MRP-2-0-05-0-19001029-P-0039.xml

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Gemeinsamer Ministerrat, 29. 10. 1900

I. Die Frage des Anschlusses der bosnisch-türkischen Bahnen

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_V/pdf/oe_hu_mrp_V_z39.pdf.

Nr. 39 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 29.10.1900        233

Nr. 39 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 29. Oktober 1900

     RS. (undRK)
    Gegenwärtige: der kgl. ung. Ministerpräsident v. SzäU, der k. k. Ministeipräsident v. Koeiber, der k. u. k.
gemeinsame Finanzministerv. Källay (26.11., Sarajevo), der kgl. ung. Finanzministerv. Lukäcs, der kgl. ung.
Handelsminister v. Hegedüs, der k. k. Eisenbahnminister Ritter v. Wittek, der k. k. Finanzminister Ritter
Böhm [v. Bawerk], der k. k. Handelsminister Freiherr v. Call.
    Protokollführer Sektionsrat Freiherr v. Gagem.
    Gegenstand: Die Frage des Anschlusses der bosnisch-türkischen Bahnen.

   KZ. 83-GMCZ.428

   Protokoll des zu Wien am 29. Oktober 1900 abgehaltenen Ministerrates für gemein¬
same Angelegenheiten unter dem Vorsitze des k. u. k. gemeinsamen Ministers des
Äußern Grafen Gohichowski.

    Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung und erteüt dem kgl. u n g. M i n i -
sterpräsidenten v. Szell das Wort, welcher der Konferenz die Mitteüung
macht, daß es den Fachministem gelungen sei, bezüglich der Tariffrage eine Einigung
herbeizuführen. Auch bezüglich der Anfangs- und Endtermine dieser Abmachungen
sei eine Einigung zustande gekommen, und zwar sei der Beginn dieser Vereinbarung
für jede der in Betracht kommenden Linien besonders fixiert worden. Was den End¬
termin der auf die Linie Sarajevo-Uvac bezüglichen Vereinbarungen betrifft, so sei die
Bestimmung getroffen worden, daß dieselben durch fünf Jahre, vom Zeitpunkte der
Inbetriebsetzung dieser Linie an gerechnet, in Geltung stehen sollen, nach Ablauf
welcher Zeit eine Revision einzutreten hätte. Dies sei nur in großen Zügen die Wieder¬
gabe der bezüglich der Tariffrage erreichten Verständigung, und bleibe es den Ress¬
ortministern überlassen, das zwischen ihnen getroffene Übereinkommen in detaülierter
und präzis gefaßter Formulierung der Konferenz zu unterbreiten.

   Nachdem auf diese Weise die Tariffrage einer entsprechenden Lösung zugeführt
worden sei, erübrige nur noch, bezüglich der Frage der SichersteUung des Ausbaues
der Linie Bugojno-ArZano eine Lösung zu finden, welche geeignet wäre, die diesfalls
von der österreichischen Regierung gehegten Bedenken zu zerstreuen. Redner glaubt
eine solche Lösung darin gefunden zu haben, daß zu dem Vorschläge des gemeinsamen
Finanzministers, wonach die Linien Bugojno-Ar2ano und Samac-Doboj gleichzeitig
und im möglichst raschen Anschlüsse an den Ausbau der Linie Sarajevo-Uvac in
Angriff zu nehmen seien, ein Zusatz des Inhaltes gemacht werden solle, daß beide
Regierungen sich verpflichten, längstens binnen zwei Jahren nach Fertigstellung der
Linie nach der Sandschakgrenze eine auf den Ausbau der Linien Samac-Doboj und
Bugojno-Ar2ano bezügliche Vorlage den beiden Parlamenten zu unterbreiten und sich
für deren Durchbringung einzusetzen.

   Der Ick. Ministerpräsident v. Koerber konstatiert seinerseits, daß
vorbehaltlich der näheren Formulierung der bezüglichen Vereinbarungen zwischen den
beiden Regierungen in betreff der Tariffrage eine Übereinstimmung erzielt worden sei.

   Was dagegen den von dem kgl. ung. Ministerpräsidenten bezüglich der dalmatini¬
schen Anschlußlinie gestellten Zusatzantrag betrifft, so scheine ihm auch dieser keine
<pb/>234  Nr. 39 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 29.10.1900

Garantie für dasjenige zu bieten, was die österreichische Regierung sichergestellt
wissen wolle, nämlich den tatsächlichen Ausbau dieser Linie. Die seinerzeitige Einbrin¬
gung einer bezüglichen Vorlage im ungarischen Reichstage könne nach Ansicht des
Redners nicht als eine hinlängliche Garantie für die Sicherstellung des Ausbaues der
mehrerwähnten Linie gelten, da dieselbe auch dann noch von einer Reihe von Even¬
tualitäten abhängig bleiben würde. Redner müsse daher auch jetzt an dem österreichi-
scherseits gestellten zweiten Alternativantrag festhalten, welcher der österreichischen
Regierung unter der in demselben bezeichneten Voraussetzung die Möglichkeit biete,
durch Gewährung einer finanziellen Beihilfe selbständig für den Ausbau der Linie
Bugojno-ArZano Vorsorge zu treffen. Dieser Antrag sei von der österreichischen
Regierung lediglich als Eventualität in Aussicht genommen worden und stelle für sie
das Minimum dessen dar, was verlangt werden müsse und wovon nicht abgegangen
werden könne.

    Der V orsitzende glaubt, daß der Umstand, daß die ungarische Regierung sich
zur Einbringung der bezüglichen Vorlage innerhalb einer bestimmten Frist verpflichten
wolle, im Vergleiche zu allen vorangegangenen Vermittlungsvorschlägen eine erhöhte
Sicherheit für das auch von ihm auf das lebhafteste gewünschte Zustandekommen der
Linie Bugojno-Ar&amp;no enthalte. Das Schwergewicht sei darauf zu legen, daß die
Gesetzvorlage binnen einer bestimmten Zeit eingebracht werden müsse. Redner glaubt,
der Ansicht Ausdruck geben zu sollen, daß der Vermittlungsvorschlag des kgl. ung.
Ministerpräsidenten den Wünschen der österreichischen Regierung wesentlich entge¬
genkomme und deshalb österreichischerseits nicht von der Hand gewiesen werden
sollte.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident v. Szell führt aus, daß, wenn bezüg¬
lich des Termins, wann die Linie Bugojno-Ar2ano ausgebaut werden soüe, ungarischer-
seits gar kein Anerbieten vorliegen würde, dem österreichischen Standpunkte ein
gewisses Maß von Berechtigung nicht abgesprochen werden könnte. Diese Vorausset¬
zung treffe jedoch keineswegs zu, da sein Antrag in dieser Beziehung etwas sehr
Greifbares enthalte und die denkbar größte relative Sicherheit biete. Eine absolute
Sicherheit für die Annahme der Vorlage könne natürlich nicht geboten werden, doch
werde die ungarische Regierung sich nach besten Kräften bestreben, deren Annahme
zu sichern. Mit Rücksicht auf die Stellung der ungarischen Regierung zum Reichstage
sei übrigens schon durch das bloße Faktum der Einbringung der Vorlage eine sehr
große Sicherheit für die Annahme derselben gegeben. Gegen den österreichischen
Antrag müßten vom prinzipiellen Standpunkte schwerwiegende Bedenken geltend
gemacht werden, da es unzulässig sei, auszusprechen, daß es nach Ablauf von fünf
Jahren jeder der beiden Regierungen freistehen solle, für den Ausbau der an ihr Gebiet
anschließenden Linie selbständig Vorsorge zu treffen. Hiedurch würde ein Novum
geschaffen und im Konnex mit dem Ausbau der Linie Samac-Uvac die staatsrechtliche
Frage aufgeworfen werden. Besonders schwierig würde sich die Sache noch dadurch
gestalten, daß dann außer für die Finanzierung der Sandschaklinie überdies auch für
jene der Linien Samäc-Doboj und Bugojno-ArXano gesorgt werden müßte.

   Der k.k. Ministerpräsident`v. Koerber bemerkt demgegenüber, daß
die österreichische Regierung auch jetzt noch an der Ansicht festhalte, daß es nicht so
<pb/>Nr. 39 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 29.10.1900  235

 schwer wäre, gleichzeitig mit der Linie Sarajevo-Uvac auch für den Ausbau der beiden
anderen Linien Vorsorge zu treffen. Redner habe sich bei Stellung seines Antrages das
Gesetz vom Jahre 1880, betreffend die Verwaltung Bosniens und der Hercegovina,
gegenwärtig gehalten, wonach jeder der beiden Staaten berechtigt sei, allein für den
Ausbau einer Eisenbahnlinie im Okkupationsgebiete vorzusorgen.1 Wenn in § 2 dieses
Gesetzes gesagt werde, daß die Anlage von Eisenbahnen im Einvernehmen mit den
Regierungen der beiden Ländergebiete der Monarchie zu erfolgen habe, so sei diese
Bestimmung nur dahin zu verstehen, daß diesfalls ein Einvernehmen zwischen den
beiden Regierungen genüge, und daß es nach Herstellung eines solchen nicht notwen¬
dig sei, die beiden Legislativen mit der Angelegenheit zu befassen, was selbstverständ¬
lich nicht ausschließe, daß diejenige Regierung, welche an dem Zustandekommen des
Bahnbauprojektes interessiert sei, in der Folge ihrem Parlamente eine auf die Beschaf¬
fung der Mittel bezügliche Vorlage erstatte. Eine Befassung der anderen Legislative sei
dagegen nicht erforderlich, so daß im vorliegenden Falle das Votum des ungarischen
Reichstages nicht abgewartet zu werden brauchte.

    Redner könne nur nochmals erklären, daß eine Vorlage, welche sich auf die Durch¬
führung der Hauptlinie beschränken, den Ausbau der Linie Bugojno-Ariano aber von
unsicheren Voraussetzungen abhängig machen würde, keine Aussicht hätte, im öster¬
reichischen Reichsrate angenommen zu werden. Dies schon heute offen und unumwun¬
den auszusprechen, halte Redner geradezu für seine Pflicht, und könne er von dem
Verlangen nicht abstehen, daß eine Form gefunden werden müsse, welche den Ausbau
der Anschlußlinie nach Dalmatien schon jetzt als gesichert erscheinen lasse.

   Der Versitzende glaubt, den Ausführungen des k.k. Ministerpräsidenten
gegenüber darauf hinweisen zu sollen, daß ohne ein Votum beider Parlamente von dem
Grundsätze der Gemeinsamkeit bezüglich Bosnien und der Hercegovina nicht abge¬
gangen werde könne. Selbst wenn man an diesem Grundsätze nicht länger festhalten
wollte, könnte das Abgehen von dem bisherigen Usus nicht einfach von den beiden
Regierungen beschlossen werden, sondern wäre hiezu erst ein Beschluß beider Parla¬
mente erforderlich.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident v. Szell hält dafür, daß auf
Seite des k. k. Ministerpräsidenten ein Mißverständnis obzuwalten scheine, da es
nach dem klaren Wortlaute des Gesetzes als ausgeschlossen betrachtet werden
müsse, daß die Frage in der demselben vorschwebenden Weise erledigt werden
könnte. Der Bau der Linien Samac-Doboj und Bugpjno-Ar2ano könne ebensowie
alle anderen Bahnbauten nur durch ein besonderes identisches Gesetz beschlossen
werden, welches im gemeinsamen Einvernehmen der beiderseitigen Regierungen
zustande gekommen sei. Was den Termin für die Fertigstellung der Linie

1 Gesetz v. 22. 2. 1880, RGBl. Nr. 18/1880 bzw. GA. W1880: Die Verwaltung dieser Länder ist so
    einzurichten, daß die Kosten derselben durch die eigenen Einkünfte gedeckt werden. Insofern jedoch
    die Verwaltung Bosniens und der Hercegovina für bleibende Investitionen, die nicht in den Bereich der
    laufenden Administration gehören, wie für Eisenbahnen, öffentliche Bauten oder ähnliche außerordent¬
    liche Ausgabeposten, finanzielle Leistungen der Monarchie in Anspruch nehmen sollte, dürfen solche
    Leistungen nur aufgrund von in beiden Teilen der Monarchie übereinstinimend zustande gekommenen
    Gesetzen gewährt werden.
<pb/>236  Nr. 39 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 29.10.1900

Bugojno-Ar2ano betrifft, sei sein Vermittlungsvorschlag sogar noch günstiger als
der Vorschlag des k. k. Ministerpräsidenten. Angenommen nämlich, die Sandscha-
klinie würde im Jahre 1904 fertiggestellt sein, so müßte längstens zwei Jahre
später, also im Jahre 1906, die auf den Ausbau der mehrerwähnten beiden Ne¬
benlinien bezügliche Vorlage dem ungarischen Reichstage unterbreitet werden.
Wenn man dann für die Linie Bugojno-Ariano noch eine dreijährige Bauzeit
hinzurechne, so würde der österreichischerseits gehegte Wunsch im Jahre 1909
realisiert sein. Nach dem österreichischen Vorschläge würde sich das Resultat
dagegen weniger günstig stellen, da man, selbst angenommen, daß die Hauptlinie
bereits im Jahre 1903 fertiggesteUt wäre, mit Hinzurechnung der fünfjährigen
Eventualfrist und einer dreijährigen Bauzeit zum Jahre 1910 gelange.

    Der k.u.k. gemeinsame Finanzminister v. Källay glaubt, dem
Vorwurfe nicht ausgesetzt zu sein, irgend etwas gegen das Zustandekommen der Linie
Bugojno-Ar2ano zu sagen, als deren Erfinder er sich mit gutem Gewissen bezeichnen
könne, da er erst nach langen Kämpfen die maßgebenden dalmatinischen Kreise von
der Nützlichkeit dieses Schienenweges habe überzeugen können. Redner halte auch
heute an der Überzeugung fest, daß vom Standpunkte der bosnischen lokalen Inter¬
essen die Durchführung dieser Linie unbedingt angestrebt werden müsse. Dies voraus¬
geschickt, möchte Redner den Vermittlungsvorschlag des kgl. ung. Ministerpräsiden¬
ten zur Annahme empfehlen, nachdem er in dieser Proposition einen großen Fortschritt
erblicke und dieselbe für eine solche halte, welche geeignet sei, eine verhältnismäßig
große Sicherheit für den Ausbau der erwähnten Linie zu geben. In dieser Beziehung
erscheine ihm die von den beiden Regierungen zu übernehmende Verpflichtung, zwei
Jahre nach Fertigstellung der Linie Sarajevo-Uvac den beiden Legislativen eine auf den
Bau der mehrerwähnten beiden Nebenlinien bezügliche Vorlage zu erstatten, von
größter Wichtigkeit. Keine ungarische Regierung würde übrigens, nachdem sie einmal
diese Verpflichtung übernommen habe, die Einbringung dieser Vorlage verweigern
können. Bei der großen Majorität, über welche die ungarische Regierung im ungari¬
schen Abgeordnetenhause verfüge, könne die Annahme der bezüglichen Vorlage als
so gut wie sicher angesehen werden. Auch sei es seine feste Überzeugung, daß sich noch
während des Baues der Sandschaklinie ein Umschwung in den Anschauungen über die
verkehrspolitische Bedeutung der Linie Bugojno-Ariano oder, wie es seiner Meinung
nach richtiger heißen sollte, Spalato-Sarajevo, vollziehen werde, und hierin sei eine
weitere Garantie für das Zustandekommen&#39;der Anschlußlinie nach Dalmatien gelegen.
Andererseits könne Redner sich der Befürchtung nicht erwehren, daß wenn jetzt die
ganze Angelegenheit in die Brüche ginge, und zwischen den beiderseitigen Regierungen
keine Verständigung über die bosnischen Bahnbauten zustande käme, das Projekt der
Linie Bugojno-Aräano alle Aussicht verlieren würde, jemals verwirklicht zu werden.
Was die Behandlung der auf die Verwaltung Bosniens und der Hercegovina bezügli¬
chen Angelegenheiten betrifft, möchte Redner noch bemerken, daß die in Gemäßheit
des Gesetzes vom Jahre 1880 im gemeinsamen Einvernehmen zwischen den beidersei¬
tigen Regierungen zustande gekommenen Vorlagen sogar am selben Tage den Parla¬
menten unterbreitet werden müssen. Dies entspreche dem Usus, mit welchem Redner,
nebenbei bemerkt, allerdings nicht ganz einverstanden sei.
<pb/>Nr. 39 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 29.10.1900                             231

   Der k.k. Finanzminister Ritter v. Böhm möchte seinerseits einige
Bemerkungen zur Interpretation des Gesetzes vom Jahre 1880 machen und führt aus,
daß wenn die §§ 2 und 3 im Zusammenhänge gelesen werden, man die dem Gesetze
von den österreichischen Ministem gegebene Auslegung ganz von der Hand weisen
könne. § 2 spreche davon, daß die Anlage von Eisenbahnen im Einvernehmen der
beiden Regierungen zu erfolgen habe. § 3 statuiere eine Ausnahme von dieser Regel
für den Fall, als für bleibende Investitionen, wie Eisenbahnbauten, die Mittel der
Monarchie in Anspruch genommen werden müßten. In diesem Falle sei die Befassung
beider Parlamente mit der Angelegenheit den beiden Regierungen zur Pflicht gemacht.
Anders verhalte sich jedoch die Sache, wenn nicht die finanziellen Leistungen der
Monarchie, sondern jene eines der Teüe derselben zur Deckung der Kosten von
Eisenbahnanlagen herangezogen werden sollten. In einem solchen Falle sei jede der
beiden Regierungen bloß auf die Ratifikation ihres Parlamentes angewiesen. Wenn von
anderer Seite auf den bestehenden Usus hingewiesen worden sei, so möchte Redner
sich zu bemerken gestatten, daß ein solcher Usus sich nicht herausgebUdet haben
könne, weU ein derartiger Fall sich überhaupt noch nicht ergeben habe, da nämlich die
bosnischen Eisenbahnen aus den Zentralaktiven gebaut worden seien.2 Mit Rücksicht
hierauf glaube Redner, daß das Gesetz vom Jahre 1880 so gelesen werden müsse, daß
in jenen Fällen, wo nicht die Mittel der Monarchie, sondern jene eines der beiden Teile
derselben in Anspruch genommen werden, die Wahrung der verkehrspolitischen Inter¬
essen den beiden Regierungen anheim gestellt sei. Ein Fall dieser Art sei in dem von
der österreichischen Regierung gestellten zweiten Altematiworschlage gegeben.

   Redner kann sich der von dem gemeinsamen Finanzminister ausgesprochenen
Ansicht, daß sich schon in den nächsten Jahren ein Umschwung in den Anschauungen
über die verkehrspolitische Bedeutung der Linie Bugojno-Ar2ano in der öffentlichen
Meinung sowie in den Wählerschaften Ungars vollziehen werde, nicht anschließen, und
ist daher nicht in der Lage, in dem Vorschläge des kgl. ung. Ministerpräsidenten eine
absolute Garantie für das Zustandekommen der Linie Bugojno-Ar2ano zu erblicken.

   Der kgl. ung. Handelsminister v. Hegedüs bezeichnet es als ein
stets festgehaltenes Prinzip, daß alle auf Bosnien bezughabenden Angelegenheiten
durch die gemeinsame Regierung und dann durch die Legislativen der beiden Staats¬
gebiete der Monarchie durchgeführt werden. Von diesem Prinzipe sei seit zwanzig
Jahren niemals abgewichen worden, und würde ein Abgehen von demselben große
Gefahren in sich schließen, da dann jeder der beiden Staaten bald bezüglich der einen,
bald bezüglich der anderen Angelegenheit selbständig würde Vorgehen wollen. Es
könne kein Zweifel darüber bestehen, daß es sich im vorliegenden Falle um die Mittel
der Monarchie handle, da die in Rede stehende Bahn ja aus den bosnischen Landes¬
mitteln gebaut werden solle, und diese letzteren in gewissem Sinne als gemeinsame
Mittel aufzufassen seien. Was die Sicherstellung der Linie Bugojno-Ariano durch den
Vp.rmittlnngsvorsr.hlag des kgl. ung. Ministerpräsidenten betrifft, so möchte Redner
hervorheben, daß sich in Ungarn noch niemals der Fall ereignet habe, daß ein Gesetz¬
entwurf von der Regierung im Parlamente eingebracht worden sei, ohne dann der

2 Zum BegriffZentralaktiven siehe GMRProU v. 13.4.1896, GMCZ. 390, Anm. 12.
<pb/>238  Nr. 39 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 29.10.1900

parlamentarischen Behandlung unterzogen und auch angenommen worden zu sein.
Wenn eine Bestimmung einmal in den Motivenbericht aufgenommen sei und der
Reichstag kein Veto dagegen einlegt, so sei die Sache als gesichert anzusehen.

    Der k.u.k. gemeinsame Finanzminister v. Källay führt aus, er sei
immer der Meinung gewesen, daß nach dem Wortlaute des Gesetzes eine parlamenta¬
rische Behandlung der bosnischen Bahnen in beiden Legislativen nicht notwendig ist,
wofern dafür nicht auf die Mittel der Monarchie zurückgegriffen werde. Es sei in
Bosnien übrigens nur eine einzige Bahn aus den Mitteln der Monarchie gebaut worden,
und zwar die Linie Brod-Zenica, welche aus dem Okkupationskredite zu einer Zeit
gebaut worden sei, als das Gesetz vom Jahre 1880 noch nicht bestanden habe.3 Alle
anderen Bahnen seien aus bosnischen Mitteln gebaut worden, da die zu diesem Zwecke
den Zentralaktiven entnommenen Beträge nur entliehen worden seien, und es sich
somit lediglich um ein Darlehensgeschäft gehandelt habe, bezüglich dessen, da Bosnien
ohne Bewilligung der beiden Staatsgebiete der Monarchie kein Anlehen aufnehmen
könne, allerdings die Ratifikation der beiden Parlamente notwendig gewesen sei. Das
Gesetz vom Jahre 1880 enthalte nur eme Gegenüberstellung der Mittel Bosniens und
jener der Monarchie; von den Mitteln der beiden Staaten sei darin nicht die Rede.4
Redner könne sich sogar eines Falles entsinnen, daß selbst ein kleines bosnisches
Lokalinteresse - der Bau einer Brücke -, zu dessen Befriedigung eme kleine schweben¬
de Anleihe im Betrage von ungefähr 400 000 fl. aufgenommen werden mußte, in beiden
Parlamenten verhandelt worden sei. Dies wolle Redner nur zur Erhärtung des nun
einmal bestehenden Usus anführen.

   Der Versitzende glaubt, den schlagendsten Beweis für das Bestehen des
erwähnten Usus in den gegenwärtigen Verhandlungen erblicken zu sollen, zu denen es
gewiß nicht gekommen wäre, wenn nicht seitens aller Konferenzteilnehmer die Not¬
wendigkeit anerkannt worden wäre, über eine bezüglich der bosnischen Bahnbaupro¬
jekte einzubringende Gesetzvorlage zu verhandeln.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident v. Szell wendet sich gegen die
Ausführungen des k. k. Finanzministers, dessen Ausgangspunkt er nicht für ganz richtig
hält, und beruft sich diesfalls sowohl auf den Usus als auch auf den Inhalt und Sinn des
Gesetzesvom Jahre 1880. Im ersten Absätze des § 3 dieses Gesetzes wird der Grundsatz
aufgestellt, daß die Verwaltung Bosniens und der Hercegovina so einzurichten sei, daß
die Kosten derselben durch die eigenen Einkünfte derselben gedeckt werden, und nur
in dem Falle, als diese Mittel hiezu nicht ausreichen, soU auf die Mittel der Monarchie
(im Gesetze sei nicht gesagt gemeinsame Mittel) zuriiekgegriffen werden. Die Ratio
dieses Gesetzes schließe geradezu die Inanspruchnahme der Mittel des einen oder des
anderen Staates der Monarchie aus, und würde das selbständige Vorgehen eines Staates
dem Prinzipe der Gemeinsamkeit widerstreiten. Von dieser Interpretation könne ohne
ein Spezialgesetz nicht abgewichen werden.

3 Die Schmalspurbahn Brod -Zenica wurde im Sommer 1879fertiggestellt. Schmid, Bosnien und Herzego-
    vina unter der Verwaltung Österreich-Ungams 583.

4 Siehe Anm. 1.
<pb/>Nr. 39 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 29.10.1900  239

   Der k.k. Ministerpräsident v. Koerber erwidert hieranf, daß er den
Alternativantrag b (oder II) nur für den Fall gestellt habe, als der Antrag a (beziehungs¬
weise I) der ungarischen Regierung nicht akzeptabel erscheine. Wenn nun der Antrag
b, welcher österreichischerseits nur als ein Ausweg betrachtet worden sei, nicht ange¬
nommen werde, so sehe sich die österreichische Regierung in die Notwendigkeit
versetzt, den Antrag a wiederaufzunehmen, um so eine tatsächliche Sicherstellung für
den Ausbau der Linie Bugojno-Ar2ano zu erlangen, nachdem die österreichische
Regierung von einer solchen beim besten Willen nicht absehen könnet

   Der kgl. ung. Ministerpräsident v. Szell spricht sich dahin aus, daß
der Antrag a nicht annehmbar erscheine, da derselbe jetzt finanziell unmöglich sei und
in das Gesetz nichts aufgenommen werden dürfe, was praktisch undurchführbar sei.

   Der k.k. Ministerpräsident v. Koerber glaubt, daß nachdem die
bosnischen Landesmittel voraussichtlich nicht einmal für den Ausbau der Strecke
Sarajevo-Uvac ausreichen werden, aufjeden Fall sich die Notwendigkeit derAufnahme
einer Anleihe heraussteilen werde, und daß, wenn zu diesem Zwecke schon 85 Millio¬
nen Kronen aufgenommen werden müssen, dann auch noch ein weiterer Betrag von 47
Millionen Kronen für den Bau der Linien Bugojno-Ariano und Samac-Doboj aufge¬
nommen werden könnte. Redner erklärt sich übrigens bereit, den Passus betreffend die
eventuelle finanzielle Vorsorge jeder der beiden Regierungen fallen zu lassen, wodurch
die Frage der Interpretation des Gesetzes vom Jahre 1880 vermieden würde.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident v. Szell ergreift hierauf nach einer
Zwischenpause neuerdings das Wort, um auszuführen, daß er sich, um die österreichi¬
scherseits gehegten Bedenken zu zerstreuen, entschlossen habe, der österreichischen
Regierung noch um einen Schritt weiter entgegenzukommen und noch über seinen zu
Beginn der heutigen Sitzung gestellten Vermittlungsvorschlag hinauszugehen. Redner
stellt sodann namens der ungarischen Regierung folgenden Antrag:

   Die ungarische Regierung erklärt sich bereit, eine auf den Ausbau der Linien
Samac-Doboj und Bugojno-ArZano bezügliche Vorlage dem ungarischen Reichstage
zu einem solchen Zeitpunkte zu unterbreiten, daß der Ausbau dieser beiden Linien
längstens zwei Jahre nach der Fertigstellung der Linie Sarajevo-Uvac begonnen werden
könne. Redner ist der Ansicht, daß dieser Antrag sozusagen mehr Stoff habe und
bezüglich des Zeitpunktes der Inangriffnahme des Baues der beiden vorerwähnten
Linien eine noch größere Garantie biete als sein Antrag, demzufolge die ungarische
Regierung sich verpflichten sollte, längstens binnen zwei Jahren nach Fertigstellung der
Hauptlinie dem ungarischen Reichstage eine einschlägige Vorlage zu erstatten.

   Der k.k. Ministerpräsident v. Koerber erklärt, auch in diesem
Anträge nur eine andere, wenn auch vielleicht erschöpfendere Stüisierung erblicken zu
können, welche den wesentlichen Punkt noch immer offenlasse und in dieser Beziehung
keine größere Sicherheit gebe, als dervon dem kgl. ung. Ministerpräsidenten zu Beginn
der Sitzung gestellte Vermittlungsvorschlag. Wenn gesagt worden sei, daß es nicht
möglich sein würde, den Legislativen schon jetzt Auskunft über die Mittel zu geben, aus
welchen die Linien Bugojno-ArZano und Samac-Doboj gebaut werden sollen, so müsse

5 Siehe GMRv. 27.10.1900, GMCZ. 426.
<pb/>240  Nr. 39 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 29.10.1900

Redner demgegenüber bemerken, daß, wenn die Möglichkeit vorhanden sei, den
Parlamenten über die Beschaffung der Mittel zum Ausbau der Linie Sarajevo-Uvac
Auskunft zu geben, man umso eher in der Lage sein werde, diesbezüglich der anderen
beiden Linien zu tun, da diese letzteren jedenfalls rentabler seien als die Sandschaklinie.
Redner schließt mit der Erklärung, daß er den letzten Vermittlungsvorschlag des kgl.
ung. Ministerpräsidenten nicht akzeptieren könne, da derselbe die österreichischerseits
angestrebte Sicherheit nicht biete.

    Der kgl. ung. Ministerpräsident v. Szell wül die Möglichkeit nicht
in Abrede stellen, daß die Linien Samac-Doboj und Bugojno-Ariano rentabler seien
als die Linie Sarajevo-Uvac, die letztere sei jedoch im Hinblicke auf die damit zusam¬
menhängenden großen politischen und müitärischen Interessen der Monarchie not¬
wendiger. Bei finanziellen Abmachungen handle es sich in sehr wesentlichen Maße um
die Höhe des aufzunehmenden Betrages. Eine Anleihe im Betrage von 85 Millionen
Kronen würde seitens der bosnischen Regierungen zu dem gedachten Zwecke voraus¬
sichtlich aufgebracht werden können, nicht aber eine solche im Betrage von 132
Millionen Kronen.

   Der k.u.k. gemeinsame Finanzminister v. Källay glaubt darauf
aufmerksam machen zu sollen, daß die Linien Bugojno-Arfano und Samac-Doboj sich
jedenfalls nicht gleich von Anfang an rentieren würden, und daß es zum Zwecke der
Verzinsung und Amortisation des eigentlichen Baukapitals während der ersten fünf bis
sechs Jahre notwendig sein werde, dieses Kapital um einen entsprechenden Zuschlag
zu erhöhen, wodurch die aufzunehmende Anleihe auf einen Betrag von nahezu 150
Millionen Kronen gebracht werden müßte. Redner bezweifelt, ob es möglich sein
werde, mit einer so großen bosnischen Anleihe auf den Markt zu treten. Für die Stellung
der Monarchie im Oriente sei es übrigens ein großer Unterschied, ob nach allem, was
diesfalls in der Presse des In- und Auslandes geschrieben worden sei, die Linie nach
der Sandschakgrenze überhaupt nicht zustande kommt, weü die Regierungen sich nicht
darüber einigen konnten, oder ob der bereits beschlossene Bahnbau bloß etwas hinaus-
geschoben wird, weü momentan wegen der ungünstigen Verhältnisse auf dem Geld¬
märkte das erforderliche Geld nicht aufgebracht werden konnte.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident v. Szell hält seinen letzten Vor¬
schlag, awelcher den sofortigen Ausbau der Linie Sarajevo-Sandschakgrenze sicher¬
stellt und die seinerzeitige möglichst baldige Fertigstellung der Bahnen Doboj-Samac
und Ar2ano-Bugojno ebenfalls ausspricht,3 für den einzig möglichen unter den gegen¬
wärtigen Verhältnissen, und bittet die österreichischen Minister, denselben nochmals
in eingehende Beratung zu ziehen und sonach ihre Schlußfassung der ungarischen
Regierung schriftlich mitzuteüen.6

       Einfiigung Szills.

6 Das Schreiben des k. k. Ministerpräsidenten an den kgl. ung. Ministerpräsidenten war nicht auffindbar. Der
    kgl. ung. Ministerpräsident berichtete aber im GMR v. 6. 11.1900, GMCZ. 429, darüber, daß die beiden
    Regierungen Übereinstimmung erzielt hätten.
<pb/>Nr. 40 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 6.11.1900  241

   Der k.u. k. gemeinsame Finanzminister v. Källay bittet, daß die
Entscheidung jedenfalls nicht allzulange hinausgeschoben werden möge, da er erst
dann an die Finanzkreise herantreten könne, wenn zwischen den beiden Regierungen
ein Einverständnis erzielt sein werde.

   Der Vorsitzende ergreift hierauf das Wort, um zu erklären, daß er sich
gestattet habe, sich Sr. k. u. k: apost Majestät gegenüber dahin auszusprechen, daß die
Linie Sarajevo-Uvac gebaut werden müsse, und er, falls dieses Projekt nicht zustande
kommen sollte, nicht in der Lage wäre, noch weiter die Verantwortung für die äußere
Politik der Monarchie zu tragen.

   Der k.k. Ministerpräsident v. Koerber ist bereit, den letzten Vor¬
schlag des kgl. ung. Ministerpräsidenten nochmals in Erwägung ziehen zu wollen, glaubt
aber nicht, daß es der österreichischen Regierung möglich sein werde, demselben
zuzustimmen. Mit Beziehung auf die letzte Äußerung des Vorsitzenden erklärt Redner,
daß er seinerseits die Verantwortung für die innere Politik zu tragen habe und es sogar
vorziehen würde, Se. Majestät zu bitten, ihn von der ihm übertragenen Mission Ag. zü
entheben, als für eine Lösung der Frage einzutraten, welche die innere Situation in
unabsehbarer Weise komplizieren würde.

   Nachdem hierauf noch ein zur Hinausgabe an die Presse bestimmtes Kommunique
über den derzeitigen Stand der in Beratung stehenden Frage im Einvernehmen mit allen
Konferenzteflnehmern redigiert worden ist,7 schließt der Vorsitzende die
Sitzung mit der Bemerkung, daß er sich Vorbehalte, die Befehle Sr. Majestät wegen
eventueller Einberufung einer gemeinsamen Ministerkonferenz unter dem Ah. Vorsit¬
ze einzuholen.

                                                                                          Gotuchowski

   Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen.
   Wien, 14. Dezember 1900. Franz Joseph.

             Nr. 40 Gemeinsamer Ministerrat, Budapest, 6. November 1900

     RS. (undRK.)
    Gegenwärtige: der kgl. ung. Ministerpräsident v. Sz^ll, der k. k. Ministerpräsident v. Koerber, der
k. u. k. gemeinsame Finanzminister v. Källay (26.11., Sarajevo), der kgl. ung. Finanzminister v. Lukäcs, der
kgl. ung. Handelsminister v. Hegedüs, der k. k. Eisenbahnminister Ritter v. Wittek, der k. k. Finanzminister
Ritter Böhm [v. Bawerk], der k. k. Handelsminister Freiherr v. Call.
    Protokollführer Sektionsrat Freiherr v. Gagem.
    Gegenstand: Die Frage der bosnischen Bahnen.

   KZ. 84 - GMCZ. 429
   Protokoll des zu Budapest am 6. November 1900 abgehaltenen Ministerrates für
gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze des k. u. k. gemeinsamen Ministers
des Äußern Grafen Gohichowski.

7 Neue Freie Presse v. 30.10.1900 (M.).
<pb/>