wählen: Wegen der Notwendigkeit der Zustimmung beider Regierungen zum bosnisch-herzegowinischen Wehrgesetz wollte man wegen möglicher Einwände aus Ungarn „einer Nomenklatur auswei- chen, welche Anlaß zu staatsrechtlichen Einwendungen geben, und so Verzöge- rungen hervorrufen könnte."82 Auch aus einem zweiten Grund entschied sich Schönaich für „gemeinsam": „Da nun durch die 1880er Gesetze die Leitung der Verwaltung Bosniens und der Hercegovina dem gemeinsamen Ministerium1 übertragen worden ist, und sowohl diese Gesetze, als auch das Landesstatut stets nur von gemeinsamen Ministerien1 und gemeinsamen Ministem1 sprechen, wurden, um bei der Bevölkerung keine Begriffsverwirrung hervorzumfen, in den Wehrgesetzen die Ausdrücke: gemeinsames Kriegsministerium1 und gemeinsa¬ mer Kriegsminister1 aufgenommen.1183 Die Einwände aus Cisleithanien schätzte das Kriegsministerium anscheinend als nicht gravierend ein, vermutlich auch, weil die Vertreter der cisleithanischen Regiemng in den Verhandlungen zum Wehrgesetz nicht abgeneigt waren, die Bezeichnung des Heeres im cisleithani¬ schen Gesetz von schlichtem „Heer" in „gemeinsames Heer" zu ändern.84 Den¬ noch dachte das Kriegsministerium über Kompromißmöglichkeiten nach, wenn beide Teile auf dem von ihnen verwendeten Titel im bosnisch-herzegowinischen Wehrgesetz bestehen würden. Neben „Reich- (gemeinsames) Kriegsministeri¬ um11 tauchte schon im März 1910 der Titel „k. u. k. Kriegsministerium11 auf. Da¬ mit wäre der Kriegsminister in Cisleithanien, in Ungarn und in Bosnien-Herzego¬ wina mit je einer eigenen Bezeichnung erschienen. Der entscheidende Widerspruch kam vom Außenministerium, weil „mit Rück¬ sicht auf die Ernennung des Kriegsministers zum ,Reichskriegsminister1 auch im Wehrgesetzentwurfe diese letztere Bezeichnung beibehalten werden sollte."85 Anders formuliert, solange der offizielle Titel des Kriegsministers in der deut¬ schen Amtssprache „Reichskriegsminister" war, solange müsse in der deutschen 82 Ebd., fol. 114v. In der zweiten Auflage des Entwurfes des bosnisch-herzegowinischen Wehr¬ gesetzes von 1910 hieß es auch im deutschen Text gemeinsamer Kriegsminister, z. B. in §87, HHStA., PA. I, CdM. VIII-c 12/3. 83 Ebd., fol. 115r-v. 84 Untertänigstes Promemoria Schönaichsfür Franz Ferdinand, das er mit seinem Vortrag v. 11. 5. 1910 unterbreitete, Ka., KM., Präs. 26-1/6/1910, fol. 114r-v. Im Verlaufder Diskussion zum Wehrgesetz wurde dann nicht der Begriff gemeinsames Heer, sondern gemeinsame Wehrmacht gewählt. 85 Ebd., fol. 115v. Siehe auch den aus dem Außenministerium stammenden Amtsbericht über die am 16., 17., 18., 19., 21. und 23. März 1910 abgehaltenen Referentensitzungen über das Wehrgesetz von Bosnien-Herzegowina, HHStA., PA. XL, Liasse LIX b, bosnisch-herzegowi- nisches Wehrgesetz, Z. 12899/1910. || || 80 Einleitung Version des bosnisch-herzegowinischen Wehrgesetzes auch diese Bezeichnung bleiben. Nun ging es also nicht mehr um die Bezeichnung des Kriegsministers im bosnisch-herzegowinischen oder in einem anderen Wehrgesetz, jetzt ging es um den Titel an sich. Die Frage wurde von einer praktischen zu einer prinzipiellen. Am 15. September 1910 beriet die cisleithanische Regierung über den Titel des Heeres und des Kriegsministers, einen Tag später trat eine Konferenz des Kriegs¬ ministers mit beiden Landesverteidigungsministem zusammen, in der eine Eini¬ gung erzielt wurde: in Cisleithanien sollte es statt „Heer" „gemeinsames Heer" und statt „Reichs-" bzw. in Ungarn „gemeinsamer Kriegsminister" in beiden Fäl¬ len nur „Kriegsminister" heißen. Was aber ganz konkret vereinbart wurde, ist unklar, weil die Protokolle vom 15. und 16. September 1910 fehlen.86 Fest steht nur, daß der cisleithanische Ministerrat und die Konferenz die „im Entwürfe zu den neuen Wehrgesetzen noch offen gebliebenen 15 Fragen"87 behandelten, dar¬ unter als zweiten Punkt die Titelffage. Zwar gibt es ausführliche Referentenerin- nerungen des cisleithanischen Ministeriums für Landesverteidigung vom 2. Ok¬ tober 1910 zu diesen 15 Fragen, doch sparte man hier eine eigene Position über den Titel des Kriegsministers aus.88 Anzunehmen ist aber, daß sich die Einigung nicht nur auf die Bezeichnung des Kriegsministers im Wehrgesetz bezog, sondern auf den Titel an sich. Ob aber die Änderung erst mit dem neuen Wehrgesetz oder möglicherweise schon früher einzutreten hatte, oder inwieweit die Streichung des Wortes „gemeinsam" im Ungarischen den gleichen Stellenwert für den Titel hat¬ te, wie die Streichung „Reichs-" im Deutschen scheint schon damals zu unter¬ schiedlichen Auslegungen Anlaß geboten zu haben. Denn nach der Konferenz gebrauchte das Außenministerium in den Protokollen der Zoll- und Handelskon¬ ferenz in deutscher Sprache den Begriff „gemeinsames Kriegsministerium".89 K. k. MR. v. 15. 9. 1910/1, MRZ. 27, Ministerielle Beratung über einige, die Textierung des Entwurfes eines neuen Wehrgesetzes betreffenden Fragen, Protokoll liegt nicht mehr ein, Ava., Ministerratspräsidium, Bücher I. a) gebundenes Exemplar, Ministerratsprotokolle, Ta¬ gesordnungen 1910-1913, Bd. 16; über die Konferenz des Kriegs- mit den Landesverteidi¬ gungsministem v. 16. 9. 1910 ist kein Protokoll in Ka., KM., Präs., in ebd. k k. MLV, Präs. Faszikulatur 15, Wehrangelegenheiten und in HHStA., PA. I, CdM. sowie in ebd., PA. XL Intema auffindbar. Mit Schreiben (K.) v. 20. 9. 1910 informierte Schönaich Aehrenthal über die Konferenz, Ka., KM. Präs. 26-1/21-2/1910. Das Ergebnis der Konferenz kann an einem Exemplar der 5. Auflage des Wehrgesetzentwurfes ersehen werden, in dem in blauer Tinte vermerkt wurde: Nach der Ministerkonferenz vom 16. September 1910 berichtigt. Mit blauer Tinte wurden dann in dem Wehrgesetz die oben erwähnten Änderungen vorgenommen. Ebd., Sonderreihe, Wehrgesetze 1888-1912, Karton 2850, Entwurf eines Wehrgesetzes, bezie¬ hungsweise Gesetzartikels über die Wehrkraft, fünfte Auflage, Wien 1910. Mit Schreiben (K.) v. 20. 9. 1910 informierte Schönaich Aehrenthal über die Konferenz v. 16. 9. 1910, ebd., Präs. 26-1/21-2/1910. Ka., k. k. MLV., Präs., Faszikulatur 15 Wehrangelegenheiten, Karton 801, Z. 4149/1910. Zur Verwendung der Formuliemng gemeinsamer Kriegsminister in den Zuschriften des Au¬ ßenministeriums siehe z. B. das Protokoll der Zoll- und Handelskonferenz v. 14. 11. 1910, HHStA., PA. I, CdM. XI/46 fol. 464r. || || Einleitung 81 Aehrenthal betrachtete also die Einigung vom 16. September 1910 als sofort gül¬ tig, die den Begriff „Reichs-" ausschloß, „gemeinsamer Kriegsminister" aber zu¬ mindest als möglich beibehielt. Dagegen protestierte nun Bienerth und verlangte - mit der sehr befehlenden Wortwendung „ersuchen" - vom Außenministerium, daß gegenüber Cisleithanien bis zu einer offiziellen Änderung der BegriffReichs¬ kriegsministerium in Verwendung bleibe.90 Im Gegensatz zu Aehrenthal vertrat man in Cisleithanien anscheinend die Meinung, daß der alte Titel in Verwendung bliebe, bis er dezidiert abgeändert wurde. Aehrenthal antwortete scharf: der Be¬ griff „gemeinsamer Kriegsminister" sei durchaus auch schon früher üblich gewe¬ sen, er verwies auf das Recht des Außenministeriums zur Protokollführung im gemeinsamen Ministerrat und in den Zoll- und Handelskonferenzen sowie auf die Titeleinigung im Wehrgesetzentwurf und stellte klar, daß die Formulierung „ersuchen" „dem Verhältnis meines Ressorts zur k. k. Regierung keineswegs entspricht".91 Unklar bleibt, wieso Aehrenthal die Verwendung des Begriffes „ge¬ meinsamer Kriegsminister" mit der Einigung vom 16. September 1910 begründe¬ te, da man sich doch auf „Kriegsminister" verständigt hatte. Der Grund, warum Aehrenthal diese parallele Verwendung als möglich ansah, liegt vermutlich in einem Notenwechsel, der in der „staatsrechtlichen Notiz" vom Juni 1895 erwähnt wurde: „für das Reichs-Kriegs-Ministerium ist kürzlich mittels Notenwechsel die Benennung k. und k. Kriegsministerium oder ebenfalls k. und k. gemeinsames Kriegsministerium für den Verkehr mit Ungarn gewählt worden."92 Diese Ausle¬ gung würde die Interpretation erlauben, daß die Einigung vom 16. September 1910 für Cisleithanien den Titel von Reichskriegsminister zu Kriegsminister än¬ derte, während er für Ungarn nur aussagte, von den zwei möglichen Bezeichnun¬ gen solle im Wehrgesetz der des „Kriegsministers" verwendet werden. Generell wäre „gemeinsamer Kriegsminister" aber auch weiterhin möglich. Diese Diffe¬ renz zwischen Aehrenthal und Bienerth, bzw. dessen Nachfolger Paul Freiherr Gautsch v. Frankenthum fand erst mit der Ernennung Auffenbergs zum „Kriegs¬ minister" ihr Ende. Doch auch die Verwendung dieses Titels vor Sanktionierung der Wehrgesetze (5. Juli 1912) bedurfte trotz der prinzipiellen Zustimmung zum Titel „Kriegsminister" am 16. September 1910 einer besonderen Zustimmung des cisleithanischen Ministerpräsidenten Gautsch, denn Franz Joseph vermerkte auf einem undatierten Zettel eigenhändig: „Ministerpräsident Gautsch ist einver¬ standen, daß die Ernennung des neuen Kriegsministers nur zum Kriegsminister ohne das Wort Reich laute."93 So konnte am 20. September 1911 Schönaich des Postens eines „Reichskriegsministers" - Ungarn gegenüber natürlich eines „ge- 90 Schreiben Bienerths an Pallavicini v. 30. 3. 1911, ebd. fol. 463r. 91 Antwort (K.) Aehrenthals an Bienerth v. 13. 6. 1911, ebd. fol. 462r-v und 48 Ir. 92 Staatsrechtliche Notiz vom Juni 1895, HHStA., PA. I, Karton 630, CdM. V fol. 115v. 93 Ka., MKSM. 70-1/117-3/1911, fol. 2r, ohne Datum. || || 82 Einleitung meinsamen Kriegsministers" -- enthoben und Auffenberg in Deutsch und Unga¬ risch zum neuen „Kriegsminister" ernannt werden.94 Interessant ist, daß in den Akten der gemeinsamen Ministerien nur die Diskus¬ sion um den Begriff „Reichs-" Niederschlag fand. Der Wegfall des Wortes „ge¬ meinsam" im Ungarischen wird überhaupt nicht erwähnt. Zumindest die ungari¬ sche Delegation bediente sich weiterhin des Titels „gemeinsamer Kriegsminister", wie aus den Beschwerden Karl Reichsgraf v. Stürgkh bei Berchtold 1913 und 1914 hervorgeht.95 Die Formulierung der Titeländerung „in Übereinstimmung mit den in verfas¬ sungsmäßiger Behandlung stehenden Wehrvorlagen" hinterläßt einen seltsamen Eindruck. Als ob zukünftige Gesetze, die lediglich „in verfassungsmäßiger Be¬ handlung" standen, die Titel bestimmten und nicht umgekehrt. Es kann nur spe¬ kuliert werden, wie es dazu kam. Cisleithanien und Ungarn fanden am 16. Sep¬ tember 1910 einen Kompromiß in der Frage des Titels, weil sich diese Einigung für die Wehrreform als unerläßlich herausstellte. Da aber zumindest Cisleithanien auf den Kompromiß nur in Anbetracht der Notwendigkeit der Wehrvorlagen ein¬ ging, koppelte es die Titeländerung an diese Vorlagen. Die Verhandlungen zogen sich aber in die Länge. Inzwischen mußte Franz Joseph dem Druck Franz Ferdi¬ nands nachgeben und Kriegsminister Schönaich entlassen. Es stand fest, daß sich der Titel des Kriegsministers spätestens mit der Verabschiedung der Wehrvorla¬ gen ändern würde, bis dahin interpretierten aber zumindest das Außenministeri¬ um und die cisleithanische Regierung den Kompromiß vom 16. September 1910 unterschiedlich. So schien es geboten, den Ministerwechsel zur offiziellen Ände¬ rung des Titels zu nutzen. Weil das Wehrgesetz bei der Ernennung des neuen Kriegsministers aber noch in Verhandlung stand, mußte eine spezielle Zustim¬ mung des cisleithanischen Ministerpräsidenten für die Titeländerung eingeholt werden. Gautsch scheint sie nur auf direktes Drängen Franz Josephs in einer Au¬ dienz gegeben zu haben, jedoch nur unter dem Vorbehalt der Auffechterhaltung des Junktims. Daher wurde das Junktim in das Befehlsschreiben mit aufgenom¬ men. Diese Koppelung konnte aber nicht auf ein noch nicht beschlossenes Gesetz bezogen werden. Daher mußte man nehmen, was da war, und das waren nur die „in verfassungsmäßiger Behandlung stehenden Wehrvorlagen". So kann die For¬ mulierung im Befehlsschreiben der Militärkanzlei Seiner Majestät vom 21. Sep¬ tember 1911 nicht als Begründung, sondern als Junktim von Titel und Wehrgesetz verstanden werden. Franz Ferdinand war damit nicht einverstanden und behielt sich vor, den Titel eines „Reichskriegsministers" unter seiner Regentschaft wie¬ der einzufuhren.96 94 Schönaichs Entlassung Ka., MKSM. 70-1/117-3/1911, fol. 3r-v, Auffenbergs Ernennung ebd., fol. Ir-v. 95 Schreiben Stürgkhs an Berchtold v. 25. 6. 1913 und v. 26. 2. 1914, HHStA., PA. I, Karton 657, CdM. XI/46 fol. 485r-v und 496r-v. 96 Wagner, Die k. (u.) k. Armee 373. || || Einleitung 83 3. Bosnien-Herzegowina97 Der gemeinsame Ministerrat beschäftigte sich in der Zeit von 1908 bis 1914 häu¬ fig mit Bosnien-Herzegowina betreffenden Themen, während er in der Zeit von 1883 bis 1907 nur sehr selten in solchen Angelegenheiten zusammentrat. Grund war die gesteigerte Bedeutung Bosnien-Herzegowinas sowohl für die gemeinsa¬ me Monarchie, als auch für ihre Teile. Die Behandlung der Fragen im gemeinsa¬ men Ministerrat basierte auf sehr unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen. So different die Grundlagen der Themen und die der Zuständigkeit der einzelnen teilnehmenden Minister auch waren, so sehr hingen diese Angelegenheiten in¬ haltlich miteinander zusammen. Bosnien-Herzegowina lag einerseits in einem Spannungsfeld innerhalb der gemeinsamen Monarchie und andererseits in einem außenpolitischen des gesamten Balkans. Diese Spannungsfelder standen in Wech¬ selwirkung zueinander. Mit der Übertragung der Verwaltung Bosnien-Herzegowinas an Österreich- Ungarn in der Berliner Kongreßakte und der darauf folgenden Okkupation bilde¬ ten diese Provinzen ab 1878 einen faktischen Bestandteil der gemeinsamen Mon¬ archie. Zwar unterstanden sie weiterhin offiziell der Souveränität des Sultans, doch wurden sie zivil wie militärisch ausschließlich von der Doppelmonarchie verwaltet, wurden in deren Wirtschaftsraum aufgenommen und damit vom Os- manischen Reich getrennt. Ab 1882 stellten sie auch Truppen für - und nur für - Österreich-Ungarn. Dieser rechtliche „Zwitterstatus"98 konnte nach der soge¬ nannten Jungtürkischen Revolution" im Juli 1908 nicht mehr aufrecht erhalten werden. Da Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina nicht aufgeben wollte, wandelte Franz Joseph die Okkupation mit den Handschreiben vom 5. Oktober 1908 an den Außenminister, an den gemeinsamen Finanzminister und an beide Ministerpräsidenten in eine Annexion um. Nun wurde Bosnien-Herzegowina auch rechtlich und dauerhaft in die gemeinsame Monarchie aufgenommen. Es war nicht mehr nur von der Monarchie besetzt, es war Bestandteil von ihr gewor¬ den. Damit verschärfte sich aber ein Problem: Die faktische, bzw. rechtliche Ein¬ bindung Bosnien-Herzegowinas in die gemeinsame Monarchie stand in schrof¬ fem Gegensatz zur Tatsache, daß dieses Gebiet weder Teil Cisleithaniens, noch Ungarns war. Die gesamte Struktur der Doppelmonarchie war aber auf den Dua¬ lismus dieser beiden Teile ausgerichtet.99 Die Annexion Bosnien-Herzegowinas wird im Kapitel über die Außenpolitik behandelt wer¬ den. Schmid bezeichnet diesen Status als juristischen Schwebezustand, Schmid, Bosnien und die Herzegovina 25. Zu dieser Problematik siehe Lamp Karl, Die Verfassung von Bosnien und der Herzegowina vom 17. Februar 1910. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (Bd. V 1911) 137-229, hier 164 f. sowie 168 f. || || 84 Einleitung Die Problematik wird in einem im September 1908 vom Außenministerium erarbeiteten Entwurf der Proklamation der Annexion in Bosnien-Herzegowina ersichtlich. Er enthielt den Passus, daß Franz Joseph den Titel eines „Königs von Bosnien" annehme.100 So wenig reale Bedeutung dieser Titel auch gehabt hätte, er hätte diese Provinzen doch auch gegenüber beiden Teilen der Monarchie auf¬ gewertet, da Franz Joseph damit eine Königswürde erhalten hätte, die nicht sei¬ nen Titeln als Kaiser von Österreich und als König von Ungarn hätte zugeordnet werden können (wie z. B. der Titel des Königs von Böhmen). Als Aehrenthal den Vorschlag im gemeinsamen Ministerrat unterbreitete, wurde dieser schnell auf spätere Zeiten vertagt und kam nie mehr zur Sprache.101 Das Landesstatut vom 17. Februar 1910 Die jungtürkische Revolution im Osmanischen Reich 1908 hatte zur Wiederein¬ führung der seit 1878 ruhenden Verfassung von 1876 geführt. Österreich-Ungarn hätte Bosnien und der Herzegowina eine Beteiligung an diesem Parlament schlecht verweigern können, da diese Provinzen weiterhin offiziell Teil des Os¬ manischen Reiches waren. Eine Verwaltung durch Österreich-Ungarn mit einer parlamentarischen Beteiligung im Osmanischen Reich hätte jedoch einen poli¬ tisch unhaltbaren Zustand hervorgerufen. Daher mußte Bosnien-Herzegowina vom Osmanischen Reich vor den dortigen Parlamentswahlen getrennt werden. Allerdings durfte Österreich-Ungarn international und in Bosnien-Herzegowina nicht den Eindruck erwecken, daß den Einwohnern der annektierten Gebiete da¬ durch politische Rechte vorenthalten würden. Sie besaßen keine konstitutionellen Rechte innerhalb Österreich-Ungams, und die Annexion verhinderte solche Rechte im Osmanischen Reich. Um diesem Eindruck entgegenzutreten, verkün¬ dete Franz Joseph der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas in der Proklamation der Annexion am 7. Oktober 1908, daß auch sie in Zukunft die hohen Güter der „Teilnahme an der Gesetzgebung und Verwaltung der Landesangelegenheiten" genießen sollten.102 Schmid beurteilte diesen Schritt so: „Die Erlassung der bos¬ nischen Verfassung war deshalb nicht bloß ein Akt staatsmännischer Klugheit, sondern zugleich das Ergebnis politischen Zwanges."103 Das mit der Proklamati¬ on vom 7. Oktober 1908 gegebene konkrete Konstitutionsversprechen hatten die gemeinsamen Minister mit beiden Regierungen umzusetzen. Bei den Diskussio¬ nen um das Landesstatut - wie der gesamten Verfassung an sich - war von zen- 100 Entwurfder Proklamation an das bosnische Volk, September 1908, HHSxA., PA. I, Geheime Akten, Liasse XXXIX: Annexion Bosniens und der Herzegowina (Vorbereitung, Korr, usw.) fol. 103v. 101 GMR. v. 10. 9. 1908, GMCPZ. 468. 102 Proklamation an das bosnisch-hercegovinische Volk, publiziert in Wiener Zeitung (MB) Nr. 231 v. 7. 10. 1908. 103 Schmid, Bosnien und die Herzegovina 28. || || Einleitung 85 traler Bedeutung, daß die neue Verwaltungsorganisation das bestehende Verhält¬ nis Bosnien-Herzegowinas zur Monarchie nicht berühren durfte. Denn § 5 der 1880er Gesetze104 hatte festgelegt, daß jede Änderung dieses Gesetzes der über¬ einstimmenden Genehmigung der Legislativen beider Teile der Monarchie be¬ dürfe. Um also das Landesstatut nicht den Parlamenten Cisleithaniens und Un¬ garns vorlegen zu müssen, durfte es die beiderseitigen gesetzlichen Bestimmungen nicht berühren. Somit handelte es sich um ein ausschließlich bosnisch-herzego- winisches Gesetz, das in beiden Teilen der Monarchie keinerlei rechtliche Bedeu¬ tung hatte und die alte Basis der Gesetze von 1879 - Einbeziehung in den ge¬ meinsamen Wirtschaftsraum - sowie von 1880 - über den Einfluß beider Teile der Monarchie auf die Verwaltung dieser Provinzen - bestehen ließ. In der internen Besprechung der gemeinsamen Minister vom 7. Juni 1909 be¬ merkte Aehrenthal zum vom gemeinsamen Finanzministerium am 30. April 1909 vorgelegten Entwurf des Statutes, „daß Bosnien und die Herzegowina als corpus separatum zu behandeln seien, daß sie aber keinen Staat, kein Subjekt von Ho¬ heitsrechten, sondern bloß ein Verwaltungsgebiet bilden."105 Damit wurde unter¬ strichen, daß diese Provinzen nicht einen dritten politischen Faktor im dualisti¬ schen Gefüge der Monarchie bilden sollten. Dennoch setzte Aehrenthal einen konkreten Vorschlag gegenüber den gemeinsamen Ministem im § 1 des Entwur¬ fes des Landesstatutes durch, der Bosnien-Herzegowina Mitspracherechte im dualistischen Gefüge - bei den Zoll- und Handelskonferenzen - gegeben hätte: „Zum Zwecke der Geltendmachung der besonderen Interessen Bosniens und der Herzegowina sind Vertreter der Verwaltung dieser beiden Länder der im Art. XXII des Vertrages von 8. Oktober 1907 vorgesehenen Zoll- und Handelskonfe¬ renz bei Beratung der in den ersten beiden Absätzen dieses Paragraphes bezeich- neten Angelegenheiten zuzuziehen."106 So unspektakulär, ja geradezu selbstver¬ ständlich diese Aussage aussieht, so wenig konkret über die Rechte der zugezogenen Vertreter dieser Provinzen gesagt wurde, so sehr bedeutete sie doch ein Durchbrechen des Dualismus hin zu einem Trialismus. Bosnien-Herzegowina wäre als dritte Partei in die Diskussionen um die gemeinsamen Wirtschaftsange¬ legenheiten integriert gewesen. Daher stieß Aehrenthals Vorschlag aufeine schar¬ fe Ablehnung beider Regierungen. Buriän referierte die Position Ungarns: „daß sich die kgl. ung. Regiemng gegen die vom k. u. k. gemeinsamen Ministerium auf Grund der am 7. Juni 1909 gepflogenen Beratungen vorgeschlagenen beiden letzten Alineas des § 1 des Statuts sehr kategorisch ausgesprochen habe. Speziell was das letzte Alinea betreffe (Zuziehung von Vertretern der annektierten Länder 104 Die Bezeichnung der 1879er-Gesetze bezieht sich in der Folge aufdas Gesetz v. 20.12. 1879, RGBl. Nr. 136/1879för Cisleithanien und GA. LII/1879fir Ungarn; die 1880er-Gesetze auf das Gesetz v. 22. 2. 1880, RGBl. Nr. 18/1880 für Cisleithanien und GA. VI/1880 für Un¬ garn. 105 Konferenz der gemeinsamen Minister v. 7. 6. 1909, ergänzendes Protokoll anderer Proveni¬ enz IV dieses Bandes. 106 Ebd. || || 86 Einleitung zur Zoll- und Handelskonferenz) perhorresziert die ungarische Regierung alles, was als Einführung Bosniens und der Herzegowina als einen dritten Faktor der Monarchie gedeutet werden könnte. Man wird sich dem Standpunkt der kgl. ung. Regierung umso weniger verschließen können, als die Zuziehung von Vertretern der bosnisch-herzegowinischen Landesverwaltung dem Art. XXII des Aus¬ gleichsvertrages vom 8. Oktober 1907 (betreffend die Zusammensetzung der Zoll- und Handelskonferenz) widersprechen würde."107 Demgegenüber schlug die cisleithanische Regierung vor, den § 1 ganz zu streichen oder bestimmte Än¬ derungen vorzunehmen, die aber eines gemeinsam hatten: „Die Alinea 1, 5 und 6 des § 1 [somit auch die Bestimmungen bezüglich der Zoll- und Handelskonfe¬ renz] fielen sowieso weg."108 Mit diesen Einwänden beider Regierungen war eine Mitbestimmung Bosnien- Herzegowinas bei der Festlegung der gemeinsamen Wirtschaftsangelegenheiten verhindert worden. Es blieb bei der seit 1879 bestehenden „beschränkten Einflu߬ nahme", die Buriän folgendermaßen formulierte: „Nur durch die Bestimmung, die bosnisch-herzegowinischen Vertreter (etwa zwei Fachreferenten der Regie¬ rung) zu hören, ohne ihnen Sitz und Stimme in der Zollkonferenz zu geben, kön¬ ne die bisherige Gesetzgebung intakt aufrecht erhalten bleiben, was ja beide Re¬ gierungen durchaus wünschen."109 Weder Cisleithanien, noch Ungarn waren willens, einen von beiden Teilen auch nur halbwegs unabhängigen dritten Be¬ reich zu akzeptieren. Bosnien-Herzegowina bildete jedoch, außerhalb Cisleitha- niens und Ungarns aber innerhalb Österreich-Ungams gelegen, notgedrungen einen dritten Bereich. Logische Konsequenz war, daß dieser von beiden Teilen der Monarchie in allen Angelegenheiten abhängig sein mußte. Dementsprechend sah dann auch die Landesverfassung aus: Sie wurde, nachdem sie zwischen den gemeinsamen Ministem und beiden Regierungen ausgehandelt worden war, von Franz Joseph Bosnien-Herzegowina am 17. Febmar 1910 oktroyiert. Die Verfas¬ sung umfaßte ein Landesstatut, eine Wahlordnung, eine Geschäftsordnung für den Landtag [!], ein Vereins-, ein Versammlungsgesetz sowie ein Gesetz über die Bezirksräte. Diese Gesetze sollten solange gültig bleiben, bis sie abgeändert wur¬ den (§ 43 des Landesstatutes). Die Abänderung bedurfte aber neben dem Be¬ schluß des Landtages und der Sanktion des Monarchen auch der Zustimmung beider Regierungen. § 42 des Landesstatutes zählte dann taxativ 27 Gegenstände auf, die der Landtag verhandeln durfte. Alles andere war seiner Kompetenz ent¬ zogen, damnter fundamentale Angelegenheiten, die § 41 festhielt: generell alles, was nicht ausschließlich Angelegenheit dieser Provinzen war, besonders alle ge¬ meinsamen und gemeinschaftlichen Agenden des staatsrechtlichen Ausgleichs von 1867 (also beispielsweise die Politik der gemeinsamen Ministerien, die 107 Konferenz der gemeinsamen Minister v. 6. 9. 1909, ergänzendes Protokoll anderer Proveni¬ enz V dieses Bandes. 108 Ebd. 109 Ebd. || || Einleitung 87 Wehrgesetze, das Wirtschaftsbündnis oder die Verwendung der Zölle); alle sich aus diesem Ausgleich ergebenden gemeinschaftlichen Agenden (also z. B. Zoll¬ verträge mit dem Ausland, Bestimmungen wegen der gemeinsamen Verzehrungs¬ steuern usw.); alle Agenden, die sich aus der Aufnahme Bosnien-Herzegowinas in den gemeinsamen Zollverband ergaben (z. B. das sogenannte Zollaversum110); alle Agenden, die durch Gesetze in beiden Teilen der Monarchie zu regeln waren (z. B. die Stellung Bosnien-Herzegowinas innerhalb der Monarchie). Zusätzlich wurde das Recht auf Feststellung des Landesbudgets (§ 42, Punkt 1) beschränkt. Entzogen blieben dem Landtag die Militärausgaben (§ 45) und die sich aus der Wirtschaftsgemeinschaft ergebenden Budgetposten, wie z. B. die Höhe der Ver¬ zehrungssteuern (§ 46). Des weiteren hielt § 44 fest: sollte bis zum Ende eines Budgetjahres kein Budget für das kommende Jahr vorliegen, „bleibt das Budget des laufenden Jahres in Gültigkeit, bis es durch ein neues, auf gesetzmäßigem Wege zu stände gekommenes Budget ersetzt ist." Aber auch in den Angelegen¬ heiten, die der Landtag behandeln durfte, war sowohl die Einbringung von Ge¬ setzentwürfen durch die Landesregierung (§ 37), als auch die Erwirkung der Sanktion votierter Gesetze (§ 38) an die vorherige Zustimmung beider Regierun¬ gen gebunden. Mit dem § 48 enthielt das Landesstatut schließlich einen Notver¬ ordnungsparagraph, ähnlich dem § 14 des cisleithanischen Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung,111 der es der bosnisch-herzegowinischen Landesregie- rung ermöglichte, in dringenden Angelegenheiten Gesetze im Verordnungsweg nach Zustimmung beider Regierungen und der Sanktion des Monarchen zu erlas¬ sen, wenn der Landtag nicht versammelt war. Auch wählte nicht der Landtag sein Präsidium, es wurde vom Monarchen ernannt (§ 23). Schließlich besaßen der Landtag oder dessen Mitglieder keinerlei Kontrollrechte gegenüber der Landes¬ regierung (§ 31). Die politischen Rechte Bosnien-Herzegowinas waren also sehr eingeschränkt. Beide Regierungen konnten auf die Gesetze dieser Provinzen mehr Einfluß üben als der eigene Landtag. Auch nach dem Oktroi der Landesverfassung waren die Landesangehörigen Bosnien-Herzegowinas in Österreich-Ungarn nur „Einwoh¬ ner minderer Rechte".112 Das gesamte Landesstatut wurde getragen von dem Ver¬ such beider Teile der Monarchie, Bosnien-Herzegowina in den gemeinsamen und gemeinschaftlichen Angelegenheiten keine wie auch immer gearteten Mitspra¬ cherechte einzuräumen. Aber auch die Regelung der internen Angelegenheiten Bosnien-Herzegowinas stand vollkommen unter der Kontrolle beider Regierun¬ gen. Alles, was dieses Gebiet zu einem dritten Faktor innerhalb der gemeinsamen Monarchie hätte machen können, sollte unterbunden werden. Das Landesstatut 110 Für Cisleithanien Gesetz v. 20.12.1879, RGBl. Nr. 136/1879, bzw.für Ungarn GA. LII/1879, jeweils § 13. 111 Gesetz v. 21. 12. 1867, RGBl. Nr. 141/1867. 112 Schmid bezog sich konkret darauf, daß Bosnien-Herzegowina nicht an der Gestaltung der pragmatisch-gemeinsamen Politik durch die Delegationen mitbeteiligt war, Schmid, Bosnien und die Herzegovina 30. || || 88 Einleitung konnte daher die gebildeten - an dem Statut interessierten - Schichten der Bevöl¬ kerung nicht zufriedenstellen; zu deutlich waren die Beschränkungen der Rechte, zu offensichtlich die konstitutionelle Abhängigkeit von Cisleithanien und Un¬ garn. Kmetenablöse Eine andere Frage hatte eine ebenso große Brisanz für Bosnien-Herzegowina, wie die der Landesverfassung: die Agrarfrage oder Kmetenablöse. Der Kmet war ein Bauer, der nicht eigenen Boden, sondern den eines Grundbesitzers bestellte und dafür verschiedene Abgaben und Leistungen zu erbringen hatte. Über 85 % der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas waren 1910 in der Land- und Forstwirt¬ schaft beschäftigt, ein Viertel der Bevölkerung waren Kmeten, weitere 10 % so¬ genannte Teilkmeten, d. h. das von ihnen bestellte Land bestand zum Teil aus Kmetenland, zum Teil aus eigenem Besitz. Bis zur Annexion 1908 war Öster¬ reich-Ungarn in seiner Agrarpolitik an die Konvention mit dem Osmanischen Reich vom 21. April 1879 gebunden, die besagte, daß das Eigentum der Moham¬ medaner unangetastet zu bleiben habe.113 Dies wurde vom gemeinsamen Finanz¬ minister Benjamin v. Källay so ausgelegt, daß man österreichisch-ungarischer- seits keine obligatorische „Kmetenbefreiung" durchführen dürfe, weil das einen Eingriff in die Besitzverhältnisse der mohammedanischen Grundherren bedeutet hätte.114 Daher wurde in Bosnien-Herzegowina nur die aus osmanischer Zeit stammende Möglichkeit der freiwilligen Ablöse geboten, wenn Grundherr und Kmet zustimmten. Die Hälfte der Ablösesumme wurde dem Kmeten von den Landesfinanzen als Kredit zur Verfügung gestellt, die andere Hälfte hatte er selbst aufzubringen. Auf diese Weise sank die Zahl der in Kmentenfamilien lebenden Menschen von über 500 000 oder 32,6 % der Bevölkerung 1895 auf445 000 oder 23,4 % 1910.115 Die Agrarfrage hatte neben dem sozialen einen national-konfessionellen Hin¬ tergrund. Die überwiegende Mehrheit der Grundbesitzer und Freibauern, jedoch kaum Kmeten zählten zu den mohammedanischen Einwohnern. Bei den katholi¬ schen Kroaten hielten sich Freibauern und Kmeten die Waage, bei den orthodo¬ xen Serben überwogen die Kmeten deutlich. Da mit der Annexion die Konventi¬ on mit dem Osmanischen Reich von 1879 aufgehoben wurde, erwartete man sich 1,3 Konvention zwischen Österreich-Ungarn und der Türkei v. 21. 4. 1879, Artikel II, publiziert in: Bernatzik, Österreichische Verfassungsgesetze Nr. 196. 114 Wessely Kurt, Die wirtschaftliche Entwicklung von Bosnien-Herzegowina. In: Wandruszka Adam-URBANixscH Peter (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 1: Brusatti Alois (Hg.), Die wirtschaftliche Entwicklung 531 f. sowie Hauptmann, Österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien 194. 115 Grünberg Karl, Die Agrarverfassung und das Grundentlastungsproblem in Bosnien und der Herzegowina (Leipzig 1911) 117. || || Einleitung 89 allgemein eine definitive Lösung der Kmetenfrage, besonders da Buriän schon seit Jahren bestrebt war, andere feudalistische Relikte abzuschaffen, wie 1908 den „Staatsrobot für Straßenzwecke".116 Eine obligatorische Kmetenablöse kam aber für die bosnisch-herzegowinische Verwaltung auch nach der Annexion nicht in Frage. Wegen der strikten, gegen die Habsburgermonarchie gerichteten Politik des Königreiches Serbien bestanden Zweifel an der Zuverlässigkeit der serbi¬ schen Bevölkerung.117 Mit den Mohammedanern glaubte man, über ein notwen¬ diges politisches Gegengewicht gegen die Serben zu verfugen.118 Eine geringe Entschädigung hätte die mohammedanischen Grundherren verarmen lassen, eine obligatorische teure Ablöse konnten sich die bosnisch-herzegowinischen Landes¬ finanzen wie die Kmeten nicht leisten. Daher beschritt man einen Mittelweg: man behielt zwar die Freiwilligkeit bei, erleichterte aber die Ablösebedingungen. Während zuvor der Kmet eine Hälfte der Ablösungssumme sofort selbst aufbrin¬ gen mußte und von den Landesfinanzen nur die andere Hälfte als Darlehen erhal¬ ten konnte, sollte in Zukunft die ganze Summe als Kredit gewährt werden kön¬ nen. Buriän versuchte, die Kmetenablöse der „Fester Kommerzialbank" zu übertragen, die zu diesem Zweck die „Agrar- und Kommerzialbank für Bosnien und die Herzegowina" gründen sollte. Dieser Versuch scheiterte aber am cislei- thanischen Widerstand.119 In dieser Angelegenheit trat am 28. Februar 1910 der gemeinsame Ministerrat zusammen und beschloß ein an Buriän zu richtendes Handschreiben Franz Josephs, in dem ausgesprochen werden sollte, „dass staat¬ lich garantierte freiwillige Kmetenablösungen entsprechend der großen Wichtig¬ keit dieser Loskaufmethode künftighin ausschließlich von besonderen hiezu de¬ legierten Regierungsorganen unter Aufwendung von Landesmitteln durchgefuhrt werde."120 Das Handschreiben erging an Buriän mit 3. März 1910, am 19. Juli legte die Landesregierung dem neu zusammengetretenen bosnisch-herzegowini¬ schen Landtag den „Gesetzentwurf betreffend die Erteilung von Darlehen zur 116 Vortrag Buriäns v. 6. 7. 1908 zurAufltebung des Staatsrobots für Straßenzwecke, resolviert mit Ah. E. v. 20. 7. 1908, HHStA., Kab. Kanzlei, KZ. 2175/1908. Zum Staatsrobot siehe Hauptmann, Österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien 71 f. 117 Siehe z. B. die Forderung Schönaichs nach Vermehrung der Gendarmerie in Bosnien-Herze¬ gowina wegen der großserbischen Idee, die er in der gemeinsamen Beratung v. 1. 12. 1907 stellte, ergänzendes Protokoll anderer Provenienz I dieses Bandes. 118 Siehe z. B. die Beurteilung der Haltung der drei Bevölkerungsgruppen der Serben, Kroaten und Moslems Bosnien-Herzegowinas durch Auffenberg in seinen Berichten v. 1. 4. 1908 und 19. 1. 1909, Haselsteiner Horst, Politische und militärische Überlegungen zur Haltung Österreich-Ungams gegenüber Bosnien und der Hercegovina 1908/09. In: ders., Orientkrise und Südslavische Frage (Wien-Köln-Weimar 1996) 96-103. 119 Grünberg, Die Agrarverfassung 68-75. 120 Entwurf eines Allerhöchsten Handschreibens. Beilage zu GMR. v. 28. 2. 1910, GMCPZ. 478. || || 90 Einleitung freiwilligen Ablösung der Kmetenansässigkeiten" vor und am 5. April 1911 wur¬ de es nach Annahme durch den Landtag von Franz Joseph sanktioniert.121 Mit dem Beginn der Balkankriege 1912 geriet die Kmetenablöse erneut in Diskussion, da Serbien in den eroberten türkischen Gebieten die Kmeten von den Abgaben an die Grundherren entschädigungslos befreit hatte. Die bosnisch-her- zegowinische Verwaltung sah sich schnell einer Unzufriedenheit der überwie¬ gend serbischen Kmeten Bosnien-Herzegowinas gegenüber, die Bilihski und den Landeschef von Bosnien-Herzegowina Oskar Potiorek zu dem Schluß kommen ließen, daß eine obligatorische Ablöse durchgeführt werden müsse.122 Doch steck¬ te die Revision der Kmentenpolitik zu Beginn des Ersten Weltkrieges noch mitten in der Diskussion.123 Vorschläge zur „Vertiefung des Reichsgedanken" in Bosnien-Herzegowina Die Balkankriege mit den Erfolgen der serbischen Armee zeigten, wie wenig Rückhalt Österreich-Ungarn in Bosnien-Herzegowina besonders unter der serbi¬ schen Bevölkerung besaß.124 Dies löste bei der Verwaltung Bosnien-Herzegowi¬ nas, im Kriegsministerium und im Generalstab die Befürchtung aus, es sei „zu erwarten, daß nach Beendigung der Balkankriege unsere südslavischen Kronlän- der die nächste politische Aspiration unserer Grenznachbam bilden und daß diese kein Mittel unversucht lassen werden, um durch politische Wühlarbeit den Boden für ihre Bestrebungen vorzubereiten". Daher sollte „die untrennbare Verbindung dieser Gebiete mit der Monarchie bei jeder Gelegenheit sinnfällig zum Ausdruck" gebracht werden.125 Potiorek unterbreitete im März 1913 Vorschläge, „den Reichs¬ gedanken in Bosnien und der Hercegovina zu vertiefen".126 Anhand dieser Anträ¬ ge erstattete Kriegsminister Alexander Ritter v. Krobatin am 23. Oktober 1913 einen Vortrag, in dem neben Vorschlägen für die Kriegsverwaltung auch einer für die Zivilverwaltung zur Sprache kam. Diesen griff Bilihski auf und teilte ihn 121 Gesetz v. 13. Juni 1911, Gesetz- und Verordnungsblatt für Bosnien und die Hercegovina Nr. 68/1911. Zurpolitischen Debatte in Bosnien-Herzegowina siehe Schmid, Bosnien und die Herzegovina 334 f. 122 Siehe JuzbaSic Dzevad, Der Einfluß der Balkankriege 1912/13 auf Bosnien-Herzegowina und auf die Behandlung der Agrarfrage. In: Haselsteiner Horst-HRABOVEC Emilia-SuPFAN Arnold (Hg.), Zeiten Wende Zeiten 58, 66 f. Die Differenz zwischen Bilihski und Potiorek bestand darin, ob die obligatorische Kmetenablöse vor oder erst nach der militärischen Aus¬ einandersetzung mit Serbien erfolgen solle. 123 Zur Beurteilung des Gesetzes der fakultativen Kmetenablöse, wie der Agrarpolitik Öster¬ reich-Ungarns in Bosnien-Herzegowina insgesamt siehe Schmid, Bosnien und die Herzego¬ vina 336-348. 124 JuzbaSic, Der Einfluß der Balkankriege 58. 125 Vortrag Krobatins v. 23. 10. 1913, Ka„ MKSM. 97-1/3-8/1913. 126 Schreiben Potiorek an Krobatin v. 5. 3. 1913, Ka., KM., Präs. 81-22/2/1913, fol. 12-14. || || Einleitung 91 beiden Regierungen mit.127 Im November 1913 wurde diese Anregung vom ge¬ meinsamen Ministerrat besprochen, aber wegen der strikt ablehnenden Haltung Ungarns verworfen.128 Am Ende bemerkte das Protokoll des gemeinsamen Mini¬ sterrates nur, daß es keinerlei Einwände gebe, wenn der Kriegsminister seine Anträge bezüglich der vollständigen Eingliederung der bosnisch-herzegowini- schen Truppen in das gemeinsame Heer stellen würde, aber Krobatins Vortrag blieb unresolviert. Dennoch sind die vorgebrachten Vorschläge bedeutsam, zeigen sie doch, wie kritisch die Situation von der Verwaltung Bosnien-Herzegowinas und dem Kriegsministerium eingeschätzt wurde. Die Begründung dieser Anträge, „daß keine anscheinend noch so belanglose Äußerlichkeit versäumt werden sollte, um die untrennbare Verbindung Bosniens und der Hercegovina mit der Monarchie darzutun",129 verdeutlichten dies nur zu gut. Betrachtet man die Anträge, so stellt man fest, daß Potiorek und das Kriegsministerium tatsächlich nur „belanglose Äußerlichkeiten" für Bosnien-Herzegowina in Vorschlag brachten. So sollten die zivilen Behörden den Titelzusatz „kaiserlich und königlich" erhalten. Die bos- nisch-herzegowinischen Truppen sollten in das System des gemeinsamen Heeres einbezogen und den anderen k. u. k. Infanterieregimentem, bzw. Jägerbataillonen gleichgestellt werden. Die Regimenter sollten Fahnen und Inhaber sowie Titel, Nummer und Adjustierung wie die anderen gemeinsamen Infanterieregimenter erhalten - mit Ausnahme des Fes'. Die „k. u. k. Gendarmerie" in Bosnien-Herze¬ gowina sollte auf der Leibriemenschließe statt des Landeswappens den Doppel¬ kopfadler erhalten und im Bereich des 15. und 16. Korps sollten für das gemein¬ same Heer dieselben Paradeadjustierungsbestimmungen gelten, wie in den übrigen Korps, sprich die in Bosnien-Herzegowina stationierten Truppenkörper sollten im Gegensatz zur bis dahin üblichen Praxis mit Fahnen und Musik aus den Kasernen marschieren.130 Die im Vortrag genannte große Zielsetzung, die kom¬ mende serbische „Wühlarbeit" durch eine Festigung der Verbindung Bosnien- Herzegowinas mit Österreich-Ungarn zumindest zu erschweren, stand in einem krassen Mißverhältnis zu den sich in „noch so belanglosen Äußerlichkeiten" er¬ schöpfenden Anträgen. Als ob Österreich-Ungarn mit Aufschriften auf Ämtern oder Nummern und Fahnen für bosnisch-herzegowinische Regimenter einer ser¬ bischen Propaganda etwas hätte entgegensetzen können. Diese Anträge Potio- reks, übernommen vom Kriegsministerium, waren die einzigen Angebote an Bosnien-Herzegowina, die den beiden Regierungen halbwegs realistisch als Ad- hoc-Maßnahmen vorgeschlagen werden konnten. Konkrete Zugeständnisse wur- 127 Schreiben Bilihski an beide Ministerpräsidenten v. 28. 10. 1913 (Abschrift), HHSxA., PA. I, CdM. V/29, CdM. 690/1913 fol. 568r-571r. 128 GMR. v. 10. 11. 1913/111, GMKPZ. 509. 129 Vortrag Krobatins v. 23. 10. 1913, Ka., MKSM. 97--1/3--8/1913. 130 Ebd. || || 92 Einleitung den schon im Vorfeld der Überlegungen fallen gelassen, wie eine Vertretung Bosnien-Herzegowinas mit je sechs Abgeordneten in beiden Delegationen.131 Aber selbst diese symbolhaften Vorschläge wurden nicht realisiert. Im gemein¬ samen Ministerrat lehnte Ungarn die Titulatur „kaiserlich und königlich" bei bosnisch-herzegowinischen Landesbehörden ab, weil sie nach Auffassung der ungarischen Regierung nur geeignet sei, „Erwartungen und Hoffnungen hervor¬ zurufen, welche mit den gemeinsamen Interessen nicht vereinbar wären".132 Das hieß, der Zusatz „k. u. k." hätte als Aufwertung Bosnien-Herzegowinas von einer reinen provinzialen Verwaltungseinheit zu einer eigenen staatsrechtlichen Entität innerhalb der Monarchie neben Cisleithanien und Ungarn verstanden werden können und hätte dem Wunsch nach einem wie auch immer gearteten Trialismus neue Nahrung geben können. Schon dieser Eindruck mußte daher den Dualismus gefährden und wurde somit von Ungarn konsequent abgelehnt. Im Gegensatz dazu konnte sich die cisleithanische Regierung für den Antrag zwar „nicht begei¬ stern [...], so trage sie doch keine Bedenken gegen diese Maßregel und glaube auch nicht, daß hiedurch ein Präjudiz geschaffen würde."133 Mit dem ungarischen Veto war die Angelegenheit aber abgelehnt worden. Auch die Anträge zur Einbin¬ dung der bosnisch-herzegowinischen Truppen in das gemeinsame Heer, die der gemeinsame Ministerrat widerspruchslos zur Kenntnis nahm, wurden von Franz Joseph nicht resolviert. Der Vorstoß des gemeinsamen Kriegsministeriums mit dem Vortrag Krobatins vom 23. Oktober 1913 verdeutlicht dreierlei: Nach Einschätzung der Situation durch die bosnisch-herzegowinische Verwaltung und durch das Kriegsministeri¬ um war die Situation in Bosnien-Herzegowina durch die großen Erfolge Serbiens in den Balkankriegen derart prekär geworden, daß man unverzüglich alle mögli¬ chen Maßnahmen ergreifen müsse, die Loyalität der Bevölkerung zu heben, um sie gegen die kommende serbische Propaganda resistenter zu machen. Als Ma߬ nahmen zur Hebung der Loyalität konnten nur Vorschläge unterbreitet werden, die lediglich symbolhaften Charakter hatten, keineswegs aber konkrete Verbesse¬ rungen für die Einwohner Bosnien-Herzegowinas. Die geplanten Maßnahmen erschöpften sich daher in „belanglosen Äußerlichkeiten". Dennoch konnten diese Vorschläge Hoffnung auf einen Trialismus wecken, auch wenn dieser nach cis- leithanischer Meinung damit nicht präjudiziert war. Somit waren beide Regierun¬ gen vor eine Wahl gestellt worden. Entweder hätten sie sich zur Förderung einer größeren Loyalität Bosnien-Herzegowinas gegenüber der Monarchie und damit einer größeren Widerstandskraft gegenüber einer serbischen Agitation zu einer staatsrechtlichen Entscheidung durchringen müssen, mit der diese Provinzen ne¬ ben beide Teile der Monarchie gestellt worden wären. Oder die Regierungen 131 JuzbaSic Dzevad, Das österreichisch-ungarische „gemeinsame Ministerium" und die Verwal¬ tung von Bosnien-Herzegowina nach der Annexion 1908 283 ff. 132 GMR. v. 10. 11. 1913/III, GMKPZ. 509. 133 Ebd. || || Einleitung 93 mußten jede Änderung an den Titulaturen ablehnen, um das Prinzip des Dualis¬ mus auch weiterhin außer Frage zu stellen. Während Cisleithanien ungern, aber doch bereit war, die dualistische Symbolik für die Loyalität zu opfern - mit dem Hinweis, daß damit nichts präjudiziert sei -, stellte die ungarische Regierung den Dualismus über die von Bosnien-Herzegowina ausgehende Gefahr einer Anfäl¬ ligkeit für die befürchtete kommende verstärkte serbische Agitation. Die Stellung der bosnisch-herzegowinischen Truppen im Gefüge der gesamten bewaffneten Macht Unter „bosnisch-herzegowinischen" Truppen sind nicht die in Bosnien-Herzego¬ wina stationierten Truppen gemeint, sondern die aus dem Land rekrutierten Trup¬ pen. Entsprechend der Dislokationspraxis der Kriegsverwaltung waren sie in an¬ deren Teilen der Monarchie gamisoniert. Im Jahr 1903 schrieb Ferdinand Schmid über den rechtlichen Status der bosnisch-herzegowinischen Truppen: „Dagegen bilden die bosnisch-herzegowinischen Truppen entsprechend der bisherigen, endgültig noch nicht entschiedenen Völker- und staatsrechtlichen Stellung der beiden Länder rechtlich keinen Bestandteil der österreichisch-ungarischen Wehr¬ kraft. [...] Trotz dieser rechtlichen Sonderstellung der bosnisch-herzegowini¬ schen Truppen stehen dieselben gleichwohl in einem gewissen rechtlichen Kon¬ nexe mit dem österreichisch-ungarischen Heere."134 Dieser rechtliche Konnex war durch die „einheitliche und ausschließliche Dienstgewalt" des „obersten Kriegsherren" und die Verwendung dieser Truppen zur Verteidigung der gesam¬ ten Monarchie gegeben.135 1914 schrieb Schmid hingegen: „diese Truppen sind keine besonderen Landestruppen, sondern Reichstruppen und ausdrücklich in der bosnischen Verfassung für einen Bestandteil des gemeinsamen Heeres erklärt".136 Im 5. Absatz des § 1 des Landesstatutes vom 17. Februar 1910 hieß es: „Die bosnisch-herzegowinischen Truppen sowie die sonstigen militärischen Organisa¬ tionen Bosniens und der Herzegowina bilden einen organischen Teil der Wehr¬ macht der Monarchie." Außerdem hatte Franz Joseph schon mit Befehlsschreiben vom 5. Oktober 1908 angeordnet, daß den bosnisch-herzegowinischen Rekruten ab jetzt der im Dienstreglement des k. u. k. Heeres vorgeschriebene Eid abzuneh¬ men sei sowie „die bosnisch-hercegovinischen Truppen sowohl, als die sonstigen speziellen militärischen Organisationen dieser Länder [...] fortab die Bezeich¬ nung: ,k. u. k.` zu fuhren" haben.137 In den „Erklärungen und Begründungen zum Wehrgesetzentwurf für Bosnien und die Hercegevina" heißt es dazu: „Die Anne- 134 Schmid Ferdinand, Das Heeresrecht der österreichisch-ungarischen Monarchie (Wien-Leip¬ zig 1903) 29. 135 Ebd. 136 Schmid, Bosnien und die Herzegovina 103. 137 Zirkularverordnung vom 6. 10. 1908, Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer, Normalver¬ ordnungen Jänner bis Ende Dezember 1908, Nr. 169. || || 94 Einleitung xion Bosnien und der Hercegovina und die damit erfolgte Einbeziehung der bos- nisch-hercegovinischen Truppen [...] in das gemeinsame Heer [...]" und später nochmals: „Staatsrechtliche und politische Gründe erheischen es, die im Landes¬ statut ausgesprochene enge Einbeziehung der nach Bosnien und der Hercegovina ergänzungszuständigen Truppen [...] in das gemeinsame Heer, im Wehrgesetz- entwurfe für Bosnien und die Hercegovina zu wiederholen."138 Diese beiden Rechtsakte - Handschreiben vom 5. Oktober 1908 und Landesstatut - wurden dahingehend interpretiert, daß damit die bosnisch-herzegowinischen Truppen in das gemeinsame Heer integriert waren. Diese „Erläuterungen und Begründun¬ gen" sprechen aber keinesfalls davon, daß die bosnisch-herzegowinischen Trup¬ pen „für einen Bestandteil des gemeinsamen Heeres erklärt", sondern nur davon, daß sie darin „einbezogen" wurden. Diese Formulierung läßt offen, ob damit eine rechtliche oder z. B. nur organisatorische Einbeziehung gemein war. An Schmids Aussage, daß diese Truppen mit dem Landesstatut ein Teil des gemeinsamen Heeres geworden seien, ergeben sich gewisse Zweifel: Das Be¬ fehlsschreiben ordnete zwar den Titelzusatz „k. u. k." für die bosnisch-herzego¬ winischen Truppen an, bestimmte sie aber nicht dezidiert als Teil des gemeinsa¬ men Heeres. Der Titel „k. u. k." wurde zwar vom gemeinsamen Heer geführt, war aber nicht ausschließlich dessen Symbol, sondern wurde im Laufe der Zeit das der gemeinsamen Monarchie schlechthin. Auch der gemeinsame Finanzminister, dem die Verwaltung dieser Provinzen unterstellt war, führte den Titel „k. u. k.", und Franz Joseph beherrschte Bosnien-Herzegowina als „Kaiser von Österreich und Apostolischer König von Ungarn", also als gemeinsamer „k. u. k." Monarch. Somit konnte der Zusatz „k. u. k." für die bosnisch-herzegowinischen Truppen verschiedene Erklärungen haben und sagte nicht unbedingt etwas über die Zuge¬ hörigkeit zum gemeinsamen Heer aus. Auch sei darauf hingewiesen, daß das „k. u. k." eine gewisse rechtliche Unklarheit besaß, wie die Diskussionen um das Landesstatut zeigten. Als Buriän den Entwurf des Landesstatutes nach den Be¬ schlüssen des gemeinsamen Ministerrates im September 1909 überarbeitete, ver¬ wendete er als Bezeichnung der bosnisch-herzegowinischen Truppen im § 45 den Begriff „k. u. k. Truppen".139 Darauf machte Aehrenthal Buriän aufmerksam und meinte, daß es „richtig wohl ,für die bosnisch-hercegovinischen Truppen1 hei¬ ßen" solle.140 In der Korrektur ließ man im Außenministerium also das „k. u. k." dieser Truppen trotz des Befehlsschreibens Franz Josephs vom 5. Oktober 1908 ganz weg. Im Landesstatut vom 17. Februar 1910 wurden dann in § 45 beide Zusatzbezeichnungen aufgenommen: „k. u. k. bosnisch-herzegowinische Trup¬ pen". Der Einfluß des Befehlsschreibens vom 5. Oktober 1908 für den Titel der 138 Erläuterungen und Begründungen zum Wehrgesetzentwurfe für Bosnien und die Herce¬ govina vom Jahre 1911 (Wien 1911) 2, 14. 139 Buriän teilte Aehrenthal seine Revision mit Schreiben v. 25. 9. 1909 mit. In der Anlage die überarbeiteten Gesetzentwürfe, HHStA., PA. I, CdM. VIII c/12-1, CdM. 491/1909. 140 Schreiben (K.) Aehrenthal an Buriän v. 4. 10. 1909, ebd. 550r-v. || || Einleitung 95 Gesamtheit dieser Truppen im gemeinsamen Finanz- und im Außenministerium wurde sehr unterschiedlich ausgelegt. Letztlich wurde der Titel aber auch im Landesstatut nicht exakt festgelegt, denn die Benennung im § 45 stand in einem deutlichen Mißverhältnis zum 5. Absatz des § 1 des Statutes. Denn sowohl in der durch das gemeinsame Finanzministerium im September 1909 revidierten Fas¬ sung des Entwurfes, wie dann im Landesstatut selbst war nur die Rede von den „bosnisch-herzegowinischen Truppen". Somit kommen im Landesstatut zwei un¬ terschiedliche Bezeichnungen zur Anwendung. Der Titel der Truppen wurde auch im Landesstatut keineswegs normiert. Prinzipiell kommt aber dem § 1, als der Definition der staatsrechtlichen Stellung dieser Truppen im Gefüge der gesamten bewaffneten Macht, die höhere Bedeutung zu. Es ist festzuhalten, daß der 5. Absatz des § 1 des Landesstatutes nicht davon spricht, daß die bosnisch-herzegowinischen Truppen „einen organischen Teil der k. u. k. gemeinsamen Wehrmacht der Monarchie" bilden, wie Schönaich in der Konferenz der gemeinsamen Minister am 6. September 1909 für diese Textstelle vorgeschlagen hatte.141 Aufungarisches Verlangen wurde der Text in „einen orga¬ nischen Teil der Wermacht der Monarchie" abgeändert.142 Die präzisierende Be¬ zeichnung „k. u. k. gemeinsamen" wurde bewußt weggelassen. Der Begriff „Wehrmacht der Monarchie" deutet daher tendenziell auf die Streitmacht der Monarchie allgemein hin. Dies wäre dann die „bewaffnete Macht", die neben dem gemeinsamen Heer auch die beiden Landwehren umfaßte. Die Aussage Schmids, die bosnisch-herzegowinischen Truppen seien „ausdrücklich in der bosnischen Verfassung für einen Bestandteil des gemeinsamen Heeres erklärt" worden, trifft somit keineswegs zu. In dem entscheidenden § 1 fehlen den bos¬ nisch-herzegowinischen Truppen das „k. u. k." und der Wehrmacht der Monar¬ chie, deren Bestandteil sie wurden, das „k. u. k. gemeinsame". Schließlich spricht auch ein formaler Umstand gegen die Annahme, diese Truppen seien ab 1908 bzw. 1910 Teil des gemeinsamen Heeres geworden. Im Jahr 1899 war § 14 der Wehrgesetze beider Teile der Monarchie von 1889143 aus¬ gelaufen. Dieser Paragraph bestimmte das Gesamtrekrutenkontingent des ge¬ meinsamen Heeres und der Kriegsmarine. Da 1899 bis 1912 kein neues Wehrge¬ setz zustande kam, mußte das Rekrutenkontingent nun jedes Jahr in Cisleithanien und Ungarn neu bestimmt werden. Bis zum Wehrgesetz von 1912 erfolgte die Festsetzung des jährlichen Rekrutenkontingentes aber ohne Erwähnung der bos¬ nisch-herzegowinischen Rekruten. Da beide Teile der Monarchie mit diesen Ge¬ setzen durch die jährliche Feststellung des Rekrutenkontingentes immer rechtlich auf dem „neuesten Stand" waren, dabei das gesamte Kontingent des gemeinsa¬ men Heeres bestimmten und in diesem Gesamtkontingent keineswegs die bos¬ nisch-herzegowinischen Rekruten inbegriffen waren, noch sie sonst irgendwie 141 Ergänzendes Protokoll anderer Provenienz V dieses Bandes. 142 GMR. v. 12.2. 1910, GMCPZ. 477. 143 Für Cisleithanien Gesetz v. 11. 4. 1889, RGBl. Nr. 41/1889, /wr Ungarn GA. VI/1889. || || 96 Einleitung erwähnt wurden, können die bosnisch-herzegowinischen Rekruten und ihre Ein¬ heiten auch nach 1908 bzw. 1910 nicht im Rahmen des gemeinsamen Heeres gedient haben. Das Befehlsschreiben und die Landesverfassung scheinen viel¬ mehr nur dem Umstand Rechnung getragen zu haben, daß die bosnisch-herzego¬ winischen Soldaten, die bis zum 5. Oktober 1908 offiziell Untertanen des Sultans gewesen waren, mit der Annexion Einwohner Österreich-Ungams wurden und daß sich daher in diesem Belang ihre Pflichten sowie die staatsrechtliche Stellung der bosnisch-herzegowinischen Truppen insgesamt gegenüber Österreich-Ungarn änderten. Dennoch hatte Schmid mit seiner Aussage 1914 durchaus Recht, daß die bos¬ nisch-herzegowinischen Truppen Teil des gemeinsamen Heeres waren. Nur ge¬ schah dies nicht durch das Landesstatut vom 17. Febmar 1910, sondern durch das bosnisch-herzegowinische Wehrgesetz vom 11. August 1912. Hier hieß es in § 2 mm zum ersten Mal eindeutig: „Die bosnisch-hercegovinischen Landesangehöri¬ gen erfüllen ihre Dienstpflicht in der gemeinsamen Wehrmacht. Die gemeinsame Wehrmacht umfaßt das gemeinsame Heer und die Kriegsmarine. Die nach Bosnien und der Hercegovina ergänzungszuständigen Truppen, Militärbehörden, -anstalten und -brachen bilden einen integrierenden Bestandteil des gemeinsamen Heeres."144 Mit der Definition des § 2 des bosnisch-herzegowinischen Wehrgesetzes bildeten die bosnisch-herzegowinischen Trappen „einen integrierenden Bestandteil des ge¬ meinsamen Heeres", also einen separaten Bereich im gemeinsamen Heer. Dieser wies einige Besonderheiten auf. Die bosnisch-herzegowinischen Truppen wurden über ihr Landesbudget und nicht über das gemeinsame Budget des Kriegsministe¬ riums finanziert - d. h. diese Ausgaben des gemeinsamen Heeres lagen außerhalb des Entscheidungsrahmens der Delegationen. Sie hatten eine eigene ökonomische Verwaltung, die der Landesregierung in Sarajewo und nicht dem Kriegsministeri¬ um unterstand145 und sie hatten eine eigene Numerierung. Kurz, es handelte sich bei diesen Truppen um ein corpus separatum innerhalb des gemeinsamen Heeres. Daraus konnte sich ein immenses Problem ergeben, das möglicherweise nur wegen der kurzen Friedensphase, die der Monarchie noch verblieb, nicht mehr auf die Tagesordnung kam. Mit der Bestimmung, daß das gemeinsame Heer den abgetrennten Sonderbereich der bosnisch-herzegowinischen Truppen enthielt, war eigentlich die - bisher kategorisch abgelehnte - ungarische Forderung nach einem ungarischen Heer im Rahmen des gemeinsamen Heeres präjudiziert. Man 144 Gesetz v. 11. 8. 1912, Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer, Normalverordnungen Nr. 151/1912. Ähnlich Schmid vertrat auch Zolger die Auffassung, daß seit der Annexion die bosnischen Truppen einen integralen Bestandteil der gemeinsamen Wehrmacht bilden. Hin¬ gegen bestätigt auch er, daß in der Wehrgesetzgebung vom Jahre 1912 [diese Grundsätze] auch ausdrücklich ausgesprochen wurden und nicht schon vorher, Zolger Ivan, Die staats¬ rechtlichen Grundlagen der Wehrmacht Österreich-Ungams. In: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 2 (1915/16) 525-615, hier 609. 145 Siehe dazu auch den Vortrag Krobatins v. 23. 10. 1913, Punkt 3 der Anträge Potioreks, Ka., MKSM. 97-1/3-8/1913. || || Einleitung 97 vergleiche die Ähnlichkeit der gesetzlichen Bestimmungen des § 11 des GA. XII/1867 und des § 2 des bosnisch-herzegowinischen Wehrgesetzes. Im § 11 des GA. XII/1867 wurde gesagt: „und so auch des ungarischen Heeres, als integrie¬ renden Teiles des gesamten Heeres". In § 2 des Wehrgesetzes hieß es: „Die nach Bosnien und der Hercegovina ergänzungszuständigen Truppen [...] bilden einen integrierenden Bestandteil des gemeinsamen Heeres." Auch wenn § 2 des Wehr¬ gesetzes die bosnisch-herzegowinischen Truppen nicht als Einheit, sondern über ihre Ergänzungszuständigkeit definierte, so bildeten sie doch einen geschlosse¬ nen und separaten Bestandteil innerhalb des gemeinsamen Heeres. Hier sei an die Ablehnung der ungarischen Heeresforderungen im Armeebefehl von Chlopy vom 16. September 1903 erinnert: „Gemeinsam und einheitlich, wie es ist, soll Mein Heer bleiben."146 Mit der Aufnahme der bosnisch-herzegowinischen Truppen in das gemeinsame Heer als „integrierenden Bestandteil" konnte mm aber nicht mehr von einem einheitlichen Heer die Rede sein. Wenn die bosnisch-herzegowi¬ nischen Truppen aber eine geschlossene eigene Einheit bilden konnten, warum nicht auch die ungarischen Truppen? Tatsächlich wurden in Ungarn 1909 - wäh¬ rend der Frage der Definition der bosnisch-herzegowinischen Truppen in § 1 des Landesstatutes - Forderungen nach ungarischen Symbolen für die in Ungarn re¬ krutierten Einheiten laut.147 Genau in dieser Zeit wurde dann auch im 5. Absatz des § 1 des Landesstatutes vor der Wehrmacht, deren organischen Teil die bos¬ nisch-herzegowinischen Truppen bilden sollten, der Zusatz „k. u. k. gemeinsa¬ me" gestrichen. Die nächste Heeresdiskussion war also mit den Wehrgesetzen von 1912 vorprogrammiert, spätestens 1924, dem Ablaufsjahr des § 13, der die Rekrutenkontingentshöhe normierte.148 Bis dahin war aber noch viel Zeit und werde es, so war anzunehmen, zu einem Thronwechsel gekommen sein. 146 Siehe dazu Somogyi, Einleitung GMR. V LIII. 147 Ungarischer Kronrat v. 23. 11. 1909, HHStA., Kab. Kanzlei, deutsche Übersetzungen der ungarischen Ministerratsprotokolle, KZ. XXVII/1909. Kronrat war ein Ministerrat unter Vorsitz des Monarchen; da das Protokoll eines Kronrates im Original deutsch und ungarisch verfaßt wurde, handelt es sich hierbei nicht um eine Übersetzung. Zur Geschichte dieses Kronrates, die in engem Zusammenhang mit der Demission der Regierung Wekerle stand, siehe Geyr Geza Andreas v., Sändor Wekerle 1848-1921 (= Südosteuropäische Arbeiten 91, München 1993) 320 f. 148 So begründete Potiorek in seinem Schreiben an Krobatin v. 5. 3. 1913 seinen Vorschlag zur vollständigen Eingliederung der bosnisch-herzegowinischen Truppen in die gemeinsame Wehrmacht nicht nur damit, den Reichsgedanken in Bosnien und der Hercegovina zu vertie¬ fen, sondern er schrieb auch: denn die gegenwärtige Mitwirkung der Landesregierung [Bos¬ nien-Herzegowinas] bei der Verwaltung eines Heeresteiles ist mit dem Begriffe des k. und k., einheitlichen, gemeinsamen Heeres nicht nur unvereinbar, sondern kann in politischer Hin¬ sicht mit der Zeit als ein sehr unangenehmes Präzedens empfunden werden, Ka., KM., Präs. 81-22/2/1913, fol. 13r. || || 98 Einleitung Der Ausbau des Eisenbahnnetzes in Bosnien-Herzegowina Nach der Annexionskrise begannen langwierige Diskussionen über ein Ausbau¬ projekt des Eisenbahnnetzes in Bosnien-Herzegowina. Die Mobilisierung während der Annexionskrise machte deutlich, daß das Ei¬ senbahnnetz keineswegs in der Lage war, den Anforderungen einer schnellen Truppenkonzentration zu genügen und zwar sowohl in bezug auf das sehr dünne Eisenbahnnetz an sich, als auch auf die geringe Kapazität der bestehenden Strek- ken. Für Österreich-Ungarn war aber Mobilität im Aufmarsch von entscheiden¬ der Bedeutung. Zum ersten hatten seine Einheiten, verglichen mit den anderen europäischen Großmächten, relativ niedrige Friedensstände, weshalb im Mobili¬ sierungsfall verhältnismäßig mehr Truppen transportiert werden mußten als bei anderen Großmächten. Zum zweiten basierte die Dislokation der Truppen darauf, daß die Einheiten nicht in ihren Ergänzungsbereichen gamisoniert waren, um so die Truppen aus ihrem nationalen Umfeld zu lösen. Die in einem Ergänzungsbe¬ zirk rekrutierten Einheiten waren oft weit entfernt davon stationiert. Dies galt in besonderem Maße für die in Bosnien-Herzegowina liegenden Truppen, da sich die dort liegenden Brigaden nicht aus ganzen Regimentern zusammensetzten, sondern aus einzelnen, von ihren Regimentern getrennten Bataillonen. Bei einer Mobilisierung mußten daher die eingezogenen Reservisten aus allen Teilen der Monarchie nach Bosnien-Herzegowina befördert werden. Aus dieser Dislokati¬ onspraxis ergab sich noch ein dritter Grund, warum die Mobilität so bedeutend war. Die aus Bosnien-Herzegowina stammenden Truppen hatten ihre Garnisonen außerhalb dieses Verwaltungsgebietes. Bei einer Mobilisierung gegen Serbien und/oder Montenegro hätten daher die bosnisch-herzegowinischen Reservisten eigentlich nicht eingezogen werden müssen. Bei einem Konflikt mit Serbien wur¬ den aber besonders die serbischen Einwohner als unzuverlässig angesehen, sei es, daß sie nach Serbien gingen und sich dort als Freiwillige meldeten, sei es, daß sie Serbien für Spionagetätigkeiten oder Sabotageakte zur Verfügung standen.149 Da¬ her konnte sich bei einem Aufmarsch in Bosnien-Herzegowina die Notwendig¬ keit ergeben, auch die bosnisch-herzegowinischen Reservisten einzuziehen, um sie, mitten im Aufmarsch, zu ihren Einheiten außer Landes zu schaffen.150 Je ge¬ ringer daher Ausbau und Leistungsfähigkeit des Eisenbahnnetzes waren, desto länger dauerte der Aufmarsch und desto früher mußte eine Mobilisierung begin¬ nen, um rechtzeitig abgeschlossen zu sein. Daraus folgte wiederum, daß die Ent¬ scheidung zur Mobilisierung lange vor der Entscheidung zum Krieg fallen mußte und Serbien und/oder Montenegro noch viel Zeit für diplomatische Lösungen verblieben. Das unzulängliche Eisenbahnnetz bewirkte also, daß Österreich-Un¬ garn wegen der langen Mobilisierungszeit nicht vor, sondern erst nach der Mobi- 149 Siehe dazu Neumayer-Schmidl, Die bosnisch-herzegowinischen Truppen 52. 150 Die Einziehung der bosnisch-herzegowinischen Reservisten, um sie außer Landes zu schaf¬ fen, wurde z. B. in GMR. v. 2. 5. 1913, GMKPZ. 506, beschlossen. || || Einleitung 99 lisierung zur militärischen Bedrohung am Balkan wurde. Dies zwang die Monar¬ chie in der Annexionskrise und während der Balkankriege zu frühzeitigen Mobilisierungen, die sowohl die angespannten Finanzen zusätzlich belasteten, als auch Österreich-Ungarn im europäischen Konzert als Aggressionsmacht er¬ scheinen ließen.151 Daher trat das Kriegsministerium 1910 an die gemeinsamen Minister und bei¬ de Regierungen mit der Forderung heran, ein großangelegtes Ausbauprogramm des Eisenbahnnetzes in Bosnien-Herzegowina in die Wege zu leiten. Im Mittel¬ punkt der Diskussion standen die Linienführung und die Finanzierung des Baues. In beiden Fällen waren vier unterschiedliche Interessen zu koordinieren: die mi¬ litärischen, die cisleithanischen, die ungarischen und die der Provinzen selbst. Rechtlich hatte der bosnisch-herzegowinische Landtag sowohl die Gesetze über die Linienführung, als auch die Bereitstellung der Landesmittel zu beschließen. Die Bestimmung der Strecken war aber auch eine Angelegenheit beider Regie¬ rungen, weil nach § 2 der 1880er-Gesetze „die Anlage von Eisenbahnen im Ein¬ vernehmen mit den Regierungen der beiden Ländergebiete der österreichisch¬ ungarischen Monarchie zu erfolgen" hatte. Da die Kosten dieser Bahnbauten nicht alleine von den beiden Provinzen getragen werden konnten, mußten außer¬ dem beide Teile der Monarchie mit zur Finanzierung herangezogen werden. Da¬ her galten auch die Bestimmungen des 3. Absatzes des § 3 dieser Gesetze, wenn man „für bleibende Investitionen [...] wie Eisenbahnen [...] finanzielle Leistun¬ gen der Monarchie in Anspruch nehmen sollte, dürfen solche Leistungen nur auf Grund von in beiden Teilen der Monarchie übereinstimmend zu stände gekom¬ menen Gesetzen gewährt werden." Die Festlegung der Linienführung bedurfte daher neben einem bosnisch-herzegowinischen Landesgesetz auch der Zustim¬ mung beider Regierungen. Die Finanzierung des Baues gehörte zum Budget die¬ ser Provinzen, soweit sie von ihnen getragen wurde. Die Summen, die Cisleitha- nien und Ungarn übernahmen, mußten hingegen dort gesetzlich geregelt werden. Es handelte sich hierbei nicht um eine gemeinsame Ausgabe, die auch nicht an das Quotenverhältnis gebunden war, auch wenn dieses zur Aufteilung der Kosten prädestiniert war. Der Heeresverwaltung ging es darum, neben der schon bestehenden schmal¬ spurigen Linie Brod-Sarajewo als zweite Aufmarschbahn Banjaluka-Rama zu erhalten, von denen zumindest eine normalspurig ausgeführt werden sollte. Im März 1910 fanden intensive Beratungen der gemeinsamen Minister statt. Das Ergebnis war das Promemoria Buriäns, das er im Februar 1911 beiden Regierun¬ gen überreichte. Am 26. Februar 1911 beschäftigte sich der gemeinsame Mini¬ sterrat zum erstenmal dann mit der „Ausgestaltung des bosnisch-herzegowini- 151 Siehe dazu auch die Ausführungen des serbischen Generalstabsmajors Nedic, dessen Aus¬ führungen im Kriegsministerium auszugsweise übersetzt wurden, Ka., KM., Präs. 81- 9/4/1914, fol. 2r-3v. || || 100 Einleitung sehen Bahnnetzes".152 Es traten erhebliche Differenzen zwischen beiden Regierungen auf. Während sich die cisleithanischen Minister dafür aussprachen, die vom Militär gewünschte, neu zu bauende westliche Strecke Banjaluka-Rama gleich normalspurig auszubauen, plädierte Ungarn für die Normalisierung der östlichen Schmalspurbahn, wobei statt der schon bestehenden Linie Brod-Doboj der Abschnitt Samac-Doboj neu gebaut werden sollte; die westliche Strecke hät¬ te zunächst schmalspurig gebaut zu werden. Grund für diese Differenzen waren die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zunehmenden wirtschaftlichen Interessen Cisleithaniens und Ungarns in Bosnien-Herzegowina.153 Dabei hatte Ungarn eine natürliche Monopolstellung gegenüber Cisleithanien. Denn, abgesehen von Dal¬ matien, führten alle Verbindungswege aus Cisleithanien nach Bosnien-Herzego¬ wina durch Ungarn. Dessen Interesse war es, einerseits den Eisenbahnverkehr dorthin über Budapest zu lenken und andererseits durch eine Eisenbahntarifpoli¬ tik den eigenen Export nach Bosnien-Herzegowina zu fördern, den Cisleithaniens aber zu hemmen. Daher spielte in dieser Eisenbahnbaufrage wesentlich auch ein Tarifabkommen beider Teile der Monarchie über den Transitverkehr zwischen Cisleithanien und Bosnien-Herzegowina über Ungarn eine Rolle. Ganz abseits von der Diskussion um die Bahnlinien selbst verzögerte allein die Tarifffage die Verhandlungen.154 Ein weiterer Differenzpunkt waren die Interessen des Landes, die vom ge¬ meinsamen Finanzminister vertreten wurden. Aehrenthal verteidigte Buriäns Bahnprogramm gegen Einwände beider Regierungen und sagte, „bei Aufstellung des Eisenbahnbauprogrammes [habe Buriän] auf die Grenzen der finanziellen Leistungsfähigkeit Bosniens und der Herzegowina" Bedacht und „die gebotene Rücksichtnahme auf den Landtag" genommen, „dem die diesbezüglichen Ge¬ setzentwürfe zu unterbreiten sein werden und der bei seinen daran anknüpfenden Beratungen naturgemäß in erster Linie auf die aus diesem Programme dem Lande erwachsenden wirtschaftlichen Vorteile und finanziellen Lasten, nicht aber auf dessen strategische Motivierung Rücksicht nehmen werde."155 Im gemeinsamen Ministerrat vom 28. und 29. Oktober 1911 kam es zu einer Einigung beider Re¬ gierungen.156 Es sollten fünf Eisenbahnlinien in Angriff genommen werden: drei 152 GMKPZ. 485, Buridns Promemoria betreffend die Bahnbauten in Bosnien in HHStA., Ad- min. Reg. F 19, Karton 28, Fasz. Bahnbauten Österreich-Ungarn 12. 153 JuzbaSic Dzevad, Der Eisenbahnbau in Bosnien und der Herzegowina und die wirtschaftli¬ chen Gegensätze zwischen Österreich und Ungarn. In: Plaschka Richard Georg-DRABEK Anna Maria-ZAAR Brigitta (Hg.), Eisenbahnbau und Kapitalinteressen der österreichischen und südslawischen Länder (Wien 1993) 143-167, hier 155 f., 165 f. sowie Hauptmann, Österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien 76-78. 154 Zur Diskussion des Durchfuhrtarifs von Cisleithanien nach Bosnien-Herzegowina siehe z. B. GMR. v. 16. 10. 1912, GMKPZ. 498 sowie GMR. v. 28. 10. 1912II, GMKPZ. 500. Zur Tarif¬ debatte ab 1909 siehe Schmid, Bosnien und die Herzegovina 608-612. 155 GMR. v. 26. 2. 1911, GMKPZ. 485. 156 GMKPZ. 488. || || Einleitung 101 Linien auf Kosten Bosnien-Herzegowinas (Normalspur: Banjaluka-Jajce, Bos¬ nisch Novi-Bihac und Brcka-Tuzla mit einer Abzweigung nach Raca) mit ge¬ samten Kosten von über 80 Millionen Kronen, und auf gemeinsame Kosten zwei Linien (Normalspur: Samac-Doboj und Jajce-Prozor), die mit 50 Millionen Kro¬ nen veranschlagt waren. Weitere Bauten, wie die Normalisierung der Linien Do- boj-Sarajewo und Donji-Vakuf-Lasva, wurden auf spätere Zeiten verschoben. Das Ergebnis stellte nur einen Kompromiß beider Teile der Monarchie dar, die Interessen des Landes waren weitgehend unberücksichtigt geblieben. Buriän er¬ hielt auf seine Vorträge vom 31. Oktober 1911 mit allerhöchsten Entschließungen vom 9. November 1911 die Zustimmung, zwei Gesetzentwürfe zum Bau und zur Finanzierung dieser fünf Linien in den bosnisch-herzegowinischen Landtag ein¬ zubringen.157 Doch der Landtag war zu deren Verhandlung nicht bereit. Zu wenig entsprachen die Eisenbahnen den Landesinteressen und zu sehr sollten dabei die Finanzen des Landes in Anspruch genommen werden.158 Um die militärisch be¬ nötigten Bahnen dennoch bauen zu können, mußte die am 29. Oktober 1911 zu¬ stande gekommene Einigung modifiziert werden: der bosnisch-herzegowinische Landtag forderte den normalspurigen Bau der Strecke Tuzla-Sarajewo und eine Entlastung bei den Baukosten.159 Zusätzlich wollte der cisleithanische Reichsrat keine Gelder für den Eisenbahnbau in Bosnien-Herzegowina ohne die Gegenlei¬ stung einer Reihe von Lokalbahnen bewilligen. So stand Buriäns Nachfolger Bilinski vor der Schwierigkeit, das Bauprogramm erweitern zu müssen, um den Bau der Bahnen zu ermöglichen, obwohl in Cisleithanien nicht einmal die gerin¬ geren Kosten für die ursprüngliche Vorlage eine Chance aufAnnahme im Parla¬ ment hatten. Bilinski trat Mitte März 1912 an beide Regierungen heran, einerseits das Bau¬ programm nach den Wünschen des Landtages Bosnien-Herzegowinas durch den normalspurigen Bau der Strecke Tuzla-Kladanj zu erweitern und zweitens, alter¬ native Möglichkeiten der Finanzierung zu suchen, um den cisleithanischen Reichsrat zu umgehen. Einen Ausweg sah er darin, daß beide Teile der Monarchie Bosnien-Herzegowina für dessen Zinszahlungen der im strategischen Interesse auf Landeskosten schon gebauten Eisenbahnen sowie für die Kosten der bos¬ nisch-herzegowinischen Truppen und für seine Gendarmerie jährliche Zuschüsse zugestehen sollten. Über diese Gelder könne er dann als Landeseinnahmen frei verfügen und - ohne Zustimmung beider Parlamente - damit den Eisenbahnbau finanzieren. „So wird man nach aussen hin [...] den wirklichen Investitionszweck 157 HHStA., Kab. Kanzlei, KZ. 3243 und 3244, beide ex 1911. 158 Zu der Position des bosnisch-herzegowinischen Landesrates siehe z. B. den am 30. 1. 1912 im österreichisch-bosnisch-hercegovinischen Interessenverband in Wien gehaltenen und dannpublizierten Vortrag von Simic Jovo, Der Ausbau des bosnisch-hercegovinischen Eisen¬ bahnnetzes (Sarajevo 1912). 159 Zur Position des bosnisch-herzegowinischen Landtages siehe Schmid, Bosnien und die Her- zegovina 601 ff. || || 102 Einleitung verhüllen", wie Bilihski Stürgkh schrieb.160 Dieses Vorgehen lehnte die ungari¬ sche Regierung aus rechtlichen Gründen kategorisch ab. Nach einem weiteren halben Jahr intensiver Verhandlungen wurde im gemeinsamen Ministerrat vom 8. November 1912 schließlich ein neuer Kompromiß gefunden.161 Der Finanzrah¬ men vom Oktober 1911 wurde auf 270 Millionen Kronen verdoppelt. Das Geld sollte durch eine Landesanleihe Bosnien-Herzegowinas aufgenommen und in¬ nerhalb von 60 Jahren getilgt werden, wobei sich Cisleithanien und Ungarn jähr¬ lich mit 10 Millionen Kronen an der Rückzahlung beteiligten, was zwei Drittel der Abtragungsrate bedeutete. Diese zehn Millionen waren entsprechend der Quote auf beide Teile der Monarchie aufzuteilen (also 63,6 % hatten auf Cislei¬ thanien, 36,4 % auf Ungarn zu entfallen). Das Bahnbauprogramm sah vor, zu¬ nächst die Strecken im Westen Banjaluka-Jajce und im Osten Samac-Doboj nor- malspurig neu zu bauen. Danach hatten im Westen die Strecke Bugojno-Arzano schmalspurig und die Strecke Jajce-Mostar teilweise neu normalspurig, teilweise von Schmalspurbahnen auf Normalspur ausgebaut zu werden. Im Osten hatten dagegen die Strecken Doboj-Sarajewo und Doboj-Tuzla normalisiert, die Strek- ke Brcka-Tuzla mit der Abzweigung nach Raca normalspurig neu gebaut zu wer¬ den. Die besonders im Interesse Cisleithaniens gelegene normalspurige Verbin¬ dung der neuen westlichen Linie Doberlin-Mostar mit Sarajewo durch die Normalisierung der Strecke Donji-Vakuf-Lasva wurde nicht in das Bauprogramm aufgenommen, aber Cisleithanien erhielt das Recht, diese Linie auf eigene Ko¬ sten zu bauen, nachdem die Normalisierung Doboj-Sarajewo abgeschlossen war. Schließlich durfte Bosnien-Herzegowina die Linie Bosnisch Novi-Bihac auf ei¬ gene Kosten normalspurig bauen. Diesem neuen Bahnprogramm stimmte der bosnisch-herzegowinische Landtag schnell zu. Schon am 17. Februar 1913 sank¬ tionierte Franz Joseph das Bahnbaugesetz und am 6. März 1913 außerdem das Gesetz zum Bau der Linie Bosnisch Novi-Bihac.162 Doch noch konnte nicht mit dem Bau begonnen werden. Zuerst hatten die Parlamente Cisleithaniens und Ungarns ihre finanzielle Beteiligung an den Bau¬ kosten zu beschließen. Da der cisleithanische Reichsrat das Bahngesetz nicht ein¬ mal zu verhandeln bereit war, verzögerte sich die Einbringung der Gesetzentwür¬ fe in beide Parlamente. Erst im November 1913 konnte Franz Joseph die sogenannte Vorsanktion zum Einbringen der Gesetzesvorlagen in beide Parla- 160 Schreiben (Abschrift) Bilihskis an Stürgkh v. 18. 3. 1912, Fa., FM., Allg. Z. 23142/1912. 161 GMKPZ. 501. 162 Wegen des Gesetzes der gemeinsam zu finanzierenden Bahnen Vortrag Bilihskis v. 10. 2. 1913, sanktioniert mit Ah. E. v. 17. 2. 1913, HHSxA., Kab. Kanzlei, KZ. 360119X3, publiziert als Gesetz vom 17. Februar 1913 in Gesetz- und Verordnungsblatt für Bosnien und die Hercegovina Nr. 27/1913. Wegen der aufLandeskosten zu bauenden Linie Bosnisch Novi- Bihac Vortrag Bilihskis v. 27. 2.1913, sanktioniert mitAh. E. v. 6. 3.1913, ebd.,KZ. 516/1913, publiziert als Gesetz v. 6. März 1913 in Gesetz- und Verordnungsblatt für Bosnien und die Hercegovina Nr. 36/1913. || || Einleitung 103 mente erteilen.163 Um eine Annahme in Cisleithanien zu ermöglichen, sah sich der cisleithanische Eisenbahnminister Zdenko Freiherr v. Förster genötigt, gleich¬ zeitig einen zweiten Gesetzentwurfzum Bau von Lokalbahnen in Cisleithanien in einem Gesamtvolumen von 200 Millionen Kronen dem Abgeordnetenhaus vor¬ zulegen.164 Allerdings gingen die Verhandlungen in Cisleithanien nur stockend voran, da in der Lokalbahnvorlage nicht alle Wünsche entsprechend berücksich¬ tigt worden waren. Am 16. März 1914 wurde der Reichsrat schließlich vertagt und sollte bis 1917 nicht mehr einberufen werden. Während in Ungarn die Eisen¬ bahnvorlage vom Reichstag angenommen wurde, mußte sie in Cisleithanien als Notverordnung erlassen werden.165 Nach vier Jahren Verhandlungen wurde am 6. April 1914 der aus militärischen Gründen dringend benötigte Ausbau des Eisen¬ bahnnetzes in Bosnien-Herzegowina beschlossen. Der Bau ist jedoch wegen des Ersten Weltkrieges nie begonnen worden.166 Bosnien-Herzegowina und der Dualismus Das Landesstatut war bemüht, alles zu unterbinden, was Bosnien-Herzegowina zu einem dritten Faktor innerhalb der gemeinsamen Monarchie gemacht hätte. Doch dieser Versuch gelang nur unvollkommen. Obwohl ohne Mitspracherechte in den gemeinsamen und gemeinschaftlichen Angelegenheiten, trotz aller Be¬ schränkungen an Souveränität, durchbrach schon alleine die Existenz eines Ge¬ bietes außerhalb der Verwaltung Cisleithaniens und Ungarns den Dualismus. Nur durch die Existenz eines Verwaltungsgebietes außerhalb beider Teile der Monar¬ chie machte das Wehrgesetz von Bosnien-Herzegowina die unterschiedlichen Titel des Kriegsministers in Cisleithanien und Ungarn unhaltbar und führte 1911 zu dem einheitlichen Titel „Kriegsminister". Bosnien-Herzegowina brachte im 163 Der Vortrag Tiszas v. 12. 11. 1913 und der Vortrag Försters v. 13. 11. 1913 wegen Einbrin¬ gung des Gesetzentwurfs zum Ausbau des Eisenbahnnetzes in Bosnien-Herzegowina in den Reichstag, bzw. den Reichsrat wurden mit Ah. Entschließungen v. 14. 11. 1913 resolviert, HHStA., Kab. Kanzlei, Cisleithanien KZ. 2754, Ungarn KZ. 2755, beide ex 1913. 164 Der Vortrag Försters v. 13. 11. 1913 wegen Einbringung einer Lokalbahnvorlage wurde mit Ah. E. v. 14. 11. 1913 resolviert, ebd., KZ. 2969/1913. 165 Mit Vortrag v. 5. 4. 1914 legte Tisza den vom ungarischen Reichstag angenommenen Gesetz¬ entwurf bstceSenA die Ergänzung des bosnisch-hercegovinischen Eisenbahnnetzes vor, der mit Ah. E. v. 6. 4. 1914 sanktioniert wurde, ebd., KZ. 831/1914. Über Vortrag Försters v. 4. 4. 1914 wurde die Eisenbahnvorlage mit Ah. E. v. 6. 4. 1914 mittels einer Notverordnung erlassen; der Akt, laut Protokollbuch ebd., KZ. 832/1914, liegt nicht mehr ein; publiziert als RGBl. Nr. 83/1914. 166 Eine Darstellung der Diskussion um den Eisenbahnbaufindet sich in der kürzlich erschiene¬ nen Arbeit Berdan Helga, Die Machtpolitik Österreich-Ungams und der Eisenbahnbau in Bosnien-Herzegowina 1872-1914, phil. Dipl. (Wien 2008) 84-92. Hier wurden allerdings die Schwierigkeiten in Cisleithanien ausgeklammert, die dem Eisenbahnbau entgegenstanden. || || 104 Einleitung Wehrgesetz auch die ungarische dualistische Terminologie ins Wanken. Gerade mit Hinweis aufdieses Gebiet konnte unterbunden werden, im ungarischen Wehr¬ gesetzentwurf die Formulierung „beide Staaten der Monarchie" aufzunehmen, da Bosnien-Herzegowina eben darin nicht inbegriffen war.167 Doch auch die Be¬ zeichnung „österreichisch-ungarische Monarchie", die im cisleithanischen Wehr¬ gesetz angewendet werden sollte, mußte dahin präzisiert werden, daß damit nicht nur beide Teile der Monarchie gemeint waren. So bewirkte Bosnien-Herzegowi¬ na eine einheitliche Formulierung in allen Wehrgesetzen: „Die gemeinsame Wehrmacht ist zur Verteidigung der österreichisch-ungarischen Monarchie, das ist des Gebietes sämtlicher unter der Herrschaft Seiner kaiserlichen und königlich [sic!] Apostolischen Majestät stehender Länder, gegen äußere Feinde und zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Inneren bestimmt."168 Schon mit dem Landesstatut wird aber das Bemühen der höchsten Entscheidungsträger der gemeinsamen Politik deutlich, das Mitbestimmungsrecht der Legislativen beider Teile der Monarchie in den Angelegenheiten Bosnien-Herzegowinas zu umgehen. So wurde das Landesstatut derart konzipiert und dann oktroyiert, daß es das bestehende gesetzliche Verhältnis zu beiden Teilen der Monarchie nicht berührte, um ohne parlamentarische Verhandlung in Cisleithanien und Ungarn auszukommen. Die Zustimmung beider Regierungen zum Statut kann gerade im Sinn des GA. XII/1867 keineswegs als Ersatz der parlamentarischen Behandlung angesehen werden. Um es anders zu formulieren: das Landesstatut kam durch Umgehung des durch GA. XII/1867 geschaffenen konstitutionellen Dualismus zustande,169 indem man sich der bis zum Statut absoluten Herrschaft Franz Jo¬ sephs in Bosnien-Herzegowina bediente. Zwar veränderte das Landesstatut das Verhältnis Bosnien-Herzegowinas zu Cisleithanien und Ungarn tatsächlich nicht; denn im Sinne der Gesetze beider 167 Siehe hierzu das Protokoll über die am 21. Jänner 1911 im k. k. Ministerrats-Präsidium statt¬ gehabte Beratung in Angelegenheit des Entwurfes eines neuen Wehrgesetzes und des Ent¬ wurfes einer neuen Mihtär-Strafprozeß-Ordnung, Ka., k. k. MEV., Präs., Faszikulatur 15 Wehrangelegenheiten, Karton 802, Z. 590/1911. Hierfiihrte Bienerth aus: Bosnien und die Herzegowina könnten nicht als zu Österreich oder Ungarn gehörig betrachtet werden, da die staatsrechtliche Frage der gebietsrechtlichen Zugehörigkeit bei der Annexion ausdrücklich offen gelassen wurde. Bei der Frage, zu wessen Verteidigung die gemeinsame Wehrmacht bestimmt sei, komme es auch nicht so sehr auf diese staatsrechtliche als auf die Frage der völkerrechtlichen Zugehörigkeit Bosniens und der Herzegowina an. Diese letztere Frage sei aber durch die Allerhöchste Verfügung vom 5. Oktober 1908 im Sinne der Zugehörigkeit Bosniens und der Herzegowina zur „Österreichisch-ungarischen Monarchie" entschieden. Ebd. 2. 168 Für Cisleithanien Gesetz v. 5. 7. 1912, RGBl. Nr. 128/1912, für Ungarn GA. XXX/1912 sowieför Bosnien-Herzegowina Verordnungsblatt für das k. u. k. Heer, Normalverordnun¬ gen Nr. \5\!\9\2,jeweils § 3. 169 Ichfiihre hier nur das ungarische Ausgleichsgesetz an, da das cisleithanische Ausgleichsge¬ setz keineswegs ähnlich konsequent den Konstitutionalismus im gesamten gemeinsamen (pragmatischen undpaktierten) Bereichfestgeschrieben hatte. || || Einleitung 105 Teile der Monarchie von 1879, mit dem Bosnien-Herzegowina in das gemeinsa¬ me Zollgebiet aufgenommen wurde, besaß dieses Verwaltungsgebiet auch nach dem Landesstatut keinerlei Mitspracherechte in den gemeinsamen Wirtschaftsan¬ gelegenheiten, und der in den Gesetzen von 1880 festgeschriebene Einfluß beider Regierungen und Parlamente aufdie bosnisch-herzegowinische Verwaltung blieb bestehen. Sehr wohl aber veränderte das Statut die Zuständigkeit der gemeinsa¬ men Minister für Bosnien-Herzegowina fundamental. Bisher leitete nach den Ge¬ setzen beider Teile der Monarchie von 1880 die gemeinsame Regierung die Ver¬ waltung der beiden Provinzen. Schon davor war mit allerhöchster Entschließung vom 26. Februar 1879 die Leitung der Verwaltung dem gemeinsamen Finanzmi¬ nisterium im Namen der gemeinsamen Regierung übertragen worden. Diese Auf¬ gabendefinitionen beider Institutionen wurden mit dem Landesstatut präzisiert und faktisch abgeändert. Somit bestimmte nur ein bosnisch-herzegowinisches Gesetz die Zuständigkeit der gemeinsamen Institutionen für Bosnien-Herzegowi¬ na. Damit basierte die Definition des Wirkungskreises der gemeinsamen Regie¬ rung und des gemeinsamen Finanzministers nicht mehr ausschließlich auf den dualistischen Gesetzen beider Teile der Monarchie, sondern als dritter Rechts¬ quelle auch auf dem bosnisch-herzegowinischen Landesstatut. Zwar könnte man argumentieren, daß es diesen dritten Faktor in der Doppelmonarchie schon im¬ mer durch den gemeinsamen Bereich gegeben habe und Bosnien-Herzegowina eben zu diesem dritten, gemeinsamen Bereich gehörte. Eine solche Argumentati¬ on würde aber außer Acht lassen, daß der gemeinsame Bereich die Gemeinschaft Cisleithaniens und Ungarns verkörperte, also nicht außerhalb von ihnen verstan¬ den werden kann. Dies traf aber auf die Gesetze Bosnien-Herzegowinas keines¬ wegs zu, auch nicht auf das oktroyierte und von beiden Teilen mitgestaltete Lan¬ desstatut. Die Gesetze Bosnien-Herzegowinas waren eine gemeinsame, aber außerhalb Cisleithaniens und Ungarns gelegene Rechtsquelle. Das Landesstatut war nur ein erster Schritt in die Richtung, in gemeinsamen, Bosnien-Herzegowina tangierenden Angelegenheiten ohne den parlamentari¬ schen Einfluß Cisleithaniens und Ungarns zu entscheiden. Ein weiterer folgte mit dem bosnisch-herzegowinischen Wehrgesetz. Wie schon ausgeführt wurde, bil¬ deten die bosnisch-herzegowinischen Truppen mit dem Wehrgesetz für Bosnien- Herzegowina vom 11. August 1912 einen Bestandteil des gemeinsamen Heeres. Diese Definition der bosnisch-herzegowinischen Truppen als Teil des gemeinsa¬ men Heeres taucht aber ausschließlich und nur im bosnisch-herzegowinischen Wehrgesetz auf. Sie kommt in den Wehrgesetzen beider Teile der Monarchie nicht vor. Hier heißt es in § 2 lediglich: „Die gemeinsame Wehrmacht umfaßt das gemeinsame Heer und die Kriegsmarine."170 Auch hier griff ausschließlich ein bosnisch-herzegowinischen Gesetz in die Definition einer gemeinsamen Angele¬ genheit ein. Mehr noch: diese Definition hatte Konsequenzen für die Wehrgesetze beider Teile der Monarchie, denn jetzt mußten die bosnisch-herzegowinischen 170 Für Cisleithanien Gesetz v. 5. 7. 1912, RGBl. Nr. 128/1912,ywr Ungarn GA. XXX/1912. || || 106 Einleitung Rekruten bei der Bestimmung des Gesamtkontingentes des gemeinsamen Heeres erwähnt werden. Dementsprechend hieß es dann im cisleithanischen und ungari¬ schen Gesetz in § 13: „Der Rekrutenstand zur Erhaltung der gemeinsamen Wehr¬ macht wird - außer den hiezu von Bosnien und der Hercegovina zu stellenden Rekruten -[...] festgesetzt."171 Dieser Paragraph kann keinesfalls als Ersatz für eine Definition der bosnisch-herzegowinischen Truppen als Teil des gemeinsa¬ men Heeres angesehen werden. Es ist lediglich die Rechtskonsequenz aus deren Aufnahme. Während man beim Landestatut noch hätte argumentieren können, daß die Bestimmung des Wirkungskreises von gemeinsamer Regierung und ge¬ meinsamem Finanzministerium eine innere bosnisch-herzegowinische Angele¬ genheit regelte, durchbrach das bosnisch-herzegowinische Wehrgesetz dezidiert den 1867er-Dualismus. Da militärische Fragen von der Kompetenz des bosnisch- herzegowinischen Landtages ausgeschlossen waren, wurde hier erneut die abso¬ lute Macht des Monarchen genutzt, um in der Frage der rechtlichen Stellung der bosnisch-herzegowinischen Truppen ganz ohne irgendein Parlament zu entschei¬ den. Dies trifft zu, obwohl beide Regierungen diesem Gesetz zustimmen mußten. In diesem Zusammenhang sei hier noch einmal darauf hingewiesen, daß sich besonders für Ungarn rechtliche Probleme aus der Aufiiahme der bosnisch-herze¬ gowinischen Truppen als corpus separatum in das gemeinsame Heer ergaben. Es mag sein, daß historisch diese Diskrepanz zwischen dem konstitutionellen Dua¬ lismus und dem Einfluß der bosnisch-herzegowinischen Gesetzgebung auf die gemeinsame Politik kaum zum Tragen kam. Es kann aber gesagt werden, daß ein rechtlicher Ansatzpunkt bestand, das System von 1867 auszuhebeln, wenn der politische Wille der höchsten politischen Entscheidungsträger dies anstrebte, ein Fall der z. B. mit der Thronbesteigung Franz Ferdinands durchaus hätte eintreten können. Es gab in diesem Zusammenhang auch einen dritten Versuch, nämlich das Be¬ mühen Bilinskis, die notwendige parlamentarische Zustimmung zu finanziellen Leistungen beider Teile der Monarchie für den Eisenbahnbau in Bosnien-Herze¬ gowina zu umgehen, indem die Gelder über einen anderen Rechtstitel diesen Pro¬ vinzen zugestanden werden sollten. Dies war kein Versuch, sich der absoluten Macht des Monarchen zu bedienen, da über Eisenbahnbauten auch in Bosnien- Herzegowina nur mit dem Landtag entschieden werden konnte, sondern es sollte nur die Entscheidung beschleunigen, die durch die Verweigerung der parlamen¬ tarischen Behandlung in Cisleithanien blockiert war. Dennoch sollte auch hier der konstitutionelle Dualismus umgangen werden. Bei den Diskussionen um den Ausbau des Eisenbahnnetzes in Bosnien-Herze¬ gowina griff der bosnisch-herzegowinische Landtag ganz aktiv in die gemeinsa¬ men Interessen der Monarchie ein, als er 1911/12 einen Kompromiß beider Teile der Monarchie zu Fall brachte. Er war nicht bereit, den entsprechenden Gesetz¬ entwurf zu verhandeln. Zwar hätte die Landesregierung mit § 48 des Landessta- 171 Jeweils ebd. || || Einleitung 107 totes den Landtag umgehen und den Eisenbahnbau mittels „Notverordnung" er¬ lassen können, doch konnte sich die Monarchie nicht leisten, das eben erst neu geschaffene Statut auszuhebeln, nur weil der Landtag einen ohne seine Mitwir¬ kung zustande gekommenen Kompromiß beider Teile nicht bedingungslos votie¬ ren wollte. Mit diesem Landesstatot konnte Bosnien-Herzegowina zwar nicht Gesetze schaffend eine dritte Position innerhalb der dualistischen Monarchie ein¬ nehmen, aber durch das Verhindern von Gesetzen die Interessen Cisleithaniens und Ungarns in Bosnien-Herzegowina durchkreuzen. So meinte der ungarische Ministerpräsident Käroly Graf Khuen-Hederväry v. Hedervär zwar: „Wenn die Bosnier stärker sein wollen als beide Staaten der Monarchie, so entspreche dies nicht ihren Kräften. Die Monarchie könne sich nicht dem Diktat der Bosnier unterwerfen."172 Doch mit der Notwendigkeit der Zustimmung des bosnisch-her- zegowinischen Landtages zu eigenen Landesgesetzen konnten beide Teile der Monarchie in zentralen Fragen nur im Konsens mit diesen Provinzen vorgehen. Formal handelte es sich bei der Verwaltung Bosnien-Herzegowinas nur um eine interne Frage dieser Provinzen und um keine gemeinsame Angelegenheit. Außer der Aufnahme der bosnisch-herzegowinischen Truppen in das gemeinsame Heer können die anderen Punkte als solche internen Angelegenheiten dieser Provinzen verstanden werden. In der Praxis waren aber innere bosnisch-herzegowinische und gemeinsame Angelegenheiten nicht immer zu trennen. So war der Eisen¬ bahnbau in Bosnien-Herzegowina prinzipiell eine interne Angelegenheit. Durch die Notwendigkeit von Aufmarschlinien für das Heer standen sie aber in engem Zusammenhang mit den militärischen Interessen, und diese beeinflußten wieder¬ um den außenpolitischen Spiehaum der gemeinsamen Monarchie. Es waren hier also gleich zwei pragmatisch-gemeinsame Angelegenheiten betroffen. So klein und arm Bosnien-Herzegowina gegenüber Cisleithanien und Ungarn auch war, so sehr mit dem Landesstatot das politische Eigenleben dieser Provin¬ zen unter der Kontrolle beider Teile der Monarchie gehalten wurde, der Dualis¬ mus war mit dem Landesstatut wenn nicht de jure, so doch de facto in Richtung Trialismus aufgeweicht worden. Nun könnte zwar eingewendet werden, daß die Möglichkeiten der De-facto-Einflußnahme Bosnien-Herzegowinas auf die prag¬ matisch-gemeinsame Politik keineswegs ein Durchbrechen des Dualismus be¬ deutete, weil es sich rechtlich doch nur um innere Angelegenheiten Bosnien-Her¬ zegowinas handelte. Auch die speziellen Gesetzgebungen beider Teile der Monarchie limitierten faktisch die Möglichkeiten der pragmatisch-gemeinsamen Politik, konnten diese aber in dem 1867 geschaffenen rechtlichen Rahmen de jure nicht vorschreiben. Dem müßte aber entgegengehalten werden, daß die im Aus¬ gleich von 1867 eingebauten direkten und indirekten Einflußnahmen Cisleithani¬ ens und Ungarns eben Bestandteil des dualistischen Systems waren. Auch noch so indirekte Auswirkungen einer dritten inneren Entität auf den gemeinsamen Bereich der Politik mußten daher das dualistische Prinzip in seinem Wesen durch- 172 GMR. v. 14. 4. 1912, GMKPZ. 492. || || 108 Einleitung brechen. Genau diese Auswirkungen aber hatte Bosnien-Herzegowina, sowohl bei dem Titel des (gemeinsamen) Kriegsministers, bei der Formulierung der De¬ finition der gemeinsamen Monarchie, auch als Rechtsquelle für die Wirkungs¬ kreise des gemeinsamen Finanzministers und der gemeinsamen Regierung sowie als Rechtsquelle für den Umfang des gemeinsamen Heeres und schließlich durch die Möglichkeit des Landtages, Gesetzentwürfe in gemeinsamem Interesse nicht zu votieren.173 Dabei war das Durchbrechen des Dualismus von den höchsten Entscheidungsträgem teilweise beabsichtigt, um die Gesetzgebungen beider Tei¬ le der Monarchie zu umgehen. Teilweise geschah es unbeabsichtigt, es ergab sich einfach: z. B. bei der Frage des Titels des Kriegsministers, bei der Definition der gemeinsamen Monarchie oder durch den Einfluß des bosnisch-herzegowinischen Landtages auf den militärisch wichtigen Eisenbahnbau in diesem Gebiet. Die Einflußmöglichkeiten Bosnien-Herzegowinas waren bewußt sehr be¬ schränkt gehalten worden. Daher handelte es sich keineswegs um einen wirkli¬ chen Trialismus; es wird daher nur von einem in Richtung Trialismus aufge¬ weichten oder unvollkommenen Dualismus gesprochen. 4. Außenpolitische Themen Die Außenpolitik kam im gemeinsamen Ministerrat bei zwei Anlässen zur Spra¬ che. Regelmäßig leitete der Außenminister die jährlichen Beratungen über den Voranschlag der gemeinsamen Regierung mit einer längeren Darstellung der au¬ ßenpolitischen Situation ein. Diese diente den Vertretern beider Regierungen le¬ diglich zur Information und ergab meist keine Nachfragen oder Diskussionen. Nur den Ausführungen Berchtolds anläßlich des Budgets für das erste Halbjahr 1914 folgte eine längere Debatte über die zukünftige Balkanpolitik. Oft wurde der gemeinsame Ministerrat speziell zur Behandlung außenpolitischer Entschei¬ dungen zusammengerufen. Auch diese Anlässe zerfallen in zwei Gruppen: Han¬ delsverträge und „große Politik". Die Handelsverträge bezogen sich in der Periode 1908 bis 1914 auf Verhand¬ lungen mit den Balkanstaaten (Serbien, Rumänien, Montenegro und Bulgarien). Zu solchen Sitzungen wurden normalerweise weder der gemeinsame Finanz-, noch der Kriegsminister eingeladen. Hier ging es darum, daß sich beide Regie¬ rungen auf die Direktiven einigten, nach denen das Außenministerium die Ver¬ handlungen zu führen hatte. Eigentlich gab es speziell für diese Angelegenheiten Von dem umgekehrten Ansatz ausgehend, daß auch die Fragen der Verwaltung Bosnien- Herzegowinas als gemeinsame Angelegenheit anzusehen seien, kommt Lamp in der Frage der Beurteilung des Dualismus zu einem ähnlichen Schluß: Nach dem Ausgeführten läßt sich die bedeutungsvolle Tatsache nicht leugnen, daß die Verfassung Bosnien-Herzegowinas Aen- derungen des österreichisch-ungarischen Verfassungswerkes von essentieller Bedeutung nach sich gezogen hat, daß dieselbe selbst das Dogma des Dualismus in seinen Grundlagen erschüttert hat. Lamp, Die Verfassung von Bosnien 226. || || Einleitung 109 sogenannte Zoll- und Handelskonferenzen, doch war dabei das Prozedere ein langwieriges. Waren schnelle Entscheidungen notwendig und/oder spielten Inter¬ essen der Machtpolitik des Außenministers eine Rolle, wurde die Angelegenheit auch im gemeinsamen Ministerrat behandelt. Schnelle Entscheidungen mußten z. B. dann gefällt werden, wenn die Direktiven beider Regierungen beim Handels¬ partner aufAblehnung stießen und daher nur ihre Abänderung die Verhandlungen vor dem Scheitern retten konnten, wie dies z. B. bei Rumänien 1909 der Fall war. Da die Monarchie ihre Handelsverträge gerne auch als Lock- und Druckmittel gegenüber den Balkanstaaten benutzte, ist aber auch offensichtlich, daß in den Diskussionen im gemeinsamen Ministerrat ständig die machtpolitischen Interes¬ sen am Balkan eine wichtige Rolle spielten. Die „große Politik" kam 1908 bis Mai 1914 nur bei großen außenpolitischen Entscheidungen direkt vor den gemeinsamen Ministerrat. Zwei Sitzungen fanden im Vorfeld der Annexion Bosnien-Herzegowinas statt und drei infolge der Bal¬ kankriege.174 Dabei standen - mit einer Ausnahme - nicht die außenpolitischen Zielsetzungen an sich zur Disposition, sondern flankierende - in der Regel mili¬ tärische - Maßnahmen, da der Kriegsminister, der gemeinsame Finanzminister als zuständiger Minister für Bosnien-Herzegowina und beide Regierungen direkt - über zu treffende Maßnahmen - oder indirekt - Bedeckung von Kosten - be¬ troffen waren. Die Diskussionen gingen im gemeinsamen Ministerrat vom 2. Mai 1913, so weit, daß direkt über Krieg oder Frieden beraten wurde175. Nur im ge¬ meinsamen Ministerrat vom 3. Oktober 1913 wurden direkt die Richtlinien der zukünftigen Außenpolitik bestimmt.176 Ein Mixtum aus den Themenkomplexen Handelsverträge und „großer Politik" stellte der gemeinsame Ministerrat vom 16. und 17. Febmar 1913 dar.177 Obwohl das Thema „Programm über die Regelung der wirtschaftlichen Beziehungen zu den Balkanstaaten" eindeutig die Handelspolitik betraf, deutet allein die Teilnah¬ me des gemeinsamen Finanz- und des Kriegsministers auf die außenpolitische Tragweite dieser Besprechung hin. In direktem Zusammenhang damit stand auch die Frage des Ankaufs der Aktien der Orientalischen Eisenbahngesellschaft, mit der Österreich-Ungarn sowohl die Kontrolle über die bestehenden, als auch die Rechte an zu bauenden Eisenbahnlinien in Mazedonien und Albanien erwerben wollte.178 174 Über die Annexionsfrage GMR. v. 19. 8. 1908, GMCPZ. 467 und GMR. v. 10. 9. 1908, GMCPZ. 468 sowie über die Balkankriege GMR. v. 28. 10. 1912, GMKPZ. 499, GMR. v. 4. 1. 1913, GMKPZ. 502 und GMR. v. 2. 5. 1913, GMKPZ. 506. 175 GMKPZ. 506. 176 GMKPZ. 508. 177 GMKPZ. 503. 178 GMR. v. 21. 2. 1913, GMKPZ. 504. || || 110 Einleitung Die Handelsbeziehungen zu den Baikanstaaten Als Franz Joseph am 24. Oktober 1906 Aehrenthal zum Außenminister ernannte, war der von Gohichowski im Jänner 1906 begonnene „Schweinekrieg" gegen Serbien179 schon gescheitert. Statt daß Serbien mittels eines Handelskrieges in die Knie gezwungen wurde, orientierte sich dieser Staat an neuen Absatzmärkten und löste sich aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Österreich-Ungarn. Aus ökonomischen wie aus machtpolitischen Gründen war es daher für die Monarchie dringend notwendig, die Handelsbeziehungen zu Serbien wieder zu normalisie¬ ren. Ökonomisch mußte getrachtet werden, von der ehemaligen Handelsposition so viel wie möglich zurück zu gewinnen; außenpolitisch bedeutete die Intensivie¬ rung des Handelsverkehrs, Serbien wieder enger an die Habsburgermonarchie zu binden. Dies galt jedoch nicht nur für Serbien, sondern auch für die anderen Bal¬ kanstaaten.180 Aehrenthals handelspolitisches Konzept sah dementsprechend vor, den Import aus diesen Ländern zu erleichtern. Er konnte sich aber gegenüber Cisleithanien und Ungarn nicht durchsetzen. Vielmehr beschlossen beide Regie¬ rungen, den Viehimport aus dem Balkan zu limitieren. Den Ländern Serbien, Rumänien und Bulgarien sollte in neuen Handelsverträgen ein gesamtes Einfuhr- kontingent von jährlich 50 000 Rindern und 100 000 Schweinen eingeräumt wer¬ den. Da mit Rumänien eine Handelskonvention bestand, mit Serbien aber wegen des „Schweinekrieges" ein vertragsloser Zustand herrschte, wurden zunächst Verhandlungen mit Serbien aufgenommen. Am 14. März 1908 konnten sich bei¬ de Seiten auf einen Handelsvertrag einigen, in dem Serbien ein Kontingent von 35 000 Rindern und 70 000 Schweinen erhielt. Es wurde eine Gültigkeitsdauer des Vertrages bis Ende 1917 vereinbart. Er konnte zunächst von den beiden Par¬ lamenten der Monarchie nicht verhandelt werden und trat im Verordnungsweg am 1. September 1908 in Kraft und blieb bis 31. März 1909 gültig.181 Die Anne¬ xionskrise führte dazu, daß der Vertrag danach nicht verlängert wurde. Ab 1. April 1909 trat der vertragslose Zustand wieder ein. Nach der Annexionskrise stellte sich die Frage, ob die Handelsbeziehungen mit Serbien anhand des Vertrages vom 14. März 1908 normalisiert werden soll- 179 Zum Schweinekrieg siehe Somogyi, Einleitung GMR. V LVI-LIX. 180 Suppan Arnold, Zur Frage eines österreichisch-ungarischen Imperialismus in Südosteuropa: Regierungspolitik und öffentliche Meinung um die Annexion Bosniens und der Herzegowi¬ na. In: Wandruszka Adam-ÜRABEK Anna M. (Hg.), Die Donaumonarchie und die südslawi¬ sche Frage von 1848 bis 1918. Erstes österreichisch-jugoslawisches Historikertreffen Gösing 1976 (= Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs, Bd. 8, Wien 1978) 101-129, hier Ul. 181 Durch Ermächtigungsgesetze erhielten beide Regierungen von ihren Parlamenten das Recht, die auswärtigen Handelsbeziehungen im Verordnungswege provisorisch bis zu einem be¬ stimmten Zeitpunkt - meistflir ein Jahr - zu regeln. Um darüber hinaus in Kraft zu bleiben, mußte der Vertrag bis dahin entweder legislativ erledigt oder über ein erneutes Ermächti¬ gungsgesetz mittels Verordnung verlängert werden. || || Einleitung 111 ten, oder ob ein neuer Vertrag zu schließen sei. Inzwischen hatten nämlich auch Verhandlungen mit Rumänien begonnen, das nicht bereit war, sich mit dem Rest¬ kontingent von 15 000 Rindern und 30 000 Schweinen zufrieden zu geben, das ihm und Bulgarien vom Gesamtkontingent noch zur Verfügung stand. Aehrenthal bemühte sich bei beiden Regierungen, das Gesamtkontingent auszuweiten, um auch die Forderungen Rumäniens - als Verbündetem der Monarchie182 - und Bul¬ gariens - mit dem gute Beziehungen angestrebt wurden - ohne Reduktion des serbischen Anteils berücksichtigen zu können. So wäre es nicht notwendig gewe¬ sen, den schon geschlossenen Handelsvertrag mit Serbien abzuändem. Beide Re¬ gierungen bestanden allerdings auf dem beschlossenen Gesamtkontingent. Um einen Vertrag mit Rumänien zu ermöglichen, mußte das serbische Kontingent reduziert werden. Am 27. Juli 1910 kam ein neuer Handelsvertrag mit Serbien zustande, der von Österreich-Ungarn am 22. Jänner 1911 ratifiziert wurde.183 Ser¬ bien erhielt nur mehr ein Kontingent von jährlich 15 000 Rindern und 50 000 Schweinen.184 Entgegen den Interessen Aehrenthals hatte die Bedeutung Öster¬ reich-Ungarns als Außenhandelspartner für Serbien dramatisch abgenommen. Nach den Direktiven beider Regierungen hatten die österreichisch-ungarischen Unterhändler die Vertragsverhandlungen mit Rumänien mit einem Angebot eines jährlichen Kontingentes von 6 000 Rindern und 15 000 Schweinen zu eröffnen. Diese Ziffern wurden aber schon von den Vertretern des Außenministeriums als so gering angesehen, „daß man vorgezogen habe, diese Ziffern den rumänischen Unterhändlern gar nicht zu nennen", wie der Sektionschef im k. k. Handelsmini¬ sterium Mauritz Freiherr v. Roessler bemerkte.185 Selbstbewußt forderte Rumäni¬ en hingegen ein Kontingent in der Höhe, das Serbien 1908 zugestanden worden war, andernfalls werde man die Handelskonvention von 1893186 kündigen, und es werde ein vertragsloser Zustand eintreten, drohte König Carol dem Botschafter Johann Prinz Schönburg-Hartenstein.187 In den drei gemeinsamen Ministerratssit¬ zungen vom 22. November 1908, 28. Februar 1909 und 16. März 1909188 sahen sich daher beide Regierungen veranlaßt, das rumänische Kontingent deutlich hin¬ aufzusetzen. Am 23. April 1910 kam ein Zusatzvertrag zur Handelskonvention von 1893 zustande, der am 14. August ratifiziert und mit 1. September 1910 akti¬ viert wurde und bis 1917 gültig sein sollte.189 Dieser Vertrag sah ein steigendes 182 Siehe Äußerung Aehrenthals in GMR. v. 16. 3. 1909, GMCPZ. 471. 183 In Cisleithanien publiziert als RGBl. Nr. 12/1911, in Ungarn als GA. 11/1911. 184 Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Hauses der Abgeordneten des öster¬ reichischen Reichsrates, XX. Session 1910, Beilage 1013 78. 185 GMR. v. 22. 11. 1908, GMCPZ. 469. Roessler wechselte kurze Zeit später vom k. k. Handels- ins Außenministerium. 186 In Cisleithanien publiziert als RGBl. Nr. 116/1894, in Ungarn als GA. XIV/1894. 187 GMR. v. 28. 2. 1909, GMCPZ. 470. 188 GMCPZ. 469, 470 und All. 189 In Cisleithanien mittels Verordnung des Gesamtministeriums v. 22. 8. 1910, RGBl. Nr. 150/1910, in Ungarn GA. V/1910. || || 112 Einleitung Kontingent für Rumänien vor. Von 1911 bis 1917 sollte es sich bei Rindern von 15 000 auf 35 000 und bei Schweinen von 70 000 auf 120 000 erhöhen. Ein zweiter Diskussionspunkt war der sogenannte Weideverkehr. Siebenbürgi- sche Viehhirten gingen mit ihren Schafen für zwei Jahre nach Rumänien und kehrten danach mit ihren Herden zurück. Diese Herden hatten sich in der Zwi¬ schenzeit vermehrt, es war allerdings nicht feststellbar, ob die Hirten dabei nicht einen Schafschmuggel betrieben.190 Zusätzlich bestand die Gefahr der Einfüh¬ rung von Tierkrankheiten wie der Maul- und Klauenseuche. Daher bestand Un¬ garn auf der Einstellung des Weideverkehres. Zum Ausgleich erhielt Rumänien ein jährliches Kontingent von 100 000 Schafen zugesprochen.191 In den Verhandlungen um den Handelsvertrag mit Montenegro ging es in er¬ ster Linie um den zollfreien Import montenegrinischer Rinder zur Fleischversor¬ gung der Bocche di Cattaro. Diesem cisleithanischen Bedürftiis widersetzte sich die ungarische Regierung längere Zeit, mit dem Handelsvertrag vom 6. Februar 1911 wurde aber Montenegro zugestanden, jährlich 6 000 Rinder mit einem Stückgewicht bis zu 300 kg und 20 000 Schafe oder Ziegen zollfrei in die Bocche di Cattaro einzuführen.192 Schließlich wurde noch über einen Handelsvertrag mit Bulgarien beraten. Die Handelskonvention vom 21. Dezember 1896 endete am 31. Dezember 1905. Ver¬ handlungen für ein neues Handelsabkommen verliefen zwar ergebnislos, aber jährlich wurde zwischen beiden Handelspartnern ein Meistbegünstigtenproviso- rinm im Notenwechsel vereinbart. Am 20. Februar 1912 nahmen Österreich-Un¬ garn und Bulgarien Verhandlungen über einen Handelsvertrag auf, der schon am 22. April 1912 formell unterzeichnet werden konnte.193 Damit wurde Bulgarien ein Kontingent von jährlich 12 000 Rindern eingeräumt.194 Der Handelsvertrag wurde auch schnell vom bulgarischen Parlament und vom cisleithanischen Reichsrat angenommen, konnte jedoch nicht im ungarischen Reichstag verhan¬ delt werden.195 Ende 1912 mußte daher das Meistbegünstigtenprovisorium für das Jahr 1913 verlängert werden;196 der Handelsvertrag wurde nie ratifiziert. 190 Siehe die Äußerungen der ungarischen Regierungsmitglieder in GMR. v. 28. 2. 1909, GM- CPZ. 470. 191 Der Weideverkehr wurde mit GA. VI/1910 aufgehoben. 192 In Cisleithanien publiziert als RGBl. Nr. 44/1912, in Ungarn als GA. IX/1912. 193 Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Hauses der Abgeordneten des öster¬ reichischen Reichsrates, XXL Session 1912, Beilage 1477 41 f. 194 Ebd. 55. 195 Schreiben Tarnowskis an Berchtold v. 24. 10. 1912, HHStA., F 37, Bulgarien 5, Karton 70, Nr. 409. 196 Schreiben Tamowskis an Berchtold v. 30. 12. 1912, ebd., Nr. 414. || || Einleitung 113 Die „große Politik" Die im gemeinsamen Ministerrat besprochenen außenpolitischen Themen be¬ schränkten sich auf die Probleme der Habsburgermonarchie. Die Konflikte des Bündnispartners Deutschland, wie die Zweite Marokkokrise 1911 oder der Ge¬ gensatz zu Großbritannien wegen der Flottenrüstung, kamen nur am Rande in den Darstellungen des Außenministers vor.197 Somit waren die Konstanten in Fra¬ gen der Außenpolitik die Beziehung zum verbündeten Italien und die Ereignisse auf dem Balkan. Die Außenpolitik der Doppelmonarchie kann 1908 bis 1914 in vier Phasen ge¬ teiltwerden: die aktive Phase 1908/09; die ruhige Phase 1909-1912; die reagieren¬ de Phase 1912/13; die „finale" Phase 1913/14. Cisleithanien und Ungarn gelang es mit dem Wirtschaftsausgleich von 1907, ihre Beziehungen wieder auf der Basis des staatsrechtlichen Ausgleiches von 1867 zu gestalten und so die zehnjährige Ära der „selbständigen Aufrechterhaltung der Wirtschaftsgemeinschaft" (1898- 1907) zu beenden. Damit wurde aber nicht nur der Krise zwischen Cisleithanien und Ungarn ein Ende gesetzt, sondern auch den politischen Krisen innerhalb bei¬ der Teile der Monarchie ihre Spitze genommen. Es trat eine innere politische Ent¬ spannung ein. Das relativ reibungslose Zustandekommen des Wirtschaftsausglei¬ ches von 1907 war selbst schon die Folge einer innenpolitischen Entspannung: die große ungarische Krise wurde durch einen Kompromiß Franz Josephs mit den „1848em" 1906 beendet, die ihren Ausdruck in der Ernennung der Koalitionsre¬ gierung fand; der Mährische Ausgleich von 1905 signalisierte die Bereitwilligkeit der deutschen und tschechischen Bevölkerung, im Interesse des Zusammenlebens nationale Kompromisse einzugehen. Dieser Ausgleich war dann auch Vorbild für weitere Entschärfungen nationaler Konflikte innerhalb einzelner Verwaltungsein¬ heiten Cisleithaniens, z. B. für den Ausgleich in der Bukowina 1910. Zusätzlich nahm die Festigung des Dualismus durch den Wirtschaftsausgleich politischen Oppositionen ein wesentliches „Kampfinittel". Sie konnten ihre Ziele nicht mehr durch Boykott eben dieses Ausgleiches erzwingen, wie es 1897 bis 1899 die deut¬ schen Abgeordneten des Reichsrates getan hatten, um die sogenannten „Badeni¬ schen Sprachenverordnungen" zu bekämpfen. Schließlich wurde auch das Über¬ greifen von politischen Krisen eines Teiles der Monarchie auf den anderen erschwert. Daher war der Wirtschaftsausgleich von 1907 sowohl Folge der politi¬ schen Entspannung in beiden Teilen der Monarchie, als auch wieder Ursache da¬ für, daß politische Krisen in beiden Teilen nicht derart eskalieren und auch den anderen Teil in Mitleidenschaft ziehen konnten, wie dies seit 1897 der Fall gewe¬ sen war. Eine gewisse Ausnahme stellte die südslawische Frage dar, weil sie direkt die innere Politik Cisleithaniens, Ungarns und Bosnien-Herzegowinas betraf.198 197 Z. B. GMR. V. 6. 12. 1911, GMKPZ. 490. Gross Mirjana, Erzherzog Franz Ferdinand und die kroatische Frage. Ein Beitrag zur gro߬ österreichischen Politik in Kroatien. In: Österreichische Osthefte 8 (1966) 277--299. || || 114 Einleitung Auch die außenpolitischen Ambitionen der Monarchie konnten angesichts die¬ ser inneren politischen Genesung international ganz anders vorgetragen werden. Denn die europäische Staatenwelt hatte nun in Österreich-Ungarn nicht mehr ein Gebilde vor sich, dessen innerer Zerfall im Bereich des Möglichen erschien. Dies betraf sowohl Staaten des „gegnerischen" Lagers, besonders Rußland, als auch den wichtigsten Verbündeten der Monarchie, das Deutsche Reich. Doch die au¬ ßenpolitische Stärke Österreich-Ungams 1908/09 basierte keineswegs aus¬ schließlich auf der inneren politischen Bemhigung. Ein zweites, möglicherweise noch wesentlicheres Moment war die Schwäche Rußlands, bedingt durch die Niederlage im Krieg gegen Japan 1905 und die folgende Revolution von 1905/06. Diese beiden Ereignisse vergrößerten den Handlungsspielraum der Monarchie sowohl im Inneren als auch außenpolitisch. Am 1. Dezember 1907 trafen sich die gemeinsamen Minister und beide Mini¬ sterpräsidenten, um über die noch offene südslawische Frage zu beraten, beson¬ ders über Bosnien-Herzegowina.199 Dabei legte Buriän dar, daß er die Politik seines Vorgängers Källay als gescheitert betrachte, die Serben in Bosnien- Herzegowina auszugrenzen. Gerade sie müßten für die Monarchie gewonnen werden. Daher sei es notwendig, die politischen Rechte der Einwohner dieser Provinzen sukzessive auszubauen, von der schon erfolgten Schaffung der Ge¬ meindeautonomie über Bezirksvertretungen bis hin zu einem Landtag. Dazu be¬ merkte Aehrenthal, ein Landtag könne allerdings erst nach einer Annexion Bos¬ nien-Herzegowinas errichtet werden, um den Landtag nicht über die Annexion selbst entscheiden lassen zu müssen. In der Besprechung einigten sich die anwe¬ senden Minister darauf, „daß die Annexion Bosniens und der Herzegowina dann zu erfolgen haben würde, wenn die Verhältnisse sie erheischten oder zum minde¬ sten gestatteten",200 doch war diese Übereinstimmung derart allgemein, daß sich daraus keine konkreten Schritte in dieser Richtung ergaben. Vielmehr setzte Aeh¬ renthal seine Bemühungen fort, das Projekt der sogenannten Sandzak-Bahn von Bosnien nach Thessaloniki wiederzubeleben.201 Buriän drängte allerdings auf eine Lösung der südslawischen Frage und legte im April 1908 Franz Joseph eine Denkschrift über Bosnien-Herzegowina vor,202 in der er seine in der Besprechung vom 1. Dezember 1907 vorgetragenen Überlegungen zum Aufbau einer inneren politischen konstitutionellen Struktur Bosnien-Herzegowinas wiederholte. Um 195 Ergänzendes Protokoll anderer Provenienz I dieses Bandes. 200 Ebd. 201 Zur Geschichte des Sandzakbahnprojektes 1907/08 siehe Pantenburg Isabel F., Im Schatten des Zweibundes, Probleme österreichisch-ungarischer Bündnispolitik 1897-1908 (= Veröf¬ fentlichungen der Kommission der neueren Geschichte Österreichs, Bd. 86, Wien-Köln- Weimar 1996) 411-432. 202 Buriäns Denkschrift über Bosnien und die Hercegovina von April 1908, HHStA., Kab. Kanzlei, Korrespondenzakten, 714/1908, siehe dazu auch Buriän Stephan Graf, Drei Jahre aus der Zeit meiner Amtsführung im Krieg (Berlin 1923) 221 ff. sowie zur Geschichte der Denkschrift Buriäns vom April 1908 Geyr, Wekerle 290 f. || || Einleitung 115 diese zu realisieren sei die Annexion wegen der inneren Verhältnisse Bosnien- Herzegowinas sinnvoll und notwendig. Diese Denkschrift veranlaßte nun Aeh- renthal seinerseits zu Bemerkungen, in denen er schwere Bedenken aus außenpo¬ litischen Rücksichten anmeldete.203 Eine Annexion Bosnien-Herzegowinas würde die Verletzung der Berliner Kongreßakte von 1878 bedeuten, was aber nicht im Interesse Österreich-Ungams liegen könne. Erst wenn sich der Status quo am Balkan verändert hätte, dürfe daher die Monarchie an die Annexion schreiten. Aber auch für diesen Fall wies Aehrenthal darauf hin, daß Österreich-Ungarn keineswegs militärisch ausreichend gerüstet sei, um „den erwarteten wahrschein¬ lichen Verwicklungen mit Ruhe und Zuversicht entgegensehen [zu] können."204 Somit erteilte Aehrenthal noch Ende April 1908 einer zielgerichteten Annexions¬ politik eine klare Absage. Doch gab er zu bedenken, „daß solche Ereignisse [Än¬ derungen des Status quo] aber aller Voraussicht nach in nicht zu ferner Zukunft eintreten werden."205 Diese Ereignisse begannen sich einen Monat später anzu¬ bahnen. Mit der Revaler Entrevue des Zaren von Rußland und des Königs von England Anfang Juni vereinbarten die beiden Großmächte eine neue Initiative einer Verwaltungsreform für Mazedonien, die in der oppositionellen jungtürki¬ schen Bewegung des Osmanischen Reiches die Befürchtung wachrief, daß damit Mazedonien für das Osmanische Reich verloren gehen könne. Folge war die so¬ genannte jungtürkische Revolution, die schnell und erfolgreich Ende Juli 1908 das absolutistische Regime des Sultans beseitigte.206 Eine der ersten Folgen der Revolution war die Wiederbelebung und Modifizierung der alten Verfassung von 1876, die seit der Auflösung des Parlamentes 1878 ruhte.207 Genau diese Aktivie- mng des Parlamentarismus machte es aber für Österreich-Ungarn unmöglich, den Juristischen Schwebezustand" Bosnien-Herzegowinas aufrecht zu erhalten, ei¬ nerseits Teil des Osmanischen Reiches zu sein, andererseits von der Doppelmon¬ archie verwaltet zu werden. Denn als Teil des Osmanischen Reiches wären auch Abgeordnete Bosnien-Herzegowinas an dessen Parlament zu beteiligen gewesen und hätten an der Gesetzgebung des Osmanischen Reiches mitgewirkt. Die Durchführung dieser Gesetze konnte diesen Provinzen dann schwerlich von der 203 In seinen Erinnerungen schrieb Buriän: Das Aehrenthalsche Gegenmemorandum ist nie ent¬ standen, und von der Sache war einstweilen nicht weiter die Rede, BuriAn, Drei Jahre 221. Hier irrte erjedoch, denn Aehrenthals Gegenmemorandumfindet sich als Bemerkungen zur II. Denkschrift des k. u. k. gemeinsamen Finanzministers Freiherm v. Buriän über Bosnien und die Herzegovina Ende April 1908, HHStA., Kab. Kanzlei, Korrespondenzakten, 714/1908. Sie war die Ursache, daß von der Annexion einstweilen nicht weiter die Rede war. 204 Ebd. 205 Ebd. 206 Bilge Reha, Die jung-türkische Reformbewegung in der osmanischen Türkei, phil. Diss. (Wien 1979) 203. 207 Zur Verfassung von 1876 siehe ebd. 124-128, zur Revolution von 1908 und der Wiederbele¬ bung der Verfassung ebd., 203 ff. || || 116 Einleitung österreichisch-ungarischen Verwaltung vorenthalten werden. Um die faktische Herrschaft der Monarchie über Bosnien-Herzegowina aufrecht zu erhalten, mu߬ te trotz der ungenügenden militärischen Rüstung an die Annexion geschritten werden.208 Anders sah es mit den in der Berliner Kongreßakte Österreich-Ungarn einge¬ räumten Rechten im Sandzak von Novipazar aus. Dieser wurde nicht von der Monarchie verwaltet, es bestand lediglich eine gemischte türkische und öster¬ reichisch-ungarische militärische Besatzung.209 Auf dieses Recht wollte Öster¬ reich-Ungarn nun verzichten und der Sandzak sollte wieder ganz der Kontrolle des Osmanischen Reiches übergeben werden.210 Trotz intensiver diplomatischer Vorbereitungen und trotz des Verzichtes auf den Sandzak erfolgte die Annexion Bosnien-Herzegowinas dann nicht in der ruhigen und gelassenen Selbstverständ¬ lichkeit, auf die Aehrenthal hingearbeitet hatte. Im gemeinsamen Ministerrat vom 10. September 1908 wurde noch der Beschluß gefaßt, „daß man immerhin den Versuch machen könne, vorläufig ohne Mobilisierung auszukommen und diese erst dann eintreten zu lassen, wenn der Landeschef, welcher diesfalls bereits mit entsprechenden Instruktionen versehen sei, einen dahingehenden Antrag stellen würde."211 Doch die internationale Reaktion212 machte dann doch militärische Maßnahmen notwendig.213 Die von Schönaich mit 100 Millionen Kronen veran¬ schlagten Kosten214 wurden weit übertroffen. Bei der Behandlung des Budgets für 1910 wurde im gemeinsamen Ministerrat für die zusätzlichen Heeresausgaben wegen der Annexionskrise ein außerordentlicher Rüstungskredit in Höhe von 163 Millionen Kronen bewilligt.215 Der anfängliche Widerstand der Jungtürken, der 208 Musulin erwähnt, daß Aehrenthal mit ihm die Annexionskampagne im Laufe des Monats Juli besprach, Musulin v. Gomorje Alexander Freiherr v., Das Haus am Ballplatz, Erinnerungen eines österreichisch-ungarischen Diplomaten (München 1924) 166. Die Bemerkungen Aeh- renthals zur Denkschrift Buriäns sowie Buriäns Darstellung selbst - Burian, Drei Jahre 222 f. - widerlegen allerdings für die Zeit zwischen April und Juli 1908 Musulins Aussage: Die Anregung des Grafen Buriän begegnete bei Graf Aehrenthal bereitwilligstem Verständnis, ebd. 165. 209 Zu den Bestimmungenfür das Sandzak von Novipazar: Artikel XXV der Berliner Kongreßak¬ te, publiziert in Bernatzik, Österreichische Verfassungsgesetze, Nr. 195, sowie Artikel VII bis Xder Konvention zwischen Österreich-Ungarn und der Türkei v. 21. 4. 1879, ebd., Nr. 196. 210 GMR. v. 19. 8. 1908,GMCVZ. 467. 211 GMCPZ. 468. 212 Skrivan Ales d. A., Die internationale Reaktion auf die Annexion Bosniens und der Herzego¬ wina durch Österreich-Ungarn im Jahre 1908. In: Skrjvan Ales Sl-Suppan Arnold (Hg.), Prague Papers on the History of international Relations (Praha 2006) 121-162. 2.3 Kronenbitter, „Krieg im Frieden" 353. 2.4 GMR. v. 10. 9. 1908, GMCPZ. 468. 215 GMR. v. 14. und 18. 9. 1909, GMCPZ. 473. Der Kredit wurde noch um 21 auf184 Millionen Kronen erhöht, allerdings durch Übertragung von Heeresforderungen, die außerhalb des zusätzlichen Aufwandes der Annexionskrise lagen. || || Einleitung 117 seinen Ausdruck in einem Boykott der Waren der Monarchie fand,216 konnte mit dem Vertrag vom 26. Februar 1909 überwunden werden.217 Für die Anerkennung der Annexion räumte Österreich-Ungarn dem Osmanischen Reich gewisse han¬ delspolitische Zugeständnisse ein und löste den osmanischen Domänenbesitz in Bosnien-Herzegowina mit zweieinhalb Millionen türkischer Pfund - umgerech¬ net 54 Millionen Kronen - ab.218 Weil die Annexion serbische Ambitionen dauerhaft zerstörte, war Serbien nicht bereit, sie einfach hinzunehmen. Von Serbien gestellte Kompensationsfor¬ derungen konnte Österreich-Ungarn nicht akzeptieren. Während sich das Deut¬ sche Reich voll und ganz hinter Österreich-Ungarn stellte, war Rußland wegen seiner militärischen Schwäche nicht in der Lage, die serbischen Forderungen bis zur Konsequenz eines Krieges zu unterstützen.219 Mit dem Nachgeben Serbiens war daher Ende März die akute Kriegsgefahr gebannt. Österreich-Ungarn hatte unter Aufwendung großer finanzieller Mittel einen politischen Sieg davongetra¬ gen. Der Sieg war - abgesehen vom Rückzug aus dem Sandzak - der Erhalt des Status quo der Monarchie am Balkan. Es hatte sich gezeigt, daß Aehrenthals Einschätzung vom April 1908 durchaus zutreffend war, die Monarchie war für solche außenpolitischen Vorstöße keines¬ wegs militärisch gerüstet. Denn letztlich war der Erfolg der Annexion keineswegs der eigenen Kraft, sondern dem Deutschen Reich zu danken. Als Conrad Aeh- renthal nach der Annexionskrise vorwarf, die günstige Gelegenheit eines Krieg gegen Serbien imgenutzt gelassen zu haben, legte Aehrenthal mit dem Promemo- ria vom 15. August 1909, der „Hietzinger Denkschrift", nicht nur eine Erwide¬ rung auf die Kritik Conrads vor, sondern vielmehr sein grundlegendes außenpo¬ litisches Balkankonzept.220 Eine expansive Politik Österreich-Ungams wurde darin schon alleine deswegen grundsätzlich abgelehnt, weil Rußland, Italien und Großbritannien Gegenmaßnahmen vorbereiten würden. Kristallisationspunkt der gesamten Balkanpolitik waren Serbien und Montenegro. Aehrenthal sah eine Doppelstrategie vor: einerseits hatte die Monarchie durch ihre innere Politik die 216 Siehe dazu z. B. das Schreiben des Konsuls in Monastir an den Botschafter in Konstantinopel v. 12. 10.1908, publiziert in Gonsa Gerhard, Die Annexion Bosnien-Herzegowinas 1908. In: Österreich Edition. 217 Vertrag zwischen Österreich-Ungarn und der Pforte v. 26. 2. 1909, Bernatzik, Österreichi¬ sche Verfassungsgesetze Nr. 200 e. 218 Siehe dazu die Besprechung der gemeinsamen Minister und der Ministerpräsidenten v. 23. 12. 1908, ergänzendes Protokoll anderer Provenienz III dieses Bandes. Vocelka Karl, Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie 1848-1918. In: Wandruszka Adam- Urbanitsch Peter (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. VI: Die Habsburger¬ monarchie im System der internationalen Beziehungen, 2. Teilband (Wien 1993) 247-278, hier 269 f. 219 Kronenbitter, „Krieg im Frieden" 353 f. 220 Geheimes Bromemona. Aehrenthals v. 15. 8. 1909, Ka., MKSM. 50-2/1-6/1909, auch publi¬ ziert in Österreich-Ungarns Aussenpolitik, Bd. 2, Nr. 1720. || || 118 Einleitung Südslawen für sich zu gewinnen, damit die serbischen Staaten keinen „Attraktionsherd"221 für sie bilden konnten. In diesem Zusammenhang bemühte sich Ahrenthal, Position und Rechte Bosnien-Herzegowinas innerhalb der ge¬ meinsamen Monarchie aufzuwerten: im September 1908 schlug er vor, Franz Joseph solle mit der Annexion den Titel eines „Königs von Bosnien" annehmen, in der Diskussion um das Landesstatut bis September 1909 bemühte er sich, Bos¬ nien-Herzegowina konkrete Mitspracherechte in den Zoll- und Handelskonferen¬ zen einzuräumen. Andererseits sollten nach Aehrenthals Konzept die serbischen Expansionsbestrebungen nach Süden von anderen Balkanmächten unterbunden werden. Wenn das Osmanische Reich in der Lage sei, den Status quo am Balkan zu erhalten, werde die Monarchie zu ihm gute Kontakte pflegen und fördern. Gelinge dies aber nicht, so sollten Bulgarien und Albanien die Aufgabe der Ein¬ dämmung Serbiens und Montenegros übernehmen. Aehrenthal machte in seiner Denkschrift deutlich, daß er den Erhalt des Status quo am Balkan nur passiv ver¬ folgen würde; aktiv müßten Bulgarien und die albanischen Provinzen im Interes¬ se der Monarchie beeinflußt werden, auch unter Gefährdung des Status quo. So arbeitete Aehrenthal gegen ein Bündnis Rumäniens mit dem Osmanischen Reich und für eines mit Bulgarien,222 und er förderte gegen osmanisches Interesse die Zusammenführung der albanischen Stämme zu einer Nation,223 damit sie in Zu¬ kunft ein Machtfaktor gegen Serbien und Montenegro werden konnten. Auf diese Weise sollte Serbien und Montenegro jegliche Expansionsmöglichkeit genom¬ men werden. Durch ein „billiges wirtschaftliches Abkommen" bliebe diesen bei¬ den Staaten dann nichts anderes übrig, als sich eng an Österreich-Ungarn anzu¬ schließen; der wirtschaftliche und möglicherweise auch der militärische Anschluß kämen von selbst.224 Aehrenthals Konzept enthielt jedoch einige gravierende Schwachstellen. Zu¬ nächst war seine Balkanpolitik der des Deutschen Reiches diametral entgegenge¬ setzt.225 Deutschland setzte aktiv und tatkräftig auf den Machterhalt des Osmani- 221 Wortwahl Aehrenthals in ebd., fol. 4r. 222 Ebd., fol. 7v-8r. Zur Bulgarienpolitik Aehrenthals siehe Lolkov Milco, Die Politik Öster¬ reich-Ungams im Spiegel der bulgarischen Öffentlichkeit (1878-1918). In: Wandruszka Adam-URBANiiscH Peter (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Band VI: Die Habs¬ burgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, 2. Teilband (Wien 1993) 406- 435, hier 431. 223 Zu den Versuchen der Förderung undBeeinflussungAlbaniens in österreichisch-ungarischem Sinne siehe Ramhardter Günther, Propaganda und Außenpolitik. In: Wandruszka Adam- Urbanitsch Peter (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Band VI: Die Habsburger¬ monarchie im System der internationalen Beziehungen, 1. Teilband (Wien 1989) 496-536, hier 520-528. 224 Geheimes Promemoria Aehrenthals v. 15. 8. 1909, Ka., MKSM. 50-2/1-6/1909, fol. 8r-v. 225 Zu den Diskrepanzen zwischen deutscher und österreichisch-ungarischer Außenpolitik im 20. Jahrhundert bis zur Julikrise 1914- schwerpunktmäßig aus deutscher Sicht - siehe Lah¬ me Rainer, Die Entwicklung des Zweibundes von Caprivi bis Bethmann Hollweg. In: Rump- || || Einleitung 119 sehen Reiches. Dieser Politik konnte sich Aehrenthal nicht offen widersetzen. Er konnte nur verdeckt Bulgarien und Albanien gegen das Osmanische Reich för¬ dern, nach außen hin mußte er die Bewahrung der bestehenden Zustände propa¬ gieren. Somit konnte Österreich-Ungarn keinesfalls offen hinter der Aufteilung der europäischen Türkei stehen. Erst nach der Beendigung des Status quo auf dem Balkan war das möglich. Diese Diskrepanz zwischen offenem Bekenntnis zu den bestehenden Verhältnissen und dem verdeckten Hintertreiben des Status quo gab der österreichisch-ungarischen Außenpolitik den Anschein von Wider¬ sprüchlichkeit, die ganz besonders in Bulgarien wahrgenommen wurde.226 Es be¬ stand letztlich die Gefahr, daß die Monarchie Bulgarien forderte, dieses sich dann aber zur Erreichung seiner Expansionsziele einer anderen Großmacht anschloß, die direkter und damit effektiver auf Veränderungen am Balkan hinwirken konnte. Das Hauptproblem aber war, daß nur ein Teil dieser Doppelstrategie zur Au¬ ßenpolitik gehörte, nämlich die Eindämmung Serbiens. Die innere Politik in Kroatien-Slawonien war eine rein ungarische Angelegenheit, die Politik in Bos¬ nien-Herzegowina war Aufgabe des gemeinsamen Finanzministers, der in vielen Fragen nur im Konsens mit beiden Regierungen Vorgehen konnte. Betrachtet man z. B. konkret das Landesstatut von Bosnien-Herzegowina (1910) oder die Rege¬ lung der Kmetenffage (1911), so waren diese keineswegs in der Lage, die südsla¬ wischen „Aspirationen" nach Österreich-Ungarn „gravitieren" zu lassen.227 Auch der Inhalt des Handelsvertrages lag in der Entscheidungskompetenz beider Teile der Monarchie, nicht in der des Außenministers. Schon vor der Hietzinger Denk¬ schrift hatte sich Aehrenthal in dieser Frage mit seinen Vorstellungen gegenüber beiden Regierungen nicht durchsetzen können. Der Handelsvertrag vom 27. Juli 1910 mit Serbien entsprach keineswegs dem aehrenthalschen Konzept. Über Än¬ derungen zugunsten Serbiens konnte allenfalls unter geänderten außenpolitischen Bedingungen mit beiden Regierungen später neu beraten werden. Als Berchtold am 17. Februar 1912 das Außenamt übernahm, bestand von Aehrenthals innerer und äußerer Doppelstrategie gegen Serbien nur mehr die Eindämmungspolitik von Süden durch die indirekte Förderung Bulgariens und Albaniens. Die handelspolitischen Zielsetzungen waren zumindest auf unbe¬ stimmte Zeit verschoben worden. Eine Lösung der inneren südslawischen Frage der Monarchie mußte als gescheitert angesehen werden. Zudem begannen sich ab 1909 die Effekte zu relativieren, die Österreich-Un¬ garn während der Annexion einen relativ großen Handlungsspielraum verschafft hatten. Innenpolitisch war es zwar mit dem Wirtschaftsausgleich 1907 gelungen, ler Helmut-NiEDERKORN Jan Paul (Hg.), Der Zweibund 1879, Das deutsch-österreichisch- ungarische Bündnis und die europäische Diplomatie (= Zentraleuropa-Studien Bd. 2, Wien 1996) 195-220, hier 200-213. 226 Lolkov Milco, Politik Österreich-Ungams 431. 227 Wortwahl Aehrenthals in Geheimes Promemoria Aehrenthals v. 15. 8. 1909, Ka., MKSM. 50-2/1-6/1909, fol. 4r. || || 120 Einleitung den politischen Krisen innerhalb beider Teile der Monarchie ihre existenzbedro¬ hende Spitze zu nehmen, also auch das Gefüge zwischen beiden Teilen zu stabi¬ lisieren. Dennoch zeigte sich in den folgenden Jahren zunehmend, daß damit so¬ wohl die politischen Krisen in, als auch Differenzen zwischen beiden Teilen weiterbestanden. Der cisleithanische Reichsrat konnte seine Bedeutung als selb¬ ständiger politischer Faktor nicht mehr zurückerlangen. Im ungarischen Reichs¬ tag mußten die Koalitionsregierung und ihre Nachfolger die Mitglieder der Par¬ teien der Mehrheit überzeugen, daß ihre Politik die speziellen ungarischen Interessen genügend fördere. Auch die gemeinsamen Ministerratsprotokolle ver¬ deutlichen, daß trotz des 1907 geschlossenen Wirtschaftsausgleiches die ökono¬ mischen Interessen beider Teile der Monarchie unversöhnlich gegenüberstanden, beispielsweise bei den Diskussionen um die Eisenbahninvestitionen in Bosnien- Herzegowina oder bei den Diskussionen um die militärischen Ausgaben. Es wur¬ de in den Jahren nach dem Wirtschaftsausgleich deutlich, daß es zwar Österreich- Ungarn und seinen Teilen gelungen war, die Probleme „verfassungsmäßig" in den Griff zu bekommen, jedoch keineswegs „inhaltlich". Außenpolitisch wurde die Monarchie zunehmend durch das militärisch schnell wieder erstarkende Rußland beengt, das mit westeuropäischer Finanzhilfe nach der Annexionskrise riesige Summen in seine militärische Rüstung investierte. Zudem waren alle russischen Ambitionen in Ostasien durch die Niederlage gegen Japan zerstört worden, und durch die Konvention mit Großbritannien vom 18. August 1907 wurden die Differenzen besonders in Persien beigelegt, so daß das russische Aktionsfeld nun vollkommen auf den Balkan gelenkt wurde.228 Schlie߬ lich fanden Berchtolds internationale Bemühungen vor den Balkankriegen keine Unterstützung durch das Deutsche Reich. Zu oft hatte Österreich-Ungarn den deutschen Bündnispartner alleine gelassen, sei es während der Zweiten Marokko¬ krise, sei es wegen der unterschiedlichen Balkankonzeptionen.229 Der außenpoli¬ tische Handlungsspielraum der Monarchie hatte sich stark eingeengt. Am 13. März 1912 kam mit russischer Unterstützung und ohne Wissen Öster¬ reich-Ungarns ein Bündnis zwischen Bulgarien und Serbien zustande, das gegen das Osmanische Reich gerichtet war. Griechenland schloß sich im Mai und Mon¬ tenegro im August 1912 an. Eine große Koalition der kleinen Balkanstaaten war entstanden, aber nicht Österreich-Ungarn, sondern Rußland stand schützend hin¬ ter ihr und übte seinen Einfluß aus. Zudem offenbarte die Entmachtung der Jung¬ türken durch eine erfolgreiche Gegenrevolution im Juli 1912 die desolaten Zu¬ stände im Osmanischen Reich. Unter diesen - vom Einvernehmen Bulgariens mit Serbien geprägten - Voraussetzungen konnte Österreich-Ungarn kein Interesse an einer Umwälzung der Verhältnisse am Balkan haben. Die Monarchie versuch- 228 Kjessling Friedrich, Gegen den „Großen Krieg"? Entspannung in den internationalen Bezie¬ hungen 1911-1914 (= Studien zur internationalen Geschichte, Bd. 12, München 2002) 84. 229 Zu den Differenzen zur deutschen Außenpolitik siehe Bridge, Österreich (-Ungarn) unter den Großmächten 321 ff. sowie Kronenbitter, „Krieg im Frieden" 359 f. || || Einleitung 121 te daher den Krieg zu verhindern und, als er Anfang Oktober 1912 begann, ruhten ihre Hoffnungen auf dem Osmanischen Reich. Nach dessen militärischem Zu¬ sammenbruch war dann der Status quo auf dem Balkan unhaltbar geworden. Trotz ungünstiger Vorzeichen trat aber nur der Fall ein, den Aehrenthal in seiner Hietzinger Denkschrift sehr ausführlich analysiert hatte: die politische Umgestal¬ tung des Balkans. Noch war keinesfalls ausgeschlossen, daß die Neuordnung nicht doch nach dem Konzept Aehrenthals erfolgen konnte - ohne militärisches Eingreifen, sondern nur durch Diplomatie ein vergrößertes Bulgarien und ein „autonomes" Albanien zu schaffen, die „die Aspirationen des serbischen Staats¬ wesens nach dem Süden zu [sic!] unterbinden werden."230 Zunächst galt es, sich einer serbischen Einverleibung Albaniens entgegenzu¬ stellen. Da dies den italienischen Interessen entsprach und sich auch das Deut¬ sche Reich dieser Forderung anschloß, traten die Dreibundpartner geschlossen auf. Um zu verhindern, daß auch Großmächte direkt in den Balkankrieg hinein¬ gezogen würden, traten im Dezember 1912 in London die Botschafter zusam¬ men, um bei der Neuordnung am Balkan die Interessen aller Großmächte Euro¬ pas zu berücksichtigen. Hier wurden auch die Grenzen des neu zu schaffenden albanischen Staates geregelt. Österreich-Ungarn konnte sein Hauptanliegen eines wirtschaftlich lebensfähigen Albaniens durchsetzen. Schwieriger erwies es sich, die Beschlüsse der Botschafterkonferenz auch umzusetzen. Serbien weigerte sich, die schon besetzte albanische Küste wieder zu verlassen. Die Londoner Konferenz zeigte sich als unfähig, effektive Maßnahmen zu ergreifen. Letztlich waren es die sich anbahnenden Differenzen mit Bulgarien wegen der Aufteilung Mazedoniens, die Serbien im April/Mai 1913 zur Räumung Albaniens veranlaß- ten. Auch Montenegro erkannte die albanische Grenze nicht an und eroberte am 23. April 1913 die wichtige nordalbanische Stadt Skutari und gefährdete damit die gesamte Balkanpolitik Berchtolds. Als sich das europäische Konzert uneins zeigte, wie auf diesen Schritt Montenegros zu reagieren sei, beschloß Österreich- Ungarn im Alleingang zu handeln und traf Vorbereitungen für eine Mobilisie¬ rung.231 Darauf räumte Montenegro am 5. Mai 1913 Skutari. Ein territorial über¬ lebensfähiges Albanien schien gesichert. Mitte 1913 ergaben sich massive Differenzen zwischen Bulgarien und Serbien über eine Aufteilung Mazedoniens. Wäre dieser Konflikt zugunsten Bulgariens ausgegangen, so wäre Aehrenthals Konzept vollauf zum Tragen gekommen. Allerdings richteten sich die bulgarischen Forderungen auch gegen griechische Eroberungen, verweigerte Bulgarien - trotz Vermittlungsversuchen der Monar¬ chie232 - Gebietsabtretungen an Rumänien für dessen Stillhalten während des (Er- 230 Geheimes Vromemona Aehrenthals v. 15. 8. 1909, Ka., MKSM. 50-2/1-6/1909, fol. 7r-9r. 231 GMR. v. 2. 5. 1913, GMKPZ. 506. 232 Siehe z. B. Telegramm Berchtolds an Tarnowski v. 3. 4. 1913, publiziert in Österreich- Ungarns Aussenpolitik, Bd. 6, Nr. 6441, Hantsch Hugo, Leopold GrafBerchtold, Grandsei¬ gneur und Staatsmann, Bd. 2 (Graz 1963) 424 f. sowie 441-448. || || 122 Einleitung sten) Balkankrieges, und es hatte zuvor das Osmanische Reich durch die Erobe¬ rung Adrianopels schwer gedemütigt. Ende Juni 1913 begann Bulgarien den Zweiten Balkankrieg mit einem - mißglückten - Überfall auf Serbien und Grie¬ chenland. Schnell schlossen sich Rumänien und das Osmanische Reich den Geg¬ nern Bulgariens an. Innerhalb eines Monats mußte Bulgarien seine hochfliegen¬ den Ziele begraben, und damit auch Österreich-Ungarn seine in dieses Land gesteckten großen Hoffnungen. Statt einer „tunlichsten Vergrößerung Bulgariens und zwar so, daß die Rivalität zwischen diesem Staate und Serbien aufrecht bleibt",233 ging Bulgarien geschwächt und Serbien territorial und moralisch ge¬ stärkt aus den Balkankriegen hervor. Auch Albanien konnte nie die von Aehrent- hal formulierten Erwartungen erfüllen, schon alleine, weil die einzelnen Stämme keineswegs zu einer Nation zusammengewachsen waren. Keine einheitliche Re¬ gierung, sondern miteinander verfeindete Stämme beherrschten das Land und hielten es in permanenten Fehden. Dies sollte sich in voller Tragweite erst 1914 heraussteilen.234 Ende 1912 und Anfang 1913 beriet das Außenministerium intern und mit den anderen gemeinsamen Ministem sowie beiden Regierungen235 über einen verbes¬ serten Handelsvertrag mit Serbien. Zu diesem Zeitpunkt waren die osmanischen Truppen zwar schon geschlagen, aber die Londoner Botschafterreunion hatte Serbien besonders auf österreichisch-ungarisches Betreiben einen Landbesitz an der Adria verwehrt. Doch Serbien lehnte das Angebot eines verbesserten Han¬ delsabkommens faktisch ab. Das in der Hietzinger Denkschrift gesteckte außen¬ politische Fernziel der Doppelmonarchie war gescheitert. Zwar mußte Serbien weiterhin mit Bulgarien als natürlichem Feind und einer unruhigen Grenze mit Albanien rechnen, aber es hatte nach Süden keine Gebiets¬ forderungen mehr. Nicht zu Unrecht befürchtete daher Österreich-Ungarn, daß sich die serbischen Ambitionen nun verstärkt auf die südslawischen Gebiete der Monarchie richten würden. Da die innere Politik der Monarchie nicht Willens oder unfähig war, die Südslawen mit der Monarchie zu versöhnen, stand Öster¬ reich-Ungarn einer serbischen nationalen Propaganda hilflos gegenüber. Diese innere Gefahr, die von Serbien für die Monarchie ausging, konnte nicht mehr nur über Diplomatie abgewendet werden. Es war unmöglich geworden, Serbien durch Bulgarien und Albanien von der Monarchie abzulenken, was Aehrenthal eigent¬ lich angestrebt hatte. Bulgarien und Albanien konnten nur mehr Verbündete in einer zukünftigen direkten Auseinandersetzung mit Serbien sein, und eine solche wurde nun als unausweichlich angesehen. Zwar wurde die Forderung Conrads nach einer sofortigen Abrechnung im Oktober 1913 von Berchtold abgelehnt, aber nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern weil sich Österreich-Ungarn inter¬ national isolieren würde und auch Deutschland kein Verständnis für ein solches 233 Geheimes Vvomemona Aehrenthals v. 15. 8. 1909, Ka., MKSM. 50-2/1-6/1909, fol. 8r. 234 Kronenbitter, „Krieg im Frieden" 430-433. 235 GMR. v. 16. und 17. 2. 1913, GMKPZ. 503. || || Einleitung 123 Vorgehen hätte. Die Politik der Monarchie zielte darauf, den militärischen Kon¬ flikt mit Serbien zwar nicht anzustreben, ihn aber auch nicht mehr aktiv zu ver¬ hindern. Die eigene Entscheidung über Krieg und Frieden wurde damit ganz von der serbischen Politik abhängig gemacht. Man bereitete sich nur mehr auf die jetzt als unausweichlich angesehene Auseinandersetzung vor. Ein wesentlicher Punkt der Vorbereitung war die Beschleunigung des Ausbaues der bewaffneten Macht. So meinte Bilihski im gemeinsamen Ministerrat vom 3. Oktober 1913: „Wir müssen uns auf diesen großen Kampfvorbereiten und daher ohne Rücksicht auf die allerdings sehr geschwächten Finanzen und die sehr prekäre wirtschaftli¬ che Lage schon heute die Armee entsprechend verstärken."236 Bereits zu Beginn der Balkankriege war der Schönaichsche Pakt als Begrenzung von Steigerungen der Militärausgaben faktisch aufgehoben worden, indem ein zusätzlicher außer¬ ordentlicher Rüstungskredit von den Delegationen beschlossen wurde. Mit dem Budget für das erste Halbjahr 1914 schnellte dann auch das Ordinarium von 394 Millionen Kronen für das ganze Jahr 1913 auf 234 Millionen Kronen - für ein halbes Jahr - in die Höhe. Außenpolitisch versuchte Österreich-Ungarn nun ganz offen Bulgarien für sich zu gewinnen.237 Auch Albanien wurde gefördert, meist allerdings nur indi¬ rekt, wie z. B. durch die im gemeinsamen Ministerrat vom 14. Dezember 1913 beschlossene Finanzierung von vier bis fünf Stiftungsplätzen in Militärbildungs¬ anstalten der Monarchie für Söhne albanischer Nobilitäten.238 Doch Albanien war kein national geeinter, sondern ein von verfeindeten Stämmen beherrschter und damit machtloser Staat, dessen militärisches Potential gegen Serbien nicht ins Gewicht fiel. Ein dritter Weg, sich auf den kommenden Konflikt vorzubereiten, bestand darin, Serbien so weit es mit diplomatischen Mitteln ging, zu schwächen, zumindest aber weitere Stärkungen zu unterbinden. Da Serbien politisch und seit dem „Schweinekrieg" auch wirtschaftlich von der Monarchie unabhängig war, stand der österreichisch-ungarischen Diplomatie nur ein sehr begrenzter Hand¬ lungsspielraum offen. So stimmte die Monarchie im Juli 1913 einem internatio¬ nalen Kredit in Höhe von 30 Millionen Francs für Montenegro zu und beteiligte sich selbst mit fünfMillionen, obwohl Österreich-Ungarn nur drei Monate vorher vor militärischen Auseinandersetzungen mit diesem Staat gestanden hatte. Die Forderung des Kriegsministers Krobatin, zumindest Gegenleistungen zu verlan¬ gen, lehnte Berchtold mit der Begründung ab, daß die Balkankriege eine Notlage in Montenegro hervorgerufen und zu einer Unzufriedenheit der Bevölkerung ge¬ führt hätten, die zu einer Vereinigung Montenegros mit Serbien führen könnte. Daher müsse sich Österreich-Ungarn ohne Bedingungen an dem Kredit beteili¬ gen, damit „die Union Montenegros mit Serbien beziehungsweise die Ausdeh- 236 GMKPZ. 508. 237 Lalkov, Die Politik Österreich-Ungams 432 f. 238 GMKPZ. 510, zw den Unterstützungen Österreich-UngamsflirAlbanien siehe auch Kronen¬ bitter, „Krieg im Frieden" 430-433. || || 124 Einleitung nung der Machtsphäre des letzteren Staates bis an die Adria hintangehalten oder zumindest solange als möglich hinausgeschoben werde."239 Auch verkehrspoli¬ tisch versuchte Berchtold, Einfluß auf Serbien zu nehmen. Seit Ende des Jahres 1912 hatte er den Ankauf der Majorität der Aktien an der Orientalischen Eisen- bahngesellschaft betrieben. Diese Orientbahngesellschaft besaß wesentliche Bahnlinien in der europäischen Türkei und gehörte Deutschen und Schweizer Banken. Als feststand, daß das Osmanische Reich fast seinen gesamten europä¬ ischen Besitzstand verlieren werde und die Bahnlinien zukünftig im Territorium der Nachfolgestaaten liegen würden, hatte die Orientbahngesellschaft für die deutsche Bankengruppe ihren Wert verloren. Diese bot die Aktien zum Kauf an. Berchtold schlug beiden Regierungen vor, mit 51 000 Aktien die Majorität durch ein Konsortium cisleithanischer und ungarischer Banken kaufen zu lassen. In der gemeinsamen Ministerratssitzung vom 21. Februar 1913 stimmten alle maßge¬ benden Faktoren zu.240 Im April 1913 wurden die Aktien vom Bankenkonsortium gekauft.241 Damit erhielt Österreich-Ungarn nicht nur den Besitz der bestehenden Eisenbahnlinien, sondern auch die Baurechte an Eisenbahnlinien aus Mazedoni¬ en in Richtung Adria. Die Ausgestaltung eines zukünftigen albanischen Eisen¬ bahnnetzes lag daher auch in ihren Händen, wie Berchtold ausdrücklich beton¬ te.242 Mit dem Frieden von Bukarest wurde klar, daß wesentliche Strecken der Bahn im neuerworbenen serbischen Territorium liegen würden. Serbien konnte den österreichisch-ungarischen Besitz und die Baurechte nicht einfach hinnehmen. Um Serbien von einer Verstaatlichung der Bahnen abzuhalten und um den direk¬ ten Einfluß Österreich-Ungams auf das Steckennetz zu erhalten, bemühte sich Berchtold um eine Intemationalisierung dieser Bahnen. Besitz und Rechte der Orienteisenbahn sollten in eine Gesellschaft übergehen, die zu je einem Drittel Österreich-Ungarn, Frankreich und Serbien zu gehören hätte. Serbien stimmte nicht zu, sondern machte einen Gegenvorschlag, den wiederum Österreich-Un¬ garn nicht akzeptierte. Damit scheiterte Anfang 1914 das Intemationalisierungs- projekt. Nun konnte es für Österreich-Ungarn nur mehr darum gehen, so viel Kapital wie möglich aus der Verstaatlichung der Bahn durch Serbien zu schlagen, sowohl finanziell, als auch rechtlich.243 Obwohl die serbische Regierung eigent¬ lich mit der privaten Gesellschaft verhandelte, gaben das Außenministerium und beide Regierungen die Richtlinien vor, welche politischen Interessen die Orient¬ bahngesellschaft zu vertreten hatte. Der gemeinsame Ministerrat vom 24. Mai 1914, der letzte, der vor der Julikrise zusammentrat, beschloß, daß die Verstaatli¬ chung Serbien zugestanden werden könne, wenn es eine Anschlußbahn an das 239 GMR. v. 14. 12. 1913, GMKPZ. 510. 240 GMKPZ. 504. 241 Kiessling, Gegen den „großen Krieg"? 212. 242 GMR. v. 21. 2. 1913, GMKPZ. 504. 243 Kiessling, Gegen den „großen Krieg"? 212 f. || || Einleitung 125 bosnisch-herzegowinische Streckennetz bauen und wenn es die Verpflichtungen gegenüber der Monarchie bezüglich der alten Linien auch auf die neuen Strecken der Orientbahn ausdehnen würde244. Die Verhandlungen waren noch im Gang, als am 28. Juni 1914 Franz Ferdinand dem Attentat in Sarajewo zum Opfer fiel. Da¬ mit endeten auch die Verhandlungen mit Serbien über die Orientbahngesellschaft. Am 1. Juli 1914 berichtete der deutsche Gesandte in Belgrad nach Berlin: „Der österreichisch-ungarische Geschäftsträger bezeichnet mir die Fortsetzung der Verhandlungen im gegenwärtigen Augenblick als inopportun, und dürfte es somit richtig sein, wenn hier behauptet wird, die Verhandlungen seien infolge des At¬ tentats abgebrochen worden."245 Das „serbische Problem" glaubte die Monarchie ab Herbst 1913 nur mehr mi¬ litärisch lösen zu können. Stürgkh formulierte im Oktober 1913 die außenpoliti¬ sche Zielsetzung der Monarchie, nach dem endgültigen Scheitern von Aehren- thals Konzeption durch die bulgarische Niederlage im Zweiten Balkankrieg, folgendermaßen: „Eine Auseinandersetzung mit Serbien und eine Demütigung desselben sei die Lebensbedingung der Monarchie. Wenn dieselbe heute nicht erfolgen könne, so müsse man sich doch gründlich darauf vorbereiten."246 Wäh¬ rend allgemein Konsens darüber herrschte, daß es zu einer „Auseinandersetzung mit Serbien" kommen werde und daß die Grundlinie der gesamten Politik Öster¬ reich-Ungams daraus zu bestehen habe, in der noch verbleibenden Friedensphase „sich gründlich darauf vorzubereiten", gab es keine einheitliche Vorstellung über konkrete Kriegsziele. Schon Aehrenthal hatte in der Hietzinger Denkschrift den von Conrad propagierten Angriffskrieg gegen Serbien abgelehnt, „weil wir aus Gründen der inneren Politik nicht wüßten, was wir mit dem neuen Landzuwachs anfangen sollten."247 Daran hatte sich auch nach den Balkankriegen nichts geän¬ dert. Zwar hatte Bilinski im Mai 1913 erklärt: „das serbische Volk müsse der Monarchie als gleichberechtigter Teil angegliedert werden und hier national und politisch sein Heim finden."248 Auch Conrad erwähnte als einzige Altemativmög- lichkeit zu einem Krieg, „daß sich [...] Serbien uns loyal komplett angliedere in einem Verhältnisse wie etwa Bayern zum Deutschen Reiche".249 Eine Eingliede¬ rung Serbiens in die Monarchie lehnten aber sowohl Tisza, wie auch Stürgkh ab.250 Der Sinn eines Krieges gegen Serbien bestand somit letztlich nur darin, es 244 GMKPZ. 511. 245 Die grosse Politik der europäischen Kabinette 1871-1914, Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, hg. von Johannes Lepsius, Alhrecht Mendelssohn Bartholdy, Friedrich Timme, Bd. 37/2 (Berlin 1926), Nr. 15149. 246 GMR. v. 3. 10. 1913, GMKPZ. 508. Hantsch schreibt diese Aussage irrtümlich Tisza zu, Hantsch, Berchtold 493. 247 Geheimes Promemoria Aehrenthals v. 15. 8. 1909, Ka., MKSM. 50-2/1-6/1909, fol. 4r. 248 GMR. v. 2. 5. 1913, GMKPZ. 506. 249 GMR. v. 3. 10. 1913, GMKPZ. 508. Conradführte diese Idee ausfiihrlicher in seinem Schrei¬ ben an Berchtold v. 7. 5. 1913 aus, Ka., MKSM. 69-5/9/1913, fol. 29-30. 250 Ehd. || || 126 Einleitung zu schwächen, zu demütigen und ihm möglicherweise gute Beziehungen zur Pflicht zu machen. Auch dieses Kriegsziel hatte Aehrenthal schon in seiner Hiet- zinger Denkschrift skeptisch kommentiert: „Aber selbst wenn wir den Krieg hät¬ ten forcieren wollen, wäre es blos zu einem an Geld und Menschenleben kost¬ spieligen Ein- und Ausmarsch nach Serbien und Montenegro gekommen. An ein Festsetzen in diesen Ländern wäre bei der europäischen Situation nicht zu denken gewesen."251 Das Ziel des Krieges, auf den man sich nun vorbereitete, erschöpfte sich letztlich in einer Demütigung Serbiens.252 Der kommende Krieg konnte kei¬ ne prinzipielle Lösung des außenpolitischen Problems erzielen, da nicht Serbiens militärisches Potential, sondern seine Anziehungskraft auf die Südslawen der Monarchie die serbische Gefahr ausmachte. Aus den Wortmeldungen im gemein¬ samen Ministerrat geht mit aller Deutlichkeit hervor, daß den politischen Ent- scheidungsträgem Österreich-Ungams klar war, daß sie sich damit auch auf di¬ rektem Konfrontationskurs mit Rußland befanden. Vor dem Zweiten Balkankrieg, im Mai 1913, ging die österreichisch-ungarische Politik noch davon aus, „daß Rußland sich in einem Dilemma befinden werde, da einerseits Serbien und Mon¬ tenegro, andererseits Bulgarien und Rumänien [für die Unterstützung ihrer For¬ derungen] in Frage kämen."253 Mit dem Zweiten Balkankrieg wurde aber offen¬ sichtlich, daß Rußland eindeutig hinter Serbien stand. Im Oktober 1913 wurde auch Rumänien nicht mehr als Verbündeter gerechnet, es stand lediglich zur De¬ batte, ob man von dessen Neutralität ausgehen könne, oder ob es gleich als Geg¬ ner zu bewerten sei.254 Den Teilnehmern am gemeinsamen Ministerrat war durch¬ aus bewußt, daß ein Konfrontationskurs gegen Serbien leicht zu einem Konflikt unter den Großmächten führen konnte. Ein solcher Konflikt war zwar nicht das Ziel der österreichisch-ungarischen Politik, er beeinflußte aber die Entscheidung nicht; er wurde in Kauf genommen. So zog Österreich-Ungarn die nun notwendi¬ ge Konsequenz aus seinem neuen außenpolitischen Kurs, ein Rüsten ohne Rück¬ sicht auf die Finanzen. Auch Ende 1913 hatte die Monarchie noch die Möglichkeit, eine sofortige Befriedung der Südslawen zumindest zu versuchen, um die von Serbien ausge¬ hende Gefahr zu entschärfen.255 Ob ein solcher Versuch in der Situation nach den Balkankriegen noch hätte Erfolg haben können, kann hier nicht erörtert werden; es bleibt nur festzuhalten, daß ein solcher Versuch nicht ernsthaft unternommen 251 Geheimes Promemoria Aehrenthals v. 15. 8. 1909, Ka., MKSM. 50-2/1-6/1909, fol. 2v. 252 Über die Kriegszieldiskussion noch im Juli 1914 siehe Kronenbitter, „Krieg im Frieden1 486. 253 Äußerung Bilihskis, GMR. v. 2. 5. 1913, GMKPZ. 506. 254 GMR. v. 3. 10. 1913, GMKPZ. 508. 255 Erinnert sei hier an die Widmung, die Seton- Watson seinem Werk „ Die südslawische Frage " voranstellte: Die englische Ausgabe dieses Buches wurde demjenigen Staatsmann gewid¬ met, der das Genie und den Mut besitzen wird, die südslawische Frage zu lösen. In zwölfter Stunde wird diese Widmung wiederholt. 20. Juli 1911 - 20. April 1913, Seton-Watson Robert William, Die südslawische Frage im Habsburger Reiche (Berlin 1913) III. || || Einleitung 127 wurde. Zwar gelang der ungarischen Regierung Tisza Ende 1913 ein Kompromiß mit der kroatisch-serbischen Koalition in Kroatien-Slawonien. Doch betraf diese Übereinkunft nur die Wiedereinführung verfassungsmäßiger Zustände, die die kommissarische Verwaltung seit 1912 beendete. Keineswegs bezogen sie sich auf politische Forderungen des ungarischen Nebenlandes nach mehr Rechten inner¬ halb des ungarischen „Subdualismus", geschweige denn nach einer Vereinigung mit den anderen Gebieten der Südslawen und der Einführung eines Trialismus.256 Mit der Ablehnung des Titelzusatzes „k. u. k." für die bosnisch-herzegowinischen Landesbehörden wurde noch im November 1913 sogar ein nur symbolhaftes Ent¬ gegenkommen in dieser Frage abgelehnt. Man entschied sich auch jetzt für das Festhalten am Dualismus. Die Weigerung der Doppelmonarchie Ende 1913, die südslawische Frage politisch zu lösen, machte sie in der Entscheidung über Krieg und Frieden ganz von Serbien abhängig. In den Augen aller politischen Akteure Österreich-Ungams war dies gleichbedeutend mit der Unausweichlichkeit des Krieges. Erst jetzt war der Krieg - aus der Sicht der Doppelmonarchie - keine Frage mehr des Ob, sondern nur mehr des Wann. Die Manöver des 15. und 16. Korps vom Juni 1914 in Bosnien mit der Anwe¬ senheit Franz Ferdinands hatten den Zweck einer Machtdemonstration gegenüber den Südslawen, genauso wie der anschließende Besuch des Thronfolgers in Sara¬ jewo.257 Mit seiner Ermordung am 28. Juni 1914 wurde offenbar, wie wenig Kon¬ trolle die österreichisch-ungarische Monarchie über Bosnien-Herzegowina noch besaß, und Stürgkh stellte die Frage, „ob wir die beiden Provinzen überhaupt halten können, wenn wir nicht gegen das Königreich [Serbien] vergehen."258 Auch wenn Tisza mit seiner Zustimmung zum Kriegskurs gegen Serbien anfäng¬ lich zögerte,259 war nun der Zeitpunkt nicht mehr hinauszuschieben, auf den sich Österreich-Ungarn seit dem Ende der Balkankriege vorbereitet hatte: die Ausein¬ andersetzung mit Serbien, um es zu demütigen. Letztlich wiederholten sich in der Doppelmonarchie im Juli 1914 nur die Diskussionen vom Oktober 1913, ob es der Einfluß Serbiens auf die eigene innere Situation war, ob es sich um die Frage handelte, was mit dem Krieg gegen Serbien bezweckt werden solle - Kriegszie¬ le -, oder inwieweit mit dem Eingreifen Rußlands gerechnet werden müsse.260 Österreich-Ungarn stellte mit dem strikten Festhalten am Dualismus durch die 256 Gross Mirjana, Der kroatische Sabor (Landtag). In: Rumpler Helmut-URBANixscH Peter (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. 7: Verfassung und Parlamentarismus, 2. Teilband: Die regionalen Repräsentativkörperschaften (Wien 2000) 2283-2316, hier 2315. 251 Kronenbitter, „Krieg im Frieden" 457 ff, Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers 63 f. 258 GMR. v. 7. 7. 1914, Protokolle des gemeinsamen Ministerrates (1914--1918), Nr. 1. 259 Ebd. 260 Zu den Diskussionen Österreich-Ungams im Juli 1914 siehe u. a. Kronenbitter Günther, „Nur los lassen". Österreich-Ungarn und der Wille zum Krieg. In: Burkhardt Johannes- Becker Josef-FöRSTER Stig-KRONENBiTTER Günther, Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg (= Schriften der Philosophischen Fakultät der Universität Augsburg 49, München 1996) 159-187, hier 167-172. || || 128 Einleitung Ignorierung der südslawischen Forderungen im Oktober 1913 die Weichen in Richtung einer militärischen Konfrontation mit Serbien, wissend, daß diese kaum lokalisierbar sein würde. 5. Der gemeinsame Ministerrat, ein koordinierendes Korrektiv zwischen Außen- und Innenpolitik? In der letzten Friedensphase Österreich-Ungams traten die vielfachen Diskrepan¬ zen in den Ansichten und Interessen offen zutage. Die Zerrissenheit war innerhalb Cisleithaniens und innerhalb Ungarns offenkundig, sie zeigte sich zwischen Cis- leithanien und Ungarn und schließlich zwischen österreichisch-ungarischem Ge¬ samtinteresse und den cisleithanischen und den ungarischen Separatinteressen. Die Politik der Monarchie und ihrer Teile zog nicht an einem Strang, sondern strebte, bedingt durch ein kompliziertes System unterschiedlicher Zuständigkei¬ ten, in verschiedene Richtungen, die sich teilweise gegenseitig konterkarierten. So war die Richtung der Außenpolitik eine Domäne des Monarchen, der sie über den Außenminister ausübte, während die inneren Angelegenheiten die Domäne beider Teile der Monarchie waren, in die sich der Außenminister nicht einmi- schen durfte und dies real auch nicht konnte.261 Nach der Annexionskrise war es Aehrenthals Bestreben, Österreich-Ungarn aus möglichen militärischen Auseinandersetzungen herauszuhalten. Darin stimm¬ te er mit den Zielsetzungen beider Teile der Monarchie überein. Eine Außenpoli¬ tik, die nicht auf kriegerische Machtdemonstrationen setzte, durfte nicht kurz-, sondern mußte langfristig angelegt sein. Der Vorrang lag nicht beim schnellen Ausbau der militärischen Macht, sondern bei geordneten Finanzen. Daran hatte sich die Rüstung zu orientieren. Das setzten Aehrenthal und beide Regierungen in den Budgetverhandlungen bis zu den Balkankriegen gegenüber den Militärs kon¬ sequent durch. Die größte Bedrohung der Monarchie erkannte Aehrenthal in Serbien wegen der Unzufriedenheit der südslawischen Bevölkerung Österreich-Ungams mit ih¬ rer politischen Situation. Dieses außenpolitische Problem hatte also eine innen¬ politische Wurzel.262 Um den Frieden für die Monarchie zu sichern, sah es Aeh- 261 Rumpler, Rahmenbedingungen für die Außenpolitik 24, 27 f. 262 Die enge Verbindung des inneren südslawischen Problems mit der Außenpolitik dokumen¬ tierten u. a. schon Buriän: Aber es war inzwischen der Zeitpunkt gekommen, wo die in ra¬ sche Entwicklung eingetretenen Balkanprobleme aufhörten, bloße Aufgaben unserer auswär¬ tigen Politik zu sein, sondern tief und unmittelbar eingriffen in die inneren Verhältnisse der Monarchie, Buriän, Drei Jahre 216, Musulin: Das, was man [...] noch nicht richtig ein¬ schätzte [...], war die politische Wandlung, die sich in dem letzten Jahrzehnt in Kroatien und Slawonien vollzogen hatte, eine Wandlung, die erst aus der außenpolitischen Frage, die das serbische Problem bis dahin darstellte und die man hinhaltend behandeln konnte, eine den Lebensnerv der Monarchie bedrohende innere Krise gemacht hat, Musulin, Das Haus am || || Einleitung 129 renthal als seine diplomatische Aufgabe an, Serbiens Aufmerksamkeit auf ein erstarkendes Osmanisches Reich, oder - im Falle von dessen Zusammenbruch - aufBulgarien und Albanien abzulenken. Die Aufgabe der Innenpolitik, besonders in Agram und Sarajewo, sah Aehrenthal hingegen darin, die Südslawen wieder mit der Monarchie auszusöhnen, um den Einfluß Serbiens auf diese Gebiete der Monarchie zu minimieren. An diesem Konzept der Bekämpfung der serbischen Gefahr ohne Krieg wird eine Wechselwirkung zwischen innerer und äußerer Politik ersichtlich, die sich gegenseitig stützen sollten: Die Außenpolitik hatte Serbien ohne Kriegsgefahr für die Monarchie zu beschäftigen, um der inneren Politik Zeit zur Einigung mit den Südslawen zu geben; dadurch konnte dann die innere Politik die außenpolitische Bedrohung durch Serbien grundlegend ent¬ schärfen. So diente die Außen- der Innen- und die Innen- der Außenpolitik. Allerdings fehlte dem Außenminister für die Durchführung dieses Planes jeg¬ licher Einfluß auf die inneren Angelegenheiten beider Teile der Monarchie. Die Politik besonders Ungarns gegenüber den Südslawen setzte ganz aufHärte. Auch in der inneren Politik Bosnien-Herzegowinas erwies sich der Außenminister ge¬ genüber beiden Regierungen als machtlos. So blieb von dem Konzept nur die Beschäftigung Serbiens durch die Diplomatie, ohne daß die Wurzel der serbi¬ schen Gefahr beseitigt wurde. Aehrenthals Politik der Kriegsvermeidung konnte daher nur so lange funktionieren, wie es gelang, Serbien von der Monarchie ab¬ zulenken. Sie basierte darauf, daß andere Machtfaktoren - Osmanisches Reich oder Bulgarien und Albanien - Serbien bedrängten. Auf diese Weise befand sich Österreich-Ungarn in deren Abhängigkeit, indem sie die Monarchie aus Konflik¬ ten mit Serbien herauszuhalten hatten. Dementsprechend scheiterte die gesamte außenpolitische Konzeption in dem Moment, als das Osmanische Reich, Bulga¬ rien und Albanien in den Balkankriegen ihre von Österreich-Ungarn eingeplante Aufgabe gegen Serbien nicht mehr erfüllten. Die potentielle Bedrohung durch Serbien war real geworden, weil es in der Monarchie zu keiner Aussöhnung mit den Südslawen gekommen war. Einer serbischen Propaganda - sei sie staatlich oder auch nicht - konnte die Monarchie auf friedlichem Weg nichts entgegenset¬ zen. Nachdem besonders Ungarn weiterhin zu keinen Zugeständnissen, nicht ein¬ mal in „noch so belanglosen Äußerlichkeiten", gegenüber den Südslawen bereit war, sahen die führenden Politiker der Monarchie keinen Weg mehr, einem Krieg gegen Serbien aktiv auszuweichen. Es war also die innere Politik Österreich- Ungams gegenüber den Südslawen, die 1913 zur vollkommenen Umkehr der außenpolitischen Prämissen führte. Von der Kriegsvermeidung wurde auf eine Politik der Kriegsvorbereitung umgeschwenkt. Durch Machtdemonstrationen, Ballplatz 203, oder Hantsch: Das südslawische Problem war keine rein innerpolitische An¬ gelegenheit mehr, Hantsch, Berchtold 439. Ergänzend muß hervorgehoben werden, daß nicht nur die außenpolitische Entwicklung besonders zu Serbien 1912/13 die innere südsla¬ wische Frage beeinflußte, wie die obigen Zitate darlegen, sondern daß damit auch die innere Politik gegenüber den Südslawen außenpolitische Dimensionen hatte. || || 130 Einleitung wie z. B. die Manöver in Bosnien im Juni 1914, sollte gleichermaßen Serbien wie die eigene südslawische Bevölkerung eingeschüchtert werden. Die Politik war nicht mehr lang-, sondern kurzfristig angelegt, und diente dem Zweck, den nun als unausweichlich angesehenen Krieg hinauszuschieben, um die bisher „ver¬ nachlässigte" Aufrüstung vorantreiben zu können. Somit betraf der Paradigmen¬ wechsel nicht nur die Außen-, sondern auch besonders die Rüstungspolitik. Es bestand kein Primat der geordneten Finanzen mehr, sondern einer des schnellen Ausbaus des Militärs. Die Finanzen hatten sich an den Erfordernissen der Rü¬ stung zu orientieren. Die Friedenszeit diente nur mehr der Kriegsvorbereitung. Die Monarchie betrieb nach der Annexionskrise eine Außenpolitik, die Öster¬ reich-Ungarn aus militärischen Konflikten heraushalten sollte und eine Innenpo¬ litik, die sich auf Kollisionskurs mit ihrer südslawischen Bevölkerung und damit letztlich auch mit Serbien befand, sobald es sein Augenmerk auf Österreich-Un¬ garn richten konnte. Solange Serbien dazu nicht willens oder in der Lage war, konnten diese Außen- und diese Innenpolitik nebeneinander existieren, d. h. trotz der Ignorierung der südslawischen Forderungen konnte an einer Politik der Kriegsvermeidung festgehalten werden. Aber Österreich-Ungarn befand sich da¬ mit in einer Abhängigkeit vom Osmanischen Reich, Bulgarien und Albanien. Mit dem Sieg Serbiens in den Balkankriegen war das unkoordinierte Nebeneinander von Außen- und Innenpolitik unmöglich geworden, beide mußten nun aufeinan¬ der abgestimmt werden; entweder hatte sich die Innenpolitik der außenpolitischen Zielsetzung der Kriegsvermeidung unterzuordnen und alles zu versuchen, eine Aussöhnung mit den Südslawen zu erreichen, oder die Außenpolitik mußte sich der Innenpolitik anpassen, eine bestmögliche Situation bei der kommenden Kol¬ lision mit Serbien und der dahinter stehenden Großmacht Rußland herbeiführen. Die Entscheidung fiel zugunsten des Primats der innenpolitischen Zielsetzungen; Berchtold richtete 1913 die Außenpolitik entsprechend neu aus. Jetzt erwies sich die Politik Aehrenthals, den Krieg zu vermeiden und die Rüstung zu beschränken im Nachhinein als Fehlentscheidung, da die Zeit, in der Serbien sein Interesse noch nicht auf Österreich-Ungarn konzentrieren konnte, für eine entsprechende militärische Rüstung ungenutzt geblieben war. Erst in diesem Licht wird die Zeit vor den Balkankriegen zur Zeit der versäumten Gelegenheiten und erst in diesem Licht erscheinen Conrads ständige Forderungen nach Hochrüstung und Präven¬ tivkrieg als Weitsicht. Ursache des Paradigmenwechsels war, daß vor den Balkankriegen die innere Politik mit den Zielsetzungen der Außenpolitik nicht harmonierte. Aehrenthal konnte die innere Politik gegenüber den Südslawen - auch in Bosnien-Herzego¬ wina - im Sinne seines außenpolitischen Konzeptes nicht beeinflussen. Beide Regierungen fällten ihre innenpolitischen Entscheidungen olme Rücksicht auf außenpolitische und damit auch militärische Konsequenzen. Österreich-Ungarn verfolgte eine Außenpolitik, mit der es sich in osmanische, bulgarische und alba¬ nische Abhängigkeit begab, und eine Innenpolitik, die es extrem anfällig für eine großserbische Propaganda machte. Es mag sein, daß Österreich-Ungarn die Stär- || || Einleitung 131 ke des Osmanischen Reiches, bzw. Bulgariens und Albaniens über- und die zu¬ nehmende Erstarkung Rußlands sowie dessen Solidarität mit Serbien unterschätz¬ te. Aber die Monarchie ging aufjeden Fall das Wagnis ein, hilflos einer serbischen Propaganda ausgeliefert zu sein, wenn die Machtfaktoren ausfielen, die Öster¬ reich-Ungarn schützen sollten. Es muß offen bleiben, ob beiden Regierungen nicht bewußt war, welches Wagnis sie eingingen, in der südslawischen Frage hart und in Rüstungsangelegenheiten sparsam zu bleiben, und es muß genauso offen bleiben, warum Aehrenthal an seinem außenpolitischen Konzept festhielt, ob¬ wohl offenkundig war, daß es besonders durch die innere Politik in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina konterkariert wurde. Somit stellt sich der gemeinsame Ministerrat in der Periode zwischen Annexionskrise und Balkankriegen nur als Aktionsforum des Außenministers dar, in dem Angelegenheiten auf Ministerebe¬ ne beraten wurden, die er nicht alleine entscheiden durfte. Es wurden spezielle Themen behandelt, der Ministerrat diente keineswegs einer generellen Koordina¬ tion der Außenpolitik mit der inneren Politik beider Teile der Monarchie. Dagegen wird während der Vorbereitung der Annexion und in den Krisensit¬ zungen in Folge der Balkankriege deutlich, daß der gemeinsame Ministerrat zu dieser Koordination durchaus genutzt werden konnte. In den Sitzungen vom 19. August und 10. September 1908263 hatten die beiden Ministerpräsidenten Aehrenthal die inhaltlichen Grenzen gezeigt, innerhalb derer die rechtliche Ein¬ gliederung Bosnien-Herzegowinas in die Monarchie - also die Annexion - aus innenpolitischen Rücksichten stattfinden konnte. Der gemeinsame Ministerrat vom 3. Oktober 1913264 ging weit darüber hinaus. Das eigentliche Thema war die Festsetzung des Voranschlages für das erste Halbjahr 1914. Teilnehmer war außer den drei gemeinsamen Ministem, dem Chef der Marinesektion und den Vertre¬ tern beider Regierungen auch der Generalstabschef. Vor dem Einstieg in die Bud¬ getverhandlungen fand eine Debatte über das zukünftige Verhältnis zu Serbien statt, die faktisch die zukünftige Ausrichtung der Außenpolitik festlegte. Conrad, der in dieser Vordiskussion das Schlußwort hatte, konnte befriedigt feststellen:265 „Er freue sich darüber, daß der friedliche Weg von so kompetenten Stellen als ausgeschlossen hingestellt wird, daß daher nur der gewaltsame erübrigt". Die erste Konsequenz aus dieser außenpolitischen Weichenstellung war die Hochrü¬ stung, die im Halbjahresbudget 1914 beschlossen wurde. Am 3. Oktober 1913 war der gemeinsame Ministerrat das koordinierende Korrektiv zwischen äußerer und innerer Politik. Genau wie vor der Annexionskrise wurde in dieser Sitzung nicht die innere Politik beider Teile der Monarchie erörtert, sondern beide Mini¬ sterpräsidenten gaben der Außenpolitik auf Grund der inneren Bedürfnisse die Richtung vor. 263 GMCPZ. 467 und 468. 264 GMKPZ. 508. 265 GMR. v. 3. 10. 1913, GMKPZ. 508. || || 132 Einleitung Während also in international ruhigen Situationen der gemeinsame Ministerrat nicht als koordinierendes Korrektiv zwischen Innen- und Außenpolitik genutzt wurde, war dies in bewegten Zeiten durchaus der Fall und ging bis zur Regelung der prinzipiellen Ausrichtung der Außenpolitik. Diese Koordination war aber kei¬ ne wechselseitige, sondern eine der Anpassung der Außen- an die Innenpolitik. Diese war nur so weit Gesprächsthema, wie damit die Anforderungen an die Au¬ ßenpolitik begründet wurden. Die Bestimmung der Richtung der Außenpolitik war dem Monarchen im Ausgleich von 1867 als letztes Refugium gelassen wor¬ den, in dem er bloß vermittels eines Ministers, aber ohne konstitutionelle Hürden handeln konnte. Ganz in diesem Sinne wies Franz Joseph am 15. November 1911 Conrad zurecht:266 „Diese fortwährenden Angriffe, besonders die Vorwürfe we¬ gen Italien und des Balkan, die sich immer wiederholen, die richten sich gegen Mich; die [Außen-] Politik mache Ich, das ist meine Politik [...] Dieser meiner Politik müssen sich alle anbequemen. In diesem Sinne fuhrt Mein Minister des Äußern Meine Politik." Diese Aussage Franz Josephs trifft allerdings nur soweit zu, wie die Außenpolitik unabhängig von der inneren Politik möglich war. Denn im Ernstfall gaben beide Teile der Monarchie Rahmen und Richtung der Außen¬ politik vor und Franz Joseph mußte „seine Politik" den Vorgaben Cisleithaniens und Ungarns „anbequemen". Koordination von Außen- und Innenpolitik bedeu¬ tete letztlich die Unterordnung der absoluten Herrscherrechte unter die Erforder¬ nisse der konstitutionellen Herrschaft. Wenn daher ein gemeinsamer Ministerrat die Richtlinien der Außenpolitik mit den Richtlinien der Innenpolitik koordinier¬ te, dann war das de facto eine Limitierung der monarchischen Entscheidungsge¬ walt. Eine wechselseitige statt einer nur einseitigen Koordination hatte es nicht gegeben. Daher galt für die Außenpolitik vermutlich die Devise: Koordination so selten wie irgend möglich und nur so oft wie unbedingt notwendig. Hervorgem- fen durch die Unfähigkeit, die innere Politik beider Teile der Monarchie aus ge¬ meinsamer Perspektive zu erörtern, und hervorgerufen durch die Dominanz der inneren gegenüber der äußeren Politik im Falle einer gegenseitigen Abstimmung entpuppt sich die Zeit zwischen Annexionskrise und Balkankriegen tatsächlich als Zeit der versäumten Gelegenheiten, aber nicht wegen der mangelnden Hoch¬ rüstung, sondern wegen der fehlenden Koordination von Außen- und Innenpoli¬ tik. 266 Conrad Freiherr v. Hötzendorf Franz, Aus meiner Dienstzeit 1906-1918, 2. Band: 1910- 1912, Die Zeit des libyschen Krieges und des Balkankrieges bis Ende 1912 (Wien-Berlin- Leipzig-München 1922) 282. || ||