MRP-2-0-05-0-19040423-P-0055.xml

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Gemeinsamer Ministerrat, 23. 4. 1904

I. Die zum Zwecke der Deckung der außerordentlichen Rüstungsmaßnahmen der Heeres- sowie der Marineverwaltung aufzunehmende Anleihe

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_V/pdf/oe_hu_mrp_V_z55.pdf.

Nr. 55/1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. 4.1904 - ProtokollII  373

        Nr. 55/1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. April 1904 - Protokoll II

    RS. (und RK.)
    Gegenwärtige: der k. u. k. gemeinsame Minister des Äußern Graf Gofuchowski, der k. k. Ministerprä¬
sident v. Koerber (30.4.), der kgl. ung. Ministerpräsident GrafTisza (3.5.), der k. u. k. gemeinsame Kriegs¬
minister FML. Ritter v. Pitreich (30.4.), der k. u. k. gemeinsame Finanzminister Freiherr v. Buriän (11.50,
der kgl. ung. Finanzminister v. Lukäcs (3.5.), derk. k. Finanzminister Ritter Böhm [v. Bawerk] (2.5.), der
k. u. k. Chef der Marinesektion Admiral Freiherr v. Spaun (2.5.).
    Protokollführer Legationsrat Freiherr v. Gagem.
    Gegenstand: Die zum Zwecke der Deckung der außerordentlichen Rüstungsmaßnahmen der Heeres-
sowie der Marineverwaltung aufzunehmende Anleihe.

    KZ. 21 -GMCZ. 444/a
    Protokoll des zu Wien am 23. April 1904 abgehaltenen Ministerrates für ge¬
meinsame Angelegenheiten unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers und
Königs.

    Se. k.u. k. apost. Majestät geruhen die Sitzung zu eröffnen und an den
k. u. k. gemeinsamen Minister des Äußern die Aufforderung zu richten, über das
Ergebnis der beiden vorangegangenen Ministerkonferenzen unter Berücksichtigung
der gewöhnlichen Budgets der beiden müitärischen Ressorts zu referieren.1

   Der k. u. k. gemeinsame Minister des Äußern Graf Golu-
c h o w s k i erlaubt sich, dieser an ihn gerichteten Aufforderung entsprechend, die
Meldung zu erstatten, daß in den vorangegangenen Konferenzen bezüglich der Voran¬
schläge des Heeres und der Marine vollkommene Übereinstimmung erzielt worden sei.
An dem Budget der Heeresverwaltung seien im Ordinarium und Extraordinarium
Abstriche von etwas über 4,4 Mülionen vorgenommen worden, so daß dasselbe
nunmehr gegen das Vorjahr nur ein Mehrerfordemis von rund 39 000Kronen aufweise.
An dem Voranschläge der Kriegsmarine sei nur der die jährliche Steigenmgssumme
von einer Million überschreitende Betrag abgestrichen und das Budget, hievon abge¬
sehen, unverändert angenommen worden.

   Nicht dieselbe Übereinstimmung habe leider bezüglich der Frage des von den beiden
müitärischen Ressorts für außerordentliche Rüstungs- und fortifikatorische Maßnah¬
men benötigten Kredits erzielt werden'können. Nach eingehender Beratung habe die
Konferenz die Höhe dieser durch eine Anleiheoperation zu bedeckenden Kredite mit
rund 450 Millionen festgesetzt, so daß über die Höhe der aufzunehmenden Anleihe
zwischen den Konferenzteilnehmern keine Meinungsdifferenz geherrscht habe. Eine
solche sei erst bei der Frage des von dieser Erfordemissumme bereits im laufenden
Jahre seitens der beiden Finanzverwaltungen flüssig zu machenden Teübetrages von
22,5 Millionen entstanden, welche der gemeinsame Kriegsminister im Interesse der
Sicherheit der Monarchie gegen eventuelle Angriffe an der Südfront zur Durchführung
unaufschiebbarer Maßnahmen, speziell Anschaffung von Munition, dringend zu benö¬
tigen erklärt habe, wogegen der k. k. Finanzminister sich auf den Standpunkt gestellt

1 GMR. v. 16. 4.1904, GMCZ. 442; GMR. v. 23. 4.1904, GMCZ. 443.
<pb/>374  Nr. 55/1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. 4.1904 - Protokoll II

habe, daß im Hinblicke auf die überaus geschwächten Kassenbestände die Einbringung
der betreffenden Kreditvorlagen in den Delegationen nur dann erfolgen dürfe, wenn
der gemeinsame Kriegsminister sich verpflichte, von den beiden Finanzverwaltungen
keine effektiven Zahlungen zu beanspruchen, bevor die Anleihe von den Parlamenten
bewilligt sei. Redner habe getrachtet, diesen Gegensatz auszugleichen und habe zu
diesem Zwecke einen Vermittlungsvorschlag gemacht, welcher dahin gegangen sei, daß
der gemeinsame Kriegsminister berechtigt sein solle, für die 22,5 Millionen die für das
laufende Jahr von ihm benötigten Bestehungen definitiv in endgütig bindender Weise
zu machen, wogegen die für das Jahr 1905 in Aussicht genommenen Bestellungen nur
sub spe rati, das heißt unter der den Industriellen ausdrücklich bekanntzugebenden
Bedingung der parlamentarischen Bewilligung der Anleihe gemacht werden sollten.
Der k. k. Finanzminister sei jedoch unter Hinweis auf die schwierige Lage, in welcher
sich die österreichische Finanzverwaltung befinde, auf diesen Vermittlungsvorschlag
nicht eingegangen, sondern habe seinerseits einen Gegenvorschlag gemacht, wonach
der gemeinsame Kriegsminister den für das laufende Jahr für die Beschaffung eines
neuen Geschützmateriales bewilligten 15 Millionen eine veränderte Widmung geben
und dieselben zur Durchführung der von ihm als unaufschiebbar bezeichneten Ma߬
nahmen verwenden solle. Der k. k. Finanzminister habe sich bei diesem Vorschläge von
der Ansicht leiten lassen, daß, wenn die parlamentarische Bewilligung der Anleihe nicht
rechtzeitig erfolge und infolgedessen der Heeresverwaltung die für 1905 angesproche¬
nen 50 Millionen für die Beschaffung der neuen Feldgeschütze nicht zur Verfügung
gestellt werden könnten, die ganze Geschützfrage ohnehin ins Stocken geraten würde
und mit den bereits bewilligten 15 Millionen in dieser Hinsicht doch nichts Nennens¬
wertes geleistet werden könnte. Da der gemeinsame Kriegsminister sich diesem Vor¬
schläge gegenüber ablehnend verhalten habe und die Diskussion hiemit an einem toten
Punkt angelangt sei, habe Redner die Sitzung geschlossen und sich Vorbehalten, Sr.
Majestät über diese Angelegenheit zu referieren.

   Se. k. u. k. apost Majestät geruhen Sich danach zu erkundigen, ob die
in dem Voranschläge der Heeresverwaltung für die Beschaffung eines neuen Ar¬
tilleriemateriales eingestellten 50 Millionen in demselben verbleiben.

   Der k. k. Ministerpräsident v. Koerber gestattet sich diesfalls zu
erwidern, daß diese Summe in die große Anleihe einbezogen werden müsse.

   Der k. u. k. gemeinsame Minister des Äußern Graf Golu-
chowski möchte seinen vorhin vorgebrachten Ausführungen noch hinzufügen
dürfen, daß in der vorangegangenen Konferenz auch die Form zur Sprache gebracht
worden sei, in welcher die betreffenden Kredite von den Delegationen anzusprechen
sein werden, und daß die Konferenz sich dahin geeinigt habe, die im Jahre 1904
benötigten Beträge nicht als Nachtragskredite, sondern als außerordentliche Anforde¬
rung in Anspruch zu nehmen, sowie daß außer der eigentlichen Kreditvorlage noch eine
weitere Vorlage eingebracht werden solle, aus welcher ersichtlich sein würde, welche
Beträge aus den Ordinarien und Extraordinarien der beiden müitärischen Ressorts pro
1905 in dem Falle ausgeschieden und zu Verzinsungs- und Amortisierungszwecken
verwendet werden könnten, daß die Anleihe rechtzeitig die parlamentarische Geneh¬
migung erlangt.
<pb/>Nr. 55/1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. 4.1904 - Protokoll II  375

    Se. k. u. k. apost Majestät geruhen hierauf an den k. u. k. gemeinsamen
Minister des Äußern die Frage zu richten, ob man den Delegationen bereits bezüglich
der in Aussicht genommenen großen Anleihe eine Mitteilung zu machen gedenke und
wie weit in dieser Beziehung gegangen werden solle.

    Der k.u. k. gemeinsame Minister des Äußern Graf Goiu-
c h o w s k i gestattet sich, in Beantwortung dieser Anfrage darauf aufmerksam zu
machen, daß die gemeinsame Regierung von den Delegationen nur die für das Budget
des nächsten Jahres erforderlichen Beträge ansprechen dürfe. Es werde jedoch jeden¬
falls notwendig sein, den Delegationen auch Aufklärung über jene Maßnahmen zu
geben, welche über die für das Jahr 1905 für die Feldgeschütze angeforderten 50
Millionen hinausgehen.

    Se. k.u. k. apost Majestät geruhen hierauf die von der Heeresverwaltung
für unaufschiebbare Maßnahmen bereits im laufenden Jahre dringend benötigten 22,5
Millionen als den momentan wichtigsten Punkt der ganzen Anleihefrage zu bezeichnen.
Die Frage der speziell im Hinblicke auf Italien zu treffenden Verteidigungsvorkehrun¬
gen sei von Sr. Majestät selbst angeregt worden, damit die Monarchie nicht wehrlosund
einer ähnlichen Überrumpelung ausgesetzt dastehe, wie jetzt Rußland in Ostasien. Se.
Majestät geruhen auf die durch die Haltung Italiens notwendig gewordene Frontände¬
rung hinzuweisen und die auf Allerhöchstdenselben lastende große Verantwortung
nachdrücklichst zu betonen. Se. Majestät geruhen sodann zu fragen, ob es nicht möglich
erscheine, wenigstens so viel zu bewilligen, daß der Kriegsminister die notwendigsten
Bestellungen machen könne.

    Der k. k. Finanzminister Ritter v. Böhm erbittet sich das Wort, um
auf die durch die parlamentarischen Verhältnisse herbeigeführte Schwächung der
Kassenbestände hinweisen zu dürfen, und zählt sodann die in den letzten Jahren aus
denselben der Heeresverwaltung zur Verfügung gestellten großen Summen auf, als
welche Redner die 38 Millionen für Haubitzen sowie die 15 Millionen für die Feldge¬
schütze bezeichnet. Dazu komme noch, daß das Abgeordnetenhaus für 1903 und 1904
die TUgungsrente noch nicht bewilligt habe. Redner möchte ferner daran erinnern
dürfen, daß er, als im Herbste vorigen Jahres die Frage der Anschaffung neuer Kanonen
zur Verhandlung gestanden sei, der Anforderung des hiefür damals zuerst in Aussicht
genommenen Betrages von 40 Millionen zugestimmt habe, jedoch mit der ausdrückli¬
chen Beschränkung, daß er eine Verpflichtung zur Zahlung der auf Österreich entfal¬
lenden Beitragsquote nur dann übernehmen könne, wenn die betreffende Anleihevaluta
eingeflossen sein werde. Später habe sich der Kriegsminister jedoch mit 15 Mfllionen für
den vorerwähnten Zweck begnügt, so daß Redner von der semerseits ursprünglich
aufgestellten Einschränkung habe absehen können. Seither habe sich die parlamentari¬
sche Situation noch verschärft Redner könnte es daher mit seiner Verantwortung für
die reguläre Abwicklung des Kassendienstes nicht für vereinbar halten, aus den Kassen¬
beständen über die 15 Millionen hinaus noch weitere Vorschüsse an die Heeresverwal¬
tung zu leisten. Redner müßte befürchten, daß im Falle der Andauer der jetzigen
parlamentarischen Zustände die Kassen notleidend werden, was für das äußere Änsehen
der Monarchie nicht minder schädliche Folgen nach sich ziehenwürde, als eine mangel¬
hafte Bereitschaft in müitärischer Beziehung. Redner habe daher die von dem gemein-
<pb/>376  Nr. 55/1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. 4.1904 - Protokoll II

samen Minister des Äußern bereits erwähnte Anregung bezüglich der den 15 Millionen
für die Feldgeschütze zu gebenden veränderten Widmung gemacht, wobei er in der
Weise argumentiert habe, daß, wenn die Anleihe zu einem gedeihlichen Ende geführt
werden würde, dann die Mittel für alle von der Heeresverwaltung in Aussicht genom¬
menen Maßnahmen vorhanden sein würden, während im entgegengesetzten Falle die
Beschaffung eines neuen Geschützmateriales doch nicht fortgesetzt werden könnte.
Redner möchte auf die unliebsamen Kommentare hinweisen dürfen, welche es zur
unausweichlichen Folge haben müßte, wenn die Beschaffung neuer Geschütze, nachdem
sie einmal begonnen worden, nicht fortgesetzt werden könnte. Redner gestattet sich
schließlich noch daran zu erinnern, daß er in früheren Jahren den Anforderungen der
Kriegsverwaltung niemals Schwierigkeiten bereitet habe, doch müsse er zu seinem
Bedauern sagen, daß die Dinge jetzt auf einen Punkt gelangt seien, wo die Erhebung
dieser Schwierigkeiten eine gebieterische Pflicht sei.

    Der k.u.k. gemeinsame Kriegsminister FML. Ritter v. Pit-
reich möchte dem Hinweise des k. k. Finanzministers aufdie großen, von den beiden
Finanzverwaltungen im Laufe der letzten Jahre seinem Ressort zur Verfügung gestell¬
ten Mittel den Hinweis auf die großen Umwälzungen im Waffenwesen entgegensetzen
dürfen, welche die Heeresverwaltung in die Zwangslage versetzt hätten, diese Mittel in
Anspruch zu nehmen. Dermalen handle es sich hauptsächlich um gewisse fortifikatori-
sche Maßnahmen sowie um die Bestellungen von Munition, welche in einer bestimmten
Zeit durchgeführt werden müßten, wenn die Monarchie gegen die Südfront nicht
wehrlos dastehen solle. Redner müsse unbedingt in die Lage versetzt werden, Bestel¬
lungen machen zu können, und zu diesem Zwecke benötige er bereits im laufenden
Jahre die mehrerwähnten 22,5 Millionen sowie die Ermächtigung, bezüglich der für
1905 in Aussicht genommenen Jahreskreditquoten wenigstens sub spe rati mit den
betreffenden Industriellen die nötigen Abmachungen treffen zu können. Auf die für
1904 bereits bewilligten 15 Millionen für Anschaffung eines neuen Artilleriemateriales
könne Redner nicht verzichten, da die Erzeugung der neuen Feldgeschütze im Jahre
1905 soweit vorgeschritten sein müsse, daß der Austausch der alten Geschütze gegen
die neuen beginnen könne. Redner gestattet sich, der Ansicht Ausdruck zu geben, daß
ein Verzieht aufdie vorerwähnten 15 Millionen die Lösung der Geschützfrage um 13/4
Jahre verzögern würde.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident Graf Tisza erbittet sich das
Wort, um seiner Zustimmung zum Vermittlungsvorschlage des k. u. k. gemeinsamen
Ministers des Äußern mit dem Hinweise Ausdruck geben zu dürfen, daß die Industriel¬
len, wenn die Bestellungen nur einmal gemacht seien, mit der Zahlung schon einige Zeit
zuwarten würden, da sie ja darauf rechnen könnten, daß die Anleihe früher oder später
zustande kommen müsse. Auch die kgl. ung. Regierung sei nicht in der Lage, aus den
Kassabeständen große Summen zur Verfügung zu stellen. Die Aufbringung der in Rede
stehenden 22,5 Millionen sollte jedoch nach Meinung des Redners keine imüberwind-
liehen Schwierigkeiten bieten, und müsse die Gebarung eben so eingerichtet werden,
daß diese Summe aufgebracht werden könne, da die Unmöglichkeit, selbst diesen
verhältnismäßig nicht bedeutenden Betrag für so dringende Zwecke beschaffen zu
können, ein Zeugnis der Aktionsunfähigkeit der Monarchie sein würde.
<pb/>Nr. 55/1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. 4.1904 - Protokoll II  377

    Der k. k. Finanzminister Ritter v. Böhm möchte sich dahin äußern
dürfen, daß er den Standpunkt des gemeinsamen Kriegsministers vollständig würdige,
welcher die Verantwortung für eine mögliche, wenn auch nicht gerade wahrscheinliche
Konflagration nicht übernehmen zu können erkläre. Andererseits glaube Redner
jedoch auch eine gewisse Rücksichtnahme auf die schwierige Lage der österreichischen
Finanzverwaltung in Anspruch nehmen zu dürfen, welcher die Pflicht obliege, dafür
vorzusorgen, daß im Falle einer weiteren finanzieUen Boykottierung der Regierung
durch das Abgeordnetenhaus nicht ein Zustand der Kassennot eintrete.2 Redner könne
daher keine imbedingte Verpflichtung dafür übernehmen, außer für die 15 MUlionen,
für welche bisher die parlamentarische Bewilligung nicht erfolgt sei, auch noch für die
22,5 Millionen aus den Kassabeständen aufzukommen. Redner würde daher in der von
ihm gemachten Anregung, den 15 Millionen eine veränderte Widmung zu geben, nach
wie vor einen sehr gangbaren Ausweg aus der vorhandenen schwierigen Situation
erblicken. Redner glaubt auch, daß es im Hinblicke auf die fortdauernden diesfälligen
Versuche keineswegs auffallen würde, wenn mit der Beschaffung neuer Geschütze
einstweüen noch nicht begonnen werden würde, und möchte Redner der Ansicht
Ausdruck leihen dürfen, daß es auch im Interesse der Heeresverwaltung liege, mit der
Beschaffung neuer Geschütze nicht anzufangen, solange noch die Gefahr vorhanden
sei, daß darin eine plötzliche Stockung eintreten könnte, welch letztere vor der Welt ein
viel unangenehmeres Aufsehen erregen würde, als ein etwas späterer Beginn der
Geschützerzeugung. Sollte der gemeinsame Kriegsminister sich zu dem vorläufigen
Verzichte auf die 15 Millionen entschließen können, so würde Redner eventuell in der
Lage sein, aus den Kassenbeständen noch 2 bis 3 weitere Millionen zur Verfügung zu
stellen, so daß die Mittel für die Durchführung der von demselben als unaufschiebbar
bezeichneten Maßnahmen schon jetzt verfügbar sein würden.

   Der k. u. k. gemeinsame Kriegsminister FML. Ritter v. Pit¬
reich gestattet sich, dieser wiederholten Anregung des k. k. Finanzministers gegen¬
über zu bemerken, daß die Inangriffnahme der Erzeugung der neuen Feldgeschütze
einem dringenden Bedürfnisse der Armee entspreche, und daß in dieser Beziehung
jeder Tag vom militärischen Standpunkte von der allergrößten Bedeutung sei. Redner
könnte daher einen Aufschub der Neubewaffnung der Artillerie weder vor Sr. Majestät
noch vor der Armee verantworten.

   Se. k. u. k. apost. Majestät geruhen hieraufzu konstatieren, daß angesichts
der miteinander in Widerspruch stehenden Auffassungen des gemeinsamen Kriegsmi¬
nisters und des österreichischen Finanzministers die Diskussion an einem toten Punkte
angelangt sei, und betonen neuerdings die große Verantwortlichkeit, welche in Anbe¬
tracht des teüweise unvollständigen Verteidigungszustandes der Monarchie auf Aller¬
höchstdenselben umso schwerer laste, als Minister, im Falle dieselben die Verantwor¬
tung für eine Sachlage nicht übernehmen wollen, stets von ihren Posten zurückzutreten
in der Lage seien, während der Monarch den bleibenden Faktor im Leben des Staates

2 Die Verhandlungen über das Budget in der am 8. März 1904 eröffiieten Sitzung des Abgeordnetenhauses
    wurdenvon einerendlosen Obstruktion beherrscht, derKaiservertagte das Parlament am 22. März. Kolmer,
    Parlament und Verfassung in Österreich, Bd. 8 555-561.
<pb/>378  Nr. 55/1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. 4.1904 - Protokoll II

darstelle. Se. Majestät geruhen darauf hinzuweisen, daß es Eventualitäten gebe, welche
selbst die friedfertigste Politik nicht hintanzuhalten imstande sei. Einer eventuellen
kriegerischen Komplikation mit Rußland hätte man zum Beispiel seinerzeit äußersten
Falles durch eine adieser Situation entsprechende3 auswärtige Politik verbeugen
können. Nicht dasselbe gelte bezüglich Italiens, von wo aus man jeden Tag auf einen
von Garibaldi inszenierten Einfall gefaßt sein müsse,3 der, wenn gebührend zurückge¬
wiesen, eine Strömung der öffentlichen Meinung in Italien erzeugen würde, welcher die
Regierung und der irredentistisch gesinnte König vielleicht nicht widerstehen können
oder wollen würden,4was leicht einen Krieg mit der Monarchie zur Folge haben könnte.

   Der ku.k. gemeinsame Kriegsminister FML. Ritter v. Pit¬
reich möchte diesen Äußerungen Sr. Majestät die Bemerkung hinzufügen dürfen,
daß die Monarchie tatsächlich gegen einen von Italien ausgehenden Putsch in keiner
Weise gerüstet sei und daß, um gegen einen solchen gesichert zu sein, die Errichtung
von Hindernissen sowie die Anschaffung von Beleuchtungsapparaten dringend notwen¬
dig sei. Vor allem aber müsse die Möglichkeit geboten sein, aus Südtirol herauszukom¬
men. Der Aufmarsch gegen Italien sei überhaupt ein sehr schwieriger, zumal die
Bahnen gegen die italienische Grenze zu nicht so ausgebaut seien wie gegen Rußland.
Redner könne nur wiederholen, daß die Frage der Neubewaffnung der Artillerie eine
brennende sei, und daß ein Insstockengeraten derselben geradezu einem Bankrott der
Monarchie auf militärischem Gebiete gleichkommen würde.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident Graf Tisza erlaubt sich darauf
hinzuweisen, daß es eventuell notwendig sein werde, zum Zwecke der Beschaffung der
von der Heeresverwaltung dringend benötigten Summen zu einem finanziellen Notbe¬
helfe zu greifen, was für die Monarchie jedenfalls nicht so beschämend sein würde, wie
das Eingeständnis, daß selbst für die dringendsten im Interesse der Sicherheit des
Staates von der Heeresverwaltung in Aussicht genommenen Maßnahmen eine verhält¬
nismäßig nicht bedeutende Summe nicht aufgebracht werden könne.

   Der k.k. Finanzminister Ritter v. Böhm möchte demgegenüber
seiner Ansicht dahin Ausdruck geben dürfen, daß die Aufnahme einer schwebenden
Schuld zum Zwecke der Aufbringung der von der Heeresverwaltung dringend benötig¬
ten Mittel kaum der richtige Ausweg aus der gegebenen schwierigen Situation sein
dürfte, zumal eine solche Anleihe auch im Parlamente vorgebracht werden müßte. Die
Aufnahme einer schwebenden Schuld im Wege einer § 14-Verordnung würde Redner

      Korrektur Sr. Majestät aus schwächliche.

3 An derSpitze der intransigenten italienischen Irredenta standRicciotä Garibaldi. Er hat in dem Kongresse
    der Federazione Irredentista in Mailand am 24.1.1904 trotz des energischen Einspruchs der Republi¬
    kaner die Oberhand gewonnen und im Prinzipe einen Einfall gegen Triest beschlossen, welcher schon
    im nächsten Monate (April) ausgeführt werden soll -zitierte der k. k. Innenminister aus dem Bericht des
    Triester Statthalters ßr GotuchowsM 9. 3. 1904, HHStA., PA. XL, Karton 160, Nr. 1555. Vgl. Pasetti
    (Botschafter der Monarchie in Rom) an Sektionschefv. Merey v. 22.3.1904, HHSrA., PA. I, Karton 607,
    II/a-19.

4 Viktor Emmanuel m. (1869 -1947) bestieg 1900 den Thron Italiens. Zu seinerpolitischen Auffassung vgl.
    Fellner, Der Dreibund 64.
<pb/>Nr. SS/1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23.4.1904 - Protokoll II  379

für sehr bedenklich und gerade für geeignet halten, die Aufmerksamkeit des Auslandes
auf die durchzuführenden Rüstungsmaßnahmen zu lenken, wodurch vielleicht erst
recht eine kriegerische Komplikation hervorgerufen werden könnte.

    Der k.u.k. gemeinsame Minister des Äußern Graf Golu-
c h o w s k i erlaubt sich die vom k. k. Finanzminister geäußerte Befürchtung, daß die
Aufnahme einer schwebenden Schuld zu Rüstungszwecken notwendigerweise großes
Aufsehen hervorrufen müsse, als nicht begründet zu bezeichnen. Nach Ansicht des
Redners könne man dem dadurch Vorbeugen, daß man zur Motivierung der Aufnahme
einer schwebenden Schuld auf die in der Erzeugung begriffenen Kanonen hinweise, was
selbst die Beschaffung der hiefür erforderlichen Mittel im Wege eines solchen finan-
zieUen Notbehelfes ganz natürlich erscheinen lassen würde.

   Der k. k. Finanzminister Ritter v. Böhm gestattet sich, anknüpfend
an die Äußerungen des kgl. ung. Ministerpräsidenten semer Memung dahin Ausdruck
zu leihen, daß es zweifelsohne außergewöhnliche Situationen gebe, in welchen es die
Notwendigkeit gebieterisch erheischt, für die dringendsten Bedürfnisse des Staates
selbst im außerparlamentarischen Wege Vorsorge zu treffen. Um die Anwendung
dieses Notrechtes des Staates als gerechtfertigt erscheinen zu lassen, müßte die Be¬
drängnis jedoch eine viel größere sein, als dies jetzt der Fall sei, wo nicht davon
gesprochen werden dürfe, daß die Lage eine gefahrdrohende sei. Redner erlaubt sich
schließlich zur Erklärung seiner ablehnenden Haltung noch darauf hinzuweisen, daß
die neuen Anforderungen der Heeresverwaltung gänzlich überraschend gekommen
seien und daß dieselbe gerade im aüerungünstigsten Zeitpunkte damit hervorgetreten
sei.

   Der k.u.k. gemeinsame Kriegsminister FML. Ritter v. Pit¬
reich möchte auf die letztere Äußerung des k. k. Finanzministers nur mit der
Bemerkung reflektieren dürfen, daß das vielleicht unerwartet gekommene Hervortre¬
ten der Heeresverwaltung mit den in Rede stehenden außerordentlichen Anforderun¬
gen derselben nicht zur Last gelegt werden könne, da die Verhältnisse in Italien erst im
verflossenen Winter eine solche Wendung genommen hätten, daß die Notwendigkeit,
gegen unliebsame, von dort kommende Überraschungen die geeigneten Vorkehrungen
zu treffen, erst seitdem eine dringende geworden sei.5

   Se. k. u. k. apost Majestät geruhen hierauf zu konstatieren, daß bezüglich
der Jahresbudgets der beiden militärischen Ressorts vollständige Übereinstimmung
erzielt worden sei, und nur bezüglich der von den beiden Finanzverwaltungen für die
schon jetzt seitens des Kriegsministers zu machenden Bestellungen aufzubringenden
Mittel eine bisher nicht auszugleichende Meinungsdifferenz bestehe.

   Der k.u.k. gemeinsame Minister des Äußern GrafGolu-
c h o w s k i gestattet sich zu bemerken, daß angesichts dieser zwischen dem k. u. k.
gemeinsamen Kriegsminister und dem k. k. Finanzminister bestehenden Meinungsdif¬
ferenz die außerordentlichen Vorlagen in den Delegationen insolange nicht einge¬
bracht werden können, als der erstere die von dem letzteren gewünschte Erklärung
nicht abgegeben haben werde, daß er die effektive Zahlüng der von den Delegationen

5 Siehe GMRProt v. 15.4.1904, GMCZ. 441.
<pb/>380                                 Nr. SS/1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23.4.1904 - Protokoll II

bewilligten Summen erst nach der parlamentarischen Bewilligung der Anleihe in
Anspruch nehmen werde.

   Der k.k. Finanzminister Ritter v. Böhm möchte sich erlauben, die
von ihm bezüglich der Einbringung der außerordentlichen Kreditvorlage in der voran¬
gegangenen Konferenz aufgesteUte Bedingung anders, nämlich in der Weise zu formu¬
lieren, daß die betreffenden Vorlagen in den Delegationen eingebracht werden können,
daß jedoch der gemeinsame Kriegsminister mit Ag. Zulassung Sr. Majestät die Erklä¬
rung des Redners zur Kenntnis nehme, daß die beiden Finanzverwaltungen eine
effektive Zahlung auf die von den Delegationen votierten Summen erst dann zu leisten
verpflichtet sind, wenn die Anleihe von den Parlamenten bewilligt sein werde. Redner
hält die wenigstens interne Formulierung einer solchen Reserve in der Konferenz aus
dem Grunde für notwendig, weü, wenn sie nicht gemacht werden würde, der Kriegsmi¬
nister sich für berechtigt ansehen könnte, die sofortige Flüssigmachung der von den
Delegationen votierten Beträge von den beiden Finanzverwaltungen zu verlangen.

   Nachdem der k. u. k. gemeinsame Kriegsminister FML. Ritter
v. Pitreich die Erlaubnis erbeten hat, sich dahin aussprechen zu dürfen, daß er
der von dem k. k. Finanzminister formulierten Reserve nicht zuzustimmen in der Lage
sei, geruhen Se. k. u. k. apost Majestät dahin zu konkludieren, daß die
betreffenden außerordentlichen Vorlagen in den Delegationen immerhin eingebracht
werden können, daß jedoch die Frage der eventuellen Flüssigmachung der von der
Heeresverwaltung bereits im laufenden Jahre benötigten Summe von 22,5 Millionen in
suspenso bleibe.

   Se. Majestät geruhen hierauf den auf die Anleihefrage bezüglichen Teil der Sitzung
als geschlossen zu erklären und den beiden Finanzministem sowie dem Chef der
Marinesektion die Erlaubnis zu erteüen, sich zu entfernen, nachdem deren Anwesen¬
heit bei der sodann zur Verhandlung zu stellenden Frage der Errichtung von Landwehr-
artillerieregimentem nicht erforderlich sei.6

   Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokoües zur Kenntnis genommen.
   Budapest, 14. Mai 1904. Franz Joseph.

6 GMR. v. 23. 4.1904, GMCZ. 444/b.
<pb/>Nr. SS/2 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23.4.1904 - ProtokollIII  381

       Nr. 55/2 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. April 1904 - Protokoll III

    RS. (undRK)
    Gegenwärtige: der k. u. k. gemeinsame Minister des Äußern Graf Goluchowski, der k. k. Ministerprä¬
sident v. Koerber (2.5.), der kgl. ung. Ministerpräsident GrafTisza (4.5.), der k. u. k. gemeinsame Kriegs¬
minister FML. Ritter v. Pitreich (3.5.), der k. u. k. gemeinsame Finanzminister Freiherr v. Buriän (12.57).
    Protokollführer Legationsrat Freiherr v. Gagem.
    Gegenstand: Die Dotierung der beiden Landwehren mit eigener Artillerie.

   KZ. 22 - GMCZ. 444/b
   Protokoll des zu Wien am 23. April 1904 abgehaltenen Ministerrates für gemeinsame
Angelegenheiten unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers und Königs.

   Se. k. u. k. apost Majestät geruhen die anläßlich der kürzlich in Budapest
stattgehabten gemeinsamen Ministerkonferenzen erörterte Frage der Dotierung der
beiden Landwehren mit eigener Artillerie zur Sprache zu bringen, bezüglich welcher,
wie Allerhöchstdenselben bekannt, die beiden Ministerpräsidenten entgegengesetzte
Ansichten vertreten.1 Se. Majestät geruhen es als dringend wünschenswert zu bezeich¬
nen, daß eine Einigung über diese Frage zustande komme, da es unbedingt vermieden
werden müsse, daß etwa aus diesem Anlasse ein Konflikt zwischen beiden Regierungen
entstehe.

   Se. Majestätgeruhen zunächst dem k.k. Ministerpräsidenten v. Koer¬
ber das Wort zu erteflen, welcher sich auszuführen gestattet, daß er gleich nach seiner
Rückkehr von der Ministerkonferenz über den gemeinsamen Staatsvoranschlag für das
Jahr 1905 sich erlaubt habe, Sr. Majestät au. über die Erörterungen zu berichten, welche
sich im Laufe dieser Beratungen an die vom kgl. ung. Ministerpräsidenten aufgeworfe¬
ne Frage der Errichtung einer ungarischen Landwehrartillerie geknüpft hätten. Seither
habe der kgl. ung. Ministerpräsident während semes jüngsten Aufenthaltes in Wien
Veranlassung genommen, dieselbe Angelegenheit in einer Besprechung mit dem
Redner nochmals vorzubringen und wieder zu erklären, daß er, falls er nicht zu der
gewünschten Erklärung ermächtigt würde, nicht in der Lage wäre, dem bisher für den
Zusammentritt der Delegation in Aussicht genommenen Termin zuzustimmen. Die
vom kgl. ung. Ministerpräsidenten aufgestellte Forderung habe unausgesetzt den Ge¬
genstand der ernstesten Erwägung des Redners gebildet. Unter welchem Gesichts¬
punkte immer er jedoch die Frage betrachte, so könne er dem Begehren der kgl. ung.
Regierung nicht zustimmen, denn er könne, trotzdem der gemeinsame Kriegsminister
die Errichtung der imgarischen Landwehrartillerie als eine wünschenswerte Ergänzung
der Armee bezeichnet habe, die schwere Besorgnis nicht unterdrücken, daß damit die
BUdung einer selbständigen ungarischen Armee auch dann vorbereitet würde, wenn
Ungarn sein bisheriges Kontingent zum gemeinsamen Heere weiter absteUt. Man werde
im anderen Staatsgebiete diese Beteüigung als eine lästige Pflicht empfinden und
trachten, sich derselben allmählig zu entziehen. Als sichere Operationsbasis zur Errei¬
chung dieses Zieles werde die stets vollständiger auszubüdende nationale Armee der

1 GMR. v. 16. 4.1904, GMCZ. 442.
<pb/>382  Nr. 55/2 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. 4.1904 - Protokoll III

ungarischen Landwehr gelten, während man das gemeinsame Heer dem Lande immer
mehr entfremden werde, so daß die dahin assentierten Rekruten dort nur unwillig
dienen würden. Dann bleibe, wenn es nicht zu den bedenklichsten Erscheinungen
kommen solle, nichts anderes als die Auflösung des gemeinsamen Heeres übrig, die
man unter den neu gewordenen Verhältnissen in Ungarn als einen Triumph, in Öster¬
reich als eine Erlösung begrüßen werde. Die gemeinsame Armee, die kraftvollste Stütze
der Einheit der Monarchie, werde nicht mehr bestehen, der für die staatsrechtliche
Beziehung zwischen den beiden Reichshälften im Jahre 1867 aufgerichtete Dualismus
zu Ende und die Personalunion, das Ideal aller extremen Parteien in beiden Staatsge¬
bieten, verwirklicht sein. Redner könne nach seinem abgelegten Eide zu einer solchen
Wendung umso weniger die Hand bieten, als ihn selbst über Gefahren der Personal¬
union weit hinausgehende Besorgnisse um Thron und Reich erfüllen.

    Wenn Redner sich nun frage, welchen Eindruck eine im Sinne der Wünsche des kgl.
ung. Ministerpräsidenten gehaltene Eröffnung der k. k. Regierung in der hiesigen Öf¬
fentlichkeit und im österreichischen Parlamente machen würde, so könne er nur sagen,
auf die Bevölkerung einen niederschmetternden, in beiden Häusern des Reichsrates
einen revoltierenden. In der Volksvertretung würde man die Regierung an ihre mit der
Ah. Zustimmung Sr. Majestät abgegebene Erklärung erinnern, daß in allen Fragen der
Armee der gesetzliche Einfluß der diesseitigen Reichshälfte auch tatsächlich gewahrt
bleibe und das Kabinett der Unwahrhaftigkeit und Unredlichkeit beschuldigen; es
würden sich Szenen der Aufregung abspielen, die alles bisher Dagewesene weit hinter
sich ließen. Eine vehemente, die Gemüter überwältigende Bewegung würde vom Reichs¬
rate ausgehen, das Abgeordnetenhaus würde durch seine Auflösung umso populärer, je
fulminanter sich diese gestalten würde. Das Herrenhaus würde aus eigener mächtiger
Überzeugung nicht Zurückbleiben, ja es würde durch die Gemessenheit seiner Demon¬
strationen selbst die Besonnensten mit sich fortreißen. In der Bevölkerung aber würden
verzweifelte Stimmungen zum Durchbruche kommen. Die Feinde der Monarchie,
welche ihren Zerfall wünschen, würden das Feld für ihre Saat besser als je vorbereitet
finden, denn man würde fragen, ob Österreich in den 37 Jahren des Dualismus deshalb
fast eine Milliarde über seine Pflicht für das gemeinsame Heer geopfert habe, damit ihm
mit einer selbständigen ungarischen Armee vergolten werde. In Österreich werde die
Bewüligung einer ungarischen Landwehrartülerie als der unwiderleglichste Beweis
empfunden und beurteüt werden, daß die diesseitige Reichshälfte auf die Geschicke der
Monarchie keinerlei Einfluß besitze und daher auch keinerlei Interesse an der gegen¬
wärtigen Form ihres Weiterbestandes mehr habe. Redner frage sich aber auch vergeb¬
lich, warum der kgl. ung. Ministerpräsident die Frage jetzt aufgeworfen habe. Derselbe
habe als Grund eingegeben, daß in den Delegationen gelegentlich der Beratung über den
außerordentlichen Kredit für die Vermehrung der Artillerie des gemeinsamen Heeres
die Forderung nach einer Artillerie für die Honveds werde aufgeworfen werden, und
daß er nur dann in der Lage wäre, die Geschäfte weiter zu führen und für eine ruhige
Abwicklung der schwebenden Fragen einzustehen, wenn er die von ihm formulierte
Erklärung abgeben könnte. Weü es sich hier nicht um eine rein ungarische, sondern um
eine Angelegenheit der Monarchie handelt, sei Redner gezwungen, die Forderung des
kgl. ung. Ministerpräsidenten nach einer Beruhigung seiner parlamentarischen Oppo-
<pb/>inNr. 55/2 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. 4.1904 - Protokoll  383

sition mit dem Verlangen nach einer Beruhigung Österreichs zu beantworten. Das ab¬
gelaufene Jahr sei erfüllt gewesen mit ungarischen Begehren auf müitärischem Gebiete.
Das Verlangen der Opposition im ungarischen Reichstage, das erhöhte Rekrutenkon¬
tingent, das in Österreich schon bedingungslos bewilligt war, mit müitärischen Konzes¬
sionen zu kompensieren, sei immerhin begreiflich gewesen, und vor allem, es habe
gestellt werden können, weü der ungarische Reichstag über das vermehrte Rekruten¬
kontingent zu entscheiden hatte. Die außerordentliche Forderung für die Artillerie des
gemeinsamen Heeres habe aber die ungarische Delegation zu passieren, in welcher die
Kossuthpartei gar nicht vertreten sei und wo die liberale Mehrheit über den Widerstand
der wenigen übrigen Oppositionellen umso gewisser hinweggehen könne, als Angehöri¬
ge dieser Partei nach den Erfolgen in Sachen des militärischen Erziehungswesens eine
Pause der Sammlung als wünschenswert bezeichnet hätten.2 Allerdings, wenn die kgl.
ung. Regierung neuen Forderungen entgegenkommen wolle, werde sich ihre Partei nur
umsowilliger anschließen. Redner abersei der unmaßgeblichen Ansicht, daß wenigstens
die zeitweüige Ruhe der Monarchie ein unerläßliches Gebot des Augenblickes ist, wenn
es überhaupt möglich sein soll, sie in ihrer jetzigen staatsrechtlichen Form zu erhalten
und insbesondere, den beiden Staatsgebieten die Vorteüe des Ausgleiches und der ge¬
meinsamen neuen Handelsverträge zu sichern. Sobald jedoch Ungarn mit neuen Anfor¬
derungen militärischen Inhaltes hervortrete und sie noch dazu in die so eklatante Form
der Aufstellung einer Honvedartillerie kleide, werde ganz Österreich von dem Ausglei¬
che und von jeder Art Gemeinsamkeit nichts mehr wissen wollen. Die Honvedartillerie
wäre also nicht nur kein Mittel zur Stärkung der alten Gemeinsamkeit, sondern das
Geschoß, das sie unwiederbringlich zertrümmert. Österreich sei weit eher bereit, seine
Landwehr der Gemeinsamkeit des Heeres zu opfern, als die von Ungarn gewünschte
Honvedartillerie gutzuheißen.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident habe dem Redner in loyaler Weise seinen letzten
Gedanken mitgeteüt Falls Ungarn die Honvedartfllerie erhalte, werde sich dort
niemand weiter kümmern, auf welche Weise in Österreich Ordnung gemacht werde,
insbesondere der Ausgleich Giltigkeit erlange, und er selbst gedenke sich dann der
eventuellen Anwendung des § 14 nicht zu widersetzen. Redner könne jedoch dieses der
k. k. Regierung angebotene Entgegenkommen als solches nicht gelten lassen, nicht
allein, weü der geforderte Preis ihm imerschwinglich erscheine, sondern auch weil er,
ohne damit im geringsten zuzugestehen, daß der Ausgleich nur auf solchem Wege in
Kraft treten könne, sich auf die kaiserliche Verordnung vom 21. September 1899 und
den damit koinzidierenden Gesetzartikel XXX vom Jahre 1899 als einen vollgütigen,
unanfechtbaren Beweis der Berechtigung Österreichs berufen könne, unter gewissen
Umständen auch den Ausgleich mit kaiserlicher Verordnung und unter Verantwort¬
lichkeit des österreichischen Gesamtministeriums zu publizieren.3 Niemand wäre im-

2 Siehe GMRProt v. 19.11.1903, GMCZ. 439, Anm. 14.
3 1897 lief das sog. Ausgleichsprovisorium zwischen Österreich und Ungarn aus. Nach langem Tauziehen

     einigten sich die beiden Ministerien überein neues Zoll-undHandelsbündnis. Dieses wurde in Ungarn Gesetz
    {21.9.1899, GA XXX/1899), währendes in Österreich durch eine Notverordnungnach §14oktroyiert wurde
    {21.9.1899, RGBl. Nr. 176/1899). Siehe auch GMRProt. v. 16.4.1904, GMCZ 442, Anm. 13.
<pb/>384                   Nr. 55/2 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. 4.1904 - Protokoll III

stände, die Richtigkeit und Gesetzmäßigkeit dieser der österreichischen Reichshälfte
durch den Zwang der Verhältnisse aufgedrungenen Handlungsweise mit Grund zu
bestreiten. Rednervermöge daher dem vom kgl. ung. Ministerpräsidenten hergestellten
Zusammenhänge in keiner Weise zu folgen.

    Was endlich das gemeinsame Heer betrifft, so glaube Redner, daß es sich seinen
Befürchtungen in weit größerem Umfange anschließt, als es die Wünsche und Hoffnun¬
gen anderer teilt. Die Disziplin lasse sich ja nicht auf die innersten Empfindungen
ausdehnen. Wenn Redner alles das überdenke, so sei für ihn am peinlichsten, daß er
sich so ganz und gar ablehnend zu dem Begehren des kgl. ung. Ministerpräsidenten
verhalten müsse und nicht den schmälsten Ausweg zu finden wisse, keinerlei Kompro¬
miß in Vorschlag bringen könne. Redner sei bereit, alles zu tun, was im Interesse der
Ah. Dynastie und zum Wohle der Monarchie die stark getrübte Eintracht zwischen
beiden Staatsgebieten wiederherzustellen vermag, allein er erblicke das wirksamste
Mittel nur in der unversehrten Erhaltung ihres bewährten Bundes. Redner meine, es
habe alles zu geschehen, was Österreich und Ungarn fester aneinanderkettet, und es
sei alles zu vermeiden, was die nicht zu leugnende Spaltung vergrößert. Redner könne
daher einem Begehren nicht zustimmen, welches ganz Österreich als gegen die Jahr¬
hunderte alten Traditionen und gegen das lebendige Bedürfnis der Monarchie gerichtet
erkennen und ablehnen werde. Redner richtet daher an den kgl. ung. Ministerpräsiden¬
ten das Ersuchen, seine Forderung vorerst zu vertagen, vielleicht würden andere
ruhigere Zeiten auch andere geneigtere Anschauungen heranreifen. Jetzt aber könne
Redner nicht anders handeln, als er es tue. Er erachte nämlich die Frage weder als eine
militärische noch als eine finanzielle, sondern ausschließlich als eine politische und habe
sich deshalb für verpflichtet gehalten, die Konsequenzen derselben in aller Offenheit
darzulegen.

   Es erbittet sich hierauf der kgl. ung. Ministerpräsident GrafTi-
s z a das Wort, um auf die Äußerungen des Vorredners zu reflektieren, welche seiner
Ansicht nach verschiedene oder kleinere Irrtümer enthalten, die Redner zerstreuen zu
können hofft Redner möchte in dieser Beziehung vor allem erwähnen, daß der k. k.
Ministerpräsident stets nur von der Errichtung einer Honvedartillerie gesprochen habe,
während es sich doch in Wirklichkeit um die Dotierung beider Landwehren mit eigener
Artillerie handle. Nur infolge dieses Umstandes enthalte die Frage Elemente der
Gemeinsamkeit, da, wenn es sich nur um die Schaffung einer Honvedartillerie handeln
würde, die Frage als eine rein ungarische betrachtet werden müßte,, auf welche der
österreichischen Regierung keine Ingerenz zustünde. Einseitig könne die Frage übri¬
gens überhaupt nicht gelöst werden, da es nicht anginge, daß Ungarn die Kosten für die
Honvedartillerie tragen und außerdem auch noch den quotenmäßigen Beitrag zur
Erhaltung der abei der k. k. Landwehr zur Verwendung gelangenden3 Artillerie regi-
menter des gemeinsamen Heeres leisten solle. Redner weist auf die bevorstehende
Reorganisation des Heeres hin, anläßlich welcher die Anzahl der Geschütze um die
Hälfte vermehrt und die zweijährige Dienstzeit eingeführt werden solle. Der Umstand,

a-a Einßgung Tiszas.
b-b Einßgung Tiszas.
<pb/>Nr. 55/2 Gemeinsamer Ministenat, Wien, 23. 4.1904 - Protokoll III  385

 daß die Mannschaften der Landwehr nur zu einer zweijährigen Präsenzdienstzeit
 verpflichtet seien, während jene des gemeinsamen Heeres drei Jahre präsent dienen
 müßten, sei bisher immer als ein Hindernis für die Errichtung einer Landwehrartillerie
 angeführt worden, da man geltend gemacht habe, daß die entsprechende Ausbildung
 der Mannschaften einer technischen Waffe, wie der Artillerie, eine mindestens dreijäh¬
 rige Präsenzdienstpflicht erfordern. Infolge der zu gewärtigenden Einführung der nur
 mehr zweijährigen Präsenzdienstpflicht in der gemeinsamen Armee werde nnnmp.hr
 dieser einzige objektive Grund entfallen, der bisher gegen die Errichtung der Land-
 wehrartillerie ins Treffen geführt worden sei. Rednergestattet sich, darauf hinzuweisen,
 daß infolge der Organisation der Armee die Infanterietruppendivisionen bereits im
 Frieden mit Divisionsartülerieregimentem versehen seien, weshalb es nur richtig und
vom objektiv müitärischen Standpunkte gar nicht zurückzuweisen sei, daß die Honved-
 infanteriedivisionen ihre eigene Artillerie haben müßten. Die Beteüung der Honvedin-
 fanteriedivisionen mit ebenfalls der Landwehr angehöriger Artillerie stelle sich daher
lediglich als eine den Verhältnissen Rechnung tragende organisatorische Maßnahme
dar und müsse als solche ausschließlich als müitärische Frage aufgefaßt und behandelt
werden. Redner möchte davor warnen dürfen, die Frage auf das politische Gebiet
hinüberzuspielen, was zweifellos geschehen würde, wenn der Errichtung von Land¬
wehrartillerieformationen Widerstand entgegengesetzt werden sollte. Redner müßte
befürchten, daß in letzterem Falle die ganze bisher mühsam erreichte Beruhigung der
Gemüter in Ungarn wieder in Frage gestellt werden würde. Redner erlaubt sich darauf
hinzuweisen, daß alle jene Fragen, welche voriges Jahr spruchreif geworden und die ja
erst zum Teüe gelöst seien, sich auf das gemeinsame Heer bezogen hätten, wodurch die
infolgedessen in Österreich entstandene Beunruhigung wenigstens bis zu einem gewis¬
sen Grunde erklärlich erscheine, während die Frage der Errichtung von Artüleriefor-
mationen bei den Landwehren die gemeinsame Armee unberührt lasse, somit aus dieser
organisatorischen Maßnahme kein Anlaß zu irgendwelchen Besorgnissen österreichi-
scherseits abgeleitet werden könnte. Die Frage der Landwehrartillerie könne infolge
der bevorstehenden Heeresreorganisation durchgeführt werden, ohne daß dadurch die
bestehende Organisation der gemeinsamen Armee irgendwie alteriert werden würde.
Es liege daher kein objektiver Grund zur Erregung vor, wenn man die Frage nicht statt
vom rein militärischen Standpunkte von jenem der politischen Leidenschaften auffasse.
Redner möchte sich dafür aussprechen dürfen, daß die ganze Landwehrartilleriefrage
von den verantwortlichen Regierungen als ein TeU der gesamten Heeresreorganisation
hingestellt und seitens derselben dahin gewirkt werden möge, daß die Lösung der Frage
nicht als eine politische Errungenschaft erscheine, welche ein Staat der Monarchie
gegenüber dem anderen davongetragen habe. Hindurch würde auch am ehesten in
Österreich dem von dem k. k. Ministerpräsidenten befürchteten unangenehmen Ein¬
druck entgegengewirkt werden können. Wenn die Frage der Landwehrartillerie ohne
viel Aufhebens und ohne zu einem Zankapfel zwischen den beiden Staaten der Mon¬
archie zu werden, gelöst werden würde, so würden jene Elemente in Ungarn, welche
an der Hervorrufung von Unordnungen ein Interesse haben, sich wohl hüten, viel von
der Sache zu reden, da sie (hum keinen Vorwand haben würden, der Regierung in
nationaler Hinsicht etwasvorzuwerfen. cJe mehr sie die Sache im Sinne einer nationalen
<pb/>386                    Nr. 55/2 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23.4.1904 - Protokoll III

Errungenschaft aufbauschen würden, umso größer schiene der Erfolg, den die Regie¬
rung davongetragen habe, so daß ihr eigenes Parteiinteresse sie dazu bewegen würde,
die Sache möglichst zu bagatellisieren.&#39; Wenn die Errichtung der Landwehrartillerie
dagegen erst nach Überwindung großer Schwierigkeiten erkämpft werden könnte - und
aufzuhalten sei die Aufrollung dieser Frage nicht -, so würde dies natürlich als ein
großer Triumph der Opposition hingestellt werden, dem eine entsprechende Nieder¬
lage der Regierung gegenüberstehen würde, was der Ausgleichspolitik und der Idee
der Gemeinsamkeit schweren Schaden zufügen würde.

   Redner gestattet sich sodann, auf die Äußerungen des k. k. Ministerpräsidenten
betreffend die eventuelle Durchführung des Ausgleiches in Österreich aufgrund des
§ 14 zu reflektieren, indem er bemerkt, daß es ihm gänzlich ferne gelegen sei, dem
Vorredner gleichsam einen Preis für die Zustimmung der ungarischen Regierung zu
dieser Art der Durchführung des Ausgleiches anzubieten. Die Frage der Lösung des
Ausgleiches mit Zuhilfenahme des § 14 sei eine Frage der Zukunft und hänge zum nicht
geringen Teüe von der Gestaltung der politischen Lage in Ungarn ab, und dürfe hiebei
nicht vergessen werden, daß bereits zwei ungarische Ministerpräsidenten die Erklärung
abgegeben hätten, daß sie vom ungarischen Standpunkte nur eine parlamentarische
Lösung des Ausgleiches in Österreich für möglich halten. Die Sache sei in Ungarn
jedenfalls nicht leicht, und dieKonsolidierungsaktion dortselbst werdeweitvorgeschrit¬
ten sein müssen, damit die Regierung für die Lösung einer so heiklen Frage die
Verantwortung übernehmen könne. Aus diesem Grunde sei es nötig, daß jener Partei
und jenem Teüe der öffentlichen Meinung in Ungarn, welcher bei der Ausgleichspolitik
ausgeharrt habe, ein neuer Rückhalt im Lande gegeben werde. dDiese Aktion der
Konsolidierung und inneren Stärkung der auf dem Boden der Ausgleichspolitik stehen¬
den Partei betrachte Redner als seine Hauptaufgabe, als die Richtschnur seiner ganzen
Regierungstätigkeit. Er erblicke darin ein eminentes Interesse der ganzen Monarchie,
denn nur die neubefestigte Herrschaft der auf dem 67er Boden stehenden Partei in
Ungarn werde die Möglichkeit bieten, auch im anderen Staate der Monarchie Ordnung
zu schaffen und die so trostlos lahmgelegte Aktionsfähigkeit der Monarchie wiederher-
zusteüen. Diesen hohen politischen Zweck müsse er aber für gefährdet halten, wenn es
der ungarischen Regierung und ihrer Partei zugemutet würde, in der Artilleriefrage
eine Stellung einzunehmen, die aus objektiven Gründen absolut nicht zu verteidigen
wäre, und im ganzen Lande mit Recht den Motiven eines gegen Ungarn gerichteten
Mißtrauens zugeschrieben würde*1 (was eben durch eine den nationalen Wünschen
entsprechende Lösung der Landwehrartüleriefrage geschehen würde). Es sei daher
nicht richtig, wenn der k. k. Ministerpräsident annehme, daß Redner eine günstige
Lösung dieser Frage zur Beruhigung der Opposition benötige. Er bedürfe derselben
vielmehr zur Stärkung und Ermutigung seiner eigenen Partei. Redner erlaubt sich
schließlich, seine Ansicht kurz dahin zusammenzufassen, daß es sich bei der in Rede
stehenden Frage um einen Wunsch handle, welcher mit dem Ausgleichsgedanken nicht
in Widerspruch steht, dessen Erfüüung sich naturgemäß aus der Durchführung der

c_c Einfügung Tiszas.
d-d Einßgung Tiszas.
<pb/>Nr. 55/2 GemeinsamerMinisterrat, Wien, 23.4.1904 - Protokollin  387

Armeereorganisation ergebe, und gegen welchen ein objektiver Grund nicht geltend
gemacht werden könne, dessen Ablehnung aber ein Anwachsen der staatsrechtlichen
Opposition zur Folge haben und der Regierungspartei den Boden unter den Füßen
entziehen würde. Redner müsse daher, wenn die Frage der Landwehrartillerie nicht in
dem von ihm befürworteten Sinne gelöst werden könnte, an Se. Majestät namens der
ungarischen Regierung die ehrfurchtsvollste Bitte richten, ihn und seine Ministerkolle¬
gen, wenn auch nicht gleich, so doch jedenfalls nach Beendigung des Streiks der
EisenbahnangesteUten4 in Gnaden der von ihnen derzeit bekleideten Posten zu enthe¬
ben.

   Der k.k. Ministerpräsident v. Koerber möchte den Ausführungen
des Vorredners gegenüber bemerken dürfen, daß er wohl wisse, daß es sich nicht um
eine einseitige Dotierung der Honvedarmee mit eigener Artülerie handelt, sondern daß
demselben auch der Gedanke der Errichtung einer österreichischen Landwehrartülerie
vorschwebe. Redner habe jedoch letztere Frage aus dem Grunde nicht einmal gestreift,
weU er davon überzeugt sei, daß für die Errichtung einer österreichischen Landwehr¬
artillerie die Zustimmung der österreichischen parlamentarischen Körperschaften
niemals zu erreichen sein würde. Man könne schon aus finanziellen Rücksichten nicht
außer der Vermehrung der Artillerie des gemeinsamen Heeres auch noch die Errich¬
tung von Landwehrartillerie ins Auge fassen. Im übrigen gestattet sich Redner, auf die
ganze öffentliche Meinung in Österreich hinzuweisen, welche seine Äußerungen gewiß
nicht dementieren werde, wenn die Besprechung der Landwehrartüleriefrage einmal
in Fluß gekommen sein werde.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident Graf Tisza erlaubt sich, einen
Irrtum aufzuklären, in welchem der k. k. Ministerpräsident, sich zu befinden scheine,
wenn er annehme, daß außer der Vermehrung der Artillerie des gemeinsamen Heeres
auch noch die Aufstellung von Landwehrartillerieformationen erfolgen solle. Hievon
sei keine Rede, da es sich lediglich darum handeln könne, daß um soviel weniger
Artillerie des gemeinsamen Heeres aufgestellt werde, als den beiden Landwehren an
Artillerie zugewiesen werden solle. Die österreichische Landwehr werde nach vollstän¬
diger Durchführung dieser Maßnahme 7 Divisionsartfllerieregimenter erhalten.
Redner könne nur wiederholen, daß die Errichtung der Landwehrartillerie in beiden
Staaten der Monarchie ausschließlich als eine aus der Heeresreorganisation sich natür¬
lich ergebende Konsequenz dargestellt und nicht als politische Frage behandelt werden
sollte.

   Der k.u.k. gemeinsame Kriegsminister FML. Ritter v. Pit¬
reich gestattet sich auszuführen, daß er vom mflitärischen Standpunkte gegen die
Errichtung von Landwehrartillerie nichts einzuwenden habe und dieselbe sogar zweck¬
mäßig finde. Doch müsse er seine Zustimmung zu dieser Maßnahme von zwei Voraus-

4 Durch den am 19. April1904in Budapest begonnenen Eisenbahnerstreik wurde derBahnverkehr des ganzen
    Landes eine Woche lang lahmgelegt. Vortrag des kgL ung. Handelsministers v. 22.4.1904und v. 25.4.1904
     inAngelegenheit des Streiks desPersonals der ungarischen Staatseisenbahnen, HHSrA., Kab. Kanzlei, KZ,
    1107/1904 und KZ. 1126/1904. Siehe auch Radö, A vasuti sztrfjk 82-86; Gadanecz, A vasutas munkäs-
     mozgalom törtlnete 68-84.
<pb/>388  Nr. 55/2 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 23. 4.1904 - Protokoll III

Setzungen abhängig machen, nämlich erstens davon, daß im Sinne der Parität in beiden
Staaten der Monarchie Landwehrartillerie zur Aufstellung gelange, und zweitens
davon, daß die bestehenden Formationen intakt bleiben und die Dotierung der Land¬
wehren mit eigener Artillerie nur sukzessive und in dem Maße erfolge, als neue
Formationen aufgestellt werden.

   Se. k. u. k. apost Majestät geruhen Sich dahin auszusprechen, daß die zur
Diskussion stehende Frage eine äußerst schwierige sei, da nicht geleugnet werden
könne, daß beide Ministerpräsidenten von ihrem Standpunkte bis zu einem gewissen
Grade recht haben. Se. Majestät geruhen daran zu erinnern, daß die Schaffung einer
Honvedartillerie seinerzeit anläßlich des Inslebentretens der Honved, aus Mißtrauen,
und zwar aus einem von Allerhöchstdemselben geteilten Mißtrauen, nicht zugegeben
worden sei. Seither habe sich die Honved aber so entwickelt und sei deren Geist
namentlich dank der langjährigen Wirksamkeit des früheren Honvedministers Baron
Fejerväry5 ein solcher geworden, daß kein Grund mehr bestehe, dieses Mißtrauen noch
weiter aufrechtzuerhalten. Immerhin dürfe man sich nicht darüber täuschen, daß die
Frage bis zu einem gewissen Grade eine politische sei, und zwar aus dem Grunde, weil
vorauszusehen sei, daß eine für Ungarn befriedigende Lösung derselben dort wieder
als eine große Errungenschaft werde gefeiert werden, und das sei gerade dasjenige, was
in Österreich so irritierend wirke. Se. Majestät geruhen in dieser Beziehung daran zu
erinnern, daß die ersten Konzessionen auf müitärischem Gebiete von Allerhöchstdem¬
selben selbst initiiert worden seien, was jedoch nicht gehindert habe, daß man in Ungarn
nachher die Sache so dargestellt habe, als seien dieselben eine gegen den Wülen der
Krone durchgesetzte Errungenschaft.6

   Der kgl. ung. Ministerpräsident Graf Tisza gestattet sich, die
damalige Haltung der Krone mit dem Ausdrucke des ehrfurchtsvollsten Dankes anzu¬
erkennen und deren Eingreifen zu jener Zeit als ein geradezu rettendes zu bezeichnen.
eAuch habe er dieser wahren Sachlage im ungarischen Reichstage zu wiederholten
Malen Ausdruck gegeben.® Redner möchte der Ansicht Ausdruck geben dürfen, daß
es Aufgabe beider Ministerpräsidenten sein werde zu verhindern, daß die politische
Agitation sich der in Rede stehenden Angelegenheit bemächtige. Hintanzuhalten sei
jedoch die Frage in Ungarn nicht, und würde die Regierung dies versuchen wollen, so
würde ein solcher Versuch nach Ansicht des Redners unbedingt mit einer Niederlage
der Regierung enden.

   Se. Icu. k. apost Majestät geruhen im Hinblick auf letztere Äußerung des
kgl. ung. Ministerpräsidenten zu bemerken, daß immerhin auch nicht übersehen
werden dürfe, daß das, was der österreichische Ministerpräsident über die öffentliche
Meinung in Österreich gesagt habe, ganz zutreffend sei.

e~e Einßgung Tiszas.

5 Baron G&amp;ta Fejerväry gehörte zwischen 1884und 1903ßnfaufeinanderfolgenden Regierungen als Landes¬
     verteidigungsminister an.

6 Möglicherweise ging es hier um ein von Tisza durch Billigung des Monarchen ausgearbeitetes Militärpro¬
    gramm, siehe GMRProt v. 19.11.1903, GMCZ. 439, Anm. 13.
<pb/>Nr. 55/2 Gemeinsamer Ministarat, Wien, 23.4.1904 - Protokoll III  389

    Der k.u.k. gemeinsame Minister des Äußern GrafGoiu-
c h o w s k i erbittet sich hierauf das Wort, um auszuführen, daß, wenn die Armeere¬
organisation nicht in Aussicht stünde, vielleicht kein Anlaß zur Aufrollung der Frage
der Landwehrartillerie vorhanden wäre. Nun aber solle die Armeereorganisation in
Angriff genommen und das neue Wehrgesetz im Oktober in den Parlamenten einge¬
bracht werden. Die Aufrollung der Landwehrartilleriefrage würde nach Ansicht des
Redners nur dann hintanzuhalten sein, wenn die Heeresverwaltung auf die Heeresre¬
form verzichten würde. Wenn jedoch das neue Wehrgesetz eingebracht und zur Ver¬
handlung gelangen werde, so werde sich die Landwehrartilleriefrage nicht zurückdrän¬
gen lassen, und die öffentliche Meinung in Ungarn werde ohne Unterschied der Partei
eine Lösung derselben im Sinne der Wünsche des Landes fordern.

    Se. k. u. k. apost Majestät geruhen hier die Bemerkung einzuschalten, daß
bereits der frühere Honvedminister Baron Fejerväry darauf aufmerksam gemacht habe,
daß im Falle die Reorganisation der Armee zur Verhandlung gelangen sollte, es nicht
zu vermeiden sein werde, die Landwehrartilleriefrage einer entsprechenden Lösung
zuzuführen.

    Der k.u. k. gemeinsame Minister des Äußern GrafGolu-
c h o w s k i gestattet sich, seine Ausführungen fortsetzend, darauf hinzuweisen, daß
angesichts der Einmütigkeit der ungarischen öffentlichen Meinung in dieser Frage ein
schließliches Nachgeben unvermeidlich sein werde und daß dies dann vor dem Lande
als ein großer Sieg der Opposition werde hingestellt werden. Die Frage der Landwehr-
artülerie werde in der ungarischen Delegation gewiß gestellt werden, und es würden
sich infolgedessen zwei Möglichkeiten bieten. Entweder werde die Frage verneint und
dann werde eine große Agitation in Ungarn entstehen, welche ein schlechtes Präludium
für die Verhandlung des neuen Wehrgesetzes sein würde. Oder es werde eine Form
gefunden, welche es ermöglichen würde, die Aufstellung der Landwehrartillerie ledig¬
lich als eine organisatorische Maßnahme hinzustellen und dieser Angelegenheit so die
politische Spitze abzubrechen. Redner verkenne keineswegs die gewichtigen Bedenken
des k. k. Ministerpräsidenten, doch sei die Frage so ernst und für die Zukunft so
bedeutend, daß man sehrwohl erwägen müsse, welcheAntwort man auf eine eventuelle,
diesen Gegenstand betreffende Anfrage in der ungarischen Delegation zu erteilen
haben werde.

   Se. k.u. k. apost Majestät geruhen Allerhöchstihrer Meinung dahin
Ausdruck zu geben, daß, wenn es überhaupt zur Aufstellung von Landwehrartil¬
lerie kommen sollte, alles geschehen müsse, um die Besorgnis der öffentlichen
Meinung in Österreich zu zerstreuen, als ob mit dieser Maßnahme ein weiterer
Schritt zur Anbahnung einer selbständigen ungarischen Armee gemacht werden
solle. Se. Majestät geruhen zu erklären, daß Allerhöchstdieselben der Ansicht
seien, daß die gedeihliche Lösung der in Rede stehende Frage zur Erhaltung der
gemeinsamen Armee beitragen werde, welch letztere übrigens auch in Ungarn
stets die Hauptsache bleiben müsse, weshalb eine allzu große Ausgestaltung der
Honved nicht angezeigt erscheine.

   Der k.u.k. gemeinsame Minister des Äußern GrafGolu-
c h o w s k i möchte diesfalls bemerken dürfen, daß zwischen der Heeresreform und
<pb/>390 Nr. 56/1 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 5.5.1904 - Protokoll I

der Frage der Landwehrartillerie insofeme ein Junktim hergestellt werden müsse, als
ausgesprochen werden sollte, daß im Falle der Aufstellung von Landwehrartillerie die
Landwehr fernerhin nicht mehr weiter ausgestaltet und deren Rekrutenkontingent
nicht wesentlich erhöht werden dürfe.

    Se. k. u. k. apost. Majestät geruhen letzterer Ansicht mit dem Bemerken
zuzustimmen, daß das Rekrutenkontingent für die Landwehr jedenfalls nur unbedeu¬
tend erhöht werden, und daß namentlich nicht die ganze Ersatzreserve den beiden
Landwehren zugewiesen werden dürfe. Nachdem die Frage des Termines für die
Einberufung der Delegationen noch zur Sprache gebracht, jedoch diesfalls im Hinblik-
ke auf den Eisenbahnstreik in Ungarn noch kein endgütiger Entschluß gefaßt worden
ist, geruhen Se. k.u.k. apost. Majestät der Ansicht Ausdruck zu geben, daß es notwendig
erscheine, daß eine Erklärung ausgearbeitet werde, in welcher die Aufstellung der
Landwehrartillerie, entkleidet von aüen politischen Gesichtspunkten, als eine lediglich
organisatorische Maßnahme dargesteüt zu werden hätte, und finden Se. Majestät Sich
bewogen, den gemeinsamen Kriegsminister mit der Ausarbeitung einer solchen erklä¬
renden DarsteUung zu beauftragen.

    Se. k.uJc apost. Majestät geruhen hierauf die Sitzung mit der Bemerkung zu schlie¬
ßen, daß Allerhöchstdieselben Sich Vorbehalten, eine weitere gemeinsame Minister¬
konferenz zum Zwecke der definitiven Entscheidung der Landwehrartüleriefrage
einzuberufen.7

   Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokoües zur Kenntnis genommen.
   Budapest, 15. Mai 1904. Franz Joseph.

       Nr. 56/1 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 5. Mai 1904 - Protokoll I

    RS. (undRK)
    Gegenwärtige: der k. u. k. gemeinsame Minister des Äußern Graf Goluchowski, der k. k. Ministerprä¬
sident v. Koerber (13. 5.), der kgli ung. Ministerpräsident Graf Tisza (11. 5.), der k. u. k. gemeinsame
Knegsminister FZM. Ritter v. Pitreich (15.5.), derkgl. ung.Finanzministerv. Lukäcs, derk. k. Finanzmini¬
ster Ritter Böhm v. Bawerk (19.5.), der k. u. k. Marinekommandant Admiral Freiherr v. Spaun (15.5.).
    Protokollführer Legationsrat Freiherr v. Gagem.
    Gegenstand: Vorlagen des gemeinsamen Kriegsministeriums betreffend die von den Delegationen für
1904 und 1905 für außerordentliche Heeres- und Marinebedürfnisse anzufordemden Kredite.

   KZ. 25 - GMCZ. 445/a
   Protokoll des zu Budapest am 5. Mai 1904 abgehaltenen Ministerrates für gemein¬
same Angelegenheiten unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers und Königs.

   Se. k.u. k. apost Majestät geruhen die Sitzung mit der Bemerkung zu
eröffnen, daß es sich darum handle, die von dem gemeinsamen Kriegsminister vorge¬
legten Entwürfe von Vorlagen betreffend die von den Delegationen für 1904 und 1905
für außerordentliche Heeres- und Marinebedürfnisse anzufordemden Kredite zu fina-

7 GMR. V. 5.5.1904, GMCZ. 445/b.
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