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Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)

EINLEITUNG

                                  1. Die gemeinsame Regierung

   1904 wurde Lajos Thalloczy - anerkannter Historiker und damals Sektionschef im
gemeinsamen Finanzministerium - beauftragt, für leitende Beamte der Monarchie ein
offizielles Handbuch des Staatsrechtes zu verfassen.1 Der Politiker und Historiker mit
langjähriger Erfahrung in der öffentlichen Verwaltung blieb indes gleich am Anfang
stecken. Seit Jahren im Dienst der gemeinsamen Regierung, mußte er nun Grundbe¬
griffe wie „gemeinsame Regierung" oder „Vorsitzender des gemeinsamen Ministerra¬
tes" definieren und auch festlegen, wer dem gemeinsamen Ministerrat angehörte. Er
mußte erkennen, daß er dies so genau nicht wußte. Und nachdem eine Reihe von
Kollegen, die er zu dieser Frage konsultierte, bei der Beantwortung ebenfalls unsicher
war, stellte Thalloczy fest, daß es sich um Fragen handelte, zu deren exakter Beantwor¬
tung „wir unsere Zuflucht nur zu den Akten nehmen können".2.

   Diese Feststellung erinnert an Musils vielzitierten Ausspruch, „aber es bedurfte
trotzdem einer Geheimwissenschaft, um immer sicher unterscheiden zu können, welche
Einrichtungen und Menschen k. k. und welche k. u. k. zu rufen waren",3 nur stammt sie
diesmal - wenn auch in weniger geistreicher Formulierung - nicht von einem die
Monarchie überlebenden, ihr kritisch gegenüberstehenden Schriftsteller, sondern von
einem in ihrem Dienst stehenden, sich mit ihr identifizierenden Amtsträger. Thalloczy
hatte - unseres Wissens - schließlich dieses auf Akten beruhende Handbuch des
Staatsrechtes nie geschrieben.

                                                                           *

   In den Gesetzen von 1867, mit welchen die Institution des gemeinsamen Ministerra-
tes geschaffen wurde, waren Begriff, Kompetenzbereich und Zusammensetzung des
gemeinsamen Ministeriums bekanntlich absichtlich nicht näher beschrieben,4 sondern
lediglich festgehalten: ,3s ist ein gemeinsames Ministerium für die Bereiche aufzustel-

1 2m den Aktivitäten Lajos Taltöczys (1857 -1916) vgl Kärolyi, Thallöczy Lajos «Siete & müköd&e.
2 Thallöczy an SektionschefLäszlö v. Müller v. 2. 7. 1904, HHStA., PA. I, Karton 623, IH/13. Thallöczy

    ersuchte auch Legationsrat v. Gagem und Sektionschef v. Mirey um Bat Beide nahmen jahrelang als
     Protokollfihrer an den Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates teil.
3 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften 33.
4 ZurEntstehung undArbeit desgemeinsamen Ministerrates vgl. Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsa¬
    men Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges. DiefolgendenAusführungen stützen sich
     aufdiese grundlegende und hervorragende Studie von Miklös Komjäthy.
|| || Vffl  Einleitung

len, die ... in Wirklichkeit gemeinsam sind."5 Das waren die auswärtigen Angelegen¬
heiten, das Kriegswesen und das Finanzwesen rücksichtlich der gemeinschaftlich zu
bestreitenden Auslagen. Im § 8 wurde zwar festgehalten, daß der Außenminister nur
„im Einvernehmen mit den Ministerien beider Seiten und mit deren Zustimmung"
vergehen durfte und das gemeinsame Ministerium „das gemeinsame Budget unter der
Mitwirkung beider verantwortlichen Ministerien zusammenstellen wird", was aber z. B.
.Mitwirkung" bedeutete und wie die beiden verantwortlichen Regierungen diese auch
geltend machen konnten, blieb juristisch ungeklärt. In seiner Studie über die Entstehung
des gemeinsamen Ministerrates schreibt Komjäthy, daß der Begriff „gemeinsamer
Ministerrat" lediglich die gemeinsamen Minister umfaßte, obwohl nach 1869 zum
gemeinsamen Ministerrat auch die Ministerpräsidenten und Mitglieder der ungari¬
schen und der österreichischen Regierungen oft eingeladen worden waren, wenn
konkrete Fragen es erforderten; dadurch waren sie noch nicht als ständige Mitglieder
des gemeinsamen Ministerrates zu betrachten.6 Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb
indes Thallöczy, es könne sich niemand daran erinnern, daß sich die drei gemeinsamen
Minister direkt zu gemeinsamen Beratungen versammelt hätten.7 Dennwas dürfen wohl
die gemeinsamen Angelegenheiten gewesen sein, über die sich die drei Minister zu
beraten hatten? Die gemeinsamen Finanzen vielleicht? Das gemeinsame Budget wurde
zwar vom gemeinsamen Finanzminister zusammengestellt, da jedoch die Eintreibung
der Finanzmittel in Ungarn Aufgabe des ungarischen Finanzministers und in Österreich
die des dortigen Fachministers war, nahmen selbstverständlich auch sie an den Bera¬
tungen teü. „Was ferner die Feststellung einer Richtung z. B. in der äußeren Politik
anbelangt, so wird auch diese nicht von den gemeinsamen Ministem entschieden, da
die Ministerpräsidenten der beiden Staaten auf sie einen Einfluß haben, und auch die
Feststellung der Erfordernisse der Kriegsverwaltung, kurz die in die Kompetenz des
Kriegsressorts gehörenden Angelegenheiten, werden in der Praxis ganz anders erle¬
digt."8

   Versuchen wir nun nach diesen bis zu einem gewissen Grad widersprüchlichen
Meinungen vor allem die Frage zu beantworten, wer wohl die Mitglieder (Teilnehmer)
des gemeinsamen Ministerrates in den in der vorliegenden Studie untersuchten zwölf
Jahren waren.9

   Den gemeinsamen Ministerrat berief der Außenminister in seiner Eigenschaft als
Vorsitzender des gemeinsamen Ministerrates ein, selbst dann, wenn beim gerade
einberufenen Ministerrat nicht er, sondern der Kaiser und König den Vorsitz führte.
Er bestimmte grundsätzlich, wer am gemeinsamen Ministerrat teilnahm. In der Einla-

5 GA XII/1867, § 27.
6 Komjäthy, Die Enstehungdes gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeitwährend des Weltkrieges

    30-
^ Darin int Thallöczy.
8 Thallöczy an Sektionschefv. Müller, siehe Anm. 2.
9 In der Mer untersuchten Periode zwischen 1896 und 1907fanden 77 Ministerratssitzungen statt Gesichtet

     wurden dieProtokolle dieserSitzungen unddasMaterialzur Vorbereitung desMinisterrates in den Beständen
    des HHStA, PA, sowie in den Beständen des KA, MKSM. und die Präsidialakten des KM.
|| || Einleitung  IX

düng des Außenministers war von einer .^Besprechung der gemeinsamen Minister"10
die Rede, wenn nur die gemeinsamen Minister eingeladen wurden, und von einer
„gemeinsamen Ministerkonferenz",11 wenn die beiden Ministerpräsidenten und even¬
tuell auch andere Mitglieder der österreichischen und der ungarischen Regierung zu
den Beratungen geladen waren. In der hier untersuchten Periode fanden lediglich fünf
Beratungen statt, an denen die beiden Ministerpräsidenten nicht teilnahmen.12 Bei
diesen Anlässen trafen sich die gemeinsamen Minister zu Vorbesprechungen über das
gemeinsame Budget. Der Außenminister „leitet die Beratungen mit dem Hinweise
darauf ein, daß es ihm wünschenswert geschienen habe, über das Budget pro nächstes
Jahr zunächst das Einvernehmen seiner gemeinsamen Ministerkollegen zu pflegen".13
Obwohl die Praxis zeigte, daß der gemeinsame Ministerrat tatsächlich eine Beratung
der gemeinsamen Minister und der beiden Ministerpräsidenten war (der gemeinsame
Finanzminister und der gemeinsame Kriegsminister blieben dem gemeinsamen Mini¬
sterrat häufiger fern als die beiden Ministerpräsidenten; der Finanzminister sechzehn-,
der Kriegsminister vierzehnmal), wurden die beiden Ministerpräsidenten dennoch
nicht als Mitglieder der gemeinsamen Regierung betrachtet. Es wird ein gemeinsamer
Ministerrat einberufen, schrieb Bolfras, Vorstand der Militärkanzlei, an den Kaiser, an
dem auch der ungarische Ministerpräsident teilnehmen wird;14 eswird ein gemeinsamer
Ministerrat unter Teilnahme der gemeinsamen Minister und der beiden Ministerprä¬
sidenten abgehalten, schrieb der gemeinsame Außenminister Aehrenthal.15 Das Proto¬
koll des bedeutenden Ministerrates vom 22. August 1905 beginnt mit den folgenden
Sätzen: .AUerhöchstdieselben hätten die gemeinsamen Minister sowie die beiden
Ministerpräsidenten zu einer Konferenz zusammenberufen, um die Situation in Ungarn
zu besprechen."16 Gohichowski fühlte sich veranlaßt, zu dieser Frage prinzipiell Stel¬
lung zu nehmen: „Bei jenen Ministerberatungen, an welchen außer den gemeinsamen
Ministem auch die beiden Ministerpräsidenten und eventuell einzelne Ressortminister
teilnehmen, denen man aber den Namen eines »gemeinsamen Ministerrates', streng
genommen, kaum beüegen kann ..."17 Nach all dem kann man nun die Frage stellen,
warum es für Thalloczy - und unabhängig von ihm auch für uns - eine Grundsatzfrage
ist, ob die beiden Ministerpräsidenten der gemeinsamen Regierung angehörten?

   In der dualistischen Staatskonzeption, vorwiegend aber in deren ungarischer (mithin
ursprünglicher) Variante, war bekanntlich die Existenz der über den beiden Staaten
stehenden Gesamtmonarchie negiert. Daraus folgt nun, daß sie keine gemeinsame

10 Gotuchowskian Krieghammer undKällay v. 4.4.1901, HHStA., PA. I, Karton 621,99/CdM.; Gotuchowski
     an Krieghammer und Källay v. 12.3.1902, ebd., 53/CdM.

11 Im allgemeinen wurde diese Einladungsformel gebraucht. Es erübrigt sich, an dieser Stelle die Reihe der
    Einladungen anzußhren, die in HHSrA., PA I, Karton 621 (1901-1906) und Karton 624 (1906-1915)
     einzusehen sind.

12 GMR. v. 17.9.1897, GMCZ. 404; GMR. v. 21.3.1898, GMCZ. 408; GMR. v. 23.3.1900, GMCZ. 418; GMR.
    v. 8.4.1901, GMCZ. 431, und GMR. v. 14.3.1902, GMCZ 435.

13 In den oben zitierten Ministerratssimmgen bediente man sichfast wortwörtlich derselben Formel.
14 Bolfras an Se. Majestät v. J. 3.1899, KA, MKSM. 20-1/1/1899.
15 Aehrenthal an den gemeinsamen Kriegsminister v. 28 11.1907, HHSrA, PA I, Karton 624,706/CdM.
16 GMR. v. 22.8.1905, GMCZ 450.
17 Gotuchowski an Bänffy v. 7.9.1895, HHStA., PA XL, Karton 213, Liasse XXX, Nr. 196.
|| || X Einleitung

Regierung als Körperschaft18 und vor allem kein Reichsparlament, sondern lediglich
gemeinsame Minister zur Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten kannte; statt
des Reichsparlaments wurde die Institution der Delegationen konstruiert. „Der Regie-
rungscharakter, der dem gemeinsamen Ministerium nach der bürgerlichen Verfassung
nit-nm, ging, durch das Nichtvorhandensein eines parlamentarischen Gegengewichts
verloren. Dieses parlamentarische Gegengewicht hatten die für den Ausgleich eintre¬
tenden ungarischen Politiker absichtlich vereitelt Sie wußten sehr wohl, daß die
legislatorische Entsprechung der gemeinsamen Regierung nur ein Reichsparlament
sein konnte. Auf Regierungs- wie auf gesetzgeberischer Ebene wollten sie alles vermei¬
den, was auch nur den Anschein hätte erwecken können, über dem ungarischen Staat
stünde ein Reich."19 Eine Untersuchung der positiven und negativen Züge dieser
Konstruktion würde den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. Seit der Entste-
hnng des Ausgleichssystems wurde immer wieder auf einen für das ganze System
charakteristischen, grundsätzlichen Widerspruch verwiesen: In ihm wurde einerseits
die Schaffung und Erhaltung der Verfassungsmäßigkeit in Österreich und Ungarn
konsequent angestrebt, andererseits aber die verfassungsmäßige Behandlung der wich¬
tigsten p cichsangelegenheiten (nämlich der gemeinsamen Angelegenheiten) ausge¬
schlossen oder eingeschränkt, und zwar nicht nur wegen des mit dem Monarchen
zwangsweise geschlossenen Abkommens, sondern auch deswegen, weü dadurch die
Möglichkeit gegeben zu sein schien, Ungarns relative Selbständigkeit im dualistischen

Reich zu erhalten.
    Die gemeinsame Regierungwar in der Praxis keine „verantwortliche Regierung", da

 es kein gemeinsames Reichsparlament gab, obwohl im ungarischen Ausgleichsgesetz,
 § 39, die Verantwortung der gemeinsamen Minister, und in den §§ 50 und 51 auch die
 Bedingungen eines Gerichtsverfahrens gegen die gemeinsamen Minister festgelegt
 wurden. Die Delegationen hatten praktisch keine Möglichkeit, dem gemeinsamen
 Ministerium das Vertrauen zu entziehen und so die gemeinsamen Minister zu stürzen.20

 18 In derhieruntersuchten Periode wurde dieausfrüheren Zeiten bekannteDiskussion zwischen derungarischen
      und der gemeinsamen Regierung wieder aufgegriffen. Bänffyprotestierte (in einer Note an Gotuchowski v.
      19. & 1898) dagegen, daß das deutscheAuswärtigeAmt die Bezeichnung k. u. k. österreichisch-ungarische
      Regierung gebrauchte. Nach Bänffys Meinung gab es ein solches Organ nicht, da es für die gemeinsame
      Versehung einzelner Verwaltungszweige der Monarchie zwar ein gemeinsames Ministerium respektive
      drei gemeinsame Minister gebe, diese drei Ministerien zusammen aber keine Regierung bilden. Goiu-
       chowski wies aber Bänffys Protest zurück (26.10.1898). Seiner Auffassung nach waren Stand, Aufgaben
       und Befugnisse der gemeinsamen Minister exakt und gesetzmäßig beschrieben. Daran änderte sich nichts,
      wenn man die Bezeichnung Regierung oder irgendeinen anderen Ausdruck gebrauchte. Einer derArchitek¬
       ten des Ausgleichs, GyulaAndrässy, bediente sich, so argumentierte Goiuchowski, sowohl als ungarischer
      Ministerpräsident wie auch als Außenminister des Ausdrucks gemeinsame Regierung. Im Reskript des
       Monarchen an die Delegationen, das jeweils unter Mitwirkung der beiden Ministerpräsidenten, also seil
      Jahren unter derBänffys, abgefaßt wurde, war von der Reperung die Rede usw., HHSrA., PA. I, Karton
      630, 524/CdM. 1906 bestritt dann die ungarische Delegation abermals die Existenz der gemeinsamen
      Regierung. Vgl. Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit
      während des Weltkrieges 27-28.

  l® Ebd. 25.
  20 Im österreichischen Delegationsgesetz, §§16,17 und 18, wurde ebenfalls festgehalten, daß die gemeinsame

       Regierungzur Verantwortunggezogen werden kamt. DasDurchführungsgesetz wurdejedoch nur in Aussicht

      gestellt, RGBl. Nr. 146/1867.
|| || Einleitung  XI

   Dennoch beriefen sich die gemeinsamen Minister häufig und mit Überzeugung auf
ihre „Verantwortung".21 Gerade weil die parlamentarische Verantwortung der gemein¬
samen Minister (gegenüber den Delegationen) in der Praxis nicht zur Geltung kam, war
unseres Erachtens die Teilnahme der Ministerpräsidenten der beiden verantwortlichen
Regierungen am gemeinsamen Ministerrat von entscheidender Bedeutung. Durch ihre
Person konnte die parlamentarische Kontrolle zumindest indirekt zur Geltung
kommen. Das wurde auch in den Gesetzen verankert,22 und die Ministerpräsidenten
beriefen sich immer wieder - wenn sie sich dem einen oder anderen Anspruch der
gemeinsamen Regierung entgegenstellen wollten - darauf, daß sie vor dem Parlament
auch für die gemeinsamen Angelegenheiten verantwortlich seien.23

   Die Verantwortlichkeit der gemeinsamen Regierung war zweifelsohne unsicher. Es
hing von der augenblicklichen politischen Konstellation ab, ob die beiden Landesregie¬
rungen ihren verfassungsmäßigen Einfluß auf die gemeinsamen Angelegenheiten
geltend machen konnten. Als Außenminister Kalnoky wegen Differenzen zwischen ihm
und der ungarischen Regierung im Jahre 1895 um seine Entlassung bat, begründete er
seinen Schritt damit, „daß der Herr Ministerpräsident [Bänffy] seine Stellung in Ungarn
dadurch zu stärken beabsichtigte, daß er den verfassungsmäßigen Einfluß der ungari¬
schen Regierung auf die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten stärker zum Aus¬
druck bringen will als seine Vorgänger". Kalnoky zweifelte mithin nicht daran, daß der
ungarische Ministerpräsident verfassungsmäßigen Einfluß auf die gemeinsamen Ange¬
legenheiten nehmen durfte, er protestierte lediglich gegen die Übertreibung dieser
Einflußnahme, d. h. dagegen, daß Bänffy „seine Selbständigkeit gegenüber Wien" zu
stark herausstrich.24

   Einen Monat später billigte der unter Teilnahme, des Kalnoky-Nachfolgers Gohi-
chowski abgehaltene erste gemeinsame Ministerrat eine Deklaration über die soeben
überwundene Ministerkrise, in der festgehalten wurde: „Die Verantwortung für die
Leitung der auswärtigen Politik und die Gestaltung der internationalen Beziehungen

^ Der gemeinsame Außenminister Kälnoky beschwerte sich 1884 beim Monarchen und bat diesen um seine
     Demission. Als Begründung gab er an, die ungarischen Politiker hätten seine Außenpolitik nicht in der
     Delegation kritisiert, wo er als verantwortlicherMinisterdasRecht und diePflichtgehabthätte, sich zu seinem
    Schritt zu bekennen, sondern unzulässigerweise im ungarischen Parlament. Kälnoky an Se. Majestät v. 13.
    10.1884 (Telegramm), HHStA., PA. I, Karton467, Liasse XXJC-Nichtvon ungefährerachtete eine Gruppe
     österreichischerAbgeordnetergeradezurZeit derParalysierung desganzenparlamentarischen Mechanismus
     eine neuerliche und eindeutige Festlegung derparlamentarischen Verantwortung dergemeinsamen Minister

    für aktuell. In dieser Frage interpellierte Lorbeer in Vertretung der Volkspartei im April 1898 Thun an
    Gotuchowskiv. 13.4.1898 HHStA., PA. I, Karton 633,222/CdM.; Kolmer, Parlament und Verfassung
    in Österreich, Bd. 7 64-65.
22 GA. XII/1867, §§ 8,16 und 24.
23 GMR. v. 13. & 1897, GMCZ. 403. Der ungarische Ministerpräsident Bänffy: Jedenfalls obliege den
    beiderseitigen Regierungen die Verantwortung für jedwede Bedeckung, also auch für jene aus den
    gemeinsamen Aktiven, gegenüber den Parlamenten, und könne daher eine Teilung dieser Verantwor¬
    tung mit der gemeinsamen Regierung nicht eintreten. Zu derselben Frage Bänffy: GMR. v. 14.1.1897,
     GMCZ. 396; der ungarische Ministerpräsident Istvän Tisza: GMR. v. 16.4.1904, GMCZ 442.
24 Demissionsgesuch Kälnokys v. 2.5.1895, HHStA., PA. XL, Karton 213.
|| || xn Einleitung

trifft allein den gemeinsamen Minister.. ."2S Diese Deklaration, die mit den 67er Geset¬
zen nicht völlig im Rinklang stand, wurde einstimmig angenommen. Die Teilnehmer,
auch die beiden Ministerpräsidenten, erhoben keinen Einwand, obwohl aus dem Text
der Protokolle eindeutig hervorgeht, daß die hier angenommene Enunziation als eine
auch für die Zukunft gültige Präzedenz galt.

    Die Dinge lagen nun ganz und gar nicht eindeutig, und selbst dieser Auftakt von
Gohichowski bedeutete nicht, daß er im Laufe seiner weiteren Tätigkeit an dieser
ersten Deklaration strikt festhalten würde.

    Bei der Lektüre der Ministerratsprotokolle fällt der Unterschied zwischen den
Ministerratssitzungen auf, an denen lediglich die gemeinsamen Minister teilnahmen,
und jenen, wo auch die beiden verantwortlichen Regierungen vertreten waren.

    Im ersten Fall springt der in absolutistischen Staaten übliche Charakter der Regie¬
rung als beratende Körperschaft des Herrschers ins Auge. Die .Besprechung" der
gemeinsamen Minister war eine interne Beratung, bei der die Interessengleichheit der
Teilnehmer vorausgesetzt wurde und ihre Meinungen vor allem in Verfahrensfragen
differierten. Wenn an den Beratungen auch die Mitglieder der beiden Landesregierun¬
gen rückte die Frage, wie sie ihre Absichten bei den verfassungsmäßigen
Körperschaften durchsetzen konnten, in den Vordergrund. Die gemeinsamen Minister
waren dabei nicht mehr Berater des Herrschers, sie fungierten vielmehr als Vermittler
 zwischen den in der Monarchie stets aufeinanderprallenden drei verschiedenen Inter¬
 essen: nämliVh den Interessen des Reiches und der beiden Staaten, die in der Praxis
 häufig miteinander und mit denen des Gesamtreiches kollidierten.

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     Schlüsselfigur des gemeinsamen Ministerrates war der gemeinsame Außenminister,
 der einzige Politiker, der an allen Konferenzen teilnahm; er war gleichzeitig auch
 Vorsitzender des gemeinsamen Ministerrates. Woher kam diese seine Funktion, und
 warum fiel diese Rolle gerade ihm zu? Die lapidare Antwort, weü der Kaiser und König
 ihn ernannte, istvöllig zutreffend und im wesentlichen auch ausreichend. Im Statut über
 die Bildung der Präsidialsektion des gemeinsamen Außenministeriipns aus dem Jahre
  1867 stand bereits: Reichskanzler, „welcher im Reichsministerrate den Vorsitz führt".26
 Andrässy und seine Nachfolger als Außenminister wurden von Franz Joseph mit der
 Formel „Ich ernenne Sie zum Minister Meines Hauses und des Äußern und betraue Sie
 mit dem Vorsitze im gemeinsamen Ministerrate" ins Amt eingeführt.27

     Im Habsburgerreich galt der Außenminister als Staatsbeamter Nummer eins. Die
  erste Klasse der offiziellen Rangliste wurde eigens für ihn geschaffen, die beiden
  anderen gemeinsamen Minister sowie die Ministerpräsidenten Österreichs und

  25 GMR. v. 1. 6.1895, GMCZ. 389, HHStA., PA XL, Karton 297.
  2« Notizdes Setaionschejsv. MüllerüberdieBedeutungdes Titels Vorsitzender im gemeinsamen Ministerrate

       v. 7.8.1904, HHStA, PA I, Karton 623, III/13,410/CdM.
   27 HHStA, Kab. A, Geheimakten, Karton 40 (Ministerwechsel der gemeinsamen Minister).
|| || Einleitung  xm

Ungarns wurden in die zweite Rangklasse abgedrängt.28 Allein deswegen gebührte dem
Außenminister die Rolle des Vorsitzenden bei den Ministerberatungen. Darüber
hinaus war er auch Minister des kaiserlichen Hauses, und in dieser seiner Eigenschaft
kam ihm die Aufgabe zu, die Dynastie zu repräsentieren, die Rechte der Dynastie zu
schützen und die inneren Fehden und Konflikte zwischen den verschiedenen Teüen der
Monarchie zu bewältigen.29 Die Außenminister haben diesen doppelten Charakter
ihrer Funktion (Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern) unterschiedlich
ausgelegt. Im Zeitalter des Absolutismus konnte und durfte der Außenminister eine
eigene Vorstellung von der Gestaltung der inneren Verhältnisse im Reich haben (man
denke nur an Beust oder an Schwarzenberg!), im Zeitalter des Konstitutionalismus (der
Doppelmonarchie) gebührte sich dies nicht. Aehrenthal hat seine Ansicht, für den
österreichischen Außenminister wäre das Amt des Reichskanzlers - wenn auch nicht
de jure, so doch de facto - unbedingt die einzig angemessene Stellung, gewiß nicht in
der Öffentlichkeit geäußert.30 Daß Franz Joseph zu Beginn der neuen Ära Beust, der
damals den Titel Reichskanzler führte, selbstverständlich mit dem Vorsitz des als
Reichsministerrat bezeichneten gemeinsamen Ministerrates betraute, war offensicht¬
lich auf die Traditionen des absolutistischen Zeitalters, also darauf zurückzuführen, daß
der Minister des kaiserlichen Hauses zugleich der Repräsentant der Dynastie und der
erste Mann des Reiches war, mit einem nicht genau definierten Kompetenzbereich
ausgestattet, aber unbedingt auch zuständig für die inneren Angelegenheiten.

   Diese Tradition stand offenkundig im Gegensatz zu der gesetzmäßigen Bestimmung,
daß das gemeinsame Ministerium „die Angelegenheiten der Landesregierung weder
des einen noch des anderen Teüs verwalten, auf sie keinen Einfluß nehmen darf".31 Sie
stand auch im Gegensatz zu dem Bestreben, daß es keine gemeinsame Regierung mit
einem Reichsministerpräsidenten an der Spitze geben sollte. Über diesen Widerspruch
waren sich die Zeitgenossen genau im klaren. 1895 interpellierte Ugron: Welches
ungarische Gesetz regle das Amt des Ministers des kaiserlichen Hauses sowie dessen
Befugnisse, und inwieweit ließe sich die Funktion des Vorsitzenden des gemeinsamen
Ministerrates daraus ableiten, daß der Außenminister zugleich Minister des kaiserli-

28 1873 wurden im Außenministerium neun Rangklassen eingeßhrt. Siehe Jahrbuch des k. u. k. auswärti¬
    gen Dienstes 1897 3; Matsch, Geschichte des auswärtigen Dienstes von Österreich (-Ungarn) 1720-
    192093-95.

29 Die Bedeutung des Titels Minister des k. u. k. Hauses wurde in einer kaiserlichen Entschließung v. 20.11.
    1893 bestimmt. GA. XII/1867zählt dieAngelegenheiten des kaiserlichen und königlichen Hauses unter den
     gemeinsamen Angelegenheiten nicht auf, diese Funktion des Außenministers gründet sich aufeiner kaiser¬
    lichen Entschließung aus der Zeit des Absolutismus (12:4.1852). Vgl. Komjäthy, Die Entstehung des
    gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges 36; Jahrbuch des k.u.k.
    auswärtigen Diensies 1897 3-4. Vgl. auch Tezner, Der Kaiser 194-195.

30 Wank, Zwei Dokumente Aehrenthals aus den Jahren 1898-99 zur Lösung der inneren Krise in Öster¬
    reich-Ungarn 346. Vgl. auchAehrenthalsPromemoria v. 23.10.1906, HHStA, Kab. A, Direktionsakten,
    Karton 15, Nr. 24/1906.

31 GA. XII/1867, §27.
|| || XIV  Einleitung

eben Hauses sei?32Am 28. Mai 1904 erhob Loväszy auf der Plenarsitzung der Delegation
Einwand dagegen, daß der Außenminister „Vorsitzender im gemeinsamen Minister¬
rat" war. Gotuchowski, dem es vor theoretischen Ausführungen und den juristischen
Kritteleien der Ungarn immer graute, entgegnete das einzig Mögliche, um nicht in die
Falle auswegloser staatsrechtlicher Widersprüche zu geraten: „Diesfalls ist hervorzu¬
heben, daß die gemeinsamen Ministerien kein organisches Kabinett büden und daß es
demzufolge auch keinen gemeinsamen Ministerpräsidenten gibt. Da aber bei den
gesetzlich vorgesehenen Beratungen des gemeinsamen Ministeriums jemand den
Vorsitz führen muß, so wurde seit Bestehen des gemeinsamen Ministeriums der jewei¬
lige Minister des Äußern speziell mit dem Vorsitz betraut... " Der ungarische Minister¬
präsident Istvän Tisza meinte: „Gemeinsame Ministerkonferenzen sind nötig. Das
gemeinsame Budget selbst kann laut GA. XII/.1867 allein auf der gemeinsamen Mini¬
sterkonferenz erstellt werden. Die Konferenz braucht selbstverständlich auch einen
Vorsitzenden, und ich glaube, es sei richtig, daß den Vorsitz nicht der eine oder der
andere Ministerpräsident, sondern eine gemeinsame Institution, der gemeinsame Mi¬
nister des Äußern, führt... Diese Praxis bestand seit 1867, und ich finde es nicht im
geringsten notwendig, eine Änderung welcher Art auch immer zu provozieren."33 Tisza
war sich offensichtlich dessen bewußt, daß die Funktion des Vorsitzenden des gemein¬
samen Ministerrates mehr war, als daß sie der eine oder andere Ministerpräsident
beliebig übernähme, daß den Vorsitz ein über den beiden Ländern stehender Mann
„des Reiches" führen sollte, auch wenn er dies vor der parlamentarischen Öffentlichkeit

nicht eingestehen durfte.
    Der Außenminister berief den gemeinsamen Ministerrat ein. In der Regel bestimmte

er auch dessen Thema und Teünehmer,34 obwohl auch der gemeinsame Kriegs- oder
Finanzminister, ja in mehreren Fällen auch der Ministerpräsident des einen oder des
anderen Staates eine gemeinsame Ministerkonferenz anregen durfte.35 Die Spezialab-

32 D. h., wenn die ungarischen Gesetze denRangMinisterdeskaiserlichen undköniglichen Hauses nichtkennen
    und dies wird weder in GA. m/1848 noch in GA. XH/1867, noch in GA. XVÜI/1889 erwähnt, so braucht
     man auch den Umstand nicht anzuerkennen, daß der Außenminister evidenterweise Vorsitzender des
     gemeinsamen Ministerrates ist Gotuchowski, der damals sein Amt alsAußenminister antrat, gab eine sehr
    charakteristische Antwort (Gotuchowski an Bänfly v. 7. 9.1895): Das Gesetz sei etwas Lebendiges, und es
    sei ein mit den konstitutionellen Rechten Ungarns nicht vereinbarer Mißgriff, wenn man bei Beurteilung
    gewisser Fragen nur auf die Gesetze, gleichsam wie ein Procrustes-Bett, alle öffentlichen Angelegenhei¬
    ten hineinzwangen wollte, ohne Rücksicht darauf, ob die betreffenden Fragen in diesen Gesetzen
    berücksichtigt werden oder nicht, HHSrA., PA. XL, Karton 213, Liasse XXX.

33 Siehe Anm. 26.
34 Im Ministerrat wurde gewöhnlichjeweils ein bestimmtes Thema behandelt, und von derfestgelegten Tages¬

     ordnung wich man nur bei besonderen Anlässen ab. Auf die Themen der einzelnen Ministerratssitzungen

     wird weiter unten noch ausführlicher eingegangen.
35 jn der Frage des außerordentlichen Militärkredits ergriff gewöhnlich der Kriegsminister die Initiative:

     Gotuchowskian beideMinisterpräsidenten v. 3.3.1899, HHStA., PA I, Karton 621,96/CdM.£rbeantragte
     die Sitzung über den Bau der militärisch wichtigen Eisenbahnstrecken: Pitreich an Gotuchowski v. 13.11.
     1905, ebd., 472/CdM. In der Frage der zu erwartenden Mehrausgaben der Marinesektion beantragte der
    gemeinsame Finanzminister eine Sitzung des gemeinsamen Ministerrates: Källay an Gotuchowski v. 2. 6.
     1897, ebd., Karton 656,269/CdM.Ähnlich auch die nachträgliche Billigung des Kredites betreffend: Källay
     an Gotuchowski v. 17. 2 1898, ebd., 77/CdM. Der österreichische Ministerpräsident erachtete es fir
|| || Einleitung  XV

teilung des Außemninisteriums (Kabinett des Ministers) befaßte sich auch mit einer
Reihevon Fragen, die ganz und gar nicht aus der Funktion des Außenministers, sondern
daraus erwuchsen, daß der Außenminister gleichzeitig auch Vorsitzender des gemein¬
samen Ministerrates war. Das Kabinett des Ministers war nach Beust,Jeeine Behörde
im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern eine Sektion innerhalb der Schranken des
von den Ungarn zugestandenen gemeinsamen Ministeriums des Äußern".36 Hier
wurden die Konferenzen der gemeinsamen Minister vorbereitet und die weiteren
Aufgaben infolge der Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates erledigt. Das „Kabi¬
nett" hatte die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates zu führen und zu verifizieren,
die Kontakte mit den Regierungen beider Staaten zu pflegen, die Delegationen einzu¬
berufen, deren Sitzungen vorzubereiten, in mancher Beziehung auch die Angelegen¬
heiten von Bosnien und der Herzegowina zu führen - alle typische Angelegenheiten des
Gesamtreiches.37 Die Existenz einer Reichskanzlei konnte in Abrede gestellt werden,
irgendeine Institution hatte aber dennoch die Angelegenheiten des de facto bestehen¬
den, über die/beiden Staaten gesteüten Gesamtreiches zu verwalten. Zwar hatten die
gemeinsamen Minister nach den 1867 formulierten Absichten kein organisches Kabi¬
nett gebUdet, dennoch äußertesich Andrässy auf der Ministerratssitzungvon 1876 nicht
eindeutig:„... nachdem es zweifelhaft ist, ob die gemeinsamen Minister korporativ ein
Ministerium bflden ...* 38 Man darf sich auf Andrässy als Rechtsquelle berufen, nicht
nur weü er notwendigerweise den Geist und nicht allein den Text der Gesetze von 1867
und die seinerzeit ischon zehnjährige Rechtspraxis kannte und sich zu diesen bekannte,
sondern auch deshalb, weü seine Äußerungen auch schon zu seiner Zeit als Rechtsquel¬
le betrachtet wurden. Es ist in der Tat nicht eindeutig, ob die gemeinsamen Minister
ein Kabinett büdeten, ob der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates als Reichs¬
minister zu betrachten war, daß aber derartige Tendenzen durch den Zwang der Praxis
zur Geltung kamen, liegt auf der Hand. Die gemeinsamen Minister waren zwar im Sinne
des Ausgleichs nur für ihre eigenen Angelegenheiten verantwortlich, für die Maßnah¬
men jedoch, die vom gesamten Ministerium einhellig beschlossen wurden, trugen sie
auch gemeinsam, d. h. korporativ, die Verantwortung.39 Und wahr ist auch, daß nicht
der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates „die gemeinsame Regierung" aufstell¬
te, daß die Entlassung oder der Rücktritt des einen oder anderen Ministers nicht von
seinem WUlen abhängig war, wie bei parlamentarischen Regierungen üblich. Der

     notwendig, in der Frage der stärkeren Absicherung der südwestlichen Grenze eine gemeinsame Ministerrats¬
    sitzung abzuhalten: Pitreich an Gotuchowski v. 24.11.1904, ebd., Karton 621,548/CdM. Der ungarische

     Ministerpräsident beantragte eine Ministerratssitzung über den Handelsvertrag mit Deutschland: Tisza an
    Gotuchowski v. 29.10.1904, HHStA., AR., F. 37, Karton 46, Deutschland 10, Nr. 194.
34 Zitiert nach Matsch, Geschichte des auswärtigen Dienstes von Österreich (-Ungarn) 1720-1920 93-95.
    Vgl. auch Goldinger, Die Zentralverwaltung in Cisleithanien - Die zivile gemeinsame Zentralverwal¬
    tung 174.
37 Über dieAufgabe des Kabinetts des Ministers siehe Musuun, Das Haus am Ballplatz 134-135; Bittoer,
    Das österreichisch-ungarische Ministerium des Äußern 832; Wiedermayer, Der Geschäftsgang des
    k. u. k. Ministeriums des Äußern 1908-1918133; Agenden des Kabinetts des Ministers zur Vorbereitung
    und Einleitung sowie zum Abschluß einer Delegationssession, HHStA, PA I, Karton 628, IV/7.
38 GMR. v. 18.5.1876, GMCZ. 177, HHSrA, PA XL, Karton 288.
39 GA XII/1867, § 27.
|| || XVI  Einleitung

Außenminister setzte aber unter die Ernennung der beiden gemeinsamen Minister
seine Paraphe,40 und die Entlassung des gemeinsamen Kriegs- oder Finanzministers
wurde ihm „als Vorsitzenden des gemeinsamen Ministerrates" mitgeteilt.41

   Der Außenminister führte den Vorsitz beim gemeinsamen Ministerrat, bei dem
Beschlüsse »inctimmig gefaßt werden mußten. Zu dieser einstimmigen Beschlußfas¬
sung hatte er selbst die Beratung zu führen, zwischen den Interessen zu vermitteln, die
Voraussetzungen für einen Kompromiß zu schaffen, und wenn anders nicht möglich,
so unter Berufung auf den kaiserlichen Willen. Er repräsentierte unter allen Umständen
das Reichsinteresse, die über den Ländern und den Ressorts stehenden Interessen der
Gesamtmonarchie, für die er zumindest dem Monarchen, der ihn ernannt hatte, unbe¬

dingt verantwortlich war.
    Der Kaiser und König selbst nahm an etwa einem Viertel der gemeinsamen Mim-

sterratssitzungen teü (an 20 von insgesamt 77 Sitzungen). Selbstverständlich führte er
dann auch den Vorsitz. Die Beratungen galten auch bei solchen Gelegenheiten als
 „Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten" (also nicht als Kronrat), und in der
Aufschrift des Protokolls stand dann zu lesen: „Unter dem Allerhöchsten Vorsitze
 Seiner Majestät des Kaisers undKönigs." Es überrascht nicht, daß in fünf dieser zwanzig

 Ministerratssitzungen die außerordentliche Heeresentwicklung,42 in fünf weiteren die
 Erhöhung des Rekrutenkontingents43 in einer der strategisch wichtige Eisenbahnbau44
 und zweimal die Errichtung der Honvedartillerie45 behandelt wurden - in insgesamt 13
 Ministerratssitzungen beriet man also ausdrücklich militärische Angelegenheiten. Zu
 diesen darf man noch drei weitere Ministerratssitzungen zählen, auf deren Tagesord¬
 nung die Aufstellung des gemeinsamen Budgets stand, dessen meistdiskutierter Punkt
 aber der Militärhaushalt war.46 In drei Ministerratssitzungen beriet man über staats¬
 rechtliche Probleme,47 und lediglich eine war anderen Fragen gewidmet.4* Im Zeitraum
 1896-1899, als der Ausbau des Heeres zentrales Thema des Ministerrates war, nahm
 der Monarch verhältnismäßig häufig an den Beratungen teü, in den darauffolgenden
 Jahren hingegen war er lediglich bei der Erörterung einzelner, außerordentlich wichti¬
 ger Angelegenheiten anwesend, als etwa die immer aussichtsloser gewordene Erhöhung

40 SieheAnm. 26.
41 Krieghammer an Gotuchowski v. 17. 12. 1902: Ich halte es für meine Pflicht, Eurer Exzellenz als

    Vorsitzendem im gemeinsamen Ministerrate ergebenst mitzuteilen, daß ich gestern Se. k. u. k. apost.
    Majestät au. meine Demission als Reichskriegsminister unterbreitet und auch die Ag. Zusage der

    Annahme derselben erhalten habe, HHSrA, PA I, Karton 630,624/CdM.
42 OMR. v. 29.8.1896, GMCZ. 393; GMR. v.31.1.1897, GMCZ. 400; GMR. v. 13.6.1897, GMCZ. 403; GMR.

    v. 23.4.1904, GMCZ. 444a, und GMR. v.` 5.5.1904, GMCZ. 445a.
43 GMR v.18.9.1896, GMCZ. 395; GMR v. 29.6.1899, GMCZ. 425; GMR v. 15.11.1899, GMCZ. 417; GMR

     v. 29.11.1901, GMCZ. 434, und GMR v. 3. 4.1902, GMCZ. 438.
44 GMR v.31.1.1897, GMCZ. 401.
45 GMR v. 23.4.1904, GMCZ. 444b, und GMR v. 5.5.1905, GMCZ. 445b.
*6 GMR v. 16.4.1896, GMCZ. 391; GMR v. 10.10.1897, GMCZ. 407, und GMR v. 5.4.1898, GMCZ 412.

47 Zu den staatsrechtlichenKonsequenzen derAnnexion Bosniens: GMR v. 30.81896, GMCZ 394, und GMR

      v. 31.1.1897, GMCZ 402. Zur ungarischen Krise: GMR v. 22. 8.1905, GMCZ 450.

48 GMR v. 29. & 1898, GMCZ 413 (zur Frage der serbischen Staatsanleihe).
|| || Einleitung  XVII

des Rekrutenkontingents, die Aufstellung einer Honvedartillerie oder die Ungarnkrise
von 1905 vor den gemeinsamen Ministerrat gebracht wurden.

    Der Monarch nahm nur an sorgfältig vorbereiteten Ministerratssitzungen teil, denen
in der Regel eine oder mehrere Ministerratssitzungen49 oder zumindest eine „vertrau¬
liche Besprechung" der Minister vorausgingen,50 wobei die Minister in der behandelten
Angelegenheit bereits eine völlige oder fast völlige Einigung erzielt hatten.

    In den meisten Fällen forderte und erhielt Franz Joseph Auskunft über die Streit¬
fragen, legte seinen eigenen Standpunkt nicht dar, faßte höchstens als Vorsitzender der
Beratungen die Ansichten anderer zusammen und erläuterte diese. Der gemeinsame
Ministerrat fungierte in diesen Fällen als Informator des Kaisers. Gohichowski berich¬
tete, wie weit man bei den vorangegangenen Besprechungen gekommen war, oder der
Kaiser rekapitulierte unter dem Hinweis, er habe die Protokolle studiert, den Stand der
Dinge und forderte weitere Informationen an. Bei solchen Anlässen galt der gemeinsa¬
me Ministerrat als ein feierlicher Akt und diente dazu, im Monarchen den Eindruck zu
erwecken, die Angelegenheiten seien erledigt - er bedankte sich für die Information
und forderte die beiden Ministerpräsidenten auf (insbesondere in der Frage des
gemeinsamen Budgets), wie üblich zu handeln, damit die Delegationen den Minister-
ratsbeschluß billigten.

   Bei einigen Beratungen waren aber die Rollen vertauscht, der Kaiser agierte als
Initiator und Informator. Ein bezeichnender Fall dafür war die Frage der Erhöhung des
Rekrutenkontingents und des außerordentlichen Militärkredits. Bei diesen Beratungen
sprach der Herrscher (auch wenn er dabei mit keinen neuen, überraschenden Fakten
aufwartete) von der bedrohlichen außenpolitischen Lage der Monarchie. Hier sei auch
die Debatte über die AufsteUung einer Landwehrartillerie genannt, in der er die
Entwicklung der Landwehr und die Rolle Ungarns in der Doppelmonarchie hervorhob
und darauf verwies, wie weit er seine persönliche Meinung über die Institution der
Honvedarmee geändert habe. Bei diesen Ministerratssitzungen standen also militäri¬
sche Angelegenheiten zur Debatte, in denen der Monarch einen persönlichen Stand¬
punktvertrat, nicht nur,weü er sichfür dieseFragen interessierte, sondern auchin seiner
Funktion als oberster Kriegsherr. Auf diesen Beratungen kam bezeichnenderweise auch
die wohlbekannte Beschwerde des Kaisers zur Sprache, daß er der einzige sei, der
jederzeit die „Interessen des Reiches" zu vertreten, die „Verantwortung" für die
Interessen des Reiches zu tragen habe, die Minister hingegen könnten gerade unter dem
Hinweis auf ihre parlamentarische Verantwortung schlicht und einfach zurücktreten.51

49 GMR v. 16.4.1896, GMCZ. 391; GMR. v. 30.8.1896, GMCZ. 394; GMR v. 31.1.1897, GMCZ. 400; GMR.
    v. 31.1.1897, GMCZ. 401; GMR v. 10.10.1897, GMCZ 407, und GMR v. 5.4.1899, GMCZ 412.

50 Hierauf verweist die Beratung ebenso wie in anderen Fällen auf den gemeinsamen Ministerrat. Die Ein¬
     ladung zur vertraulichen Besprechung ist in den Akten genauso zu finden wie auch die Einladung zum
    gemeinsamen Ministerrat Siehe GMRProt. v. 29.8 1898, GMCZ 413, Anm. 1.

51 K k. Finanzminister Böhm war nicht bereit, den aus konstitutioneller Sicht umstrittenen Kreditaufnahme¬

     vertrag derKriegsverwaltung zu unterstützen, deswegen ersuchte er angesichts derEmpörung des Monarchen
    um seine Demission (GMR v. 23. 4.1904, GMCZ. 444a), diejedoch der Monarch selbstverständlich nicht
     annahm. K k. Ministerpräsident Koerberprotestierte gegen die Aufstellung der ungarischen Honvidartille-
    rieregimente und ersuchte um seine Demission, GMR v. 5.5.1904, GMCZ. 445b; der Monarch schlug aber
    Koerbers Bitte aus.
|| || XVffl  Einleitung

Daß ein Minister, der die Politik des Reiches mitzutragen nicht bereit war, das Recht
hatte zurückzutreten, akzeptierte Franz Joseph 1900 ebensowenig (er hielt es für die
Kaprize eines Zivilisten) wie schon Anfang der 50er Jahre.

   Der Kaiser nahm am gemeinsamen Ministerrat nicht nur durch seine physische
Anwesenheit teü. Gohichowski berief sich mehrfach darauf, wie wichtig der Herrscher
eine Angelegenheit emschätzte, d. h. er übte mit dem ausdrücklichen Wunsch des
Kaisers eine Pression auf jene aus, die Widerstand leisteten.52 Und schließlich wurden
alle Ministerratsprotokolle dem Herrscher vorgelegt. Am Ende jedes Protokolls steht
der stereotype Satz: „Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen."
Dieser Akt war mehr als bloße Information. Die Reinschrift des Protokolls, die man
zuvor unter den Ministem hatte zirkulieren lassen und die ihre Unterschrift als Zeichen
ihrer Zustimmung trug, wurde Franz Joseph wie die au. Vorträge vorgelegt, wobei nur
solche Vorträge unterbreitet werden konnten, die dann vom Herrscher auch gebilligt
wurden. Und wenn auch nicht auf die Debatte selbst, auf den Stü der Protokolle hat
sich die Tatsache der Unterbreitung unbedingt ausgewirkt, schrieb Rumpler.53 Hier
ging es jedoch unseres Erachtens um mehr. Die Beratungen der Minister dienten -
ungeachtet ihres vertraulichen Charakters - nicht nur dem Austausch von Ansichten,
der Koordinierung von Standpunkten, sie gaben auch der feierlichen Deklarierung von
Standpunkten Raum. Das Protokoll war nicht einfachem Promemoria, sondern auch
eine Rechtsgarantie für die Teilnehmer zur Rechtfertigung des eigenen Standpunktes
vor ihren Ministerkollegen und zumindest indirekt vor der parlamentarischen Öffent¬
lichkeit. (Auf diese Frage wird in der Folge noch eingegangen.)

    Die Reihenfolge, in der die Rolle der Ministerratsteilnehmer in der vorliegenden
Studie untersucht wird, ist gleichzeitig auch eine nach Wichtigkeit geordnete: Der
Kaiser und König, der gemeinsame Außenminister und die beiden Ministerpräsidenten
waren die wichtigsten Faktoren des Ministerrates. Aufgabe der gemeinsamen Finanz-
und Kriegsminister war es, den Vorsitzenden des gemeinsamen Ministerrates zu unter¬
 stützen, ihm fachliche Hilfe zur Bestätigung seiner Argumente zu leisten. Es fand sich
 kein einziges Beispiel dafür, daß die gemeinsamen Minister im gemeinsamen Minister¬
 rat eine meritorische Diskussion geführt hätten (auch dann nicht, wenn sie unter sich

 waren).54
    Der gemeinsame Finanzminister war ständiges Mitglied des gemeinsamen Minister¬

 rates, er blieb lediglich einigen Beratungen über ausgesprochen militärische Fragen und

52 Der Außenminister berief sich auf den ausdrücklichen Wunsch des Kaisers, um die Billigung der beiden
    Ministerpräsidenten zu erhalten: GMR. v. 22. 9.1900, GMCZ. 423; GMR. v. 7.10.1900, GMCZ. 425, und
    GMR v. 15.4.1904, GMCZ. 441. Er beriefsich gleichfalls in der Frage des dalmatinischen Eisenbahnpro¬
    jektes aufden Wunsch des Kaisers: GMR. v. 25.11.1905, GMCZ 433. Vor dem Ministerrat wandte sich der
     Kaiser mit dem Wunsche an die beiden Ministerpräsidenten, die auf die Tagesordnung des Ministerrates
     gesetzte Erhöhung der Beamtenbezüge zu unterstützen: GMRProt. v. 27.10.1907, GMCZ 464, Anm. 9.

53 Rumpler, Zur aktenkundlichen Beurteilung der österreichischen Ministerratsprotokollc 44. (Rumpler
    verweist Mer vor allem aufdie Ministerratssitzungen zur Zeit desAbsolutismus.) Vgl. auch Goldinger, Zur
    aktenkundlichen Beurteilung der österreichischen Ministerratsprotokolle 33-42. (Das in Klammem
     stehende Datum im Kopfregest der veröffentlichten Ministerratsprotokolle weist auf den Zeitpunkt der

     Unterschrift der Minister hin.)
54 Siehe Anm. 12.
|| || Einleitung  XIX

 jenen Ministerratssitzungen fern, in welchen eigentlich keine gemeinsamen Angelegen¬
heiten (also keine im Sinne der 67er Gesetze aus der Verteidigungsgemeinschaft
 erwachsene Angelegenheit), sondern sog. „paktierte" gemeinsame Angelegenheiten
wie etwa Handelsverträge oder staatsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem
wirtschaftlichen Ausgleich behandelt wurden. Die Doppelfunktion des gemeinsamen
Finanzministers (bis 1903 Kallay und dann Burian)55 stellt sich im folgenden dar: 1. Er
bereitete das gemeinsame Bugdet vor (dies war das wichtigste Thema des Ministerrates,
wie dies noch zu zeigen sein wird), d. h., bei ihm liefen die Vorschläge der einzelnen
Ressorts ein, die er zusammenfaßte und an die Teilnehmer des Ministerrates weiterlei¬
tete, und er sorgte auch für die Umarbeitung des Vorschlags im Sinne des Ministerrats¬
beschlusses. 2. Als Oberhaupt der Verwaltung der okkupierten Provinzen gehörten
selbstverständlich alle Bosnien und Herzegowina direkt betreffenden Angelegenheiten
in seinen Kompetenzbereich, wie das dortige Eisenbahnprojekt, die Angelegenheiten
im Zusammenhang mit der von Zeit zu Zeit aufgeworfenen Annexion und deren
staatsrechtlichen Folgen. Buriän galt als eine wortkarge, untergeordnete Figur des
gemeinsamen Ministerrates; Kallay hingegen, der über den Balkan eingp.hp.Tirt infor¬
miert war und diplomatische Erfahrungen hatte (nicht von ungefähr verwies er mit
Vorliebe darauf, daß er auch Erster Sektionschef des Außenministeriums war), wirkte
häufig so, als wäre er auch verantwortlicher Chef der auswärtigen Angelegenheiten der
Monarchie gewesen. Häufig verwies er auf Zusammenhänge der zu erwartenden
äußeren Bedingungen, die in den Erklärungen des Außenministers nicht angeschnitten
wurden. Zur Begründung des Eisenbahnbaus in Bosnien und der Herzegowina sprach
er so eingehend über die Perspektiven der außen- und wirtschaftspolitischen Bestre¬
bungen des Reiches, wie es der Außenminister zumindest in den von uns bekannten
Beratungen nur selten getan hatte.56 Er war es, der im gemeinsamen Ministerrat - fast
im Widerspruch zu Gohichowski - erstmals davon sprach, daß es ungeachtet des
bestehenden Dreibundes ernsthafte und konstante Gegensätze zwischen der Monar¬
chie und Italien gäbe.57 Gelegentlich verwies er nahezu als Entschuldigung darauf, daß
er sich durch seine Erfahrungen in Bosnien und der Herzegowina zu dieser oder jener
Einschätzung der Balkanverhältnisse veranlaßt sähe, andererseits aber hielt er es nicht
einmal für nötig, sich für die Überschreitung seines Kompetenzbereiches zu entschul¬
digen.58 Wurde die Funktion von ihrem jeweüigen Besitzer mit Inhalt erfüllt, oder war
das gemeinsame Ministerium doch eine Körperschaft, deren Mitglieder den Stand-

55 Benjamin Källay (1839-1903) war 1882-1903, Istvän Buriän (1851 -1922) 1903-1912 gemeinsamer
     Finanzminister.

56 Källay an beideMinisterpräsidenten v. 30.3.1900, KA., KM., Präs. 55-7/1/1900 (Abschrift). Original: OL.
     Sektion K-26, MR Nr. 1212/1900.

57 GMR.V. 29.1.1897, GMCZ. 397.

58 GMR. v. 14.1.1897, GMCZ. 396: Die mazedonische Bewegung könnte auch aufSerbien, Bulgarien und
    Montenegro übergreifen, und dann würde die Monarchie angemessene Schritte tun müssen, deshalb wäre
    die vom Kriegsminister beantragte außerordentliche Heeresentwicklung durchaus begründet, meinte Källay
    unter Berufung aufseine in den okkupierten Provinzen gesammelten Erfahrungen. GMR. v. 29.1.1897,
     GMCZ. 397: Er sprach von außenpolitischen Aspirationen Italiens, die Goluchowski trotz der diesbezügli¬
    chen Anfrage des ungarischen Ministerpräsidenten unerwähnt ließ. GMR. v. 3. 4.1898, GMCZ. 409: Källay
    sprach von den handelspolitischen Interessen der Monarchie aufdem Balkan usw.
|| || XX  Einleitung

punkt „der Reichsregierung" gegenüber den Kabinetten der beiden Staaten gemeinsam
gestalteten und auch gemeinsam vertraten? Das sind Fragen, auf die es vermutlich keine

eindeutigen Antworten gibt.
   Aufgabe des gemeinsamen Kriegsministers59 war es, über die müitärische Lage des

Reiches Rechenschaft abzulegen, die Heeresentwicklungspläne zwar auch politisch,
aber vorwiegend müitärisch zu begründen, und dies in einer auch für Zivüpersonen
verständlichen Weise. Der Ministerrat galt nämlich in den Augen der Müitärs als eine
zivüe Institution. Der ungarische Landesverteidigungsminister Fejerväry beklagte sich
des öfteren darüber, daß die Protokolle in müitärischer Hinsicht nicht fachgemäß
wären. Er drängte darauf, daß zu den Beratungen über militärische Fragen ein sach¬
kundiger Protokollführer bestellt würde,60 obgleich der Kriegsminister nicht der einzige
Militär war, der an Sitzungen der gemeinsamen Regierung teilnahm. Häufig war auch
der Marinekommandant dabei.61 Seine Lage war eindeutig: Sektionschef im Kriegsmi¬
nisterium; seine Rolle war die eines Fachmanns, der seine Befugnisse nie überschritt.62
Deswegen bestritt auch niemand seinen Platz im gemeinsamen Ministerrat. Ganz
anders verhielt es sich mit dem Generalstabschef. 1900 war sein Aufgabenbereich
folgendermaßen beschrieben: „An der Spitze des Generalstabes steht ein höherer
General, welcher den Titel .Chef des Generalstabes der gesamten bewaffneten Macht*
führt und persönlich unter den unmittelbaren Befehl Sr. k. u. k. apost. Majestät steht.
Der Chef des Generalstabes ist zugleich HUfsorgan des Reichskriegsministers, richtet
 als solcher seineAnträge an diesen, ist jedoch auch befugt, über wichtige, in das Ressort
 des Generalstabes gehörige Angelegenheiten im Wege des Reichskriegsministers an
 Se. k. u. k. apost. Majestät Vorträge zu erstatten und Anträge zu stellen."63 Ob der
 Generalstabschef schließlich „Hüfsorgan" des Kriegsministers oder selbständiger
 Machtfaktor war, entschied offensichüich nicht die an sich unterschiedlich auslegbare
 Bestünmung seines Kompetenzbereiches. Er war von Amts wegen ebenfalls Militärbe¬
 rater Nummer eins des Kaisers und nahm jederzeit Einfluß auf auswärtige Angelegen¬
 heiten. Die bekannte Geschichte, derzufolge führende Zivübeamte einmal beanstandet
 haben soüen, die Generäle machten ihre eigene Politik, worauf Franz Joseph entgeg-
 nete, der „Minister des Äußern und der Chef des Generalstabes müssen Hand in Hand
 arbeiten, soll etwas Gedeihliches herauskommen",64 stammt zwar hoch aus den Jahren
 des Absolutismus, die grundsätzliche Auffassung des Kaisers indes hat sich im Laufe

 der Jahrzehnte in dieser Angelegenheit wohl nicht viel geändert.

» Edmund v. Krieghammer (1832 -1906) war 1893 -1902, Heinrich v. Pitreich (1841 -1920) 1902 -1906,
    Franzv. Schönaich (1844 -1916) 1906 -1911gemeinsamerKriegsminister.Außer den Ministerratssitzungen,

     bei denen es um die Handelsverträge ging, blieb der Kriegsminister noch fünfweiteren Beratungen fern: dem
     GMR über den Eisenbahnbau in Bosnien am 7.10.1900, GMCZ. 425; dem GMR. über das Wirtschaftspro¬
     gramm der Regierung Fejerväry am 16.10.1905, GMCZ. 451; dem GMR. über staatsrechtliche Probleme

     des wirtschaftlichen Ausgleichs am 16.9.1907, GMCZ. 461; dem GMR. am 9.10.1907, GMCZ. 462, und

     dem GMR. am 13.10.1907, GMCZ. 463.
«o GMR. v. 22. 8.1905, GMCZ. 450.
61 Er nahm an 32 der 77 Ministerratssitzungen teil.
62 Sterneck, Erinnerungen aus den Jahren 1848-1897 286 ff.
63 Conrad, Aus meiner Dienstzeit 1906-1918, Bd. 145.
64 regele, Generalstabschefs aus vier Jahrhunderten 65.
|| || Einleitung                                                                         XXI

    Generalstabschef Beck hatte bekanntlich besonders enge, man könnte sogar sagen
menschliche Beziehungen zum Kaiser, und seine Macht wuchs insbesondere nach dem
Tod Erzherzog Albrechts (1895). Er wurde eigentlich aus der militärischen Hierarchie
gehoben und mit Rechten ausgestattet, die keinem seiner Vorgänger zugestanden
waren.65 Der Kaiser konnte wohl durch Order den Platz der Beamten in oder außerhalb
der militärischen Hierarchie bestimmen; in der Doppelmonarchie gab es aber eine
Sphäre, die nicht willkürlich, durch Allerhöchste Entscheidungen geformt werden
konnte. Während der Marinekommandant als einfacher Sektionschef am gemeinsamen
Ministerrat teilnahm, wo er die Ministerpräsidenten der beiden Staaten von der Wich¬
tigkeit der Flottenentwicklung überzeugen durfte, wenn er es vermochte, und auch in
den Delegationen, wie auch die gemeinsamen Minister, für seine Auffassung argumen¬
tieren konnte, hatten dazu die Generalstabschefs Beck und Conrad keine Möglichkeit.66
Der Generalstabschef gehörte dem gemeinsamen Ministerrat nicht an, wenn er auch
gelegentlich als auswärtiger Berater oder Informator eingeladen war. Beck beschrieb
die Grenzen seiner Handlungssphäre noch vor seinem Amtsantritt folgendermaßen:
„Der Generalstab bezeichnet, was im Kriege absolut erforderlich und was im Frieden
wünschenswert ist. Der Kriegsminister bezeichnet die Grenze des Gewährbaren, über
welche nicht hinausgegangen werden kann."67 Anders formuliert: Der Generedstabs¬
chef durfte großangelegte Pläne für die Heeresentwicklung aufstellen, in den finanziel¬
len Fragen der Durchführung war er aber machtlos. Damit soll nicht seine Macht in
Zweifel gezogen, sondern lediglich auf deren verfassungsmäßige Schranken verwiesen
werden. Becks persönlicher Einfluß hing offenkundig nicht davon ab, ob er der gemein¬
samen Regierung angehörte oder nicht. Nach Auffassung seines Biographen hatten
vermutlich Krieghammer und auch Pitreich ihre Ernennung ihm zu verdanken, denn
sie waren seine Gefolgsmänner. Als ihn Franz Joseph einmal bei einer militärischen
Übung in der Öffentlichkeit „seinen alten Freund" nannte - ein Attribut, mit dem er
übrigens nur gekrönte Häupter bedachte -, erhielt er solch ein politisches Gewicht, als
wenn er einen ständigen Platz im gemeinsamen Ministerrat gehabt hätte.68 Beck war
offenkundig auch nicht sonderlich um einen Platz im gemeinsamen Ministerrat bemüht.
Conrad hatte erreichen wollen, daß er zu den Ministerratssitzungen über Armeeange¬
legenheiten automatisch eingeladen wurde,69 doch Aehrenthal hatte dies abgelehnt. ,
Seiner Ansicht nach vertrat der Kriegsminister die Interessen der Armee in angemes¬
sener Form.70 Wie sehr ein persönlicher Konflikt hinter Aehrenthals prinzipieller
Ablehnung steckte, bleibt eine Frage, die eingehender zu behandeln wäre (weis aber

65 Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte 375-376.

66 Friedrich GrafBeck (1830 -1920) war 1881 -1906, Franz Graf Conrad v. Hötzendorf(1852 -1925) 1906 -

     1917 Chefdes Generalstabes.
67 Regele, Generalstabschefs aus vier Jahrhunderten 64.

68 Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte 365,401 und 420.

® Bolfras an Aehrenthal v. 26.3.1911, HHSrA., PA I, Karton 623, m/19, Nr. 746.

70 Se. Majestätforderte den Außenminister aufmitzuteilen, zu welchen Ministerratssitzungen er die Einladung

des Generalstabschefsfür zweckmäßig halte. Daraufantwortete derAußenminister: Aehrenthal an Bolfras

v. 22.10.1911, HHSrA, PA. I, Karton 623, m/19,423/CdM.                          '
|| || xxn  Einleitung

den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen würde). Jedenfalls wurde der Chef des
Generalstabes auch 1911 nicht Mitglied des gemeinsamen Ministerrates.

   Die beiden Landesverteidigungsminister nahmen an den Beratungen nur sehr selten

teil.71
   All das bedeutet nicht mehr, als daß die Militärs auf dem verfassungsmäßigen Forum

der gemeinsamen Regierung keine so große Rolle spielten, wie sie es sich gewünscht
hätten und wie sie ihnen Franz Joseph aufgrund seiner persönlichen Neigung und
Bereitschaft gewiß gegönnt hätte.

   In Wirklichkeit hatten sie das aber gar nicht nötig. In der Doppelmonarchie gab es
ein anderes Organ, das die Gesetze von 1867 zwar nicht anerkannten, das jedoch
unabhängig von den gesetzlichen Verfügungen existierte. Der gemeinsame Kriegsmini¬
ster, die beiden Landesverteidigungsminister und der Generalstabschef büdeten eine
Art gemeinsame Militärverwaltung. Den Vorsitz bei ihren Sitzungen führte oft der
Kaiser selbst. Die „müitärische Konferenz" behandelte ohne oder unter Hinzuziehung
von Fachleuten dieselben Angelegenheiten wie der gemeinsame Ministerrat. Ihre
Sitzungen wurden vom Vorstand der Militärkanzlei des Kaisers ebenso vorbereitet wie
der gemeinsame Ministerrat vom gemeinsamen Außenminister. Die Protokolle sind im
Bestand der Militärkanzlei oder des gemeinsamen Kriegsministeriums aufbewahrt.72
„Diemilitärische Konferenz" war nicht allein eine Fachberatung, in der -was allerdings
zu erwarten gewesen wäre - Militärexperten militärische Pläne besprachen (aber auch
dafür lassen sich natürlich zahlreiche Beispiele anführen). Bei den Konferenzen über
den Entwurf eines neuen Wehrgesetzes und die Frage der Erhöhung des Rekrutenkon¬
tingents wurde ein politischer Meinungsaustausch geführt Der Generalstabschef
warnte beispielsweise die Landesverteidigungsminister davor, unter den „chauvinisti¬
schen" Einfluß ihrer Regierungen zu geraten. ,insbesondere macht er noch auf die
Aspirationen zur Schaffung von Nationalarmeen aufmerksam, denen der Boden unbe¬
dingt entzogen werden muß, wenn die Monarchie nicht von ihrer Bedeutung als
Großmacht zu jener einer Sekundärmacht herabsinken soll." Und der ungarische
Landesverteidigungsminister Fejerväry warnte Beck, es wäre eine Illusion, daran zu
denken, daß die Bestrebungen, eine Nationalarmee aufzubauen, einfach aus der Welt
geschafft werden könnten. Diese Bestrebungen existierten, und sie machten darauf
aufmerksam, daß in militärischen Fragen der Standpunkt der beiden Landesregierun¬
gen zu berücksichtigen sei, daß man ohne sie einfach nicht handeln dürfe.73

71 Sie nahmen lediglich an sechs gemeinsamen Ministerratssitzungen teil, aufdenen die Erhöhung des Rekru¬
     tenkontingents bzw. bei derenAusbleiben die Einberufungder Ersatzreservisten zum Präsenzdienst behandelt
    wurden: GMR. v. 29.8.1896, GMCZ. 393; GMR. v. 29.6.1899, GMCZ. 41S; GMR v. 15.11.1899, GMCZ.
    417; GMR. v. 29.1L1901, GMCZ. 434; GMR. v. 3.4.1902, GMCZ. 438, und GMR v. 28.11.1904, GMCZ

     448.
72 Protokolle über die Beratung betreffend den Ausbau der Wehrmacht aufgrund eines neuen Wehrgesetzes v.

    18. und19.1.1896, KA., KM., Präs. 26-1/5/1896 (unterdem VorsitzdesKaisers). Ebenfallsunterdem Vorsitz
     des Kaisers: Beratung zur endgültigen Feststellung eines Gesetzentwurfes betreffend die Erhöhung des
    Rekrutenkontingents v. 15. '5.1896, ebd., MKSM. 20-1/1/1899; Beratung v. 6.1.1901, ebd., 20-1/2/1901;
    Beratungv. 21.9.1901, ebd., KM., Präs. 26-1/8/1901 kw.
73 Militärische Konferenz v. 19.1.1896, sieheAnm. 72.
|| || Einleitung  xxm

    Bei der Lektüre der Protokolle der militärischen Konferenzen fällt auf, daß sie nicht
(oder nicht nur) das Ziel hatten, die gemeinsamen Ministerberatungen in militärischer
Hinsicht vorzubereiten. Die militärische Konferenz war ein Forum, in dem die von den
beiden Regierungen und infolgedessen die durch beide Parlamente vertretenen Son¬
derinteressen nicht berücksichtigt zu werden brauchten, in dem die Reichsinteressen
unbeschadet vertreten werden konnten. Von den beiden Landesverteidigungsministem
erwartete man, daß sie auch gegenüber der eigenen Regierung politisch loyal zu den
Interessen der gemeinsamen Armee standen.

   Daß der gemeinsame Kriegsminister die beiden Landesverteidigungsminister auf¬
forderte, ihm zu helfen, den von den beiden Regierungen gleichermaßen geleisteten
Widerstand zu brechen,74 darf als selbstverständlich angenommen werden. Daß aber
von den beiden Landesverteidigungsministem gelegentlich sogar Geheimhaltung ge¬
genüber der eigenen Regierung verlangt wurde,75 beweist die Existenz einer besonderen
militärischen Verwaltung, die Existenz einer Verwaltung also, die vom Landesminister
unverhohlen verlangte, den Primat der Reichsinteressen anzuerkennen. Diese Praxis
stand im Widersprach zu den 67er Gesetzen. Es kam auch vor, daß der Vorstand der
Militärkanzlei die gemeinsamen Minister, die ansonsten vom Außenminister eingela¬
den wurden, zu einer Konferenz über militärische Angelegenheiten zusammenrief. Bei
solchen Gelegenheiten waren nur die gemeinsamen Minister und der Generalstabschef
anwesend, die beiden Ministerpräsidenten dagegen nicht. Diese Konferenzen wurden
als gemeinsamer Ministerrat behandelt und als solcher einberufen; dementsprechend
berief man sich auch später auf diese. Die Protokolle wurden aber nicht in der
Kabinettskanzlei, sondern im Kriegsministerium aufbewahrt, und auch die Überschrift
der Dokumente lautet anders.76 Hier handelt es sich offensichtlich nicht um Schlampe¬
rei bei der Bearbeitung von Akten oder um die Nachlässigkeit eines Archivars. Der
gemeinsame Ministerrat, den der Außenminister einberief, war unter Teilnahme der
beiden Ministerpräsidenten eine durch den Ausgleich geschaffene verfassungsmäßige
Institution mit einem von ihm festgelegten Aufgaben- und Rechtsbereich. Er hatte,
etwas vereinfacht formuliert, die Aufgabe, das gemeinsame Budget und das dieses
erläuternde außenpolitische Expose für das quasi-parlamentarische Forum, die Dele¬
gationen, vorzubereiten. Das Auftreten der beiden Ministerpräsidenten und auch das
der gemeinsamen Minister im gemeinsamen Ministerrat wurde dadurch beeinflußt, daß

74 Der Kriegsminister erarbeitete einen Vorschlag über die Erhöhung des Rekrutenkontingents. Der Entwurf
     wurde von beiden Regierungen abgelehnt Der Kriegsminister wandte sich daraufhin an die beiden Landes¬

     verteidigungsministerum Unterstützunggegen dieLandesregierungen: Krieghammeran beide Landesvertei¬
    digungsminister v. 7.11.1900, KA., KM., Präs. 26-1/1/1900.
75 Schlußpunkt der Entschließung der bereits erwähnten Beratungen v. 18. und 19.1.1896 (siehe Anm. 72):
    Die ganze Vorlage [es handelt sich um den Entwurfeines neuen Wehrgesetzes] ist bis aufweiteren Befehl
    Sr. Majestät selbst gegen die Regierungen geheimzuhalten.
76 Beratung v. 17. Z 1896, KA., MKSM. 20-1/3/1896. Wahrscheinlich eine Konferenz dieser Art war die
    Beratungv. 28. & 1896, ebd., KM., Präs. 16-19/4,5/1896. Siehe GMRProt. v. 29. & 1896, GMCZ. 393, Anm.
    1. Unter Hinweis aufdie Konferenz Krieghammer an Goiuchowski v. 17.8.1896, HHStA., PA. I, Karton
    656, XI-19/CdM. Eine ähnliche Konferenzfand auch am 1.11.1902 über das Thema derEinberufung der
    Ersatzreservisten zum Präsenzdienst bzw. über die Erhöhung des Rekrutenkontingents statt, KA., MKSM.
    82-1/8/1902.
|| || XXIV  Einleitung

sie ihren Standpunkt vor den Delegationen zu vertreten hatten. Der „gemeinsame
Ministerrat", den Bolfras als Vorstand der Militärkanzlei einberief, war unabhängig von
jeder Vertretungskörperschaft, noch mehr aber die militärische Konferenz, auf der die
beiden Landesverteidigungsminister auch gegenüber ihren eigenen Regierungen zur
Geheimhaltung verpflichtet waren. Während die parlamentarische Verantwortung des
vom Außenminister einberufenen gemeinsamen Ministerrates - wie oben dargestellt -
nur begrenzt zur Geltung kam, setzten die Müitärs in der Praxis eine Verwaltung ein,
für die die parlamentarische Verantwortung nicht einmal indirekt, mit Einschränkun¬

gen, gegeben war.

                 2. Die Außenpolitik vor dem gemeinsamen Ministerrat1

   Kennzeichnend für die Außenpolitik der Monarchie in den zwölf Jahren, deren
Protokolle der vorliegende Band enthält, war der Konservatismus, und zwar im urtüm¬
lichen Sinne des Wortes, d. h. die Bewahrung der vorhandenen, gegebenen Positionen.
Außenminister Gotuchowski lehnte eine aktivere Außenpolitik ab, obwohl kühne
Initiativen auch in der politischen und militärischen Führung ihre Anhänger fanden. So
wünschten Generalstabschef Beck, der in dieser Zeit als „Vizekaiser" betrachtet wurde,
Hann der Botschafter in Konstantinopel Calice, Doyen des diplomatischen Korps der
Habsburgermonarchie, und Aehrenthal, der von 1899 an Botschafter der Monarchie in
St. Petersburg war, wenn auch mit gewissen U nterschieden, die Eroberung neuer
Gebiete auf dem Balkan, und als Gegenleistung dafür hätten sie solches auch Rußland
zugebilligt.

   Gotuchowski indes war der Überzeugung, daß die Monarchie sich auf keine großen
Aktionen einlassen konnte: „Bosnien und Hercegovina sind das äußerste Maß dessen,
was die Monarchie vertragen kann."2 Goluchowski erlebte während der zwölf Jahre
seiner Amtszeit als Außenminister erschütternde strukturelle Krisen der Doppelmon¬
archie: die völlige Paralysierung des Parlamentarismus in Österreich (1897) und den
offenen Angriff auf die dualistische Struktur in Ungarn (1905). Er hatte keinerlei
Ambitionen, Reichskanzler zuwerden, er arbeitete auch nicht - im Gegensatz zu seinem
NachfolgerAehrenthal - weitläufige Pläne zur struktureUen Umgestaltung des Reiches,
zur Bekämpfung der inneren Krise aus. Er nahm einfach zur Kenntnis, daß das labile
innere Gleichgewicht des Reiches den außenpolitischen Aktivitäten Grenzen setzte.
Und er betonte auch, daß die exponierte geographische Lage des Reiches und die
relative wirtschaftliche Schwäche keinen Raum für hochfliegende Träume ließen. Die

1 Im folgenden werden die Beziehungen der Monarchie zu den Großmächten aufgrund der bekannten
    Handbücher skizziert: Bridge, From Sadowa to Sarajevo; Carlgren, Iswolsky und Aehrenthal vor der
    bosnischen Annexionskrise; Hanak, Magyarorszäg törtdnete 1890-1918 235-261; Fellner, Der Drei¬
    bund; Palotäs, A Balkdn-kdrdds az oszträk-magyar 6s az orosz diplomdcidban a 19. szdzad vdgdn; Stein,
    Die Neuorientierung der österreichisch-ungarischen Außenpolitik 1895-1897; Übersberger, Öster¬
    reich zwischen Rußland und Serbien.

2 Gotuchowski an Aehrenthal v. 2. 3. 1899, Walters, Austro-Russian relations under Goluchowski

    1895-1906206-213.
|| || Einleitung  XXV

Monarchie hatte ihre bestehende, gegebene Großmachtposition zu bewahren und dazu
die Bündniskontakte aufrechtzuerhalten und weiter auszubauen.

    In den ersten Jahren seiner Amtszeit (1895/96) suchte Gotuchowski nach Verbün¬
deten gegen eine Erweiterung des russischen Einflußbereiches. Er vertrat die Ansicht,
die Eroberung Konstantinopels durch Rußland würde die Großmachtposition der
Monarchie bedrohen. Er wollte die Unterstützung Englands gewinnen und erreichen,
daß Deutschland es als Casus foederis betrachtete, wenn Rußland den Versuch machen
sollte, Konstantinopel zu erobern. Erst nach der Ablehnung durch beide Großmächte
wandte er sich an Rußland.

    Der russische Außenminister Fürst Lobanow-Rostowsky (1895/96) tat kurz nach
seinemAmtsantritt den oft zitierten Ausspruch, man sollte am besten den Balkan „unter
einen Glassturz stellen, bis wir mit anderen dringenden Aufgaben fertig geworden
sind".3 Wegen des Eisenbahnbaus in Sibirien und der Vorbereitung der Expansion im
Femen Osten war für Rußland der Frieden auf dem Balkan wichtig, und in dieser
Hinsicht berührten sich seine Interessen mit jenen der Monarchie. Zar Nikolaus II.
besuchte, begleitet von seinem Außenminister, im Sommer 1896 Wien. Diese Visite
erwiderte dann Franz Joseph im Frühjahr 1897mit einer Reise nach St Petersburg. Auf
der berühmten Aprilberatung zur Vorbereitung des Besuches legten die Führer der
Monarchie die Grundlagen der neuen Rußlandpolitik fest.4 Den Standpunkt der Müi-
tärs vertrat Beck, den der Diplomaten Kallay und Goluchowski. Der Generalstabschef
meinte, die russisch-österreichische Zusammenarbeit wäre durch eine Teüung der
Türkei auszubauen, indem die Monarchie die Ansprüche Rußlands auf Konstantinopel
und den östlichen Teü des Balkans anerkannte, sich selbst hingegen die Ermächtigung
erwirkte, die okkupierten Gebiete einzuverleiben und die Kontrolle über Serbien,
Montenegro und Albanien zu übernehmen. Diese in der Interessensphäre der Monar¬
chie gelegenen Länder würden ihre Außenpolitik, militärische Struktur und die Ver¬
kehrsverbindungen der Monarchie unterordnen. Mazedonien würde sowohl von
Österreich als auch von Rußland als autonomes Land anerkannt werden, und man
würde gleichzeitig Wert darauf legen, daß keiner der Balkanstaaten zu einem gefährli¬
chen Faktor heranwüchse.

   Goluchowski und Kallay traten gegen die Aufteflung in Interessensphären auf, und
zwar nicht allein aus der Sicht der diplomatischen Chancen. Kallay formulierte es sehr
eindeutig: „Weder die beiden Regierungen noch die Parlamente würden eine solche
Aktion gutheißen." Auf dem Balkan herrschten solche innere Verhältnisse, daß die
Monarchie die gesamte zivüe und militärische Verwaltung würde übernehmen müssen,
und da es sich um sehr arme Regionen handelte, würde dies schwere materielle Opfer
abverlangen. Darüber hinaus wäre auch der Aufmarsch von 60 000 Soldaten erforder¬
lich. Goluchowski führte noch weitere Argumente gegen die Aufteilung in Interes¬
sensphären an. Er würde der einfachen Zuteilung Bulgariens und Rumäniens an

3 Übersberger, Österreich zwischen Rußland und Serbien 8-13.
4 Aufzeichnung über eine am 19. April 1897 bei dem gemeinsamen Minister des Äußern Grafen Golu¬

    chowski abgehaltene vertrauliche Besprechung bezüglich der Modalitäten einer Verständigung mit
    Rußland über die zukünftige Gestaltung der Dinge auf der Balkanhalbinsel, Walters, Austro-Russian
    relations under Goluchowski 1895-1906 516-519.
|| || XXVI  Einleitung

Rußland nur ungern zustimmen und vertraue auch nicht auf die Lebensfähigkeit eines
autonomen Mazedoniens. Die Einigung mit Rußland sollte auf einer anderen Basis
angestrebt werden. Die Frage Konstantinopels und der Meeresstraßen gehöre nicht in
den Rahmen österreichisch-russischer Unterredung; sie sei Angelegenheit der Gro߬
mächte. Österreich-Ungarn könne nur über das Schicksal des europäischen Teils der
Türkei verhandeln. Die Monarchie würde nur auf die okkupierten Provinzen und auf
einen Teü des Sandschaks von Novipazar Anspruch erheben und freilich auch Rußland
nicht das Recht zubilligen, auf der Halbinsel neue Gebiete zu erobern. Man müßte
Rußland glaubhaft machen, daß manAlbanien zwar „nicht an sich bringen" wolle, doch
keinesfalls zulassen könne, daß eine andere Macht dort Fuß faßt.

   In den darauffolgenden Tagen reiste Franz Joseph mit seiner Begleitung nach St.
Petersburg, und dieser Besuch brachte tatsächlich eine Wende in den russisch-öster-
reichisch-ungarischen Beziehungen. Die beiden Mächte legten fest, daß die Aufrecht¬
erhaltung des Status quo auf dem Balkan im Interesse beider Reiche liege. Nur wenn
sich dieser nicht länger halten ließe, sollten Gebiete zwischen der Adria und der Ägäis
unter den Nachbarstaaten Bulgarien, Serbien, Montenegro und Griechenland aufge-
teüt werden, wobei die Gleichgewichtslage zwischen den Ländern nach Möglichkeit zu
bewahren wäre. Rußland und die Monarchie verzichteten gleichermaßen auf die
Eroberung von Territorien auf dem Balkan.

    Da bei denVerhandlungen in St Petersburg keine schriftliche Vereinbarung zustan¬
de kam, hatte der Franz Joseph gezeigte gute Wille des Zaren nur begrenzten Wert.
Dies zeigte sich, als auf Drängen der österreichisch-ungarischen Regierung die Ver-
handlungsergebnisse im Mai 1897 schriftlich festgchallen wurden. Die Russen erkann¬
ten in bezug auf Bosnien und die Herzegowina lediglich die Bestimmungen des Berliner
Vertrags von 1878 an, das Recht auf Annexion hingegen nicht, und im Zusammenhang
mit Albanien waren sie zu keinerlei bindenden Erklärungen bereit. Gohichowski zeigte
sich dennoch und zu Recht zufrieden mit der russischen Entente. „Der Zweck, den wir
dabei vor Augen hatten, bestand zunächst nicht darin, sofort ein bindendes Überein¬
kommen zu treffen,... sondern vielmehr in dem Bestreben, eine prinzipielle Grundlage
711m allmählichen Aufbau des Verständigungswerkes zu schaffen."5 Die Vereinbarung
von 1897 bestimmte das russisch-österreichische Verhältnis ein Jahrzehnt lang. Kein
anderes Abkommen zwischen Rußland und Österreich war von so langer Dauer.6

    Sehr bald sollte sich jedoch heraustellen, daß es gar nicht so leicht war, das Bündnis
aufrechtzuerhalten. Die russische Regierung drückte ein Auge zu, wenn ihre Presse
eine Hetzkampagne gegen die Monarchie wegen deren Präsenz in Bosnien startete, und
 sie lieferte Waffen an das den okkupierten Gebieten benachbarte Montenegro. Gohi¬
 chowski hielt es für aussichtslos und unvereinbar mit der Großmachtposition der

s GoluchowsH anAehrenthal v. 2.3.1899, sieheAnm. 2.
6 Beachtenswert ist, das die Militärs von der Umgestaltung des Verhältnisses zwischen der Monarchie und

     Rußland lange Zeit keine Notiz nehmen wollten, wobei sie sich daraufberiefen, daß zwischen den beiden
     Staaten keineformelle Vereinbarung getroffen worden sei und Rußland seine Truppenstärke sowie Kampf¬
    bereitschaft an der Grenze derMonarchie nicht verringert habe. Siehe BecksJahresberichte: Denkschrift des
    Chefs des Generalstahes über die allgemeinen militärischen Verhältnisse zu Ende des Jahres 1898, KA.,
    MKSM. 25-1/1/1899;... zu Ende des Jahres 1899, ebd., 25-1/1/1900.
|| || Einleitung  xxvn

Monarchie, die Russen fortwährend zu mahnen oder gegen die ententefeindlichen
Formulierungen in der russischen Presse und gegen die Aktivitäten der russischen
Konsulate auf dem Balkan zu protestieren.7Er durfte sichjedoch auch nichtvöllig passiv
verhalten, zumal dadurch der Anschein hätte entstehen können, er würde aus freien
Stücken auf die Präsenz auf dem Balkan verzichten; sofern es möglich war, entschied
er sich also für einen Mittelweg.

    1900 versuchte Rußland die Bewegungsfreiheit der Monarchie auf den okkupierten
Gebieten einzuschränken. Es protestierte gegen den geplanten Bau der Eisenbahn¬
strecke Sarajevo-Mitrowitz-Uvac. Im November 1900 erschien der russische Ge¬
schäftsträger Baron Budberg auf dem Ballhausplatz und erklärte, der Plan des
Eisenbahnprojektes habe in Serbien und Montenegro Beunruhigung ausgelöst. Die
neue Eisenbahnlinie würde den Status quo auf dem Balkan verändern, sie verletze die
Vereinbarungen von 1897. Wenig später bekräftigte auch Kapnist, der russische Bot¬
schafter in Wien, die Einwände Rußlands.

    Gohichowski protestierte zwar, daß im Sinne des Berliner Vertrages (Art. XXV)
die Monarchie das Recht hätte, die Eisenbahn im Sandschak zu bauen, und das hätte
mit der Entente überhaupt nichts zu tun. Das Eisenbahnprojekt für den Sandschak
scheiterte dennoch - wenn auch nicht allein wegen der russischen Einwände -, und
diese Eisenbahnaffäre war keineswegs geeignet, die Freundschaft zwischen der Mon¬
archie und Rußland zu festigen.

    Da aber die diplomatischen und militärischen Kräfte Rußlands zu Beginn des
Jahrhunderts im Femen Osten gebunden waren, hatte Rußland selbst Interesse daran,
daß auf dem Balkan Ruhe herrschte. Zu einer tatkräftigen Zusammenarbeit mit der
Monarchie kam es jedoch erst in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in der
Mazedonienfrage.

   Im Sinne des Friedensschlusses von San Stefano fiel Mazedonien an Bulgarien, in
Wü-klichkeit blieb es aber weiterhin im türkischen Besitz. Die Türken warfen den
mazedonischen Aufstand der Jahre 1895-1897 nieder und führten die von den Gro߬
mächten diktierte Reform nicht durch. Im Lande selbst herrschten entsetzliche Zustän¬
de. Die im Mutterland bewaffneten bulgarischen, griechischen und serbischen
„Banden" ermordeten muselmanische Türken und häufig auch ihre eigenen Volksan¬
gehörigen. Um die Jahreswende 1902/03 trafen sich der russische Außenminister
Lamsdorff und Goluchowski in Wien und einigten sich auf die Grundsätze der maze¬
donischen Reformen,8 die dann im Herbst 1903 in der Mürzsteger Punktation definitiv
formuliert wurden. Die Übereinkunft entsprach Goluchowskis früherer Balkan-Kon¬
zeption: Einerseits war man bestrebt, das Ansehen des Sultans in Mazedonien zu
wahren und zu erhöhen, um so die Entstehung eines autonomen Mazedoniens zu
verhindern, andererseits aber war die neue Administration bemüht, national-einheitli-

7 Goluchowski an Franz Joseph v. 20.10.1898, Walters, Austro-Russian relations ander Goluchowski
    1895-1906193-195.

8 Goluchowski anAehrenthalv. 2.1.1903, K. u. k. Ministerium des Äussern. Diplomatische Aktenstücke
    über die Reformaktion in Mazedonien 1903-1906 7.
|| || xxvm  Einleitung

che Vilajets zu organisieren, wodurch es zumindest vorübergehend gelingen sollte, die
Lage der in Mazedonien lebenden Christen erträglicher zu machen.

   Die Mürzsteger Punktation war ein Erfolg russisch-österreichischer Entente-Politik.
Die russisch-österreichische Zusammenarbeit war 1903 so harmonisch, daß sie selbst
durch die Ereignisse in Belgrad nicht gestört wurde. Im Sommer 1903 ermordeten
serbische Offiziere König Alexander Obrenovid und setzten den russophüen Peter
Karadjordjevi5 auf den Thron. Rußland wollte aber den meuternden Offizieren nicht
zu Hilfe eüen und sich nicht in die serbischen Entwicklungen einmischen. Beide
Großmächte erklärten, Königsmord und Revolution seien unangenehme und gefährli¬
che Aktionen, erkannten jedoch das selbständige Entscheidungsrecht der Serben und

den neuen König an.
   Im Februar 1904 brach der russisch-japanische Krieg aus, und die Russen informier¬

ten die Monarchie darüber, daß sie eine große Anzahl von Soldaten von der westlichen
Grenze des Reiches an die fernöstliche Front schickten. Die Monarchie ergriff die
Gelegenheit und reagierte auf die freundliche Mitteüung mit einer freundschaftlichen
Geste: Sie räumte ein, daß die Truppenstärke in Galizien nach den Anforderungen
einer früheren politischen Lage bemessen war. Sie gruppierte gleichfalls ihre Müitär-
kräfte um und verlegte einen beachtlichen Teü ihrer Truppen an die italienische
Grenze. Am 15. Oktober 1904 schlossen Rußland und die Habsburgermonarchie ein
Neutralitätsabkommen für den Fall ab, daß einer der Partner ohne direkte Provokation
in einen Krieg mit einer dritten Seite verwickelt würde. Von diesem Abkommen blieb
der KalVan ausgeklammert, und die damit zusammenhängenden Fragen sollten - wie
vereinbart wurde - einzeln geregelt werden. Die Monarchie aber rechnete eingestande¬
nermaßen mit einem bewaffneten Auftreten Italiens und sah es deshalb als ihre Pflicht
an, „für eine Rückendeckung zu sorgen, sowie es andererseits im Interesse Rußlands
lag - angesichts der schwerwiegenden Ereignisse, die sich gegenwärtig im äußersten
Osten abspielen -, sich eine größere Bewegungsfreiheit zu sichern".9

    Das Neutralitätsabkommen war der unbestrittene Höhepunkt der russisch-österrei¬
chisch-ungarischen Zusammenarbeit. Die Beziehungen wurden später durch Handels¬
verträge mit den Balkanstaaten und durch das autokratische Auftreten der Monarchie
gegen Serbien überschattet. In einem anderen Zusammenhang wird auf diese Frage

 noch näher eingegangen.
    Die Regierung der Monarchie betrachtete den Dreibund als Grundlage ihrer Au¬

 ßenpolitik, besonders die guten Beziehungen zu Deutschland boten ihr eine verläßliche
 Basis. Das Verhältnis zwischen den beiden Staaten war „so tief in die weitesten
 Volksschichten beider Länder eingewurzelt, daß cs beinahe zur zweiten Natur gewor¬
 den ist", sagte Gohichowski vor der Delegation.10 Im gleichen Sinne äußerte sich auch
 KaiserWilhelm: So sehr sich die Beziehungen zu Rußland auch verbessert haben, würde
 sich Deutschland mit voller Entschlossenheit an die Seite seines Bündnispartners, d. h.
 an die der Monarchie, stellen, wenn Rußland die Rechte der Monarchie auf dem Balkan

9 EntwurfeinesAh. Schreibens an Kaiser Wilhelm v. 1.11.1904, HHSxA., PA I, Karton 475; vgl. auch Die
    grosse Politik der europäischen Kabinette 1871-1914, Bd. 22 Nr. 7344.

10 Das Expose des Grafen Gotuchowski, Neue Freie Presse v. 9.6.1896 (A).
|| || Einleitung  XXIX

in Zweifel zöge.11 Dennoch verlor das Bündnis zwischen der Monarchie und Deutsch¬
land durch dessen immer bessere Beziehungen zu Frankreich und sein gutes Verhältnis
zu Italien an Bedeutung. Goluchowski und auch Generalstabschef Beck beklagten sich
darüber, daß Deutschland kein Interesse am Balkan zeige, daß mit ihm in der Orient¬
politik immer weniger zu rechnen sei.12 Und es steht außer Zweifel, daß die Monarchie
um die Jahrhundertwende aufgrund ihrer relativ schwachen Armee als diplomatischer
Partner an Wert einbüßte.13

   Wenngleich Gohichowski seine Schritte in Richtung Rußland mit dem Desinteresse
Deutschlands in der Balkanfrage begründete, achtete er doch immer darauf, daß der
deutsche Bündnispartner jederzeit informiert wurde. Das tat er 189714 ebenso wie auch
1903 bei dem Mürzsteger Treffen oder beim Neutralitätsabkommen von 1904.15

   Es kam dennoch zu einer Reihe von Ereignissen, die für die Lockerung der Bezie¬
hungen sprach, ja manchmal Reibereien zwischen den beiden Reichen signalisierte. So
war es auch, als Deutschland 1902 ablehnte, in der Frage der Sandschakbahn zwischen
der Türkei und der Monarchie zu vermitteln. Die Deutschen verübelten zu Recht das
russisch-österreichische Neutralitätsabkommen von 1904, das zwar nicht im Wider¬
spruch zum Zweibund stand, jedoch bedeutete, daß die Monarchie in einem von
Deutschland angefachten deutsch-russischen Krieg unbedingt neutral bleiben würde.
Das deutsch-österreichische Verhältnis wurde ähnlich auch von der Frage der Emeue-
rung des Handelsvertrages in den Jahren 1904/05 belastet.

   Die größere Sorge bereitete der Monarchie jedoch ihr anderer Dreibund-Partner,
Italien. Anfang der 80er Jahre hatten vor allem die in Kolonialfragen bestehenden
Gegensätze mit Frankreich Italien in den Dreibund getrieben. Von Deutschland und
Österreich-Ungarn erhoffte es sich Unterstützung in seinenAmbitionen auf die Gewin¬
nung von Kolonialgebieten. Da sich jedoch die Beziehungen Italiens zu Frankreich bis
zur Jahrhundertwende allmählich verbesserten (Handelsvertrag von 1898, diplomati¬
sches Geheimabkommen von 1900), verlor der Dreibund für Italien an Bedeutung.
Außerdem waren die Interessengegensätze zwischen Italien und der Monarchie von
vornherein gegeben: Im Habsburgerreich lebte immer noch eine halbe Million Italiener,
deren Irredentismus durch die italienischen Regierungen ihren Interessen entspre¬
chend ermutigt wurde, und die Interessen der beiden Länder prallten auch auf dem
Balkan aufeinander. Die Italiener planten im stillen, für den Fall, daß die Monarchie
die okkupierten Gebiete einverleibte - was jederzeit zu erwarten war -, mit Albanien
das gleiche zu tun.

11 Walters, Austro-Russian relations under Goluchowsld 1895-1906 504-513.
12 Goluchowski anAehrenthal v. 2.3.1899, sieheAnm. 2; Beck im GMR. v. 14.1.1897, GMCZ. 396.
13 Goluchowski im GMR v. 29.11.1901, GMCZ. 434.
14 Szögyiny an Gotuchowski v. 8. 5.1897, Walters, Austro-Russian relations under Goluchowski 1895-

     1906 520-521. Szögyeny berichtete aus Berlin sogar, daß Deutschland auch mit den Zukunftsplänen der
    Monarchie (daher auch damit, was die Russen nicht anerkannten) einverstanden wäre, d. h. mit der
    künftigen Annexion von Bosnien und der Herzegowina sowie eines Teils des Sandschaks, und auch damit,
    daß die Monarchie keiner Macht gestattete, anderAdriaküste Fuß zu fassen.
15 SieheAnm. 9.
|| || XXX  Einleitung

   Im Herbst 1897 kam Gohichowski in Monza mit dem italienischen Außenminister
Visconti-Venosta zusammen; sie trafen lediglich eine mündliche Vereinbarung
darüber, daß beide Staaten auf dem Status quo auf dem Balkan bestehen würden, sofern
dies jedoch nicht möglich wäre, würden sie die autonome Entwicklung der Balkanstaa¬
ten unterstützen.16 Ungeachtet der scheinbaren Übereinstimmung der beiden Seiten
blieb indes die Albanienfrage weiterhin der neuralgische Punkt im Verhältnis zwischen
der Monarchie und Italien. Beide waren bestrebt, ihren wirtschaftlichen, politischen
und kulturellen Einfluß im kleinen Adriastaat auf Kosten des anderen zu verstärken.
Dem Konkurrenzkampf gegen Italien diente eingestandenermaßen auch die geplante
Sandschakbahn. Der gemeinsame Finanzminister Kallay schrieb unmißverständlich an
die beiden Ministerpräsidenten - Koerber (Österreich) und Szell (Ungarn) -, man
müsse den Italienern, die die Kontrolle über Albanien und Mazedonien durch den Bau
einer anderen Eisenbahnlinie übernehmen wollten, zuvorkommen.17

   In Italien wurde 1900 König Umberto, ein Anhänger des Dreibundes, ermordet. Sein
Nachfolger Viktor Emmanuel HL sympathisierte mit der Monarchie überhaupt nicht,
er unterstützte die Irredentabewegung und wußte dabei die Regierung auf seiner Seite.
Italien zeigte immer stärkeres Interesse an den inneren Verhältnissen in Albanien und
Montenegro. Im Juni 1902 wurde zwar der Dreibund verlängert, Ende desselben Jahres
jedoch Unterzeichnete Italien einen Vertrag mit Frankreich, der im wesentlichen die
Beziehung Italiens zu seinen österreichischen und deutschen Partnern lockerte. Im
September 1903 sagte Gohichowski zu Kaiser Wilhelm, er sei möglicherweise der letzte
österreichische Außenminister, der sich mit den Italienern an den Verhandlungstisch

setze.
    Als die Außenminister Österreich-Ungarns und Italiens im April 1904 in Abbazia

und im darauffolgenden Frühjahr in Venedig zusammentrafen, unterstrich Gohi¬
chowski mit Nachdruck, daß die Monarchie keine Okkupation auf dem Balkan plane
und sich eine solche auch durch andere nicht gefallen lasse. Dies gelte insbesondere für
Italien, „weü eine Festsetzung Italiens an der albanischen Küste einer Sperrung des
Adriatischen Meeres gleichkäme, dessen Offenhaltung für uns eine Frage des vitalsten

Interesses sei".18
    Das Neutralitätsabkommen von 1904 mit Rußland bedeutete, daß sich die Mon¬

archie militärisch (durch die Umgruppierung ihrer Truppen nach Südwest) und
diplomatisch auf einen Krieg mit Italien vorbereitete. Diesem Ziel dienten auch

16 Aufzeichnung über die Unterredung des Grafen Goluchowski mit dem italienischen Ministerpräsiden¬
    ten Marchese di Rudini und mit dem italienischen Minister des Äußern Visconti-Venosta in Mailand
    und Monza November 1897, HHStA., PA I, Karton 478. Siehe auch Pribram, Die politischen Geheim¬
    verträge Österreich-Ungams 1879-1914 240-241.

17 Källay an die beiden Ministerpräsidenten v. 30.3.1900, OL., Sektion K-26, ME. Nr. 1212/1900.
i* Aufzeichnung über die Unterredung des Grafen Goluchowski mit dem italienischen Minister des

    Äußern Httoni im April 1904 in Abbazia, HHStA, PA. I, Karton 478.
|| || Einleitung  XXXI

der Eisenbahnbau in Dalmatien sowie die Pläne für den Ausbau der Wehrmacht
und der Kriegsmarine in den Jahren 1905-1906.19

                                                                           *

   Wie spiegelten sich diese Probleme bei den Verhandlungen des gemeinsamen
Ministerrates wider, und in welcher Form kam die Außenpolitik als solche überhaupt
in den Konferenzen der gemeinsamen Minister zur Sprache? Unseres Erachtens könnte
man dabei vielleicht von dem in jedem Handbuch angeführten Axiom ausgehen, daß
einerseits die Außenpolitik aufgrund der Gesetze von 1867 im Einvernehmen mit den
Regierungen beider Staaten festzulegen war, und sie andererseits in der Habsburger¬
monarchie jederzeit absolutistisch geführt wurde. Gab es also einen Widerspruch
zwischen Gesetz und Praxis, der mit komplizierten Manövern zu überbrücken war?
Oder handelten die gemeinsamen Außenminister ganz einfach gesetzwidrig, und die
beiden Regierungen hatten das stillschweigend zur Kenntnis genommen?

   Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates allein reichen selbstverständlich
nicht aus, um diese Frage zu beantworten, selbst nicht mit den ergänzenden Quellen,
die von Fall zu Fall herangezogen wurden. Sie bieten dennoch eine gewisse Orientie-
rungshflfe, zumindest für die politische Praxis in den in der vorliegenden Studie
untersuchten zwölf Jahren.

   Mit Außenpolitik befaßte man sich in den Ministerratssitzungen, die das gemeinsa¬
me Budget zu beraten hatten. Noch bevor der jährliche Budgetentwurfvorgelegt wurde,
informierte der gemeinsame Außenminister über die Lage im allgemeinen („Überblick
über die äußere Situation", „Skizzierung der allgemeinen Lage"). Es ist unseres Erach¬
tens wesentlich, daß dieser Überblick immer bei den Budgetberatungen gegeben
wurde, an denen auch die beiden Ministerpräsidenten teilnahmen, und nicht an solchen,
an denen nur die drei gemeinsamen Minister anwesend waren.20 Es ist also offensicht¬
lich, daß der Außenminister die beiden Ministerpräsidenten informieren wollte. Diese
Ministerratssitzungen hatten übrigens die Aufgabe, den den Delegationen vorzulegen¬
den Budgetentwurf zu billigen und dem Monarchen einen Vorschlag für die. Einberu-
fung der Delegationen zu unterbreiten. Der außenpolitische Überblick war organischer
Bestandteü dieses jährlich wiederkehrenden verfassungsmäßigen Aktes.

   Der gemeinsame Ministerrat bereitelje eigentlich die Delegationssitzungen vor,
deren Aufgabe nicht nur die Bewilligung des Budgets, sondern - was eng damit
zusammenhing - auch die Büligung der Außenpolitik der Monarchie war. Das Auftre¬
ten des Außenministers im gemeinsamen Ministerrat und jenes vor der Delegation
standen somit in einem engen Zusammenhang, unabhängig davon, ob er im gemeinsa¬
men Ministerrat einen außenpolitischen Bericht vorgelegt hatte oder nicht. In den hier
untersuchten zwölf Jahren berichtete der Außenminister fünfmal nicht über die inter-

19 Siehe GMR v. 25.11.1905, GMCZ. 453, und GMR v. n. 21906, GUCZ. 458. Der Marinekommandant
    sprach Ende 1905 eindeutig von der Möglichkeit eines italienischen Krieges, GMR. v. 25.11.1905, GMCZ.
    454. In ähnlichem Sinne äußerte sich auch Goiuchowski, GMR. v. 29.9.1906, GMCZ. 459.

20 SieheAbschnitt l,Anm. 12.
|| || xxxn  Einleitung

nationale Lage unter dem Hinweis, er werde vor der bald zusammentretenden Delega¬
tion ohnehin Gelegenheit haben, sich dazu zu äußern.21 Daraus geht hervor, daß die
Minister von ihm auch nicht mehr an sachlicher Information verlangten als für die
Öffentlichkeit bestimmt war. In sieben Ministerratssitzungen hingegen informierte der
Außenminister seine Kollegen.22 Es ist festzustellen, daß die Darlegungen vor dem
Ministerrat in den meisten Fällen inhaltlich wie in ihrem Grundton und manrhmai auch
in ihrer sprachlichen Formulierung mit jenen vor der Delegation übereinstimmten.23
Vor beiden Foren äußerte sich der Außenminister selbstverständlich in gleicher Weise
etwa zu den Bündnisverhältnissen der Monarchie oder zu konkreten Maßnahmen der
Außenpolitik (z. B. zur Regelung der Kretafrage und der Reformen in Mazedonien).
Unterschiede gab es vor allem in den Bereichen über die von Zeit zu Zeit mit den
Bündnispartnern auftretenden Konflücte. Vor den Delegationen wurden die Probleme
bei der Aufrechterhaltung der russischen Entente insbesondere in den ersten Jahren
ihres Bestehens nie angesprochen (sie kamen allerdings auch im Ministerrat kaum zur
Sprache). Der sich verschärfende Konflikt mit Italien indes wurde von 1903 an in den
Ministerratssitzungen unmißverständlich zur Sprache gebracht; vor den Delegationen
berichtete der Außenminister aber jedesmal von seinen Unterredungen mit dem italie¬
nischen Amtskollegen (GohichowskimitVisconti-Venosta 1897, mit Tittoni 1904 und
1905 und dann Aehrenthal 1907 ebenfalls mit Tittoni). Er sprach also davon, daß
Formen der Zusammenarbeit gesucht und diese von Zeit zu Zeit auch gefunden
wurden. Bezeichnend war, was Goluchowski im September 1906 seinen Ministerkolle¬
gen gegenüber erklärte: „Es sei kein Zweifel, daß Italien mit großer SchneUigkeit rüste
und speziell seine Kriegsmacht zur See ausbüde. Diese Aktivität Italiens sei aber auch
auf politischem Gebiete wahrnehmbar, und Berichte, die dem Vorsitzenden aus Dal¬
matien zur Verfügung ständen, ließen eine gefährliche Propaganda dieses Königreiches
erkennen, welche sich über Albanien, Serbien und Montenegro erstrecke und sich auch
nicht scheue, die Grenzpfähle unserer Monarchie zu überschreiten, wo sie Elemente
sehr zweifelhafter Natur bereit Fände, ihr das Spiel zu erleichtern."24 In seinem Expose
vor der Delegation schrieb Gohichowski die Schuld an Konflikten mit Italien - wenn
er sich überhaupt dazu äußerte - „unverantwortlichen Elementen" zu. Zwischen den
Regierungen der beiden Länder bestünde eine ungestörte Zusammenarbeit. „Solche
Versuche, Unfrieden zu stiften, scheitern indessen sowohl an den beiderseitigen redli¬
chen Bemühungen, die ab und zu zum Vorschein kommenden Verstimmungen baldigst

21 GMR. v. 17.10.1899, GMCZ. 416; GMR. v. 23. 3.1900, GMCZ. 418; GMR. v. 15. 4.1901, GMCZ. 432;
    GMR. v. 1.4.1902, GMCZ. 436, und GMR v. 25.11.1905, GMCZ. 454.

22 GMR v. 13.4.1896, GMCZ 390; GMR v. 5.10.1897, GMCZ 405; GMR v. 3.4.1898, GMCZ 409; GMR
    v. 19.11.1903, GMCZ 439; GMR v. 15.4.1904, GMCZ 441; GMR v. 29.9.1906, GMCZ 459, und GMR
    v. 27.10.1907, GMCZ 464.

23 Das vor der Delegation gehaltene außenpolitische Expose wurde in den Tageszeitungen bzw. die offizielle

     ungarische Übersetzung des vor der österreichischen Delegation gehaltenen außenpolitischen Exposes auf¬

    grund eines Beschlusses der ungarischen Delegation v. 11. 6. 1901 in den ^Schriften" der ungarischen
    Delegation veröffentlicht. Siehe auch Sammlung derAllerhöchsten Ansprachen und Exposes der Minister
    1897-1918, HHStA., PA. I, Karton 429, IV.
24 GMR v. 29.9.1906, GMCZ 459.
|| || Einleitung  xxxin

aus der Welt zu schaffen, als auch [an] der korrekten Haltung der königlichen italieni¬
schen Regierung, die stets bestrebt ist, ihre bundestreuen Gesinnungen in loyaler Weise
zu bestätigen."25 Auch Aehrenthal, der im Dezember 1906 sein Amt antrat, betonte die
Möglichkeit der Zusammenarbeit mit Italien.26

   Wenn es von Fall zu Fall auch Unterschiede in den Reden des Außenministers vor
dem Ministerrat und der Delegation gab, so hat man doch den Eindruck, daß das
Ministerratsprotokoll und darin das außenpolitische Expose des Außenministers ein
„au. Vortrag" war, in dem der Außenminister den Monarchen ersuchte, das hier
Gesagte auch vor der Delegation wiederholen zu dürfen.27

   Der Expose-Charakter der außenpolitischen Berichte an den gemeinsamen Mini-
sterrat verstand sich von selbst: Er war eine Information und kein Diskussionsbeitrag.
Meistens fiel auch niemandem ein, auf die Ausführungen des Außemninisters zu
reagieren, auch nicht in Form von weiteren Anfragen. Der Außenminister, sobald er
seinen Bericht beendet hatte, ging zum Budgetentwurf seines Ressorts über und ließ
nicht einmal für Zwischenreden Zeit. Bei den Beratungen über die Mürzsteger Punk¬
tation von 1903 und über die Verhandlungen zwischen Gohichowsld und Tittoni 1904
bemerkten die beiden Ministerpräsidenten nach dem Bericht, daß sie die Vorgangs¬
weise des Außenministers billigten,28bei anderenAnlässen kam es nicht einmal zu einer
solchen formellen Bekundung ihrer Zustimmung.

   In welchem Ausmaß der gemeinsame Ministerrat, nicht politisches Diskussionsfo¬
rumwar, zeigte der bereits zitierte Ministerrat von 1903. Hier bezeichnete Gohichowski
die kurz zuvor zustande gebrachte Mürzsteger Vereinbarung als bedeutendes Ergebnis
der österreichisch-ungarisch-russischen Zusammenarbeit, des Friedens auf dem
Balkan. Darauf reagierte der Kriegsminister allein mit der Bitte, ihn rechtzeitig zu
informieren, wenn es auf dem Balkan doch noch zu einer bewaffneten Einmischung
kommen sollte.

   Der über den Budgetentwurf beratende Ministerrat lief nach einem bewährten Plan
ab. Im Anschluß an den außenpolitischen Bericht ging man zur Haushaltsdebatte über.
Hier gab es keinen Platz für Diskussionen anderer Art oder dafür, daß sich außer dem
Außenminister auch noch jemand anderer zur Außenpolitik äußerte. Und das nicht
etwa, weü die anderen Mitglieder der gemeinsamen Regierung und der an den Mini¬
sterratssitzungen von Zeit zu Zeit teilnehmende Generalstabschef keine Meinung über
die internationalen Beziehungen des Reiches und deren Gestaltung gehabt hätten.
Gelegenheit dazu boten vielmehr spezieUe Beratungen und nicht der zu sehr für die
Öffentlichkeit und zur Vorbereitung der Delegationssitzungen gedachte Ministerrat.

   Die Außenpolitik konnte im gemeinsamen Ministerrat ja auch bei anderen Anlässen
zur Sprache gebracht werden. 1897 fragte der ungarische Ministerpräsident in der
Debatte über den außerordentlichen Militärkredit, wieso die Stärkung der südlichen

25 11.6.1906, Stenographische Sitzungsprotokolle der Delegation des Reichsrates 190619-38.
26 Exposi von Aehrenthal v. 4. 12. 1906, Stenographische Sitzungsprokolle der Delegation des

    Reichsrates 190718-25.
27 Vgl. Abschnitt 1. '
28 GMR. v. 19.11.1903, GMCZ. 439, und GMR. v. 15.4.1904, GMCZ. 441.
|| || XXXIV  Einleitung

Grenzen so dringend notwendig geworden wäre, obwohl die Monarchie mit Italien im
Bündnisverhältnis stünde. Der Kriegsminister und dann auch Gohichowski entgegne-
ten ihm eben das, was sie auch auf eine entsprechende Anfrage in der Delegationssit¬
zung zur Antwort gegeben hätten: An der Bündnistreue der gegenwärtigen italienischen
Regierung dürfe man wohl nicht zweifeln, Regierungen können aber gestürzt werden.
Kallay indes fiel aus der Rolle und widerlegte beinahe die Behauptung seiner Minister¬
kollegen: Er meinte, Italien verfolge seit langer Zeit im westlichen Teü des Balkans
Pläne, die die Bestrebungen der Monarchie durchkreuzten. Es wolle Häfen besetzen,
wodurch die Adria zu einem geschlossenen Meer würde, und das könne die Monarchie
auf keinen Fall zulassen.29 (Es war dies das erste Mal, daß im Ministerrat die Sorge um
die Aufrechterhaltung des Dreibundes offen zur Sprache kam.) Wurde in der gemein¬
samen Ministerratssitzung nicht bloß der feierliche außenpolitische Bericht vorgelegt,
sondern tauchten außenpolitische Probleme im Zusammenhang mit konkreten Ma߬
nahmen auf - wie etwa die außerordentlichen Kreditangebote (wie im oben erwähnten
Fall), die Einberufung von Ersatzreservisten, das Eisenbahnprojekt auf dem Balkan
oder in Dalmatien oder Handelsverträge mit den Balkanstaaten -, dann äußerte sich
jeder der Anwesenden zur Außenpolitik, und zwar in Form eines Meinungsaustausches
oder einer Beratung. Die Information selbst schien einen interneren Charakter zu
tragen, denn Gohichowski leitete seine Mitteüungen mit den folgenden Worten ein:
.wie Redner streng vertraulich erwähnen wolle."30

   Es soll allerdings hier nicht behauptet werden, daß bei solchen Anlässen über den
von der Monarchie zu steuernden außenpolitischen Kurs sachlich beraten worden sei;
dazu war es in der hier untersuchten Periode im gemeinsamen Ministerrat nicht
gekommen. Diese Äußerungen, die die Außenpolitik nur tangierten, dienten doch mehr
dem Austausch von Meinungen als die Darlegungen in jenen Ministerratssitzungen, in
welchen die Außenpolitik offiziell zur Debatte stand.

    Zu sachlichen Diskussionen wie 1897 in Vorbereitung der russisch-österreichischen
Entente zwischen Beck, Gohichowski und Kallay kam es im gemeinsamen Ministerrat
nicht.31 In diesem Jahr konstatierte der gemeinsame Ministerrat lediglich das Ergebnis
der St.-Petersburg-Reise des Kaisers,32 selbst auf den Abschluß des Neutralitätsabkom¬
mens vom Jahre 1904 gab es im gemeinsamen Ministerrat keinen Hinweis.33 So war es
vermutlich auch kein Zufall, daß die Konferenz im Dezember 1907, auf der die Vorbe¬
reitung der Annexion beraten wurde, kein regelrechter Ministerrat war, wenn auch das

» GMRv. 29.1.1897, GMCZ. 397.
30 GMR. v. 28.11.1904, GMCZ. 448 (Einberufung der Ersatzreservisten), und GMR. v. 25.11.1905, GMCZ.

     453 (Eisenbahnverbindung mit Dalmatien); vgl. auch die Ministerratssitzungen 1900 über den Eisenbahn¬
     bau aufdem Balkan und 1906über die Handelsverträge mit den Balkanländem.

31 SieheAnm. 4.
33 GMR v. 5.10.1897, GMCZ 405.
33 Auf der Ministerratssitzung v. 28. 11. 1904, GMCZ. 448, nach Abschluß des Neutralitätsabkommens im

    Oktober 1904, erklärte Goluchowski lediglich: Das Zusammengehen mit Rußland funktioniert gut.
|| || i

Einleitung  XXXV

Protokoll - zwar nicht unter den Ministerratspotokollen registriert - unter den Proto¬
kollen des gemeinsamen Ministerrats aufbewahrt war.34

    Uber die AuBenpolitik des Reiches hatten selbstverständlich mehrere Mitglieder
des gemeinsamen Ministerrates eine sachlich fundierte Meinung. Der Generalstabs¬
chef widmete in seiner zum Jahresende üblichen Denkschrift ein besonderes Kapitel
den ausgesprochen politischen Bezügen der internationalen Lage.35 Das Kriegsministe¬
rium unterhielt einen eigenen diplomatischen Dienst und hatte eigene Informationen
über die internationale müitärische Lage, obwohl der Generalstabschef der tatsächliche
Leiter der Müitärdiplomatie war.36 Der gemeinsame Finanzminister war für die Ange¬
legenheiten von Bosnien und der Herzegowina zuständig und wohl auch der beste
Kenner und Sachverständige der inneren Verhältnisse auf dem Balkan. Das gilt beson¬
ders für Kallay. Wie ihr Meinungsaustausch stattfand, ist uns nur in wenigen Fällen
bekannt. Den Bericht des Generalstabschefs schickte der Vorstand der Militärkanzlei
regelmäßig dem Außenminister zu,37 dieser unterrichtete seinerseits den Generalstabs¬
chef und den Kriegsminister lediglich von den militärischen Bezügen seiner diplomati¬
schen Verhandlungen.38 Offensichtlich wußten auch die beiden Ministerpräsidenten
mehr über die Außenpolitik der Monarchie, als ihnen auf dem gemeinsamen Minister¬
rat mitgeteUt wurde. Es gab noch andere Formen der Information, auf die sich der
gemeinsame Außenminister auch im Ministerrat bezog.39 Aehrenthal strebte offenbar
bewußt an, die Minister „über den Gang der äußeren Politik soviel als möglich auf dem
laufenden zu erhalten".40

   Wurden die auswärtigen Angelegenheiten der Monarchie im Einvernehmen mit den
Regierungen beider Staaten geführt? - Die jeweüigen Ministerpräsidenten hatten die

34 Aufzeichnung über eine Besprechung der gemeinsamen Minister, die am 1. Dezember bei dem Herrn
     Minister des Äußern Freiherm v. Aehrenthal über die gegenwärtige Situation in Bosnien und der
     Hercegovina stattfand, HHStA., PA. XL, Karton 306.

35 DieDenkschriftdes ChefsdesGeneralstabesistjährlichunterderSignaturKA., MKSM. 25-1/1/... zufinden.
36 Regele, Generalstabschefs aus vier Jahrhunderten 66.
37 Die Militärkanzlei schickte gewöhnlich die jährlichen Denkschriften dem Außenminister zu: Bolfras an

     Goluchowskiv. 14.1.1898, KA., MKSM. Nr. 85/1898 (Jahresbericht 1897); Bolftas an Goluchowskiv. 8.
    i. 1899, ebd., Nr. 43/1899 (Jahresbericht 1898); Bolfras an GotuchowsH v. J2.1.1900, ebd., Nr. 73/1900
     (Jahresbericht 1899); Bolfras an GoiuchowsUv. 15.1.1901, ebd., Nr. 121/1901 (Jahresbericht 1900) usw.
38 Auszugsweise Abschrift der Aufzeichnung über eine zwischen Aeh rcnthal und Tittoni zu Desio stattge¬
    habte Unterredung 5.7.1907, KA., KM., Präs. 54-21/1/1907.
39 Szill und Koerber verzichteten 1901 auf den außenpoätischen Bericht, weil sie infolge ihres stetigen
    Kontaktes mit dem gemeinsamen Minister des Äußern über den Gang der auswärtigen Politik ohnehin
    genügend orientiert waren, GMR. v. 15.4.1901, GMCZ. 432. Aehrenthal äußerte sich zu den Plänen über
     dasfriedliche Vordringen aufdem Balkan nicht ausführlich, weil erseine diesbezüglichen Vorstellungen den
    beiden Ministerpräsidenten bereitsfrüher dargelegthatte, siehe GMRProt v. 27.10.19017, GMCZ. 464, Anm.

     3. Vertrauliche Informationen über Einzelheiten besaßen die Ministerpräsidenten aufjeden Fall, haben sie

     doch häufig die Berichte derAußenvertretungen der Monarchie erhalten, ja sogar eine Zusammenfassung

     der Verhandlungen des Außenministers mit den Missionschefs in Wien. Unter den Aktenstücken des
     ungarischen Ministerpräsidenten finden sich jedes Jahr Dutzende solcher Schriften. (Die Schriften des

     österreichischen Ministerpräsidiums sind zum Großteil verloren gegangen.)
40 In diesem Interesse leitete er einen Teil der an ihn selbst gerichteten diplomatischen Berichte an die beiden

    Ministerpräsidenten weiter, Aehrenthal an Wekerle v. 12.2.1907, OL., Sektion K-26, ME. Nr. 1011/1907.
|| || XXXVI  Einleitung

Verantwortung für jenen Teil der Außenpolitik übernommen, übernehmen können,
den der Außenminister in seinem Expose vor dem Ministerrat oder vor den Delegatio¬
nen - für die Regierung oder für die ganze Öffentlichkeit gedacht - darlegte. Die
Ministerpräsidenten konnten ihr Einverständnis bekunden, indem sie dies formell
deklarierten oder die Außenpolitik lediglich in der Praxis unterstützten, d. h. ihr
Vertretungsorgan baten, den gemeinsamen Budgetentwurf zu billigen. In diesem Sinne
wurden die auswärtigen Angelegenheiten der Monarchie im Einvernehmen mit den
beiden Ministerpräsidenten geführt. Der gemeinsame Ministerrat war jedoch - zumin¬
dest in der untersuchten Periode - gewiß nicht das Forum für die Bestimmung des
außenpolitischen Kurses.

                   3. Der gemeinsame Budgetentwurf vor dem Ministerrat

   Vorrangige Aufgabe des gemeinsamen Ministerrates war es, den gemeinsamen
Haushaltsentwurf zu erarbeiten und darüber zu beraten, wie dieser den Delegationen
unterbreitet werden sollte. In 42 der in der vorliegenden Studie behandelten 77 Mini¬
sterratssitzungen standen der Haushaltsentwurf im engeren Sinne sowie die Spezialkre¬
dite zum Ausbau der Wehrmacht zur Debatte. (Es hat den Anschein, als ob alle anderen
Angelegenheiten nur zufälligerweise vor den Ministerrat gebracht worden wären, und
es ist nicht eindeutig, wann der Ministerrat und wann andere Foren über den geplanten
Abschluß von Handelsverträgen mit ausländischen Staaten, über Fragen im Zusam¬
menhang mit dem wirtschaftlichen Ausgleich oder über staatsrechtliche Fragen berie¬
ten.)

   Wie auch immer der Dualismus als Staatssystem beurteüt wird, eines scheint gewiß:
Im Reich mußten drei verschiedene Interessen aufeinander abgestimmt werden, sollte
der Mechanismus funktionsfähig bleiben. Dieses Aufeinanderprallen von Interessen
zeigte sich völlig ungeschminkt in den Budgetfragen. Das Funktionieren des ganzen, im
Grunde genommen verfassungsmäßigen Systems hing davon ab, ob es gelang, diese drei
verschiedenen Interessenbereiche irgendwie in Einklang zu bringen. Diese Forderung
nach Interessenkoordinierung kam auch darin zum Ausdruck, daß der gemeinsame
Ministerrat (als Treff- oder Aufprallpunkt der drei Interessensphären) Entscheidungen
nur einstimmig treffen durfte.1

    Der Budgetentwurf wurde im allgemeinen in einer Ministerratssitzung oder in zwei
aufeinanderfolgenden, im wesentlichen mit denselben Teilnehmern (den gemeinsamen
Ministem, dem Marinekommandanten und von seiten der beiden Landesregierungen
mit den Ministerpräsidenten und den Finanzministem) debattiert und nach kleineren
bis größeren Streichungen und Abänderungen auch gebilligt. In problematischeren

 1 Die Verhandlungen wurden so lange geßhrt, bis eine Einigung zustande kam. Wurde eine bestimmte Frage
      auf mehreren Ministerratssitzungen erörtert, so nahm an den Beratungen in ihrer letzten Phase auch der
     Monarch teil, und der Vorsitzende des Ministerrates berichtete, ob eine „völlige Einigung' erzielt worden war.
     Die Forderung nach voller Übereinstimmung war übrigens auch im Ausgleichsgesetz indirekt verankert, da
     der gemeinsame Haushalt nach § 40 vom gemeinsamen Ministerium unter dem Einfluß beider auch
     gesondert verantwortlichen Ministerien aufgestellt wird.
|| || Einleitung  XXXVII

Fällen, wo man mit stärkerem Widerstand zu rechnen hatte, berieten sich zunächst die
gemeinsamen Minister, und erst später wurden dann auch der Generalstabschef und
im äußersten Fall auch der Monarch hinzugezogen. Völlige Übereinstimmung kam nur
durch Kompromisse zustande. Die einfachste Formel dabei war, daß die Minister der
beiden Staaten die gemeinsamen Ausgaben für zu hoch hielten und es ihnen gelang,
bestimmte Kürzungen durchzusetzen. Das dualistische System machte indes in kompli¬
zierteren Fällen auch andere Kompromisse möglich oder notwendig. Den Budgetent¬
wurf hatten bekanntlich die Delegationen zu billigen, und zwar ausschließlich für das
jeweils kommende Jahr. Die Delegationsmitglieder wurden für die Dauer eines Jahres
gewählt, ihre Befugnisse waren ausdrücklich auf ein Jahr begrenzt. Die Budgetpläne
hingegen stützten sich gewöhnlich auf mehrjährige Programme. (In der hier untersuch¬
ten Periode standen mehrjährige Flottenbauprogramme, die Umorganisierung der
Artillerie und Aufnahme umfangreicher Kredite auf der Tagesordnung.) Das wesent¬
liche war immer der große Plan. In welcher Form und in welchen jährlichen Teüen
dieser realisiert wurde, hing von vielen zweitrangigen Faktoren ab. Nach dem Buchsta¬
ben der Verfassung hatten die Delegationen mit diesen langjährigen Programmen gar
nichts zu tun. Man konnte in den Delegationssitzungen große Summen in jährlichen
Raten billigen lassen, ohne daß die Delegationen den geringsten Begriff davon gehabt
hatten, für welches Programm sie die Finanzmittel bereitgestellt hatten.2

   Dieses Verfahren bot außerordentlich viele Manipulationsmöglichkeiten. Wenn die
Landesregierungen, sei es aus prinzipiellen Gründen, sei es deshalb, weü sie sich
ohnehin in einer schwierigen innenpolitischen Lage befanden, sich der einen oder
anderen Forderung entgegenstellten, gelang es der gemeinsamen Regierung immer,
einen Ausweg, und zwar eine verfassungskonforme Lösung, zu finden. Für das betref¬
fende Jahr wurden die Budgetansprüche reduziert, was jedoch das Programm als
Ganzes nicht berührte. Auf der Ministerratssitzung kam immer ein Kompromiß zustan¬
de, und zwar seltener dadurch, daß die gemeinsame Regierung auf den einen oder
anderen ihrer Ansprüche verzichtete, viel häufiger durch verfahrensmäßige, zahlungs¬
technische Lösungen. (Das Defizit wurde mit Etatüberschreitung oder mit der Verzö¬
gerung der fälligen Zahlungen überbrückt.)

   Es kam natürlich häufig vor, daß die beiden Landesregierungen bezüglich ihrer
Ansprüche mit der gemeinsamen Regierung in Konflikt gerieten. So auch 1896/97 in

2 Im Jahre 1898 unterblieb die Diskussion über den Ausbau des Flottenprogrammes auf Wunsch des Monar¬
    chen mit der Begründung, daß dieAufgabe des Ministerrates wäre, die Delegationssitzungen vorzubereiten,
    und diese ohnehin nur das Budget des nächsten Jahres diskutieren könnten, vgl. dazu GMR. v. 21.3.1898,
     GMCZ. 408, und GMR. v. 5.4.1898, GMCZ. 412. Der ungarische Ministerpräsident Szitt bat 1902 darum,
    daß die Delegationen mit dem vollständigen Umorganisierungsplan derArtillerie bekannt gemacht werden
    sollten. Gotuchowski wies aber SzillsAntrag unterHinweis aufdie bekannten Gründezurück, vgl. GMR v.
     1. 4.1902, GMCZ. 436.1906 wurde wieder (diesmal vom Monarchen) vorgeschlagen, die Denkschrift des
    Marinekommandanten über die Verstärkung der k. u. k. Flotte durch die Beschleunigung der erforder¬
     lichen Eisatzbauten den Delegationen zu unterbreiten. Diesmal wurde der Vorschlag von den österreichi¬
    schen Ministem abgelehnt, GMRProt. v. 29.9.1906, GMCZ 459, Anm. 3. DerjährlicheBudgetentwurfwurde
    im Sitzungsprotokoll der Delegationen veröffentlicht.
|| || XXXVIII  Einleitung

der Frage des außerordentlichen Militärkredites.3 1898 opponierten die beiden Regie¬
rungen gegen die materiellen Auswirkungen des Flottenausbaus, wobei sie regelmäßig
Konsultationen führten.4 Der ungarische Finanzminister Lukacs kritisierte, daß für die
Armee zu viel - mehr als im Wehrmachtsförderungsprogramm von 18935 vorgesehen
ausgegeben, insbesondere der Flottenausbau übertrieben forciert würde. Weder
Ungarn noch Österreich befänden sich in einer Wirtschaftslage, die solche Belastungen
ermöglichte. Gewisse Kürzungen konnten sie auch durchsetzen. Aber selbst in hitzigen
Debatten vergaß keiner der Minister zu betonen, daß der Ausbau der Wehrmacht eine
wichtige Sache wäre, daß die Sicherheit des Reiches über alles ginge und daß sie in
diesem Interesse alles zu tun bereit wären, was die finanzielle Lage und die Parlamente
- auf die man leider immer Rücksicht zu nehmen hätte - erlaubten.

   Dem Reichsministerium stellten sich keineswegs nur die beiden Regierungen ge¬
meinsam entgegen, und es war auch nicht der Fall, wie man hätte erwarten können, daß
sich die ungarische Regierung den Kostenvoranschlägen für den Ausbau der Reichs¬
wehr stärker widersetzte. Der österreichische Finanzminister steUte sich 1904 in einer
Reihe von Angelegenheiten der Reichsregierung entgegen. 1901 war nämlich auf dem
gemeinsamen Ministerrat festgelegtworden, in welchem Ausmaß Mittel maximal in den
kommenden zehn Jahren für den Ausbau der Wehrmacht zur Verfügung gestellt
werden können.6 Die Kriegsverwaltung indes überschritt im Laufe der Jahre regelmäßig
und erheblich die jeweils vorher gebilligten Summen. Böhm meinte, er könnte „im
Hinblicke hierauf die Reflexion nicht unterdrücken, daß, wenn solche Überschreitun¬
gen Vorkommen, die Beratung des Heeresvoranschlages im Schoße der Konferenz
überflüssig werde und zu einer bloßen Formalität herabsinke".7 Auf die sachlichen
Bezüge von Böhms Bemerkung reagierte niemand. Gohichowski, der den Vorsitz im
Ministerrat führte, hatte sich im Laufe eines Jahrzehnts eine bewundernswerte Routine
darin erworben, wie man den Kern des Systems betreffende Fragen schweigend über¬
gehen und die täglichen Aufgaben erledigen konnte.

   In den Jahren 1904-1905 wollte die gemeinsame Regierung einen größeren Kredit
aufnehmen.8 Böhm bestand auf den verfassungsmäßigen Vorschriften: Billigten die
Delegationen die Kreditaufnahme, soUten die beiden Regierungen die gewünschten
Finanzmittel nur bereitsteUen, wenn auch die eigenen Parlamente dies gutgeheißen
hätten. Tisza teüte nicht den Standpunkt Böhms und Ministerpräsident Koerbers, daß

3 Vgl. GMR. v. 18.9.1896, GMCZ. 395; GMR v. 14.1.1897, GMCZ. 396; GMR v. 29.1.1897, GMCZ. 397;
    GMR. v. 13. 6.1897, GMCZ. 403, und GMR v. 10.10.1897, GMCZ. 407.

4 GMR v. 5. 4.1898 GMCZ. 411. Auch 1906 und 1907berieten die beiden Regierungen über die Flottenver¬
    stärkung und die Überschreitung des Budgets der Kriegsverwcdtung und traten gemeinsam auf, GMR v. 29.
    9.1906, GMCZ. 459, und GMR v. 27.10.1907, GMCZ 464.

5 Das den Ausbau der Wehrmacht für viele Jahre bestimmende Programm des Kriegsministeriums v. 11.1.
    1893, HHStA., PA. I, Karton 656, XI-19/CdM. (Abschrift). Vgl. GMR v. 13. 4.1896, GMCZ. 390.

6 GMR v. 29.11.1901, GMCZ. 434.
7 GMR v. 16. 4. 1904, GMCZ. 442. Eine ähnliche Beschwerde brachte 1906 auch der österreichische

    Finanzminister Korytowski ein, GMR v. 29. 9.1906, GMCZ 459.
8 GMR v. 16 4.1904, GMCZ. 442; GMR v. 23. 4.1904, GMCZ 443; GMR v. 23. 4.1904, GMCZ. 444/a,

    und GMR v. J. 5.1904, GMCZ 445/a.
|| || Einleitung  XXXIX

die Bewilligung durch die Parlamente unbedingt abzuwarten wäre. Nach seiner
Meinung könnte für das laufende Jahr, jeder verfassungsmäßigen Billigung zuvorkom¬
mend, aus dem Bestand der Länderkassen gezahlt werden: „Redner würde es lebhaft
bedauern, wenn man sich der Unmöglichkeit gegenüber befinden würde, so kleine
Beträge aufzubringen, wo es sich doch tun so sehr dringende und im Interesse der
Schlagfertigkeit der Armee und der Sicherheit der Monarchie notwendige Maßnahmen
handelt."9 Böhm meldete aus der Sicht der Verfassungsmäßigkeit Bedenken gegen das
geplante Verfahren an. (Zwischen den beiden Ministerpräsidenten lief allerdings nicht
so sehr eine verfassungsrechtliche Diskussion. Persönliche Gegensätze und die nicht
abflauende, von gegenseitigen Vorwürfen begleitete Auseinandersetzung darüber,
welcher Staat größere Opfer für das gemeinsame Reich brächte, fielen stärker ins
Gewicht.) Koerber entgegnete prompt, „daß die gegenwärtige österreichische Regie¬
rung in allen die Wehrmacht der Monarchie betreffenden Fragen stets ihre Pflicht
erfüllt habe und z. B. im vorigen Jahre die Erhöhung des Rekrutenkontingentes im
Parlamente bereits durchgesetzt gehabt habe, allerdings leider vergeblich, da die
betreffende Vorlage mit Rücksicht auf die parlamentarische Situation im anderen
Staate der Monarchie wieder zurückgezogen werden mußte. Infolgedessen sei es nun
sehr schwierig für die österreichische Regierung, mit müitärischen Forderungen im
Parlamente durchzudringen, nachdem man einmal genötigt gewesen sei, etwas bereits
Erreichtes wieder rückgängig zu machen."10

   Die Auseinandersetzung endete selbstverständlich mit einem Kompromiß: Die
Delegationen wurden über die Differenzen zwischen den beiden Regierungen und auch
über deren Ursache nicht informiert, darüber nämlich, daß die österreichische Regie¬
rung auf einer Erklärung bestanden hatte, derzufolge die Kreditbewilligung durch die
Delegation ohne die Zustimmung des Parlaments ungültig sei. Die Bereitstellung der
Finanzmittel für das Jahr 1904 - im Zusammenhang damit erhielt Böhm seine prinzi¬
piellen Bedingungen aufrecht - wurde praxisnah gelöst: Der Kriegsminister ersuchte
um einen so kleinen Betrag, daß es unsinnig gewesen wäre, die Auszahlung aus -dem
Kassenbestand zu verweigern - es wurde also eine typische Tageslösung durch
Umgehen der Grundsatzfragen gefunden.

   Böhm war zweifelsohne eine eigenartige jFigur im gemeinsamen Ministerrat: nam¬
hafter Professor der Ökonomie, Wissenschaftler von europäischem Ruf und mit fun¬
dierten finanziellen und juristischen Kenntnissen.11 Er brauchte sich nicht an den
Ministerposten klammern, konnte sich sogar erlauben, die Frage zu stellen, warum es
überhaupt nötig wäre, den gemeinsamen Ministerrat zu spielen, warum eine Einigung
erforderlich wäre, wenn dann die Müitärfiihrung doch das tat, was ihr gefiel. Dieser
Ton war etwas ungewöhnlich, ebenso auch die Regierungspraxis des Reiches. Böhm tat
in der Folge das einzige, was ein Minister in einem verfassungsmäßigen Staat in dem

9 GMR. v. 5.5.1904, GMCZ. 445/a.
10 Ebd.
11 Eugen v. Böhm-Bawerk (1851 -1914). Nationalökonom und Finanzwissenschaftler. Mit Karl Menget und

    Friedrich v. Wieset begründete er die Grenznutzentheorie. Schumpeter, Eugen von Böhm-Bawerk 63-80;
    Fuchs, Geistige Strömungen in Österreich 1867-1918 25-35.
|| || XL Einleitung

Fall, daß er mit seiner Ansicht allein blieb, tun konnte, er bot seinem Herrn, dem Kaiser,
seinen Rücktritt an. Im Reich Franz Josephs war dies aber keine einfache Sache, zumal
der Monarch Gewicht darauf legte, „daß eine von Mir gewählte Regierung unbeirrt
durch zeitweüige Schwierigkeiten ihre Tätigkeit ausschließlich durch das allgemeine
staatliche Interesse bestimmen lasse".12 Man könnte es etwas vulgär formulieren: Er soll
dienen und nicht an seiner eigenen Auffassung festhalten. Als dann der Monarch
Böhm-Bawerk zunächst wohl in seiner Gunst behielt, ein paar Monate später aber doch
entließ, deutete lediglich die Reihenfolge der Dankesworte in der verkrusteten kaiser¬
lichen Formulierung auf eine gewisse Mißbilligung des Monarchen hin: „Ich... spreche
Ihnen für Ihre vieljährige, der wissenschaftlichen Lehre und unter besonders schwieri¬
gen Verhältnissen dem öffentlichen Dienste gewidmete erfolgreiche und ausgezeich¬
nete Tätigkeit Meinen wärmsten Dank aus."13 - Die Danksagung galt in erster Linie
dem Wissenschaftler.

            4. Fragen des Kriegswesens vor dem gemeinsamen Ministerrat

   Nach der allgemein bekannten und akzeptierten Auffassung wurden in der Doppel¬
monarchie die auswärtigen Angelegenheiten „im Einvernehmen mit den Regierungen
beider Staaten und mit deren Zustimmung" erledigt,1 wobei die verfassungsmäßigen
Schranken im Kriegswesen nicht zur Geltung kamen. Die absolutistische Führung der
Kriegsangelegenheiten kam auch darin zum Ausdruck, daß die Kompetenz des Kriegs¬
ministers selbst begrenzt war. Und das nicht nur, weü Befehlsführung, Kommando und
Organisierung der Wehrmacht im Ausgleichssystem dem fürstlichen Recht des Monar¬
chen Vorbehalten blieb, sondern auch deswegen, weü der Kriegsminister die Führung
der Armee mit anderen Personen zu teüen hatte: mit dem Generalinspektor der
Streitkräfte (dieseFunktionhatte 1868-1895Erzherzog Albrechtimdvon 1906 bis 1914
Franz Ferdinand inne), dem Vorstand der Militärkanzlei (dessen Aufgabe es war,
Führungsposten bei der Wehrmacht zu besetzen, die MUitärdiplomatie zu führen, die
militärischen Interessen in der Zusammenarbeit mit den Landesregierungen zu wahren,
zwischen dem Generalstabschef und den Regierungen zu vermitteln) und mit dem
Generalstabschef, der für die Entwicklung der Streitkräfte zu sorgen hatte, jedoch selbst
in einem eigenartigen Abhängigkeitsverhältnis stand: Er war auf die Militärkanzlei
angewiesen, gleichzeitig aber selbst dem Kriegsminister untergeordnet.2 Oder aus
einem anderen Blickwinkel betrachtet: Der Kriegsminister hatte lediglich die Aufgabe,
beim gemeinsamen Ministerrat bzw. in den Delegationen die Ansprüche der Wehr¬
macht zu vertreten und von diesen Gremien Unterstützung für den Ausbau der Wehr-

12 Fellner, Kaiser Franz Joseph und das Parlament 299.
13 Franz Joseph an Böhm v. 26.10.1904, HHSrA., Kab. A., Geheimakten, Karton 41, Nr. 2867/1904.

 1 Zu dieserFrage sieheAbschnitt 2 der vorliegenden Studie.
 2 Zu dieserFrage siehe WrmcH, Die Rüstungen Österreich-Ungams von 1866 bis 1914 876-877; Conrad,

    Aus meiner Dienstzeit 1906-1918 41-45; Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte 374-376;
     Regele, Generalstabschefs aus vier Jahrhunderten 36-38 und (A-61.
|| || Einleitung  XLI

macht zu erwirken. Er konnte allein aus diesen amtsorganisatorischen Gründen die
Militärpolitik der Monarchie nicht in dem Maße bestimmen wie der Außenminister die
Diplomatie. Er hatte ja die Militärführung mit dem Generalinspektor, dem Vorstand
der Militärkanzlei und dem Generalstabschef zu teilen. Die Müitärmacht war geteüt,
und die ausschlaggebende Rolle fiel offensichtlich nicht dem der verfassungsmäßigen
Körperschaft wenigstens indirekt verantwortlichen Kriegsminister zu. Dennoch darf
man nicht behaupten - gerade im Spiegel der Protokolle der gemeinsamen Minister¬
ratssitzungen nicht daß die verfassungsmäßigen Schranken der Militärführung ver¬
nachlässigbar wären. Die Schöpfer der Gesetze von 1867 waren sich darüber zu sehr im
klaren, welches Instrument sie den Parlamenten in die Hand gegeben hatten, denn die
beiden Staaten behielten sich „das Recht der Rekrutenbewilligung und die Bestimmung
der Bedingungen dieser Bewilligung und der Dienstzeit ... sowohl im Bereiche der
Gesetzgebung als auch der Administration vor".3 Im Jahresbericht des Generalstabs¬
chefs war die Beschwerde, die Landesregierungen wollten die militärische Notsituation
im Reich nicht wahrhaben, selbst in hohen Regierungskreisen gebe man sich dem
Trugbüd hin, daß „unsere Zeit eine Periode fieberhafter militärischer Tätigkeit ist", ein
immer wiederkehrendes Motiv. Doch diese Feststellung treffe für die Habsburgermon¬
archie bedauerlicherweise nicht zu.4 Nach offiziellen Berichten war für die in der
vorliegenden Studie untersuchte Periode, insbesondere für die ersten Jahre des 20.
Jahrhunderts, eine Stagnation im Ausbau der Wehrmacht keimzeichnend. Die Militär¬
ausgaben der Monarchie waren zwar etwa so hoch wie die Rußlands, aber jedenfalls
niedriger als jene Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens oder Italiens.5 Nach
Regele stiegen die im Budget vorgesehenen jährlichen Ausgaben der Wehrmacht von
262Millionen desJahres 1895 im Laufevon 12 Jahren (bis 1906) auflediglich insgesamt
306 Millionen an.6 In diesem Zusammenhang dürfte auch die Behauptung des gemein¬
samen Kriegsministers Pitreich nicht uninteressant sein: „Das Heeresbudget ist... für
die finanzielle Kraft der Monarchie zu groß, für den Stand der bewaffneten Macht, d. h.
den laufenden Dienst, absolut unzureichend."7

   Diese von Pitreich bemängelte Diskrepanz geht auch deutlich aus den Ministerrats-
protokollen hervor. Dennoch konnten die finanziellen Ansprüche des Heeres, wenn
auch nach langwierigen Auseinandersetzungen, mit gewissen Kürzungen und vielen
finanziellen Manipulationen, beim gemeinsamen Ministerrat anscheinend immer
wieder durchgesetzt werden.

    1893 arbeitete der Generalstabschef einen Plan zur Entwicklung des Heeres aus, von
dem ein kleineres Programm in den Jahren 1893-1898 auch verwirklicht wurde.8 Im
Anschluß daran sollte ein umfangreiches Ausbauprogramm mit Umorganisierung der

3 GA XII/1867, § 12.
4 Denkschrift des Generalstabschefs v. 4.1.1898, KA, MKSM. 25-1/1/1898.
5 Rothenberg, Tbc Anny of Francis Joseph 126.
6 Regele, Feldmarschall Conrad 162-163.
7 Pitreich an Bolfras v. 29. 7.1906. Pitreich bot dem Kaiser seinen Rücktritt schriftlich an. Zur Begründung

     beriefersich unteranderem aufdiehierzitierten unlösbarenfinanziellen Schwierigkeiten im Zusammenhang
    mit dem Ausbau derArmee, KA, MKSM. 70-1/56/1906.
8 Denkschrift des Generalstabschefs v. 31.12.1898, ebd., 25-1/1/1899.
|| || xm  Einleitung

Armee und einer beachtlichen Erhöhung des Rekrutenkontingents durchgeführt
werden, was jedoch am Widerstand der Parlamente und der Regierungen scheiterte.
Für den Zeitraum 1901-1906waren nur kleinere Ausbauschritte mit einem Kostenauf¬
wand von jährlich 6 und später 8 Millionen Gulden vorgesehen. Man nahm die Durch¬
führung des Programms in dem Glauben in Angriff, daß es in der Zwischenzeit gelingen
würde, auch eine Erhöhung des Rekrutenkontingents zu erreichen.9 Nach dem Tod
Sternecks im Jahre 1898 erarbeitete auch der neue Marinekommandant ein Zehn-
Jahres-Rottenausbauprogramm (1899-1908) mit einer außerordentlichen Ausgabe

von 55 Millionen Gulden.10
   Der gemeinsame Ministerrat billigte die Erhöhung der ordentlichen Ausgaben und

stimmte prinzipiell auch einer einmaligen Kreditaufnahme für außerordentliche Aus¬
gaben zu, zunächst 1898 der Aufnahme eines Kredits in Höhe von 200 Millionen,111904
dann eines weiteren in Höhe von 400 Millionen Gulden.12 Sowohl bei der Kreditaufnah¬
me als auch bei der Bereitstellung der fälligen Finanzmittel durch die Fachminister
sowie den damit verbundenen praktischen und prinzipiellen (verfassungsrechtlichen)
Problemen ergaben sich so viele Konflikte, die nur zum TeU gelöst werden konnten, daß
die geplanten großen Kreditaktionen schließlich nicht zustande kamen.

                                            Erhöhung des Rekrutenkontingents

   Weitaus schwieriger war die Lage der Kriegsverwaltung in bezug auf das neue
Wehrgesetz. DasWehrgesetz von 1889würde 1898 auslaufen, und der Generalstabschef
drängte seit 1892 auf die Vorbereitung eines neuen Gesetzes. Dies sah eine Erhöhung
des Rekrutenkontingents und im engen Zusammenhang damit organisatorische Refor¬
men vor.13

   Dazu muß manwissen, daß sich der Friedensstand der Armee aus aktiven Offizieren,
den weiterdienenden Unteroffizieren und den jährlich einberufenen Rekruten zusam¬
mensetzte. Das Rekrutenkontingent hatten die beiden Parlamente jährlich zu bewilli¬
gen, wobei sie dessen Höhe aufgrund der Vorschläge der beiden Regierungen jeweils
für rahn Jahre bestimmten. Dem Wehrgesetz von 1889 zufolge wurden in diesem Jahr
in die gemeinsame Armee 103 000, in die k. k. Landwehr 10 000 und in die kgl. ung.
Honvedarmee 12 500 Rekruten einberufen. Diese Zahlen blieben auch in den darauf¬
folgenden Jahren trotz wachsender Bevölkerungszahlen imverändert. Infolgedessen

 9 Vgl. Krieghammers Zusammenstellung v. 19. 5. 1899, KA., KM., Präs. 26-1/3/1899; Denkschrift des
     Generalstabschefs v. 27.121899, ebd., MKSM. 25-1/1/1900.

10 Exposd betreffend die Notwendigkeit der Stärkung der k. u. k. Flotte, ebd., 51-2/2/1898.
11 GMR. v. 21.3.1898, GMGL 408.
12 GMR. v. 15.4.1904, GMCZ. 441; GMR v. 16.4.1904, GMCZ. 442; GMR v. 23.4.1904, GMCZ. 443, und

     GMR v. 23.4.1904, GMCZ. 444/a.
13 Insbesondere die Mederaufrüstung derFeld- und Gebirgsartillerie, den weiterenAusbau derLandwehr und

      die Erhöhung des Friedensstandes derKriegsmarine. Gleichzeitig wurden auch die aus volkswirtschaftlicher
      Sicht so wichtigen Diensterleichterungen, vor allem der Obergang von der bisher gültigen dreijährigen
      Dienstzeitzu einerzweijährigen, geplant. Diese Modifizierungen allein machten schon eine Kontingenterhö¬
      hung erforderlich.
|| || Einleitung      XLm

überstieg die Zahl der zum Wehrdienst Tauglichen die Rekrutenkontingente immer

mehr, und der Überhang wurde der Ersatzreserve zugeteilt, wo er während eines
achtwöchigen Präsenzdienstes eine Grundausbildung erhielt.14

Im Knegsministerium wurden bis 1896 die Vorschläge zum neuen Wehrgesetz

ausgearbeitet. Generalstabschef Beck und Kriegsminister Krieghammer planten eine

Erhöhung des Rekrutenkontingents uni 50 000 Mann. Der ungarische Landesverteidi-
gungsmmister hielt diesen Plan zwar zu Beginn der Verhandlungen für irreal, dennoch

diente er als Verhandlungsgründlage und wurde auch dem gemeinsamen Ministerrat
unterbreitet.15

   In den gemeinsamen Ministerratssitzungen der Jahre 1896/97 stimmten wohl beide
Regierungen der Rekrutenzahlerhöhung prinzipiell zu, die Gesetzentwürfe wurden

jedoch den Parlamenten nicht vorgelegt,16 obwohl die Notwendigkeit, die Wehrmacht

zu verstärken, diesseits und jenseits der Leitha anerkannt wurde. Die Großmachtposi¬
tion der Monarchie und die dazu erforderlichen Müitärkräfte stellte zwar niemand in

Frage: .Jeein Minister [könne] sich der Verantwortlichkeit verschließen, welche die

Stellung der Monarchie als Großmacht ihm auferlegt".17 Die innenpolitische Lage
gestaltete sich jedoch in beiden Teüen der Monarchie ab Mitte der 90er Jahre so

unsicher, daß sich keine der beiden Regierungen dazu entschließen konnte, einen

Vorschlag auf den Ausbau der Wehrmacht bzw. die damit verbundenen hohen Ausga¬

ben dem Parlament zu unterbreiten. Die Regierungen mußten eine Entscheidung
treffen, wollten sie weiter bestehen; doch sie entschieden nicht darüber, welcher der

Aufgaben, die mit Sicherheit auf große Schwierigkeiten stoßen würden, sie sich anneh-

men, sondern wie sie ihren eigenen Sturz hinauszögem oder ehrenvoller machen
könnten.

   Der österreichische Ministerpräsident Badeni versuchte sich 1896 angesichts der
Aussichtslosigkeit der Rekrutenzahlerhöhung am wirtschaflichen Ausgleich. Im ge¬

meinsamen Ministerrat argumentierte er, die ungeregelten Wirtschaftsbeziehungen
zwischen Österreich und Ungarn bedeuteten für die Monarchie einen minHpsfpns so

großen Prestigeverlust wie die zeitweüige Aufschiebung der Erhöhung des Rekruten¬

kontingents.18                                                                                           ,

   In Ungarn war die Chance auf eine Erhöhung des Rekrutenkontingents noch aus¬
sichtsloser als in Österreich, wo die der Regierung gegenüberstehende Opposition

wegen der inneren nationalen Probleme auf deren Vorschläge gleich welcher Art auch

immer obstruktiv reagierte. In Ungarn aber diente der Opposition gerade die gemein¬
same Armee als einer der Zielpunkte ihrer Angriffe.

Die Abneigung der Ungarn gegen die gemeinsame Armee ist wohlbekannt. Sie

fanden die deutschsprachige, vom österreichischen Geist dominierte gemeinsame
Armee fremd, betrachteten sie als Rechtsnachfolgerin der Armeen von Jellaöid und

Haynau, und das nicht ohne Grund. Denn in den 90er Jahren beriet der gemeinsame

14 Kiszunc, Heer und Kriegsmarine in den letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges 251ff.
15 Kommissionelle Beratung v. 18. und 19.1.1896, KA., KM., Präs. 26-1/5/1896.
16 GMR. v. 29. & 1896, GMCZ. 393; GMR. v. 30. & 1896, GMCZ. 394, und GAOt v. 18.9.1896, GMCZ. 395.
17 Soformuliert vom ungarischen Ministerpräsidenten SziU, GMR. v. 29. 6.1899, GMCZ. 415.
18 GMR v. 29.8.1896, GMCZ 393. ,
|| || XLIV  Einleitung

Ministerrat über die Reform des militärischen Strafgesetzbuches von 1855, und nur in
sehr kleinen Schritten gelang es, das Zeitalter des Neoabsolutismus in dieser Hinsicht
zu überwinden.19 Der Thronfolger schrieb noch 1896 an Generalstabschef Beck: . die
Armee ist nicht allein zur Verteidigung des Vaterlandes gegen einen äußeren Feind
bestimmt, ihre Hauptaufgabe ist der Schutz und die Erhaltung des Thrones und die
Bekämpfung jedweden inneren Feindes."20 Die gemeinsame Armee war in allen Schich¬
ten der nngarisrtiftn Bevölkerung auch ein halbes Jahrhundert nach dem Freiheits¬
kampf noch immftr das Symbol „einer fremden Macht", einer Macht, von der man sich
in der inneren Selbständigkeit des Landes beschnitten und in den selbständigen unga¬
rischen Großmachtansprüchen begrenzt fühlte. Die vom Gentry-Geist beherrschte
Mittelschicht sah in ihr ein Hindernis für ihre müitärische Karriere;21 die einfachen
Leute sahen in ihr den Unterdrücker des Freiheitskampfes ihrer Väter und Urgroßvä¬
ter. Die fremde Armee und die deutsche Kommandosprache machten das Soldatenle¬

ben nur noch mehr verhaßt.
    Durch die gemeinsame Armee wurde nicht mm das ungarische Nationalbewußtsein

verletzt, sondern sie war auch jene Institution, die die rumänischen und slowakischen
Bauern die Grenzen der Macht der Ungarn erkennen ließ. So beklagte sich Albert
Apponyi, der die Opposition gegen das Militärprogramm organisierte: „In der gemein¬
samen Armee sorgte man nicht dafür, daß der ungarische Geist, das patriotische
Gefühl, das Bewußtsein der Zugehörigkeit zum ungarischen Staat durch die militäri¬
sche Erziehung wach blieben."22 Die Opposition gegen die gemeinsame Armee diente
Hfim Streben nach größerer nationaler Selbständigkeit und einer uneingeschränkten

nationalen Hegemonie.23
    All das ist aus der ungarischen Geschichtsschreibungwohlbekannt. Weniger bekannt

ist hingegen, daß in den Jahren der Ausarbeitung des neuen Wehrgesetzes (ab 1896)
die beiden Landesregierungen noch'gemeinsam gegen den Ausbau der Armee, die ihrer
Ansicht nach übertriebenen Ansprüche auf die Erhöhung des Rekrutenkontingents
Front marhtp.n und daß Beck nach dreijährigem Tauziehen Ende 1898 resigniert

 feststellte: Das traurigste am Ganzen sei nur, daß man überhaupt nicht wissen könne,
wie lange diese Lage noch andauere, und daß sich die Armee eventuell noch jahrelang
 mit der provisorischen Verlängerung der früher beschlossenen Rekrutenzahlen zufrie¬

 den geben müsse.24
    Der Kriegsminister unterbreitete 1899 aufgrund des Beschlusses einer militärischen

 Beratung dem Ministerrat einen im Vergleich zu 1896 reduzierten Plan zur Erhöhung
 des Rekrutenkontingents. Beide Regierungen anerkannten die Notwendigkeit der
 Erhöhung des Rekrutenkontingents und eines allgemeinen Ausbaus der Armee, wegen

» GMRProt v. 29.8.1896, GMCZ. 393, Anm. 9.
20 FranzFerdinand an Beck v. 6.3.1896, Giaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte 475.
21 Die Ungarn hatten einen Anteil von etwa 20% an der Bevölkerung der Gesamtmonarchie, stellten jedoch

    nur 9,7% des Offizierskorps dergemeinsamen Armee, Rothenberg, The Army of Francis Joseph 127.
22 Apponyi, Emlökiratai 63-64.
23 Hanak, Magyarorszäg tört£nete 1890-1918 520-523.

24 SieheAnm. 8
|| || Einleitung  XLV

der Funktionsunfähigkeit des österreichischen Parlaments wurde jedoch der Plan den
Parlamenten weder 1899 noch 1900 unterbreitet.25

    Ende 1901 malten der Monarch, der Kriegsminister und der Generalstabschef ein
erschütterndes Büd von der militärischen Lage des Reiches:26 Seit Anfang der 90er
Jahre sei die Armee der Monarchie hinter denen anderer Großmächte bedeutend
zurückgeblieben, deswegen verliere das Reich allmählich an Bedeutung als diplomati¬
scher Partner, und Deutschland rechne immer weniger auf die Habsburgermonarchie.
Dennoch wurden die Kontingentserhöhungsvorschläge von den Landesregierungen aus
finanziellen und vom österreichischen Ministerpräsidenten Koerber insbesondere aus
innenpolitischen Gründen für undurchführbar gehalten. Die österreichische Regierung
wollte das gesamte Armeeausbauprogramm mit all seinen zu erwartenden finanziellen
Auswirkungen den Parlamenten vorgelegt haben, was aber vom Kaiser mit der Begrün¬
dung abgelehnt wurde, das gemeinsame Budget gehöre in den Kompetenzbereich der
Delegationen und die Pläne dürften vor den Landesparlamenten höchstens beiläufig
erwähnt werden. Die gemeinsame Regierung sah sich abermals gezwungen, sich mit
einer einjährigen Verlängerung der früheren Rekrutenzahlen zu begnügen.

   Im Zusammenhang mit dem damals und auch in der Geschichtsliteratur häufig
zitierten Ministerratvom 29. November 1901 istfolgendes festzuhalten: DerMinisterrat
wurde äußerst umsichtig vorbereitet, der Kaiser und König versuchte sogar persönlich
Einfluß auf die Landesregierungen zu nehmen - allerdings vergeblich.27 Koerber und
Böhm-Bawerk zeigten sich noch ablehnender als Szell und Lukacs; die beiden Regie¬
rungen sprachen sich übereinstimmend gegen die Pläne der gemeinsamen Regierung
aus. Die beiden Landesverteidigungsminister traten indessen, die Machtlosigkeit ihrer
eigenen Regierungen tadelnd, für die Interessen des Reiches, für den Ausbau der
Armee ein.

   Nachdem der Ministerrat von 1901 ergebnislos verlaufen war, beschloß er im Früh¬
jahr 1902, den unbestrittenen Bestandsmangel durch die Einberufung der drei jüngsten
Jahrgänge der Ersatzreservisten zum Präsenzdienst zu überwinden.28

   Der ungarische Landesverteidigungsminister Geza Fejerväry brachte am 16.
Oktober 1902 im ungarischen Parlament einen Gesetzentwurf ein, dieser beließ die
Gültigkeit des früheren Bestandsplanes, gab aber der Regierung eine Ermächtigung,
20000 Ersatzreservisten einzuberufen. Im ungarischen Parlament brach aber eine
Obstruktion mit so elementarer Kraft aus, daß Fejervärynicht einmal auf die Mitglieder
der Regierungspartei zählen konnte.29 Er reiste nach Wien, und während der Kriegs¬
und die beiden Landesverteidigungsminister untereinander und anschließend unter
Vorsitz des Kaisers in einer Militärkonferenz über eine eventuelle Modifizierung des

25 Dieunterdem VorsitzdesKaisersabgehalteneMilitärberatungv. 7.3.1899, KA., MKSM. 20-1/1/1899. Siehe
    auch GMR. v. 29. 6.1899, GMCZ. 415, und GMR v. 15.11.1899, GMCZ. 417.

* GMR. v. 29.11.1901, GMCZ. 434.
27 GMRProt. v. 29.11.1901, GMCZ. 434, Arm- 2.
28 GMRv. 3.4.1902, GMCZ. 438
29 DolmAnyos, A magyar parlamenti ellenzdk tört£net£b611901-1904159.
|| || XLVI  Einleitung

Vorschlags berieten, stellte sich heraus, daß auch das österreichische Parlament diesen
Vorschlag für unannehmbar hielt.30

   Am 1. November 1902 fand ein „Quasi"-Ministerrat über die Frage der Erhöhung
des Rekrutenkontingents statt.31 An den Beratungen nahmen die drei gemeinsamen
Minister, der Generalstabschef, die beiden Landesfinanzminister und die beiden Lan¬
desverteidigungsminister teil. Es wurde kein Protokoll geführt, sondern erst nachträg¬
lich eine Aufzeichnung über die Beratungen angefertigt. Man debattierte über den
Vorschlag Fejervärys, 6000 Ersatzreservisten einzuberufen und das Rekrutenkontin¬
gent auf 125 000 Mann zu erhöhen, und das für einen Zeitraum von zehn Jahren. Damit
bliebe auch die Möglichkeit offen, im Laufe dieser zehn Jahren eine weitere Erhöhung
des Rekrutenkontingents vorzunehmen, während der sich jährlich wiederholende
Kampf im Parlament, wenn man sich mit dem Bestand von 125 000 Mann zufrieden
gäbe, vermieden werden könnte. Die Minister einigten sich bei ihrer Beratung schlie߬
lich darauf, die Rekrutenzahl von 125 000 als provisorisch und lediglich als für das
nächste Jahr gültig zu betrachten.

   Bei den Verhandlungen in den darauffolgenden Tagen und Wochen geriet Fejerväry
mit Ministerpräsident Szell eindeutig in Konflikt, der versuchte, mit den opponierenden
Mitgliedern seiner eigenen Partei (der Gruppe um Apponyi) zusammenzuarbeiten und
zwischen der Regierung und Fejerväry zu vermitteln. Fejerväry beteüigte sich nicht an
den innerungarischen Auseinandersetzungen, berichtete aber Bolfras von den Ver¬
handlungen zwischen den verschiedenen innenpolitischen Gruppierungen in Ungarn
(Szell, Andrässy, Istvän Tisza) täglich, im Januar 1903 fast stündlich. Bolfras hatte eine
vermittelnde Funktion zwischen den Ministem und dem König, wobei er auch eine
autonome Funktion besaß: Er wahrte die Interessen der Armee gegenüber den Lan¬
desregierungen. 32

   Im Januar 1903 ließ man dann den ganzen Plan über die Einberufung der Ersatzre¬
servisten wegen des Widerstandes durch die beiden Regierungen fallen. Im ungarischen
Parlament geriet mm eine Flut von militärischen Forderungen in Bewegung mit dem
Ziel, daß in der ungarischen Armee als einem ergänzenden Teü der gemeinsamen
Armee „der ungarische Charakter stärker herausgestellt wird", was schließlich zum
Sturz der seit 30 Jahren amtierenden liberalen Regierung führen sollte. In den folgen¬
den Jahren kam es zwar vereinzelt zur Einbemfung einer geringen Anzahl von Ersatz¬
reservisten zum Präsenzdienst,33 eine Erhöhung des Rekrutenkontingents konnte aber
bis 1912 nicht durchgesetzt werden.

   Diese Ereignisse sind wohlbekannt. Durch ihre Darstellung sollte jedoch hervorge¬
hoben werden, daß der Ausbau der Armee und die Erhöhung des Rekratenkontingents
ein Gebiet waren, auf dem die gemeinsame Regierung den Landesregierungen ihren

30 DieAkten zur Revision des Wehrgesetzes 1902-1903 siehe in KA., MKSM. 82-1/1,2,3,4,6/1903.
31 VerlaufderVerhandlungen überdas eingereichte Gesetz betreffend die Heranziehungvon 20 000 Mann

    der Ersatzreserve zur dreijährigen präsenten Dienstleistung, 1.11.1902, KA., MKSM. 82-1/1/1902.
33 Siehe ebd., 82-1/9/1903.
33 Der GMR v. 18.11.1904, GMCZ. 448, gab seine Zustimmung zur Einbemfung von Ersatzreservisten zum

     Präsenzdienst aufgrund des Gesetzes vom Jahre 1888 zur Verteidigung der südöstlichen Grenzen der

     Monarchie.
|| || Einleitung  xlvh

Willen nicht aufzwingen konnte. Weder 1902 noch 1903 und dann noch ein ganzes
Jahrzehnt hindurch konnte die Erhöhung des Rekrutenkontingents durchgesetzt
werden. In der Militärführung der Monarchie gab es zwar viele absolutistische Elemen¬
te. Die beiden Landesverteidigungsminister stellten sich fortwährend ihren eigenen
Regierungen entgegen und büdeten in Zusammenarbeit mit dem gemeinsamen Kriegs¬
minister repräsentativ eine zentrale Kriegsverwaltung. Wenn Fejerväry in der ersten
Hälfte des Jahres 1903 Bolfras, den Vorstand der Militärkanzlei, über Schachzüge der
ungarischen Innenpolitik informierte, dann wie ein in Budapest weüender vornehmer
Fremder. Er nahm an den Parteikonferenzen nicht teil, stand über den ungarischen
Parteifehden, schrieb aber an Bolfras in vertraulichen Briefen über die Geschehnisse
in Budapest Fejervary wie auch der österreichische Landesverteidigungsminister
standen während der ganzen Wehrmachtsdiskussion in direktem Kontakt mit Bolfras
und über ihn auch mit dem Kaiser; dies wäre im Falle jedes anderen Ressortchefs
unvorstellbar gewesen. Der Kaiser übte persönlichen Druck auf die Landesregierungen
aus. Er verhandelte mit den Ministem des militärischen Ressorts und dann mit dem
„gemeinsamen Ministerrat", wobei kein Protokoll geführt wurde, so daß den Regierun¬
gen keinerlei Rechtsgarantie blieb, auf die sie sich später hätten berufen können. (Der
gemeinsame Ministerrat wurde in der Krisenperiode 1902-1903 anderthalb Jahre lang
nicht einberufen.) All das demonstriert die absolutistischen Züge der Kriegsverwaltung.
Die Erhöhung des Rekrutenkontingents konnte dennoch nicht durchgesetzt werden.
Nach 1903 stieß selbst die Bewilligung des Rekrutenkontingents in unveränderter Höhe
auf größte Schwierigkeiten, und am Ende der in der vorliegenden Studie untersuchten
Periode, 1907, erklärte der Reichskriegsminister: Die Erhöhung der Rekrutenzahl
bleibe als Ziel nach wie vor gültig, es bestehe allerdings keine Aussicht darauf, daß dies
in der nächsten Zukunft auch erreicht werden könne. Deswegen bleibe auch nichts
anderes übrig, als „die unaufschiebbaren Ausgestaltungen im Heere innerhalb des
bisherigen Rekrutenkontingents durchzuführen".34

                                               Die Frage der Honvedartillerie

   Die Bemühungen um eine Erhöhung des Rekrutenkoniingents wurden durch die
sich 1904/05 abzeichnende ungarische Krise für lange Zeit chancenlos. Die Frage der
Kontingentserhöhungwurde in dieser Zeit auf den gemeinsamen Ministerratssitzungen
gar nicht mehr zur Sprache gebracht. Die Bewüligung des früheren Rekratenkontin-
gents und des Budgetprovisoriums war zur größten Sorge der Regierungen geworden.
Doch kam der Plan, die Rekrutenzahlen zu erhöhen, den Parlamenten jedenfalls
gelegen, um ihre eigenen militärischen Forderungen zu formulieren: das Programm der
Dienstzeitverkürzung insbesondere im österreichischen Parlament und das Programm
der .nationalen Errungenschaften" vor allem im ungarischen Parlament.

                                                                                                                                                                                                    /

34 Der gemeinsame Kriegsminister an den k. k. Landesverteidigungsminister v. 3. 6. 1907, KA., MKSM.
    33-1/41/1907.
|| || XLvm  Einleitung

   Bereits im Herbst 1903 erarbeitete eine neunköpfige Gruppe der ungarischen Libe¬
ralen Partei ein Militärprogramm, mit dem sie ihrer Auffassung nach der auch in der
Regierungspartei selbst wachsenden nationalen Unzufriedenheit Luft machen konnte.
Franz Joseph, der das Militärprogramm des sogenannten Neuner-Ausschusses in
mehrerer Hinsicht billigte, beauftragte dann im Herbst 1903 Istvän Tisza mit der
Regierungsbildung.35 Immerhin vertraten einige Mitglieder der Militärführung, allen
voran der gemeinsame Kriegsminister Pitreich, die Ansicht, daß das Programm des
ungarischen Neuner-Ausschusses für die Kernfrage - die Einheit der Armee - keine
Gefahr bedeutete. Pitreich meinte auch in seinen rückblickenden Betrachtungen, daß
in objektiver Würdigung aller in Betracht kommender Momente diese Bestrebungen
innerhalb der militärisch noch zulässigen Grenzen geblieben wären.36 So war es möglich,
daß ein weiterer Vorschlag Tiszas, der nicht Bestandteil des Programms des Neuner-
Ausschusses war und nicht die gemeinsame, sondern die Honvedarmee betraf, dem
gemeinsamen Ministerrat vorgelegt wurde. Im Frühjahr 1904 ersuchte Tisza den Mo¬
narchen um die Aufstellung von Honvedartillerieregimentem.

   Im Jahre 1868 war es bekanntlich zur Aufstellung der Honvedarmee bzw. - um der
dualistischen Parität willen - in Österreich zur Aufstellung der Landwehr gekommen,
wobei die gemeinsame Armee unverändert belassen wurde. Die unter ungarischer
Kommandosprache und, bis zu einem gewissen Grade, unter der Oberhoheit des
verantwortlichen ungarischen Landesverteidigungsministers stehende Honvedarmee
bestand aber lediglich aus Infanterie und Kavallerie, und diese vermeintlich stark vom
ungarischen Geist geprägte Rumpfarmee war eher als Ordnungskraft im Inland denn
als tatsächliche Verteidigungskraft der Monarchie gedacht.37

   Im Februar 1904, als die Opposition im ungarischen Abgeordnetenhaus nicht nur
einer Erhöhung des militärischen Kontingents obstruierte, sondern auch nicht für das
normale jährliche Rekrutenkontingent stimmen wollte, rückte Ministerpräsident Istvän
Tisza mit einem Plan über die Ausstattung der Honvedarmee mit Artillerieverbänden
heraus.38 Er verwies darauf, daß eine derartige Entwicklung der Honvedarmee seit
langem von Ungarn gefordert und dies in der Delegation erneut zur Sprache gebracht

35 Dolmänyos, A magyar parlamenti ellenzdk tört^netdböl 1901-1904 266-268; Pitreich, Meine Bezie¬
    hungen zu den Armeeforderungen Ungarns verbunden mit der Betrachtung dermaliger internationaler
    Situation.

36 Pitreich an Bolfras v. 31.12.1905, KA, MKSM. 82-1/2/1906.
37 Laut GA XII/1867, § XLI, standen die Honvids unter dem Befehl des Landesverteidigungsministers und

     des Oberkommandierenden der Honvidarmee, der vom Monarchen ernannt wurde. Bei den Honvids war
     Ungarisch bzw. in Kroatien Kroatisch die Kommandosprache. Der Einsatz der Honvids außerhalb der
     Landesgrenzen Ungarns bedurfte der Billigungdurch das Parlament Die Einberufung derHonvids erfolgte
     aufgrund einer königlichen, vom Landesverteidigungsminister gegengezeichneten Verordnung. Die Aufga¬
    ben der Honvidarmee wurden im Gesetz folgendermaßen definiert: Die Landwehr ist im Kriege zur
    Unterstützungdes stehenden Heeres und zur inneren Verteidigung, im Frieden ausnahmsweise auch zur
    Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und Sicherheit bestimmt. Berkö, A magyar kirflyi honvJslg
    törtlnete 1868-1918; Papp, A magyar honv£dslg kialakuläsa a kiegyezfe utän 317-322; Wagner, Ge¬
    schichte des k. k. Kriegsministeriums, Bd. 2 43-51.
38 Tisza an den König v. 21. 2.1904, KA, MKSM. 12-3/4/1904. Der ungarische Ministerrat beriet am 24.
    Februar über die Honvidartülerie, OL, Sektion K-27, Nr. 9/1904.
|| || Einleitung  YL

worden sei. Früher war diese Reform mit der Begründung abgelehnt worden, daß die
bei der Honvedarmee übliche 2weijährige Dienstzeit nicht zur AusbUdung der Soldaten
in der Artillerie ausreiche. Jetzt aber, da die Dienstzeit in der ganzen Armee auf zwei
Jahre reduziert werde, scheine auch dieses Argument automatisch entkräftet. Tisza
betonte, der Plan sei politisch ungefährlich und lasse die Einheit der Armee unangeta¬
stet. Doch würde die Maßnahme die Position der Regierung gegenüber der Opposition
außerordentlich stärken.

   Der Vortrag Tiszas endet mit folgenden Sätzen: „Ich habe die durch Euer Majestät
Ag. Vertrauen zugedachte Mission mit dem festen Entschluß [eines] um das Schicksal
seines Vaterlandes schwer bekümmerten Mannes übernommen und werde mit voller
Anstrengung der mir zu Gebote stehende Kraft alles daran setzen, dieselbe mit Erfolg
zu erfüllen, unbekümmert dessen, daß diese meine au. Bitte in Erfüllung geht oder nicht,
aber mit bitterem Schmerze würde ich es bedauern, wenn es mir verwehrt werden
würde, diese günstige Gelegenheit benützen zu können, um den Leuten die Augen zu
öffnen und an das für die Treue und Liebe zu ihrem Könige stets empfängliche Herz
der Ungarn zu appellieren."

   Franz Joseph hielt Tiszas Vorschlag für beachtenswert und aus der Sicht des neuen
Wehrgesetzes für gut brauchbar, und er forderte ein Gutachten von Militärexperten
an* Am 29. März 1904 fand unter dem Vorsitz Sr. Majestät eine Beratung „über die
Frage der Schaffung von Artillerie bei den Landwehren" statt, an der Pitreich, Welsers-
heimb und Beck teilnahmen.40 Es mag auffallen, daß an den Beratungen in der Müitär-
kanzlei über die Frage der Honvedartillerie außer dem gemeinsamen Kriegsminister
und dem Generalstabschef lediglich der österreichische Landesverteidigungsminister
teilnahm, den ungarischen Landesverteidigungsminister hatte man wohl „vergessen"
einzuladen. Der gemeinsame Kriegsminister Pitreich, der in den vorangegangenen
Monaten wegen der „nationalen Sensibilität der Ungarn"41 ziemlich viele Sorgen hatte,
nahm Tiszas Elaborat allerdings mit Sympathie auf. Aus militärischer Sicht hielt er es
für vorteilhaft, politisch indes mahnte er zur Vorsicht. Die Maßnahme sollte so hinge¬
stellt werden, als wäre sie ausschließlich mit militärischen Gesichtspunkten zu begrün¬
den, und nicht als eine erzwungene politische Konzession. Er zeigte Verständnis für
Tiszas Initiativen, wußte er doch, daß dieser seine Partei bei einer Reform des Wehr¬
gesetzes nur durch gewisse politische Errungenschaften Zusammenhalten können
würde. Es stellte sich nun die Frage, ob es um diesen Preis gelingen würde, die Erhöhung
des Rekrutenkontingents bzw. das neue Wehrgesetz im Parlament durchzusetzen. So
ungewiß die Lage auch sein mochte, schloß der Kriegsminister seinen Gedankengang,
müßte man in der Frage der Honvedartillerie eine Entscheidung treffen. Entweder man

39 Im März1904legte dergemeinsame Kriegsminister eine Studie Über Landwehrartillerie vor, KA., MKSM.
    12-3/4/1904.

40 Ebd.
41 Pitreich äußerte sich vor der österreichischen Delegation dahingehend, daß die Armee aus den politischen

     und nationalen Gegensätzen herauszuhalten wäre. Das ungarischeAbgeordnetenhaus sah in dieser Erklä¬

     rung eine Ablehnung auch der vom König akzeptierten ungarischen nationalen Ansprüche undprotestierte
    dagegen. Afponyi, Emldkiratai 114-115.
|| || L Einleitung

verstehe unter der Revision der Wehrmacht von vornherein auch die Aufstellung einer
Honvedartillerie, oder man verweigere dies. Doch dann müsse man zu dieser Entschei-
dung stehen, denn nichts wäre gefährlicher, als wenn das Verdienst der Durchsetzung
dieses Wunsches der Opposition zufiele. Nach den Erklärungen des Generalstabschefs
und des gemeinsamen Kriegsministers wurde die militärische Beratung ungeachtet der
vagen Einwände des österreichischen Landesverteidigungsministers im Sinne Tiszas
beendet.

   Die Debatte wurde durch einen Vortrag des österreichischen Ministerpräsidenten
an den Monarchen ausgelöst Koerber lehnte darin und dann auch in zwei aufeinander¬
folgenden Ministerratssitzungen unter Ah. Vorsitz das „Unzulässige" ab.42 Die öster¬
reichische Bevölkerung sehe die gemeinsame Armee als die Schutzkraft gegen den
ausländischen Feind an. „Diese Anschauung hat ihren Ursprung in dem großen öster¬
reichischen Staatsgedanken, der die gesamte Monarchie umfaßt." In Ungarn indes,
schrieb er zu vollem Recht habe der österreichische Staatsgedanke keine tiefen
Wurzeln. ,Jn Ungarn werden die Honveds als nationale Truppe angesehen und, das
läßt sich nicht bestreiten, mit mehr Sympathie bedacht als die Angehörigen der gemein¬
samen Armee." Die Bestrebungen der Ungarn, die Honvedarmee weiter auszubauen,
können wohl kaum mißverstanden werden. Und die österreichische Regierung könne
das Volk nicht irreführen. „So stark ist der Dualismus während seines siebenunddrei-
ßigjährigen Bestehens auch in Österreich nicht geworden, um die Belastungsprobe
eines selbständigen ungarischen Heeres auszuhalten, und es wird hier keinen Menschen
geben, der nicht nach der Schaffung einer Honvedartillerie die selbständige ungarische
Armee fertig vor sich sieht."43

   Nach alldem braucht man wohl kaum das von Koerber entworfene Schreckensbild
weiter auszumalen: Die selbständige Armee führe zur Personalunion und zur Herr¬
schaft der extremistischenParteien inbeiden Reichshälften, die das höchste Zielhätten,
die Monarchie zu sprengen.

   Die augenblickliche Gefahr dürfte realistischer sein als die Zukunftsvision: In Öster¬
reich wird man denken, die österreichische Regierung habe keinen Einfluß auf die
Geschicke der Monarchie und habe nicht verhindern können, daß in den 37 Jahren der
Doppelmonarchie immense Summen für die Armee ausgegeben wurden, um eine
selbständige ungarische Armee aufzustellen. Hier ginge es nicht mehr um eine ungari¬
sche Angelegenheit, um Tiszas Plage mit der parlamentarischen Opposition. Man
müsse endlich für Ruhe sorgen, um nicht die Gemüter mit immer neuen Forderungen
zu erregen. „... wenigstens die zeitweilige Ruhe der Monarchie [ist] ein unerläßliches
Gebot des Augenblickes, wenn es überhaupt möglich sein soll, sie in ihrer jetzigen
staatsrechtlichen Form zu erhalten... Sobald jedoch Ungarn mit neuen Anforderungen
militärischen Inhaltes hervortrete und sie noch dazu in die so eklatante Form der

« Koerbers Vortrag an den Kaiserv. 2 4.1904, KA., MKSM. 12-3/4/1904; GMR v. 23,4.1904, GMCZ. 444/b,
      und GMR v. 5.5.1904, GMCZ. 445/b.

43 Koerbers Vortrag an den Kaiser v. 2.4.1904, sieheAnm. 42.
|| || Einleitung  LI

Aufstellung einer Honvedartillerie kleide, werde ganz Österreich von dem Ausgleich
und von jeder Art Gemeinsamkeit nichts mehr wissen wollen."44

   Aufdem Ministerrat richtete sich Tisza aufeine offensive Verteidigung ein. Er schlug
den gleichzeitigen Ausbau der beiden Landwehren vor, der sich mit militärischen
Gesichtspunkten begründen ließe und nicht zu einer politischen und nationalen Ange¬
legenheit aufgebauscht werden dürfte. Sein Vorschlag berühre die Einheit der Armee
der Monarchie nicht Wenn er in Österreich dennoch einen schlechten Eindruck
mache, so seien die Gründe für die Schwierigkeiten dort zu suchen: in der Auffassung,
die nicht an die Möglichkeit einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen den beiden
Staaten glaube und den bestehenden staatsrechtlichen Rahmen des Nebeneinanderle¬
bens in Frage stelle.45

   In der Debatte siegte der ungarische Ministerpräsident freüich nicht dank der
Beweiskraft seiner Argumente, sondern weü der die Einheit der Armee sorgsam
hütende Kaiser in der Honvedartillerie keine Gefahr einer selbständigen ungarischen
Armee sah. „Er räumte ein, daß die Schaffung einer Honvedartillerie seinerzeit anlä߬
lich des Inslebentretens der Honved aus Mißtrauen ... nicht zugegeben worden sei.
Seither habe sich die Honved aber so entwickelt, ... daß kein Grund mehr bestehe,
dieses Mißtrauen noch weiter aufrechtzuerhalten."46 Koerber habe freüich recht, daß
die Honvedartillerie eine politische Frage wäre, daß ihre Schaffung in Ungarn als ein
politisches Zugeständnis gefeiert und dies die Österreicher irritieren würde. Und
dennoch müsse der Kriegsminister die Wege finden, wie die Gemüter der Delegationen
beider Staaten zu beschwichtigen wären, damit die Schaffung der Honvedartillerie im
Einvernehmen mit den beiden Regierungen schrittweise, im Laufe von mehreren
Jahren und im Zuge der allgemeinen Umorganisierung der Artillerie verwirklicht
werde.47

   Was geschah also? Verteidigte Koerber die Einheit des Reiches gegen den Willen
des Generalstabschefs Beck, des gemeinsamen Kriegsministers Pitreich und Kaiser
Franz Josephs? Bewahrte Koerber, der liberale, moderne österreichische Politiker
Doktrinen, die selbst in der kaiserlichen Militärkanzlei als überholt beurteUt wurden?
Oder war ihm einfach Tisza verhaßt, und er wollte den Mann stürzen, mit dem er seit
dessen Amtsantritt als ungarischer Ministerpräsident ständig Meinungsverschieden¬
heiten hatte?48 Und darüber hinaus: Warum verdient eine Debatte über die Aufstellung

44 GMR. v. 23. 4.1904, GMCZ. 444/b.
45 GMR. v. 5.5.1904, GMCZ. 445/b.
46 GMR v. 23.4.1904, GMCZ. 444/b.
47 Nach dem Ministerrat vom 23. April setzte Pitreich am 24. 4. 1904 den Text einer vor der Delegation

     abzugebenden Erklärung auf, HHSrA., PA. I, Karton 576,280/CdM. Tisza ersuchte um die Modifizierung
     des Textes:Aus derErklärung des Kriegsministerssollte hervorgehen, daß dieFrage derArtillerie entschieden
    sei. Tisza an Pitreich v. 28. 4.1904, ebd., 290/CdM. Die modifizierte Erklärung schickte Pitreich am 7. 5.
     1904dem gemeinsamenAußenminister Goluchows/äzu, ebd., 3Q0ICdM.KoerberwarmitPitreichsgeplanter
    Erklärung nicht einverstanden, Koerber an Pitreich v. 1. 5.1904, KA., KM., Präs. 72-34/4/1904; Koerber
     opponierte der geplanten Erklärung des Kriegsministers auch vor dem Kaiser, Koerber an Se. Majestät v. 16.
     S. 1904, HHStA., Kab. A., Direktionsakten, Nr. 19/1904.
48 Nicht ohne Grund schrieb Tisza Koerber eine Rolle in der ablehnenden Haltung der Krone und der
    Kriegsßihrung in der Frage der militärischen Forderungen zu. Dies ßhrle zu persönlichen Feindseligkeiten
|| || LH Einleitung

einiger HonvedartiUerieverbände (zu der es übrigens erst Jahre später und unter
wesentlich veränderten Voraussetzungen kommen sollte49) unsere Aufmerksamkeit?

   Koerber verteidigte, ebenso wie seine Vorgänger im Amt fünfzig Jahre lang, die
Reichseinheit, den Gedanken des Gesamtstaates gegen die Abkapselungsabsichten der
Ungarn. Er vertrat die Auffassung, daß die Deutschösterreicher der Garant der Reichs¬
einheit, der Träger des österreichischen Staatsbewußtseins seien, wie auch seine
deutschliberalen Vorgänger argumentiert hatten. Die Axiome des 19. Jahrhunderts
blieben auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gültig, ebenso wie die These, daß die
Ungarn die Honvedarmee und die Deutschösterreicher die gemeinsame Armee als
Nationalarmee ansahen. Und in dieser unbestrittenen Realität hatte die Vehemenz der
Koerberschen Angriffe ihre Winzeln.

   Was in Ungarn der Gebrauch des Ungarischen als Kommandosprache und die
Verwendung der Nationalembleme bedeuteten (also vollkommenere und eindeutigere
Ausgestaltung der nationalen Souveränität, die Dominanz der ungarischen Nation über
die anderen Nationalitäten in Ungarn), bedeutete in Österreich der Anspruch auf die
Aufrechterhaltung einer gemeinsamen Armee mit unauflösbarer Einheit und unter
unverändertem deutschem Kommando. Nicht die Landwehr, sondern die gemeinsame
Reichsarmee sollte ausgebaut werden. Denn in der Landwehr wurde die Führungsrolle
der Deutschösterreicher über die eigenen Nationalitäten ebenso in Frage gesteht wie
in der gemeinsamen Armee die Hegemonie der Ungarn über die Nationalitäten in
Ungarn.

   Koerber griff nicht oder nicht nur die Aufstellung der Honvedartillerie an, sondern
auch die Verstärkung der österreichischen Landwehr, in der die Tschechen heute oder
morgen die tschechische Kommandosprache hätten fordern können. In der müitäri-
schen Beratung vom 29. März 1904 sagte Welsersheimb unverhüllt, daß die parlamen¬
tarischen Parteien die Landwehr am liebsten auf föderalistischer Grundlage organisier¬
ten.50 Dieser Satz war in der Folge nicht mehr zu hören, in Koerbers Bedenken schwang
er aber mit.

   Und wenn die müitärischen Forderungen in Ungarn ein politisches Programm, eine
aktivierende, die Parteien zusammenhaltende Parole waren, Blitzableiter vermeintli¬
chen oder echten Unrechts, dann war eine ähnliche Rolle der müitärischen Forderun-

     zwischen den beiden Regierungen. Das Verhältnis spitztesichinsbesondere im November1903zu, als Koerber
     die Forderungen des sogenannten Neuner-Ausschusses als dieEinheit der Wehrmachtgefährdend beurteilte,
     während Tisza Koerbers Erklärung als eine unbefugteEinmischung in die innerenAngelegenheiten Ungarns
    bezeichnete, Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, Bd. 8 513-517; Sieghart, Die letzten
    Jahrzehnte einer Großmacht 62-63.
49 Die Honvedartillerie wurde 1912 aufgestellt, GA XXX/1912; Aumayer-Beck, Der Ausgleich von 1867
    und die k. u. k. bewaffnete Macht 122. Mit der Schaffung einerLandwehrartillerie wurde aber schon 1906

   begonnen. Siehe den Vortrag des gemeinsamen Kriegsministers V. 9.3.1906, KA, MKSM. 4-3/1/1906; Ah.

    E. v. 13.3.1906, ebd.
50 Der österreichische Landesverteidigungsminister Welsersheimb aufder am 29. März 1904 unter Vorsitz des

     Monarchen abgehaltenen Militärberatung siehe Anm. 40. Es ist sehr bezeichnend, daß 1868, bei der
    Ausarbeitung des Gesetzes über die Landwehr, der damalige gemeinsame Kriegsminister Franz Kuhn den
    Charakter dergemeinsamenArmee bzw. der beiden Landwehren folgendermaßen beschrieb: Die Landwehr
    beider Reichshälften müsse einen „nationalen Anstrich" bekommen, die Hauptarmee jedoch einheitlich
    sein (Hervorhebung von £. S.), zit. in Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministeriums 47.
|| || Einleitung  LHI

gen in Österreich, wo die inneren Verhältnisse viel komplizierter waren, ebenso nötig.
Koerber mußte das immer mehr nachlassende österreichische Staatsbewußtsein der
Deutschösterreicher, das Bewußtsein der Zugehörigkeit zum Gesamtstaat stärken, und
für dieses Bewußtsein bot auch der Schutz des Gesamtstaates vor der „ungarischen
Bedrohung" einen sehr geeigneten Nährboden.

   Die Episode um die Honvedartillerie signalisierte eines: Mochten sich auch die
Formen des Widerspruchs in den Jahren der Doppelmonarchie gewandelt haben, die
Honveds zu einer zuverlässigen Stütze des Reiches geworden sein, die Quelle der
Probleme blieb dieselbe, und zwar daß jeder noch so bescheidene Wunsch nach
Veränderung des Systems - wie auch Tiszas Vorschlag - eine Reihe neuer Konflikte
zutage förderte. „Gemeinsam und einheitlich, wie es ist, soll Mein Heer bleiben", sagte
der greise Kaiser mit nicht geringem Selbstbewußtsein.51 Und das wünschten sich auch
seine Minister, Istvän Tisza nicht weniger als Koerber. Der Konflikt rührte nicht von
der Negation der Einheit her, sondern von ihrer Zerbrechlichkeit.

                  5. Handelsverträge vor dem gemeinsamen Ministerrat

   Die gemeinsamen Ministerratssitzungen über die Handelsverträge waren in vieler
Hinsicht spezifisch. Die Behandlung der sogenannten „paktierten" gemeinsamen An¬
gelegenheiten - im ungarischen Ausgleich als Angelegenheiten „gemeinsamen Interes¬
ses" bezeichnet - wurde nicht durch die Interessengegensätze zwischen dem Reich und
den beiden Staaten geprägt wie sonst, sondern durch jene zwischen Österreich und
Ungarn.1 In der Frage der Handelsverträge war es so eindeutig, daß es vor allem darum
ging, die Interessen Ungarns und Österreichs irgendwie in Einklang zu bringen, daß die
dritte Seite, also die bestellten Vertreter der Reichsinteressen, an den Sitzungen des
gemeinsamen Ministerrates über die Handelsverträge gar nicht teilnahm. Derartigen
Beratungen blieben neben dem Monarchen immer auch die gemeinsamen Kriegs- und
Finanzminister fern.2 Den Vorsitz führte der Außenminister, und wollte man seine
Funktionen - die als Minister des Äußern, des Ministers des kaiserlichen Hauses sowie
die des Vorsitzenden des gemeinsamen Ministerrates - voneinander trennen, so nahm
er am Ministerrat vor allem in seiner dritten Funktion teü, d. h., er führte lediglich den

51 Aus dem Text des zum galizischen Manöver am 16. September 1903 in Chlopy erlassenen Armeebefehls, der
    große Entrüstung auslöste, siehe Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, Bd. 8 494-495.

 1 EinegenaueBeschreibung derInteressengegensätzezwischen den beiden Staaten gibtFischer in seiner Studie
    überdie Erneuerung desHandelsvertrages mitItalien, Fischer, Der Handelsvertrag zwischen Österreich-
    Ungarn und Italien vom Jahre 1906 347-362.

 2 In der hier behandelten Periode fanden zehn gemeinsame Ministerratssitzungen über die Handelsverträge
    statt: GMR v. 19.11.1903, GMCZ. 439; GMR. v. 28. 2.1904, GMCZ. 440; GMR. v. 16 8.1904, GMCZ.
    446; GMR. v. 30.10.1904, GMCZ. 447; GMR v. 1Z1.1905, GMCZ. 449; GMR v. 10.1.1906, GMCZ. 455;
    GMR v. 16.1.1906, GMCZ 456; GMR v. 2. Z 1906, GMCZ 457; GMR v. 27. Z 1906, GMCZ 458, und
    GMR v. 6 1. 19117, GMCZ 460. Die gemeinsamen Kriegs- und Finanzminister nahmen nur an der
    gemeinsamen Ministerratssitzung des Jahres 1903 teil, diese beriet aber auch über andere Themen.
|| || UV  Einleitung

Vorsitz, war bemüht zu vermitteln und hütete sich, die Standpunkte sachlich zu beein¬
flussen, da dies über seine Kompetenz hinausgegangen wäre.3

   Den Ministerratssitzungen gingen Fachberatungen voraus, also Handels- und Zoll¬
konferenzen, die im Gebäude des Außenministeriums stattfanden. Diese gewöhnlich
tage-, oft wochenlangen Verhandlungsserien hatten den Zweck, einen gemeinsamen
Standpunkt der beiden Regierungen zu erarbeiten, den sie dann gegenüber ausländi¬
schen Staaten einheitlich vertraten oder vertreten sollten.4

   Gemeinsame Ministerratssitzungen über Handelsverträge wurden nur gelegentlich
abgehalten. Bei diesen Beratungen konstatierte der gemeinsame Ministerrat in der
Regel das Ergebnis der Handels- und Zollkonferenz, und es wurden die Themen
weiterer Konferenzen festgelegt. Hier war jedoch nicht die Überbrückung der Interes¬
sengegensätze zwischen den beiden Staaten das Ziel, denn das sollte ja schon bei den
Handels- und Zollkonferenzen erreicht worden sein. Vielmehr hatte der Ministerrat
einen prinzipiellen Standpunkt gegenüber den ausländischen Staaten zu erarbeiten,
wobei selbstverständlich auch die Meinungsverschiedenheiten zwischen Österreich und
Ungarn von Zeit zu Zeit zutage traten.

   Die Anregung zur Einberufung eines Ministerrates über dieses Thema lag ebenso in
der Kompetenz des Außenministers oder der beiden Ministerpräsidenten wie auch zu
anderen Fragen; es kam aber auch vor, daß eine gemeinsame Ministerratssitzung von
der Handels- und Zollkonferenz beantragt wurde.5 Diese Ministerratssitzungen waren
immer zahlreich besetzt, 10-18 Personen, Fachminister und hohe Beamte der Ministe¬
rien - Fachdelegierte, wie Gohichowski sie nannte -nahmen daran teü.Wahrschemlich
entschieden meistens die beiden Ministerpräsidenten, wen sie ihrerseits zu den Bera¬
tungen mitnehmen wollten.6 Sie regten auch die Einladung des österreichischen Bot¬
schafters in Berlin zu jenem gemeinsamen Ministerrat an, in dem der deutsche
Handelsvertrag vorbereitet wurde.7 Wegen des ausgeprägten Charakters als Beratung
von Fachleuten zog man einmal sogar in Erwägung, daß auch die Ministerpräsidenten
nicht daran teilnehmen sollten.8

3 Siehe GMR. v. 30. 10. 1904, GMCZ. 447, und GMR. v. 12. 1. 1905, GMCZ. 449 - hier unterstrich

     Gotuchowski, daß er in der Frage der Viehseuchenkonvention keinen Einfluß aufdie ungarische Regierung

     nehmen wolle.
4 Vgl. Btttner, Das österreichisch-ungarische Ministerium des Äußern 840. Beim Abschluß des Handels¬

     vertrages mit Deutschland hob der Berliner Botschafter Szögytny hervor, daß die ungarischen und österrei¬

     chischen Delegierten bei den Verhandlungen mit den Deutschen völlig übereinstimmend vorgegangen waten
    und nie der geringste Mißton zu Tage getreten ist..Szögyiny an Gotuchowski v. 31.1.1905, HHSrA.,
    PA. III, Karton 161.

5 Dies warz. B. beim GMR. v. 6.1.1907derFall, woraufAehrenthal bei derEröffnung des Ministerrates auch
    verwies. Siehe GMRProt. v. 6.1.1907, GMCZ. 460, Anm. 1. 1

6 Gotuchowskiforderte am 22.2.1904 die beiden Ministerpräsidenten auf, zum GMR. v. 28.2.1904auchjene
    Fachleute mitzunehmen, deren Teilnahme siefür nötig erachteten, HHStA., PA. I, Karton 621,64/CdM.
    Die beiden Ministerpräsidenten kamen derAufforderungnach: Koerber an Gotuchowski v. 23.2.1904, ebd.,
    101/CdM.; Tisza an Gotuchowski v. 25.2.1904, ebd., 102/CdM.

7 Gotuchowski an Szögyiny v. 15. 2.1904, ebd., 68/CdM.
8 Fejirvärys Vorschlag eingedenk der inneren Probleme Ungarns: Fejbväry an Gotuchowski v. 22. 2.1906,

    ebd., 59/CdM. Zum vorgesehenen Zeitpunkt wurde schließlich doch kein Ministerrat abgehalten.
|| || Einleitung     LV

            *

   Die Handelsvertragsverhandlungen zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn
wurden im März 1904 aufgenommen. Die Monarchie wollte formell lediglich den
Handelsvertrag von 1891 erneuern, praktisch ging es aber um mehr: um ein System
neuer Vertragswerke, dessen Kern wohl die mit den Staaten des Dreibundes getroffe¬
nen Verträge bildeten, das sich aber auch auf die Verträge mit Rußland und den
Balkanstaaten (Serbien, Bulgarien, Rumänien) erstrecken sollte.9 Die Verhandlungen
mit Deutschland erreichten im Herbst 1904 ihr abschließendes Stadium. Deutschland
übte starken Druck auf die Monarchie aus, indem es einerseits die politische Bedeutung
des Handelsvertrages im Hinblick auf Aufrechterhaltung und Bekräftigung des Drei-
bundes unterstrich10 und andererseits auf die zwingenden Auswirkungen der deutschen
innenpolitischen Verhältnisse verwies. Im Dezember 1902 waren nämlich in Deutsch¬
land neue Handelstarife eingeführt und die Zollsätze erheblich angehoben worden. Bei
prozentueller Aufteilung der Zollerhöhung auf die drei bedeutendsten Zollgruppen
ergab sich für die Agrarzölle eine Erhöhung von etwa 31%, für die Industriezölle von
etwa 23%. Die restlichen 46% betrafen die reinen Finanzzölle auf Kolonialwaren usw.
Auch durch Mindest- und Höchstzollsätze auf die wichtigsten Getreidearten wurden
die Agrarinteressen begünstigt.11 Das neue Zolltarifsystem war das Ergebnis des Auf-
einanderprallens der Agrar- und Merkantilkräfte und befriedigte - wie bei Kompro¬
missen üblich - weder die Agrarier, die im Parlament die Mehrheit besaßen, noch die
Kreise der Industrie vollständig. Bei den Verhandlungen mit der Monarchie durfte sich
die deutsche Regierung mithin darauf berufen, daß sie den mit der Monarchie geschlos¬
senen Vertrag im Parlament nur dann durchzusetzen vermochte, wenn sie ein Junktim
unter allen Handelsverträgen mit ausländischen Staaten hersteilen und diese um die
Jahreswende 1904/05 dem Reichstag unterbreiten könnte. Mit diesem Argument gelang
es dem deutschen Verhandlungspartner, die Verzögerung der Unterredungen und vor
allem das Beharren der Monarchie, insbesondere aber Ungarns, auf dem Schutz ihrer
eigenen Agrarinteressen zu verhindern.

   Zur Vorbedingung der Unterzeichnung eines neuen Handelsvertrages machte
jedoch die Monarchie den Abschluß eines Veterinärabkommens mit Deutschland, mit
dem das Importland keinen übermäßigen Mißbrauch treiben könnte. Die im Jahre 1891
geschlossene erste Viehseuchenkonvention sollte wohl das Exportland gegen willkürli¬
che Beschränkungen des Viehverkehrs schützen, doch die österreichisch-ungarischen
Exporteure beklagten sich weiterhin über eine allzu strenge Kontrolle der deutschen
Veterinärverwaltung.12 In der neuen Konvention vom 25. Januar 1905 ging man von der
Generalrepressivsperre zur Spezialpräventivsperre über: Es wurde erreicht, daß beim

9 SieheKoerbersAusßhrungen im GMR. v. 28.2.1904, GMCZ. 440;ferner Grunzel, Die handelspolitischen

    Beziehungen Deutschlands und Österreich-Ungarns 80-82.
10 Zu den Verhandlungen Szögytnys mit Kanzler Bülow siehe Szögyiny an Gotuchowski v. 29. 11. 1904,

    HHSrA., AR-, F. 37, Karton 47, Deutschland 10, Nr. 230.
11 Croner, Geschichte der agrarischen Bewegung in Deutschland 242 ff.

12 Benedikt, Die wirtschaftliche Entwicklung in der Franz-Joseph-Zeit 138.
|| || LVI  Einleitung

Ausbruch einer Tierseuche in einem Teil Österreichs oder Ungarns der Viehhandel
nicht völlig eingestellt werden mußte. Es wurde genau festgelegt, wann die Grenzen
völlig gesperrt und unter welchen Bedingungen Lebendvieh aus den von der Tierseuche
nicht betroffenen Gebieten weiterhin geliefert werden konnte.13 Nachdem in langwie¬
rigen Verhandlungen, bei welchen auch die diesbezüglichen Interessengegensätze
zwischen Ungarn und Österreich überwunden werden konnten, eine Modifizierung des
Veterinärabkommens hatte durchgesetzt werden können, nahm die Monarchie die
enormen Zolltariferhöhungen zur Kenntnis und schloß den Handelsvertrag mit
Deutschland ab. Der am 25. Januar 1905 Unterzeichnete Vertrag wurde in Österreich
durch das Parlament gebilligt. Daß es dazu in Ungarn erst ein Jahr später und nur durch
Verordnung kommen konnte, gehört streng genommen nicht zur Geschichte des Han¬
delsvertrages.14

                                                                                         *

   Bereits im Ministerrat über den Handelsvertrag mit Deutschland war zur Sprache
gebracht worden, daß die Monarchie für die Opfer, die sie für den Handelsvertrag mit
Deutschland bringen mußte, Kompensation auf dem Balkan suchen sollte.15

   Die drei Balkanstaaten - Bulgarien, Rumänien und Serbien - waren am gesamten
Export der Monarchie mit 7-10% beteüigt. Dieser Anteü war an sich schon beträcht¬
lich, seine Bedeutung wurde aber durch den Umstand noch weiter erhöht, daß er bis
zu 85% aus Industriegütern bestand. Am Export von großindustriellen Massenwaren
in die Balkanstaaten war vor allem der westliche Teü des Reiches interessiert. Die
Balkanländer galten aber auch als bedeutende Abnehmer von Zucker, Eisenwaren und
Produkten des Maschinenbaus aus Ungarn.16 Unter den Balkanstaaten unterhielt die
Monarchie insbesondere Kontakte zu Serbien. Von da kaufte sie große Mengen Ge¬
treide und Lebendvieh, und dieses Land war wegen seiner geographischen Lage auch
aus politischer Sicht für die Monarchie von großer Bedeutung.

   Der neue deutsch-österreichische Handelsvertrag beschäftigte die Serben natürlich
lebhaft. Sie waren um den möglichen Verlust ihrer wichtigsten Absatzmärkte besorgt.
Nur zu gut wußten sie, daß die Monarchie für die ungünstigen deutschen Zollbedin¬
gungen nach Kompensation auf dem Balkan suchen würde, und sie hatten ja schon
schlechte Erfahrung mit Österreich-Ungarn gemacht. 1904/05 versuchte die Monar¬
chie, Serbien auf eine die Souveränität des Landes verletzende Weise Skoda-Kanonen
aufzuzwingen. Die Absicht war offenbar, der am Rande des Bankrotts stehenden
österreichischen Firma den Absatzmarkt zu sichern, aber auch den südlichen Nachbarn
müitärisch und finanziell an sich zu binden. Diese österreichischen Bestrebungen

13 GMR. v. 30.10.1904, GMCZ. 447, und GMR v. 12.1.1905, GMCZ. 449.
14 Vgl. GMR v. 16.10.1905, GMCZ. 451; weiters GMRProt. v. 10.1.1906, GMCZ 455, Anm. 1.
15 Tisza im GMR v. 30.10.1904, GMCZ 447.
16 Grünberg, Die handelspolitischen Beziehungen Österreich-Ungams zu Rumänien, Serbien und Bul¬

     garien 268-270.
|| || Einleitung  Lvn

bestärkten Serbien jedoch in seinem Programm der wirtschaftlichen Emanzipation und
des Distanzhaltens von Österreich.17

   Der frühere Handelsvertrag zwischen der Monarchie und Serbien war am 31.
Dezember 1903 ausgelaufen; danach schlossen die beiden Staaten ein provisorisches
Abkommen ab. Die Verhandlungen der Fachdelegierten über einen neuen definitiven
Vertrag wurden erst 1905 aufgenommen.18 Anfangs zeigte sich die Monarchie zuvor¬
kommend gegenüber dem für sie so wichtigen Partner. Als aber Ende 1905 publik
wurde, daß Bulgarien und Serbien eine Zollunion eingehen wollten, schlug auf dem
Ballhausplatz die Stimmung gegenüber Serbien mit einem Schlag um.19

   Es ging hier natürlich nicht nur um Handelsbeziehungen, sondern vor allem um die
Balkanpläne der Monarchie. Die in einer Zollunion verbundenen Länder Bulgarien
und Serbien bestärkten in den Politikern am Ballhausplatz das Schreckensbild eines
großen südslawischen Staates. Und Gohichowski zog überhaupt das Recht der Bulga¬
ren in Zweifel, ohne Einwilligung der Großmächte eine Zollunion dieser Art einzuge¬
hen. Er bestand auf Artikel VDI des Berliner Vertrags, laut dem Bulgarien verpflichtet
war, den Großmächten ohne Anspruch auf Gegenseitigkeit die Meistbegünstigungs¬
klausel von vornherein zu gewähren.20 Doch setzten sich manche Großmächte, wie
Frankreich, über die Vorschriften des Berliner Vertrags hinweg und schlossen mit
Bulgarien regelrechte Handelsverträge ab, und selbst der diplomatische Vertreter der
Monarchie in Sofia riet, die wirtschaftlichen Emanzipationsbestrebungen des aufstre¬
benden, zukunftsreichen Bulgarien zu akzeptieren.21 Dennoch beschloß der gemeinsa¬
me Ministerrat, die Handelsvertragsverhandlungen mit Bulgarien abzubrechen, falls es
der Monarchie die Meistbegüngstigungsklausel nicht gewährte. Zugleich wurde
Serbien energisch aufgefordert, die Zollunion fallen zu lassen. Es war allerdings nicht
leicht, diesen diktatorischen Beschluß des Ministerrates durchzusetzen.22 Bulgarien
ließ nicht gelten, daß es der Monarchie die Meistbegünstigungsklausel automatisch
gewähren müßte. Die serbische Regierung ihrerseits wies am 20. Januar 1906 die
österreichische Forderung nach Modifizierung der Zollunion mit der Feststellung
zurück, sie sei „mit der Würde des Landes nicht vereinbar", und rief am 23. Januar ihre
in Wien verhandelnden Delegierten zurück.23 Damit waren die Verhandlungen abge¬
brochen. Die Monarchie sperrte ihre Grenzen „aus veterinärpolizeilichen Gründen"
für serbisches Lebendvieh.

17 Die Militärexpertenkommission in Serbien entschied sich im Juli 1905 schließlich für den Ankauf von
    französischen Geschützen. Der Konflikt um das Geschützgeschäft beeinflußte aber lange das Verhältnis
    zwischen derMonarchie undSerbien. Vgl. Markov, Serbien zwischen Österreich und Rußland 1897-1908
    56-61.

18 Die Ausführungen über den Handelsvertrag mit Serbien basieren vorwiegend auf einer Abhandlung von
    Janossy, Der handelspolitische Konflikt zwischen der österreichisch-ungarischen Monarchie und
    Serbien in den Jahren 1904-1910 285-312.

19 GMRv. 10.1.190(5, GMCZ. 455.
20 Ebd.
21 GMRProt v. 10.1.1906, GMCZ. 455, Anm. 7.
22 GMKv. 16.1.1906, GMCZ. 456.
23 K. u. k. Ministerium des Äussern. Diplomatische Aktenstücke über die Handelsvertrags-Verhandlun¬

    gen mit Serbien,1905-1906 4-5.
|| || Lvm                                          Einleitung

   Gohichowski führte zwar auch mit Bulgarien und Rumänien keine weiteren Ver¬
handlungen, war jedoch bereit, ihre Waren in die Monarchie zu lassen, wenn diese
Länder ihrerseits bereit wären, die Meistbegünstigungsklausel zu gewähren.

   Trotz des stürmischen Auftakts ersuchten die Serben Ende Februar doch um die
Aufhebung der Viehsperre und stellten gleichzeitig eine Modifizierung der Zollunion
in Aussicht. Gohichowski akzeptierte kein Junktim zwischen der Öffnung der Grenze
und der Erfüllung der Forderungen der Monarchie, er lud aber die serbische Verhand¬
lungsdelegation zur Vorbereitung des Vertrages ein.24 Der gemeinsame Ministerrat
beschloß, die Viehsperre nicht aufzuheben, jedoch fallweise eine begrenzte Menge
Vieh abzunehmen. Auf dieser Basis wurde am 17. März ein provisorisches Handelsab¬
kommen geschlossen.25Als man aber daran gehen wollte, über einen definitiven Vertrag
zu verhandeln, überreichte die Monarchie der serbischen Regierung ein Memorandum,
das stark an die Kanonenforderung vom vorangegangenen Jahr erinnerte. Zur Kom¬
pensation der aus dem vertragslosen Zustand resultierenden Nachteüe forderte darin
die Monarchie einen Teü der staatlichen Bestellungen Serbiens für sich, und zwar in
der Weise, daß „bei staatlichen Lieferungen die österreichisch-ungarischen Erzeugnis¬
se bei Parität von Preis und Qualität nicht ausgeschaltet werden. Letzteres hätte
namentlich zu gelten bezüglich der eben im Zuge befindlichen Frage der Lieferung von
Geschützen."26 Unter dem Eindruck dieses herausfordernden Memorandums der
Monarchie wurden die Verhandlungen erneut abgebrochen. Die politische und wirt¬
schaftliche Führung Serbiens richtete sich zu dieser Zeit bereits auf einen langen
Widerstand ein. Die Skuptschina stattete die Regierung mit Vollmachten aus, um einen
70-Millionen-Kredit zur Aufrüstung der Armee aufzunehmen, und die Regierung war
bemüht, die ganze Angelegenheit, d. h. die Kreditaktion und auch die Waffenankäufe,
in Frankreich abzuwickeln. Sie war nicht zu einer verbindlichen Zusage bereit, Waffen
in der Monarchie zu kaufen, eröffnete die Forderungen der Monarchie vor aller Welt
und ersuchte die Großmächte um Stellungnahme in der Frage, ob das Aprü-Memo-
randum mit der Meistbegünstigungsklausel vereinbar wäre. Das von der Monarchie
festgelegte Viehkontingent (Abnahme von 120 000 Schweinen und 50000 Stück
Schlachtvieh) hielt Serbien für nicht zufriedenstellend, stellte aber immerhin in Aus¬
sicht, daß es auch das Angebot der Skoda-Fabrik, Geschütze zu liefern, beachten

würde.27
    Über die serbische Frage war man auch in der Monarchie selbst geteüter Meinung.

Der österreichische Gesandte in Belgrad Czikann riet nicht zum Kompromiß, und als

24 GMR. v. 2.21906, GMCZ. 457, und GMR. v. 27.2.1906, GMCZ. 458. Gotuchowski an Vui6 v. 26.2.1906,

K. u. k. Ministerium des Äüssern. Diplomatische Aktenstücke über die Handelsvertrags-Verhandlun¬

gen mit Serbien 1905-190614-15.

25 Janossy, Der handelspolitische Konflikt zwischen der österreichisch-ungarischen Monarchie und

Serbien in den Jahren 1904-1910 296.

26 Die Forderungen des österreichischlungarischen Memorandums v. 5.4.1906siehe in K. u. K. Ministerium

des ÄUSSERN. Diplomatische Aktenstücke über die Handelsvertrags-Verhandlungen mit Serbien 1905-

    190615.
27 Janossy, Der handelspolitische Konflikt zwischen der österreichisch-ungarischen Monarchie und

Serbien in den Jahren 1904-1910 296-299.  ,
|| || Einleitung  LDC

auf dem Ballhausplatz dennoch Stimmen dafür zu vernehmen waren, traten die Ungarn
dazwischen. Als nämlich der serbische Handelsvertrag in zweiter Lesung behandelt
wurde, beschloß die ungarische Regierung, die Verhandlungen nicht fortzuführen,
solange die Parlamentswahlen in Ungarn nicht abgehalten worden waren und das neue
Parlament die Regierung bevollmächtigt hatte, die Verhandlungen fortzusetzen.28

    Von den Agrariern bedrängt, erklärte dann die k. k. Regierung im Mai 1906, sie
betrachte den Punkt des österreichisch-ungarischen wirtschaftlichen Ausgleichs über
den gegenseitigen Viehhandel als nicht abgeschlossen, er müsse folglich neu ausgehan¬
delt werden. Infolgedessen ging aber die ungarische Regierung ihrer stabUen Basis für
Verhandlungen mit dem Ausland verlustig. Der ungarische Ministerpräsident Wekerle
erklärte, er könnte den Balkanstaaten keine Zugeständnisse machen, solange nicht
Österreich als sicherer Absatzmarkt für Agrarprodukte aus Ungarn gegeben wäre. Er
wollte die Handelsverhandlungen mit Serbien hinauszögem, bis Österreich den gegen¬
seitigen freien Viehhandel zwischen Ungarn und Österreich anerkannt hätte. Densel¬
ben Standpunkt nahm er auch im Zusammenhang mit den zwei anderen Balkanstaaten
ein, obwohl zu diesem Zeitpunkt Gohichowski und der österreichische Ministerpräsi¬
dent Beck eben durch die Verhandlungen mit diesen Ländern Druck auf die Serben
ausüben wollten.29 Das im März 1906 geschlossene provisorische Handelsabkommen
mit Serbien wurde im Juni nicht verlängert, die Monarchie sperrte erneut ihre Grenzen
für Lebendvieh und Reisch aus Serbien, und die Serben ihrerseits trafen ebenso
Retorsionsmaßnahmen für Industrieprodukte aus der Monarchie.30

    Das Scheitern der Verhandlungen über die Handelsverträge trug auch zum Sturz
Gotuchowskis im Oktober 1906 bei. Sein Nachfolger Aehrenthal suchte nach einem
Ausweg, der sich mit dem Großmachtprestige der Monarchie vereinbaren ließe. Zu¬
nächst bemühte er sich um eine Einigung mit der ungarischen Regierung, was sich auch
im Ministerrat vom Januar 1907 widerspiegelte. Wekerle nahm auf der Sitzung Aeh-
renthals Angebot an und zeigte sich zu Verhandlungen mit den Balkanstaaten über die
Handelsverträge für den Fall bereit, daß die österreichische Regierung den ungarischen
Viehexport nach Österreich garantierte, noch bevor der Viehhandel im österreichisch-
ungarischen wirtschaftlichen Ausgleich geregelt worden wäre, „weü Ungarn Konzes¬
sionen auf veterinärem Gebiete dem Zollauslande nur dann geben könne, wenn
ungarisches Vieh in Österreich frei zirkulieren könne". Der k. k. Ministerpräsident
konzedierte Wekerle diesen Anspruch.31 Trotz dieser eher prinzipiellen Erklärung
wurden aber weder beim Ausgleich noch beim Handelsvertrag zwischen der Monarchie
und Serbien Fortschritte erzielt. Das ungeregelte Verhältnis zwischen Österreich und
Ungarn wirkte sich naturgemäß auf die Handelsvertragsverhandlungen mit dem Zoll¬
ausland aus.

28 Ung. MR. v. 20.4.1906, OL, Sektion K-27, Nr. 1981/1906.
29 Janossy, Der handelspolitische Konflikt zwischen der österreichisch-ungarischen Monarchie und

    Serbien in den Jahren 1904-1910 296-299.
30 K. u. k. Ministerium des Äussern. Diplomatische Aktenstücke über Handelsvertrags-Verhandlungen

    mit Serbien 1905-1906 20. Der 7. Juli 1906pltals Zeitpunkt des tatsächlichenAusbruchs des Zollkriegs mit

     Serbien.
31 GMR v. 6.1.1907, GMCZ. 460.
|| || LX Einleitung

   Dieser Zustand war zweifellos der wirtschaftlichen Emanzipation Serbiens förder¬
lich. Es suchte einen Weg für seinen Viehhandel in Richtung Saloniki und begann mit
französischem Kapital moderne Schlachthöfe und eine Konservenindustrie aufzubau¬
en. Der Anteü der Monarchie am serbischen Außenhandel fiel beträchtlich zurück.32
Der Zollkrieg stimmte den südlichen Nachbar natürlich auch politisch gegen die
Monarchie.

   Aehrenthal unternahm bereits im Sommer und Herbst 1907 alles, um die beiden
Regierungen zu einer Einigung mit den Balkanstaaten, besonders mit Serbien, zu
bewegen. Am 10. Juli führte er im Außenministerium Verhandlungen mit den beiden
Ministerpräsidenten, an die er dann im September eine Note richtete. Er stellte darin
fest, daß das gewaltsame Auftreten der Monarchie gegen die bulgarisch-serbische
Zollunion ein imgünstiges internationales Echo gefunden hätte. Wegen der Forcierung
der serbischen Geschützbestellungen hätten sich nicht nur die Beziehungen zwischen
beiden Staaten verschärft, sondern auch bei den am Geschäft nicht direkt interessierten
Großmächten Antipathie ausgelöst. Durch die auf dem Balkan entstandene Abneigung,
ja ein ausgesprochenes Haßgefühl gegen die Monarchie würde der dortige Einfluß
anderer Mächte begünstigt. Die Großmächte würden zwar noch immer die Wirtschafts¬
interessen der Monarchie auf dem Balkan anerkennen, diese müßten aber auch durch¬
gesetzt werden, insbesondere durch entsprechende Handelsverträge, aber auch durch
die Entwicklung des Verkehrs auf dem Balkan. Beide Hälften der Monarchie müßten
von der Agrarschutzpolitik abrücken, die die Beziehungen zum Balkan gefährdete. Hier
handelte es sich nicht einfach um Handelsverträge, sondern um die Frage, ob das Reich
imstande wäre, den Markt zu behalten, „auf welchen es dank seiner geographischen
Lage, seiner weitverzweigten wirtschaftlichen und politischen Interessen und kraft
seiner historischen Tradition unter allen Großmächten die meisten Ansprüche hat. Die
gegenwärtige politische Lage ist derart beschaffen, daß wir dieses Ziel ohne die Gefahr
ernsterer politischer Komplikationen erreichen können."33

    Um eine neue Handelspolitik mit dem Balkan auszubauen, mußte jedoch zunächst
der wirtschaftliche Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn abgeschlossen werden.

        6. Die Frage des Eisenbahnbaus in Bosnien und der Herzegowina 1900

    In den gemeinsamen Ministerratssitzungen wurden Eisenbahnprojekte erörtert, die
nicht nur im staatsrechtlichen, sondern auch im weiteren Sinne des Wortes als gemein¬
same Angelegenheiten galten, ging es doch um die Schaffung von Strecken, die aus der

 32 Matts, Österreichs Wirtschaft 1848-1913 381. Als der neue Handelsvertrag mit Serbien im Juli 1910
      zustande kam, hatte die Monarchie den serbischen Markt und auch die politische Sympathie der Serben
      bereits verloren. Zwischen 1894 und 1905 war am Gesamtimport Serbiens die Monarchie mit 58,3%,
      Deutschland mit 12,5% und Großbritannien mit 9,4% beteiligt. In den Jahren 1906 bis 1910 lagen diese
     Anteile bei 34,4% 32% und 12%.

 33 NoteAehrenthals an die beiden Ministerpräsidenten v. 7.9.1907, HHStA., AR., F. 37, Karton 64, Serbien
      6, Nr. 258.
|| || Einleitung  LXI

Sicht der Machtpolitik und des militärischen Potentials des Reiches wichtig waren.1
Bezeichnend für die Bedeutung des Eisenbahnbaus für das Militärwesen war wohl auch
die Errichtung eines Eisenbahnministeriums in Österreich. Seit Anfang der 80er Jahre
waren Verhandlungen darüber geführt worden, daß das Eisenbahnwesen aus dem
Kompetenzbereich des Handelsministeriums genommen werden sollte. Am 17. Januar
1896 ernannte der Kaiser FML. Emil Ritter v. Guttenberg zum Minister für Eisenbahn¬
wesen.2 Das löste im Abgeordnetenhaus Empörung aus, weü man befürchtete, daß das
neue Ministerium nicht den Volkswillen repräsentieren würde. Guttenberg war aktiver
Offizier, und man durfte annehmen, daß das neue Ministerium eher die müitärischen
als die bürgerlichen Interessen vertreten würde. Bei seiner Vorstellung im Parlament
beschwichtigte Guttenberg die Abgeordneten auf charakteristische Weise: Der
Einfluß, den die Militärführung auf das Eisenbahnwesen ausüben werde, würde nicht
stärker sein als vor der Aufstellung des Eisenbahnministeriums.3

   Im Sommer 1896 arbeitete Generalstabschef Beck einen umfangreichen Plan für die
Erhöhung der Schlagkraft der Armee aus, in dem der Bau neuer Bahnlinien ein
wichtiger Bestandteil war.4 Beck hielt den Ausbau neuer Linien in zwei Gebieten für
dringend: im Nordosten die Verbindung Nagy-Berezna-Sambor-Lemberg und Prze-
worsk-Rozwadow und im Süden die Errichtung eines Eisenbahnnetzes in den okku¬
pierten Provinzen. Letzteres war in den gemeinsamen Ministerratssitzungen von 1896
und 1897 ein wichtiges und in denen des Jahres 1900 das vorherrschende Thema der
Beratung.

   Die Frage des Eisenbahnbaus in Bosnien und der Herzegowina ist aus der Ge¬
schichtsliteratur wohlbekannt. Nach der Bearbeitung des Themas durch May, Sugar,
Juzbaäid und andere5 soll nur soviel dazu gesagt werden, wie zum Verständnis der hier
veröffentlichten Ministerratsdebatten nötig ist.

   Zur Zeit der Okkupation gab es in Bosnien und der Herzegowina keine funktions¬
fähige Eisenbahn. Umnittelbar nach der Okkupation wurde zur Sicherung des militä¬
rischen Nachschubs in aller Eüe lediglich eine - wegen Geldmangel nur als provisorisch
geplante - Schmalspurbahn zwischen Brod und Zenica gebaut und aus dem Okkupa¬
tionskredit finanziert. Die Strecke wurde schon im Sommer 1879 fertiggestellt, in den
darauffolgenden Jahren dann immer wieder verbessert, so daß sich schließlich der Bau
einer neuen Linie erübrigte. (Wesentlich später, 1895, trat die Kriegsverwaltung diese
Eisenbahn an die Landesverwaltung ab, die auch die Schuld übernahm, „welche Schuld

1 Über den Stand der Errichtung militärischer Eisenbahnen berichtete der Generalstabschef ausßhrlich in
     seinem jeweiligen Jahresbericht, Denkschrift des Chefs des Generalstabes über allgemeine militärisch-poli¬
     tische Verhältnisse, jährlich als KA., MKSM. 25-1/1/...., registriert.

2 Als der Monarch am 4. Oktober 1895 die Bildung eines k. k. Ministeriums für Eisenbahnwesen beschloß,
     beauftragte er neben dem k. k. Ministerpräsidenten auch den gemeinsamen Kriegsminister mit der Organi¬
    sierung des Ministeriums, ebd., 34-3/1/1896.

3 Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich, Bd. 6 96-100.
4 Becks Entwurfv. 14. & 1896, Beilage Nr. 4a ad GMRProt v. 29. 8 1896, GMCZ. 393.
5 May, The Novibazar raiiway project 496-527; ders., Transbalkan railway schemes 352-367; Sugar,

    Industrialization ofBosnia-Herzegovina 1878-1918; JuzbaSiC, Izgradnja zeljeznica u Bosni i Hercegovini
     u syjetlu austrougarske politike od okupacije do kraja Källayeve ere.
|| || lxh  Einleitung

von der bosnischen Landesverwaltung nicht zu verzinsen und erst nach Deckung aller
übrigen Eisenbahndarlehen an die Monarchie zurückzuerstatten ist".6)

   In ähnlicher Weise ließ die Heeresverwaltung auf Kosten des Müitärkredits auch die
Normalspurbahn zwischen Doberlin und Banjaluka erneuern. Diese Strecke war ur¬
sprünglich von der türkischen Regierung gebaut worden. Während des Aufstandes von
1872 in Bosnien wurde sie aber ziemlich stark beschädigt und seit 1875 weder der
Wagenpark noch die Bahnobjekte benützt. Die wiederhergestellte Strecke wurde 1879
erneut in Betrieb genommen.7

   In den Jahren nach der Okkupation baute die Kriegsverwaltung weitere neue
Eisenbahnstrecken, so etwa die Verlängerung der Brod-Zenica-Linie bis nach Sarajevo
(fertiggestellt 1882). Die Strecke von Brod nach Sarajevo wurde zunächst k. u. k.
Bosnabahn bzw. ab 1895, nach Übergabe an die Landesverwaltung, Bosnisch-Herzego-
winische Staatsbahn (BHStB) genannt. Mit dem Bau dieser Eisenbahnstrecke wurde
auch die Verbindung der Landeshauptstadt mit der Monarchie verwirklicht.8

   In der zweiten Phase wurde die Verbindung von Sarajevo bis zur Küste realisiert.
Noch vor Beginn der in der vorliegenden Studie untersuchten Periode wurde die
Eisenbahnstrecke Sarajevo-Mostar-Metkovid gebaut, die in mehreren Phasen ent¬
stand und 1891 dem Verkehr übergeben wurde. 1894 wurden dann die wirtschaftlich
wichtigen Strecken Doboj-Dolnja Tuzla bzw. LaSva-Travnik-Bugojno fertiggestellt.9

    Obschon der gemeinsame Finanzminister Kallay in den 80er und 90er Jahren ernst¬
hafte Anstrengungen zum weiteren Ausbau des Bahnnetzes in den okkupierten Provin¬
zen unternahm, konnte der Rückstand von mehreren Jahrzehnten unter den gegebenen
Umständen selbstverständlich nicht aufgeholt werden. Das Eisenbahnnetz in den Pro¬
vinzen blieb dichte- und niveaumäßig hinter demjenigen in den anderen Regionen der
Monarchie zurück. In der Literatur zu diesem Thema wird aber betont, Kallay habe
sich beachtliche Verdienste um die Entwicklung des Eisenbahnnetzes der Region
erworben, seine Verkehrspolitik sei der wirtschaftlichen Entwicklung der Region för¬
derlich gewesen, wiewohl diese auch im Interesse der Gesamtmonarchie gestanden
habe. Denn die Monarchie benötigte die okkupierten Provinzen als Absatzmärkte und
die Bodenschätze in Bosnien und der Herzegowina für ihre Industrieproduktion. Die
Erschließung der Bodenschätze erwies sich als ein wichtiger Katalysator für den
Eisenbahnbau. Parallel zur Hauptstrecke im Neretvatal, der bereits erwähnten Verbin¬
dung Sarajevo-Mostar-Metkovid, Wurde unverzüglich auch mit dem Bau von Eisen¬
bahnprojekten regionalen Interesses begonnen; diese Linien zweigten von der Eisen¬
bahn im Bosnatal ab und führten zu den benachbarten Bergbaurevieren und
Forstgebieten.10

6 Gesetzv. IS. 7.1895, GA XL/1895 bzw. RGBl. Nr. 106/1895; Schmid, Bosnien und die Herzegovina unter
    der Verwaltung Österreich-Ungams 583.

7 Schmid, Bosnien und die Herzegowina unter der Verwaltung Österreich-Ungams 583.
8 Ebd. 584; Heinersdorff, Die k. u. k. privilegierten Eisenbahnen der österreichisch-ungarischen Mon¬

    archie 1828-1918177.
9 Schmid, Bosnien und die Herzegovina unter der Verwaltung Österreich-Ungams 585.
10 JuzbaSiC, Izgradnja zeljeznica u Bosni i Hercegovini u syjetlu austrougarske politike od okupacije do

    kraja Källayeve ere 256-257.
|| || Einleitung  Lxm

   Als sich Mitte der 90er Jahre dann die Aufmerksamkeit des gemeinsamen Minister¬
rates intensiv der Entwicklung des Eisenbahnnetzes der okkupierten Provinzen zu¬
wandte, konnte man sich dort bereits auf beachtliche Vorarbeiten und Erfahrungen
stützen. Die Ansichten über Funktion und Wichtigkeit einzelner Strecken waren bereits
entwickelt, zum Teü sogar schon festgefahren.

   In den Ministerratssitzungen von 1896 und 1897 wurde der Ausbau von zwei
Bahnlinien zur Sprache gebracht: die Verbindungen Bugojno-Ariano-Spalato und
Gabela-Trebinje-Ragusa.11 Für das erstere Projekt trat wegen seiner wirtschaftlichen
Bedeutung vor allem die österreichische Regierung ein. Da aber durch diese Strecke
endlich eine Verbindung zwischen Dalmatien und dem Inneren des Reiches geschaffen
sein würde, wurde ihr Bau in den Ministerratsdebatten auch vom Kaiser und dem
Außenminister befürwortet. Es schien ratsam, dieses der politischen Agitation, dein
Irredentismus jeder Art ausgesetzte Land stärker an das Reich zu binden.12 Dadurch
würde zwar nach Einschätzung der ungarischen Regierung der Verkehr vom Hafen in
Fiume abgelenkt, was für die ungarische Wirtschaft nachteilig wäre. Dennoch äußerte
sich der ungarische Ministerpräsident Banffy im Ministerrat dahingehend, daß er den
Bau der erwähnten Eisenbahnstrecke nicht ablehnen wollte, wenn als Kompensation
dafür auch die Verbindung Gabela-Trebinje-Ragusa gebaut würde. Diese Linie wurde
als Fortführung der Strecke Sarajevo-Mostar-Metkovid (fertiggestellt 1891) in Rich¬
tung der dalmatischen Hafenstadt Gravosa und mit einer Zweiglinie nach Bocche di
Cattaro bis nach Trebinje, also zur Grenze Montenegros, gebaut.

   Obwohl in den Ministerratssitzungen Ende Januar 1897 das Schicksal beider Bahn¬
linien noch sehr ungewiß schien,13 setzte sich die Kriegsverwaltung nachdrücklich für
die Priorität der Eisenbahnlinie nach Montenegro ein.14 Kallay wies zwar in den
Ministerratssitzungen vom Januar darauf hin, daß früher auch er die Verbindung
zwischen Bugojno und Spalato befürwortet hätte,15 jetzt aber wäre er gezwungen, sich
den Argumenten des gemeinsamen Kriegsministers zu beugen. Es stünde außer
Zweifel, schrieb nun Kallay an Krieghammer, daß es auch für die bosnisch-herzegowi-
nische Regierung von großer Bedeutung wäre, „wenn eine Bahnlinie von den beiden
Hauptstädten des Landes, Sarajevo und Mostar, bis Trebinje, sonach hart bis an die
montenegrinische Grenze führt", weü diese Strecke der Regierung die Sicherheit geben
würde, die Provinzen in Friedenszeiten wie auch im Krieg angemessen verwalten zu
können Aus militärischer Sicht könnte er die Frage selbstverständlich nicht beurteüen,
dennoch hätte er den Eindruck, daß „durch eine auf bosnischem Territorium einerseits
bis zur montenegrischen Grenze, anderseits bis zu einem süddalmatinischen Hafen

11 GMR. v. 29. & 1896, GMCZ. 393; GMR. v. 30.1.1897, GMCZ. 398, und GMR v. 31.1.1897, GMCZ. 401.
12 GMR. v. 31.1.1897, GMCZ. 401 (Gotuchowskis Meinung).
13 Siehe Anm. 11.
14 Krieghammer an Rällayv. 12.12.1896undKrieghammer an Badeni, Bänffy undKdllay v. 6.1.1897, KA.,

    KM., Präs.55-1/1/1897.A/öntenegro warbekanntlicheine wichtigerussischeEinflußsphäreaufdemBalkan,
    und diese Situation, d. h. diefeindliche Haltung des Fürstentumsgegenüber derMonarchie, blieb auch nach
    dem Zustandekommen der russischüsterreichischen Entente von 1897 unverändert, siehe Bridge, From

    Sadowa to Sarajevo 238-239.
15 Kdllay an Krieghammer v. 10.11.1896, KA., KM., Präs. 55-1/1/1897.
|| || Lxrv                                                                     Einleitung

führende Bahn, durch welche auch der Kontakt mit der Hotte hergestellt würde, ein
Zustand geschaffen wird, wodurch mit verhältnismäßig geringen Kräften die Grenzver¬
hältnisse im Süden der Monarchie vollkommen beherrscht werden können, was, wie ich
glaube, im Falle einer Komplikation im Norden für die Monarchie von unschätzbarer
Bedeutung sein dürfte". Deswegen sagte er zu, mit beiden Regierungen unverzüglich
in Kontakt zu treten und so bald wie möglich die Bedingungen zur Bewilligung der
Eisenbahnstrecken durch die Gesetzgebung zu schaffen.16

   Von den zwei diskutierten Eisenbahnprojekten wurde also der bis zur montenegri¬
nischen Grenze geplanten Strecke Gravosa-Bocche di Cuttaro-Trebinje Priorität ein¬
geräumt. Das entscheidende Argument dabei lieferte der Kriegsminister, den der
Widerstand der ungarischen Regierung in diesen Entscheidungen lediglich bestärkte.
Banffy argumentierte gegen die Linie Bugojno-Spalato17 und verlangte von Kallay
gleich eine Garantie dafür, daß der eventuelle Bau der Eisenbahnstrecke Bugojno-
Spalato den Verkehr Ungarns mit den besetzten Provinzen nicht beeinträchtigen
würde. Die Garantie wäre durch den Bau einer weiteren Eisenbahnstrecke gegeben,
und zwar durch die direkte Bahnverbindung Budapest-Sarajevo-Mitrowitz bzw. durch
die prinzipielle Zustimmung des gemeinsamen Finanzministers zum Bau dieser Linie.
Durch den Anschluß der Strecke an die türkische Bahn würde man Teilhaber einer
großen internationalen Eisenbahnverbindung werden. Die Monarchie würde sich von
den serbischen und bulgarischen Eisenbahnen imabhängig machen und sich dadurch
große wirtschaftliche und strategische Vorteüe sichern.18

   Kallay war zwar zu dieser Zeit bereits von der großen wirtschaftlichen und politi¬
schen Bedeutung der Ostbahn, mithin davon überzeugt, daß Bänffy im Recht war, da
er aber nicht wagte, die Baukosten der bosnischen Strecke der Provinzverwaltung zu
übertragen, schob er den Vorschlag hinaus. Zur Zurückstellung dieses Planes trug
offensichtlich auch bei, daß die Kriegsverwaltung die Bewilligung der Eisenbahnver¬
bindung Gabela-Trebinje-Ragusa durch die Gesetzgebung äußerst schnell durchsetzte
(die Strecke wurde 1901 bereits dem Verkehr übergeben). Der Plan der Bahnlinie
Bugojno-Ar2ano-Spalato hingegen wurde beiseitegelegt, so daß auch eine von Bänffy
gewünschte Kompensation nicht mehr nötig war.19 Das große Ostbahnprojekt wurde
erst drei Jahre später, 1900, wieder in den Vordergrund gerückt.

   Schon die Beschlüsse des Berliner Kongresses hätten der Monarchie die Möglichkeit
geboten, auf den besetzten Territorien militärische und Handelsstraßen zu bauen, eine
direkte Eisenbahnverbindung mit der Türkei wurde aber vor allem aus finanziellen
Gründen bis Ende der 80er Jahre nicht realisiert.20

16 Kättay an Krieghammer v. 1.1.1897, ebd.

17 Bänffy cm Krieghctmmer v. 26.2.1897, ebd. Hier beantwortet Bänffy ein noch vor den Ministerratssitzungen

Ende Januar aufgesetztes Schreiben v. 6.1.1897, sieheAnm. 14.

18 Bänffy an Källay v. 26. 2 1897, OL, Sektion K-26, ME. Nr. 3609/1897.

19 JuzBAäie, Izgradnja ieljeznica u Bosni i Hercegovini u svjetlu austrougarske politike od okupacije do

kraja Killayeve ere 166-174.                                             *

20 Carlgren, Iswolsky und Aehrenthal vor der bosnischen Annexionskrise 43-44; Rechberger, Zur

Geschichte der Orientbahnen 356-357.
|| || Einleitung  LXV

   Die ungarische Regierung beschäftigte sich seit 1896 mit dem Plan, eine Eisenbahn¬
linie von Budapest über Sarajevo und Mitrowitz nach Saloniki zu errichten, ihre
Vorschläge wurden aber sowohl von der österreichischen als auch von der gemeinsamen
Regierung abgelehnt.21 Bekanntlich trat auch der gemeinsame Ministerrat vom 30.
Januar 1897 nicht für die ungarische Initiative ein. Daß die Frage der Ostbahn um die
Jahrhundertwende dennoch eine entscheidende Wende erlebte, hatte wichtige politi¬
sche und strategische Gründe.

   Die Monarchie verfolge friedliche Ziele, wünsche sich eine friedliche Entwicklung
der Balkanvölker, schrieb Kallay an die beiden Ministerpräsidenten.22 „Darum aber soll
die Monarchie als Wächter des Friedens auf dem Balkan erscheinen und vermöge des
Ausbaus der hierzu nötigen Kommunikationen eine derartige dominierende Position
einnehmen, daß sie in der Lage sei, mutwillige und abenteuerliche Bestrebungen, die
ruhige Entwicklungen stören, verhindern zu können." Durch die Okkupation soüte der
Einfluß der Monarchie auf dem Balkan verstärkt werden, was auch tatsächlich erreicht
wurde. Der nächste Schritt sollte dann - ausgehend von den okkupierten Provinzen -
der Ausbau engerer Kontakte auch zu den anderen Balkanstaaten sein. Die seit langem
bestehenden Eisenbahnverbindungen zu Serbien und Bulgarien reichten nicht aus. Die
Linien führten nur durch den nördlichen Teü dieser Länder, zu ihren westlichen
Gebieten gab es keine Bahnverbindung. „Gelingt aber einmal diese Verknüpfung von
Bosnien aus, dann beherrscht die Monarchie nicht allein den serbischen und bulgari¬
schen Verkehr, sondern besitzt auch eine imabhängige Kommunikation bis in das Herz
der Türkei, und zwar sowohl gegen Saloniki als gegen Konstantinopel." Würde diese
Bahnverbindung gebaut, dann könnte die Monarchie ihren Willen in diesen beiden

Ländern durchsetzen.
    Obwohl Kallay betonte, daß es nicht seine Aufgabe wäre, die militärische Bedeutung

der Bahnlinie zu ermessen, unterstrich er dennoch, daß mit dem Bau der neuen Linie
man das unfreundlich gesinnte Montenegro in Schach halten, eine Vereinigung Ser¬
biens und Montenegros verhindern, die Gestaltung der Beziehungen zwischen Altser¬
bien und Mazedonien günstig beeinflussen könne, „ja, daß das bloße Faktum unserer
starken Stellung hinreichen würde, gewisse Eventualitäten ganz zu verhindern, ohne
daß es eines aktiven Eingreifens bedürfte". Vor dem Ministerrat formulierte er es später
noch eindeutiger: „Der bloße Beschluß, diese Linie auszubauen, werde eine große
Wirkung auf die Balkanstaaten ausüben und der Aufstellung von 50 000 Mann an den
betreffenden Grenzen gleichkommen."23 Und schließlich die wirtschaftliche Bedeutung
des Eisenbahnbaus: Die Monarchie besäße keine Kolonien und keine Handelsflotte,
mit der Überseemärkte für das Reich erschlossen werden könnten. Daher läge die
Bedeutung des Balkans als Absatzmarkt für die Wirtschaft des ganzen Reiches auf der
Hand, selbst wenn man in Betracht zöge, daß Ungarn in dieser Hinsicht der westlichen
Reichshälfte gegenüber aus geographischen Gründen gewisse Vorteüe genösse.

21 Vgl. die Zusammenfassung des ungarischen Ministerrates über die Eisenbahnfrage v. 13. 9. 1900, OL.,
     Sektion K-26, ME. Nr. 3253/1900 (Abschrift).

22 KdUayanSzillv. 30.3.1900, OL., Sektion K-26, ME. Nr. 1212/1900.£ricAicfae das Schriftstückgleichzeitig

     auch an Koerber.
23 GMR. v. 2.10.1900, GMCZ. 424.
|| || LXVI  Einleitung

   Die Bedeutung der geplanten Bahnlinie würdigte in Übereinstimmung mit Kallay
und unter Berufung auf ihn auch der Außenminister: Die Monarchie würde die Ver¬
bindung mit der Türkei auf ihrem eigenen Territorium, d. h. ohne die Berührung
serbischer und bulgarischer Gebiete, hersteilen. Damit würden ihr Gebiete Mazedo¬
niens und Albaniens erreichbar, von wo sie bisher ausgeschlossen war; ihr politischer
Einfluß würde dadurch beträchtlich wachsen. Die bereits im Bau befindliche Bahnlinie
Gabda-Gravosa-Castelnuovo von Nordwesten und die geplante Linie von Osten
würden Montenegro umschließen; dadurch könnte jede gegen die Monarchie gerich¬
tete montenegrinische Aktion von vornherein unterbunden werden.24

   Und der Generalstabschef meinte in der eindeutigen Wortkargheit eines Müitärs:
,Jn politischer Hinsicht büden ... das Sandschakat, Mazedonien und Albanien, wie
überhaupt die westliche Hälfte der Balkanhalbinsel, die Interessensphäre der Monar¬
chie, in welcher dieselbe den Einfluß einer fremden Macht nicht dulden könne. Auf die
Verbindungen in diesem Teüe der europäischen Türkei müsse Österreich-Ungarn der
Einfluß gewahrt bleiben."25

   Der Bericht des k. u. k. Konsuls in Monastir über die von Italien geplanten Eisen¬
bahnbauten auf dem Balkan erreichte den Außenminister in den entscheidenden
Monaten. Die Befürchtung, daß die Adria zu einem italienischen Meer werden könnte,
„und wir uns in unseren nördlichen Häfen in einem mare clausum befinden", ließen die
Frage der Ostbahn gleichfalls als immer dringlicher erscheinen.26

   Als dann auf Initiative Gohichowskis27 nach mehrmonatigen Vorbereitungen die
Debatte über die Ostbahn im gemeinsamen Ministerrat begann, standen zwei Eisen¬
bahnprojekte auf der Tagesordnung: 1. Die Linie Budapest-Saloniki, die bei Bosna-
Brod an die ungarische Eisenbahn angeschlossen würde. (Zwischen Bosna-Brod und
Sarajevo gab es schon eine Eisenbahnverbindung, die allerdings nur zwischen Bosna-
Brod und Doboj mit Normalspurweite versehen, von dort nach Sarajevo dagegen
schmalspurig angelegt war.) Im Plan waren also der Ausbau der Strecke Samac-Doboj
und die Umrüstung der Linie Doboj-Sarajevo sowie der Ausbau der Verbindung
zwischen Sarajevo und der Sandschakgrenze vorgesehen. Die hier genannten Strecken
lagen auf dem Gebiet der Monarchie und ließen sich daher ohne die Zustimmung
anderer Mächte realisieren. Der Bau einer Verbindung zwischen der Sandschakgrenze
und Saloniki bedürfte aber einer Genehmigung durch die türkische Regierung. 2. Etwa
als Kompensation für Vorteüe, die aus dem Bau der oben genannten Linie für den
ungarischen Verkehr erwachsen könnten, verlangte die österreichische Regierung, wie
schon 1896/97, erneut den gleichzeitigen Bau der Bahnlinie Bugojno-Ariano-Spalato.

   Alle drei interessierten Faktoren, also die Mitglieder der beiden Lahdesregierungen
und die gemeinsamen Minister, waren sich darin einig, daß der Ausbau der Ostbahn

24 Gotuchowski an Szälv. 18.7.1900, OL., Sektion K-26, ME. Nr. 2559/1900. Gotuchowski verweist aufdie
    angeführte Note Kdllays v. 30.3.1900, siehe Anm. 22.

25 GMR. v. 21.9.1900, GMCZ. 422.
26 Bericht des k. u. k. Konsuls von Monastir an Gotuchowski v. 15. 6. 1900, OL, Sektion K26, ME. Nr.

    2559/1900 (Abschrift). Italien wollte in Albanien undMazedonien Eisenbahnlinien bauen.
27 Gotuchowski an Szill v. 18. 7.1900, siehe Anm. 24.
|| || Einleitung                           LXVH

unaufschiebbar war. Differenzen ergaben sich in folgenden Fragen: 1. Soll der Bau der
beiden Linien gekoppelt werden, und wenn ja, in welcher Form? Soll überhaupt die
ungarische Regierung dem Bau der Linie Bugojno-Ar2ano-Spalato bzw. die österrei¬
chische dem der Seitenstrecke Samac-Doboj zustimmen? 2. Durch welche Gebiete
sollen die Eisenbahnlinien geführt und mit welcher Spurbreite gebaut werden? 3. Soll
sie von staatlichen oder Privatuntemehmen errichtet werden? 4. Wie könnte man die
Zustimmung der türkischen Regierung zu den Bauarbeiten auf türkischem Territorium
erwirken? 5. Welcher Tarif soll schließlich auf den neu zu errichtenden Strecken gelten?

   1. Die ungarische Regierung unterstrich 1896/97 wiederholt, daß der Bau der'
Bahnlinie Bugojno-Ariano aus verkehrspolitischen und wirtschaftlichen Gesichts¬
punkten für Ungarn schädlich sei und sie zum Bau der Linie nur zustimmen würde,
wenn auch das Ostbahnprojekt gebilligt werde. Diese Bedingung stellte Bänffy zu einer
Zeit, als es offensichtlich war, daß die bosnisch-herzegowinische Landesregierung die
türkische Bahnverbindung aus eigenen Mitteln nicht bauen konnte, ihr andere Mög¬
lichkeiten allerdings auch nicht zur Verfügung standen. Szell war noch resoluter; er
wollte die geplante Bahnlinie Bugojno-ArZano völlig aus dem Bauprogramm gestrichen
haben.28

   Im Vergleich zu den Ministerratssitzungen von 1896/97 trat 1900 in gewissem Sinne
eine Wende ein. Damals hatte die ungarische Regierung eine Kompensation, die
Ostbahn, gefordert. Nicht anders verhielt sich nun Koerber Szell gegenüber. Er forderte
als Gegenleistung für die Ostbahn den Bau der Linie Bugojno-ArXano.29 Und anschei¬
nend war Koerber aktiver als seinerzeit Badeni. Dies soll nicht einfach damit erklärt
werden, daß er unter günstigeren inneren Bedingungen agieren konnte als Jahre zuvor
Badeni. Koerber hatte die große politische Tragweite der Eisenbahn und ihren Zusam¬
menhang mit der für die Monarchie immer wichtigeren südslawischen Frage erkannt.
Badeni hingegen konnte damals, zur Zeit der tschechischen Sprachkonflikte, nicht
einsehen, daß für die Monarchie nicht das Tschechische eine Existenzfrage bedeutete.

   Z Die ungarische Regierung wollte die Ostbahn in ihrer Gesamtlänge mit Normal¬
spurweite gebaut wissen. Die österreichische Regierung war dagegen, zumal sie als
sicher annahm, daß sie im Falle der kostspieligeren Lösung auf den Bau der von ihr
vorgeschlagenen, kürzeren Bahnlinie würde verzichten müssen. Der gemeinsame Fi¬
nanzminister Kallay hielt übrigens die Schmalspurbahn langfristig für ausreichend, um
so mehr, als sie sich auch auf den bisher gebauten Strecken bewährt und die Verkehrs¬
ansprüche befriedigt hatte.30

   3.-4. Ungarn plädierte für eiüe Auftragsvergabe^an ein Privatuntemehmen, weü in
diesem Falle die beiden Landesregierungen lediglich eine Zinsgarantie zu gewährlei¬
sten hätten und auch weü ein Privatuntemehmen leichter die Bewüligung von der
türkischen Regierung erhalten könnte. Es wurde aügemein darüber debattiert, ob die

28 JuzbaSiC, Izgradnja zeljeznica u Bosni i Hercegovini u syjetlu austrougarske politike od okupacije do

kraja Kdllayeve ere 181--210; GMR. v. 21.9.1900, GMCZ. 422, und GMR v. 22.9.1900, GMCZ. 423.

79 Koerber, Böhm und Wittek in dem GMR. v. 21.9.1900, GMCZ 422, und dem GMR. v. 22.9.1900, GMCZ.

     423.                         '
30 GMR. v. 22. 9.1900, GMCZ 423.
|| || Lxvm  Einleitung

Bewilligung der türkischen Regierung im voraus einzuholen wäre oder ob man einfach
mit dem Bau beginnen sollte. Die gemeinsamen Minister waren der Ansicht, daß das
energische Auftreten der Monarchie der Hohen Pforte imponieren würde, und ange¬
sichts der bereits laufenden Bauarbeiten könnte die Bewilligung auch leichter eingeholt
werden. Und selbst bei einer Abweisung durch die Türkei könnte die Ostbahn ja doch
noch bis zur türkischen Grenze gebaut werden.31"

   5. In der Frage der Tarife für die neuen Linien kamen die Gegensätze der beiden
Länder mit so elementarer Kraft zum Ausdruck, daß das Scheitern des ganzen Eisen¬
bahnprojektes zu befürchten war. Gohichowski erklärte, in diesem Falle würde er die
Verantwortung für die auswärtigen Angelegenheiten nicht weiter tragen.32

   Die beiden Regierungen bzw. der gemeinsame Ministerrat einigten sich schließlich
darauf, daß die Bahn von Sarajevo bis zur Landesgrenze gebaut werden sollte, und zwar
als Schmalspurbahn und auf Kosten der okkupierten Provinzen. Über die Finanzierung
anderer Bahnlinien in Bosnien und der Herzegowina (Schmalspurbahn zwischen
Bugojno und Arfano und Normalspurbahn zwischen Samac und Doboj), auf deren Bau
sie sich zwar prinzipiell geeinigt hatten, wurde keine Entscheidung getroffen. Damit
war das Schicksal dieser Linien besiegelt.33 Ein Kompromiß wurde letztlich nicht nur
in der Frage des Eisenbahnbaus, sondern auch in der Tarifpolitik der bosnisch-herze-
gowinischen Staatsbahn und des Transitverkehrs durch Ungarn erzielt. Es wurde
beschlossen, daß auf der Linie und in Bosnien und der Herzegowina der ungarischen
Tarif als Maximum zu gelten hätte.34 Der neue Tarif sollte bei Fertigstellung der neuen
Linien in Kraft treten und für fünf Jahre gültig sein.35

    Die monatelangen Diskussionen über die Eisenbahnfrage führen uns die damals
bestehenden wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den beiden Staaten vor Augen und
auch, wie sie politisches Kapital aus diesen Gegensätzen zu schlagen verstanden. Die
Behauptung, daß der Bau der Bahnlinie Bugojno-Ariano für den Verkehr nach Fiume
nachteüig wäre, bedurfte keiner Beweisführung. Auf Kallays Angaben zum Handels¬
verkehr reagierten beide Seiten überhaupt nicht.36

    Die Polemik im Ministerrat spiegelte nicht nur diesen unbestrittenen Interessenge¬
gensatz wider, sondern auch die Probleme, welche die Verwaltung der beiden okku¬
pierten Provinzen als eine „gemeinsame Angelegenheit" bereiteten. Der gemeinsame
Ministerrat beriet zwar schon 1896, zu Beginn der Eisenbahndebatte, darüber, wie die
beiden Provinzen nach der Annexion zu verwalten wären,37 in Wirklichkeit war es aber
nicht einmal klar, wie man sie als okkupierte Territorien zu behandeln hätte; Meinungs-

31 GMR. v. 21.9.1900, GMCZ. 422.
32 GMR. v. 29.10.1900, GMCZ. 428.
33 JuZBASie, Izgradnja zeljeznica u Bosni i Hercegovini u syjetlu austrougarske politike od okupacije de

     kraja Kdllayeve ere 181-210.
34 GMR. v. 28.10.1900, GMCZ 427; Mechtler, Eisenbahnpolitische Spannungen zwischen Österreich und

     Ungarn nach dem Ausgleich 1867-1918 315.
33 GMR v. 29.10.1900, GMCZ. 428.
36 Käflay brachte diese Angaben im gemeinsamen Ministerrat noch mehrmals vor.
37 GMR v. 26.81896, GMCZ. 392; GMR v. 30.81896, GMCZ. 394 usw.
|| || Einleitung  LXIX

Verschiedenheiten traten auch bei der Auslegung der Gesetze von 1880 auf.38 Die
besetzten Gebiete standen unter der Oberhoheit der gemeinsamen Regierung, ihre
Gesetze wurden aber völlig unabhängig von dieser, von den beiden Parlamenten
verabschiedet Das bedeutete schon von vornherein und prinzipiell einen Wider¬
spruch.39

   Die Auseinandersetzungen über die Eisenbahn waren zweifellos von Problemen
innenpolitischer Natur beherrscht, ausschlaggebend für den Bau waren dagegen äußere
Faktoren. Doch nur selten wurde darauf verwiesen, daß der Plan eine starke interna¬
tionale Beachtung fände, daß die Balkanstaaten ihn ablehnten und daß die Ostbahn ein
wichtiger Faktor der Außenpolitik wäre. Diese Aspekte kamen in der Ministerratssit¬
zung nur dann zur Sprache, wenn Goluchowski angesichts des drohenden Scheitems
des Bauplans seinen Rücktritt in Aussicht stellte: „Wenn es auch nicht zum Ausbau
dieses Schienenweges kommen sollte, so werde es den Anschein haben, als ob Öster¬
reich-Ungarn zunächst gedroht habe und dann angesichts der hiedurch in den Bal-
kanländem hervorgerufenen Erregung vor der Ausführung seiner Drohung zurückge¬
schreckt sei. Aus diesem Grande müßte Redner das Unterbleiben des Ausbaus der
Linie Sarajevo-Uvac, welche eine Lebensfrage für Österreich-Ungarn geworden sei,
geradezu als eine politische Katastrophe für die Monarchie ansehen."40

   Der große Plan wurde aber letztendlich doch von äußeren Faktoren entschieden.
   Die Ministerratsdebatte über die Tariffrage war noch im Gange, als Rußland in der
Frage der Sandschakbahn intervenierte. Der russische Botschafter in Wien erklärte,
möglicherweise auf Ersuchen Serbiens oder eventuell Montenegros, aber offensichtlich
nicht nur deshalb, daß die Sandschakbahn den Status quo auf dem Balkan verändern
würde, infolgedessen mit der österreichisch-russischen Entente von 1897 unvereinbar
wäre.41 Gotuchowski wies die russische Einmischung scharf zurück: Der Bau der
Eisenbahnlinie Sarajevo-Uvac sei eine innere Angelegenheit Österreichs. Für den Bau
der T inip. Uvac-Mitrowitz werde die Monarchie, wenn dies aktuell sein werde, die
Türkei um ihre Zustimmung ersuchen, eine dritte Macht dürfe sich aber in die Ange¬
legenheit nicht einmischen, zumal Österreichs Recht auf den Bau dieser Bahnlinie im
Berliner Vertrag ausdrücklich festgehalten sei. Der österreichisch-ungarische Außen¬
minister anerkenne auch nicht, daß der Eisenbahnbau die Entente von 1897 in irgend¬
einer Weise berühre. Die geplante Eisenbahnlinie diene im übrigen gerade der
Aufrechterhaltung des Status quo auf dem Balkan.42
   Nach der entschiedenen Stellungnahme Goluchowskis beruhigte sich die Auseinan¬
dersetzung vorläufig. Erst Ende "1902, als der Bau der Verbindung Sarajevo-Uvac
finanyip.ll gesichert war, die effektiven Arbeiten also in Angriff genommen werden
konnten, traten die Differenzen zuerst zwischen Wien und Berlin, dann auch zwischen

38 GMR. v. 29.10.1900, GMCZ. 428.
39 Ebd., siehe die Ausßhrungen von Hegedüs.
40 GMR v. 27.10.1900, GMCZ. 426.
41 Carlgren, Iswolsky und Aehrenthal vor der bosnischen Annexionskrise 44-45; zur österreichisch-russi¬

    schen Entente von 1897sieheAbschnitt 2 der vorliegenden Studie.
42 Carlgren, Iswolsky und Aehrenthal vor der bosnischen Annexionskrise 44-45.
|| || LXX                                                                                 Einleitung

Wien und St. Petersburg erneut zutage. Obwohl Gohichowski dem russischen Außen¬
minister Lamsdorff gegenüber betonte, der Eisenbahnbau ginge nur die Türkei an, war
er siph darüber im klaren, daß er die Zustimmung des Sultans ohne die Unterstützung
durch Deutschland nicht erhalten könnte. Berlin schien zwar Gohichowskis Plan
wohlwollend geneigt, doch warf es die Frage auf, ob es ratsam wäre, gerade jetzt, da die
Lage auf dem Balkan ohnehin unruhig wäre, die Initiative zu ergreifen.

   Nach Gohichowskis Meinung konnte sich die Situation auf dem Balkan durch den
österreichischen Eisenbahnbau kaum noch weiter verschlechtern; wartete man aber
darauf, bis die Ruhe wiederhergesteüt war, würde der Eisenbahnbau Anlaß zu erneuten
Unruhen geben.

   Berlin hielt an seiner ablehnenden Haltung fest, und zwar mit der Begründung, daß
sich Deutschland vergeblich für den österreichischen Plan beim Sultan verwendete,
solange das Projekt von Rußland abgelehnt würde. Zunächst sollte man also die
Zustimmung Rußlands einholen.43

   Während Rußland -wie oben dargelegt - Ende 1900 den Plan für die Sandschakbahn
noch abgelehnt hatte, nahm es ihn jetzt stillschweigend zur Kenntnis. Der deutsche
Standpunkt indes blieb inhaltlich unverändert. Die Regierung in Berlin verschaffte
ihrem Einfluß durch die Deutsche Bank Geltung. Dieses Geldinstitut hätte als Gene-
raluntemehmen des Eisenbahnprojektes in der Türkei aufscheinen sollen, ließ sich aber
durch die deutsche Regierung um so leichter beeinflussen, als es ohnehin schon mit dem
Bau der Bagdadbahn schlechte Erfahrungen gemacht hatte.

   Vorläufig mußte man also das Projekt der Sandschakbahn ruhen lassen, und Gohi¬
chowski verfolgte sein Vorhaben nicht mehr weiter.44 Die Monarchie mußte sich nun
mit dem zufrieden geben, was Gohichowskiin einer der Ministerratssitzungenvon 1900
- zu Recht - als ein an sich beachtliches Ergebnis bezeichnet hatte: mit dem Bau der
bosnischen Ostbahn zwischen Sarajevo und Uvac. Dazu gab es noch eine Abzweigung
nach Vardiäte an der serbischen Grenze. Diese neue Linie wurde 1906 fertiggestellt.45

                    7. Sondersitzungen des gemeinsamen Ministerrates

   Anliegen der vorliegenden Studie war es darzustellen, wie die gemeinsamen Minister
und die beiden Ministerpräsidenten, in bestimmten Fällen unter Heranziehung von
Fachministem oder anderen Fachleuten, über die gemeinsamen Angelegenheiten oder
solchen von gemeinsamem Interesse berieten, wie der gemeinsame Ministerrat in jenem
Rahmen funktionierte, der im wesentlichen in den Gesetzen von 1867 festgelegt wurde.

   Mit den inneren Angelegenheiten der beiden Staaten durften sich laut Ausgleichs¬
gesetzen weder der gemeinsame Ministerrat noch die gemeinsamen Minister befassen.
Demnach debattierte der gemeinsame Ministerrat auch nicht die in dem hier unter¬
suchten Zeitraum gar nicht seltenen inneren Probleme und Krisensituationen der

43 Ebd. 46-47.
44 EM.
45 Schmid, Bosnien und die Heizegovina unter der Verwaltung Österreich-Ungams 585.
|| || Einleitung  LXXI

beiden Staaten. Die Badeni-Krise (1896), die militärischen Probleme Ungarns im Jahre
1903, der Sturz Istvän Tiszas und mit ihm der liberalen Regierung wurden auf den
Konferenzen, die am Ballhausplatz unter Vorsitz des Außenministers oder gelegentlich
im kaiserlichen Appartement in der Burg unter Vorsitz des Kaisers und Königs statt¬
fanden, höchstens andeutungsweise erwähnt.1 Auch für das Verhältnis zwischen den
beiden Staaten (z. B. die Angelegenheiten des wirtschaftlichen Ausgleichs) war nicht
der gemeinsame Ministerrat, sondern die sogenannte gemeinschaftliche Ministerkon¬
ferenz zuständig. Diese niemals institutionalisierte Konferenz bestand aus den Mitglie¬
dern der beiden Regierungen; an ihr nahmen die Vertreter der gemeinsamen Regierung
nicht teü, den Vorsitz führten die beiden Ministerpräsidenten abwechselnd. Das Pro¬
tokoll der Konferenzen wurde von beiden Ministerpräsidentenkanzleien aufbewahrt.
Die ihrem Namen nach dem gemeinsamen Ministerrat nahestehende „gemeinschaftli¬
che Ministerkonferenz" gehört jedoch nicht zum Thema der vorliegenden Studie.

                                                  Die ungarische Krise 1905

   Die durch das Gesetz und die institutioneile Praxis geschaffenen Formen setzten
voraus, daß das System funktionierte, daß die von vornherein festgelegten Richtlinien
eingehalten werden konnten. Doch diese Voraussetzung war nicht immer gegeben. Im
August 1905, am Höhepunkt der ungarischen Krise, wurde der gemeinsame Ministerrat
über eine eingestandenermaßen nicht gemeinsame Angelegenheit einberufen. Auf der
Tagesordnung des Ministerratesvom 22. August standen „die ungarische Krise und ihre
Rückwirkung auf die österreichische Reichshälfte, Vorschläge der ungarischen Regie¬
rung zur Sanierung der Lage in Ungarn, Erwägung von Maßnahmen, welche in dem
Falle zu treffen wären, daß die Sanierung nicht gelingen sollte".2

   Von einer Analyse der inhaltlichen Fragen des Ministerrates können wir hier
absehen, da die dort geführten Debatten und deren Belange in der Geschichtsliteratur
ausführlich behandelt sind.3 Hier soll lediglich auf einen Punkt eingegangen werden,
nämlich auf die Frage, wie der gemeinsame Ministerrat in einer außerordentlichen
Situation funktionierte. Der Ministerrat behandelte also am 22. August 1905 eine
ausgesprochen innere Angelegenheit, wozu er eigentlich kein Recht hatte. Von den
Landesregierungen, die sonst auf Formalitäten und Kompetenzbereiche achteten.

1 Anfänglich wurde auch dafürplädiert, die Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates wie die der Delegatio¬
     nen abwechselnd in Wien und Budapest abzuhalten. Doch dazu kam es schließlich nicht, nur neun der 77
     in der vorliegenden Studie untersuchten Sitzungen desgemeinsamen Ministerratesfanden in Budapest stau:
    GMR. v. IS. 11.1899, GMCZ. 417; GMR v. 6.11.1900, GMCZ. 429; GMR. v. 7.11.1900, GMCZ. 430;
    GMR. v. IS 4.1904, GMCZ. 441; GMR. v. 16. 4.1904, GMCZ 442; GMR v. 5. 5.1904, GMCZ 445/a;
    GMR v. 5.5.1904, GMCZ 445/b; GMR v. 1Z 5.1905 GMCZ 449; GMR v. 6.1.1907, GMCZ 460. Zwei
     Sommertagungen des Ministerrates fanden in der Sommerresidenz des Kaisers statt: GMR v. 29. 6.1899,
    GMCZ 415 in Schönbrunn und GMR v. 22 8.1905 GMCZ 450, in Ischl, alle anderen in Wien.

2 GMR V.2Z& 1905 GMCZ 450.
3 Neuerlich HanAk, Magyarorszig tört£nete 1890-1918 568-572, unter Berücksichtigung der Studie von

    Peball-Rothenberg, Der Fall „U".
|| || lxxh  Einleitung

wurden deswegen jedoch keine Bedenken geäußert. Die ungarische Krise wirkte sich
offensichtlich unmittelbar auf das ganze Reich aus; ohne die Billigung des Budgets oder
des Rekrutenkontingents brach der ganze Reichsapparat zusammen. Die Regierungs¬
krise ließ sich also nicht auf Ungarn begrenzen. Deshalb dachte auch niemand darüber
nach, ob die gemeinsame Ministerkonferenz die ungarische Angelegenheit überhaupt
behandeln durfte. Wenn dennoch Zweifel auftauchten, ob denn der österreichische
Ministerpräsident unter Hinweis auf die Auswirkungen auf Österreich seine Meinung
über die Reform des ungarischen Wahlrechtes äußern dürfe, so war dies, die Verhand¬
lungen in ihrem Zusammenhang betrachtet, die reinste Ironie. Denn dieser Ministerrat
übertrat seinen eigentlichen Kompetenzbereich nicht in formellen Fragen: Er befaßte
sich mit der eventuellen müitärischen Besetzung Ungarns; den Teilnehmern des ge¬
meinsamen Ministerrates wurde in großen Zügen der im Operationsbüro des General¬
stabschefs erstellte Plan „Kriegsfall U" für den Fall erläutert, daß in Ungarn „eine den
Charakter einer Revolution annehmende Bewegung entstünde". In einer solchen Situa¬
tion von den verfassungsmäßigen Schranken der Kompetenz des gemeinsamen Mini¬
sterrates zu sprechen, wäre eine Diskussion um ihrer selbst willen.

    Wenn der Ministerrat vom 22. August in seiner Art auch einmalig war, muß man
doch sehen, daß - resultierend aus dem Verwaltungsmechanismus des dualistischen
Staates - die von ihm bestimmten eigenen Rahmen notwendigerweise gelegentlich
überschritten werden mußten. Es kam auch in anderen Fällen vor, daß Mitglieder der
gemeinsamen Regierung die mneren Angelegenheiten des einen oder anderen Staates
behandelten bzw. die eine Landesregierung sich in die Angelegenheiten der anderen
eimnischte. War das ganze Zeitalter des Dualismus von staatsrechtlichen Streitigkeiten
durchzogen, so vor allem deshalb, weü 1867 der Versuch gemacht worden war, die
Funktion eines bis dahin nicht vorhandenen Gebüdes exakt zu beschreiben und die
Grenzen der Rechte sehr genau zu umreißen. Daher ist es nicht verwunderlich, daß sich
die Richtlinien in der Praxis nicht immer als brauchbar erwiesen.

    Es ist uns nicht genau bekannt, wie oft sich eine Landesregierung in die Angelegen¬
heiten der anderen, die gemeinsamen Minister in die inneren Angelegenheiten der
Staaten einmischten, doch ist zu vermuten, daß dies bei einem Teü jener Konferenzen,
die unter Vorsitz Sr. Majestät in der Müitärkanzlei abgehalten wurden, der Fall war.4
In Denkschriften wird häufig auf Beratungen dieser Art verwiesen. Um nur eine mit
unserem Thema zusammenhängende zu nennen, beriet am 4. September 1900 der
 „Kronrat", d. h. die gemeinsamen Minister sowie die Ministerpräsidenten Ungams und
 Österreichs, Szell und Koerber, die Reform des österreichischen Wahlrechtes.5 Auf
 jeden Fall darf man annehmen, obwohl diese Frage weiterer Forschungen bedarf, daß
 auch die unter regulärer Kabinettszahl registrierten gemeinsamen Ministerberatungen
 lediglich einen Teü der Verwaltungstätigkeit der gemeinsamen Regierung widerspie¬

 geln.

4 Hierauf wird im MKSM-Jndex verwiesen, die Protokolle selbst blieben nur selten erhalten. Aber auch die
     Bearbeitung der Themen der vorhandenen Protokolle bedarfnoch weiterer Forschung.

s Sieghart, Die letzten Jahrzehnte einer Großmacht 68. Die hier von Sieghart zitierte Septemberberatung
     war keine regelrechte, unter den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates registrierte Konferenz.
|| || Einleitung                                                                            Lxxm

   Um auf den Ministerrat vom 22. August zurückzukommen, wich diese Konferenz
von den gewöhnlichen gemeinsamen Ministerratssitzungen schon in ihrer Genese ab.
Die Beratung der gemeinsamen Minister war - wie oben festgestellt - immer ein
„gemeinsamer Ministerrat", gleichgültig, ob dabei der Kaiser und König oder der
Außenminister den Vorsitz führte. Diese Feststellung trifft indes auf die Konferenz im
August 1905 nicht zu. Wenn es einen „Kronrat" gegeben hat, so war die Beratung vom
August 1905 gewiß einer. Der gemeinsame Ministerrat wurde diesmal nicht vom
Außenminister, sondern von der Kabinettskanzlei Sr. Majestätvorbereitet. Die von der
ungarischen Regierung formulierten fünf großen Denkschriften „zur Sanierung der
Lage" waren von vornherein für den Monarchen gedacht; sie sind nicht im Kabinett des
Ministers (d. h. einer Abteüung des Außenministeriums), wie üblich, sondern in der
Kabinettskanzlei aufbewahrt. Der Kaiser wurde, wie oben dargesteüt, bei gewöhnlichen
Konflikten erst in die letzte Phase der Beratungen einbezogen, um ihm etwa eine letzte
Einflußnahme zu garantieren. Doch diesmal verhielt es sich anders. Die Wiener Zei¬
tungen berichteten, daß der Monarch zunächst die gemeinsamen Minister und die
beiden Ministerpräsidenten empfing. Gohichowski war bereits am Vorabend zu einer
langen Audienz beim Kaiser gewesen.6

   Am 22. August beriet Franz Joseph sieben Stunden lang mit den Regierungsmitglie¬
dern. Der gemeinsame Ministerrat selbst dauerte fast vier Stunden lang. Die Sitzung
wurde für ein Uhr mittags angesetzt, zu dieser Zeit war aber noch der ungarische
Ministerpräsident beim Kaiser, und so mußten die in der kaiserlichen Residenz pünkt¬
lich eingetroffenen Minister warten, bis sie zum Ministerrat gerufen wurden. Diesmal
nahm sich der Kaiser der Angelegenheiten persönlich an, und zum Abschluß der in die
Länge gezogenen Konferenz sagte er wie üblich, „daß alle möglichen Fälle und die
hierauf zu fassenden Entschlüsse erwogen werden müssen". Das war eine Beratung, die
nicht, wie gewohnt, mit einer einstimmig angenommenen Entschließung beendet
werden mußte, weü die Entscheidung diesmal eindeutig in den Händen des Monarchen
lag. Zwei Tage später brachte Fejerväry unter Entschuldigungen vor, daß er selbstver¬
ständlich keine Frist setzen, doch den Wunsch äußern wolle, die höchste Entschließung
baldmöglichst kennenzulemen, damit er mit Gewißheit vor das am 15. September
beginnende ungarische Parlament treten könne.7 Das Parlament formierte sich am
15. September bekanntlich nicht zu einem ./evolutionären Konvent", wie man an
höchster Stelle befürchtet hatte, und es kam auch nicht zur Anwendung der letzten
Mittel. Der nächste Ministerrat, der über das Wirtschaftsprogramm Fejervärys beriet,
entsprach schon wieder völlig den Vorstellungen einer normalen Konferenz.8

6 Neue Freie Presse v. 22.8.1905 (A.) und v. 23.8.1905 (M.).
7 Fejfrvdry an Daruväry v. 24. & 1905, OL, Sektion 1-35, Nachlaß Daruväiy, Karton 1.
8 GMR v. 16.10.1905, GMCZ. 451.
|| || LXXIV  Einleitung

                             Staatsrechtliche Probleme im Zusammenhang mit dem Abschluß

                                                     internationaler Handelsverträge
                                                               (1907)

   Mit Ausnahme bestimmter, notwendigerweise in den Kompetenzbereich des ge¬
meinsamen Ministerrates fallender Angelegenheiten (wie die Vorbereitung des ge¬
meinsamen Budgets oder manche militärischen Fragen) war es anscheinend ganz
zufallsbedingt, welches Thema vor die im festgelegten Rahmen verlaufenden Konferen¬
zen der gemeinsamen Minister gebrachtwurde. 1907 berieten die Minister gleich in drei
aufeinanderfolgenden Sitzungen über staatsrechtliche Probleme des wirtschaftlichen
Ausgleichs bzw. über die beim Abschluß von Handelsverträgen gebräuchlichen staats¬
rechtlichen Formeln.9 Es stellt sich nun die Frage, warum gerade zu dieser Zeit in einer
Reihe von Ministerratssitzungen staatsrechtliche Fragen behandelt wurden und nicht
früher, als sie sich in der politischen Praxis eigentlich ergeben hatten, vor das Forum
der gemeinsamen Minister gebracht worden waren.

   Vom gescheiterten Ausgleich von 1897 und dann von 1899 ist im gemeinsamen
Ministerrat keine Spur. Der Sz611-Koerber-Ausgleich (1902), der durch die Einführung
des autonomen Zolltarifs gewisse staatsrechtliche Veränderungen zur Folge hatte,
wurde im gemeinsamen Ministerrat nicht behandelt. Seit 1896 war es üblich, daß jeder
Staat „selbständig und unabhängig von dem anderen Teüe der Monarchie" bestimmte
internationale Verträge (d. h. solche, die keine gemeinsamen Angelegenheiten berühr¬
ten) abschließen durfte. Der Monarch willigte nach Unterredungen mit den beiden
damaligen Ministerpräsidenten ein, daß in solchen Fällen die Unterzeichnungsformel
„pour l'Autriche et pour la Hongrie" gebraucht werden sollte, was Banffy als eine
beachtliche nationale Errungenschaft dem Parlament bekanntgab.10 Die Brüsseler
Zuckerkonvention wurde 1902 von den Vertretern nicht nur Österreich-Ungarns,
sondern auch von denen Österreichs und Ungarns unterzeichnet. Dieses Ereignis fand
internationale Beachtung, doch auch diese Angelegenheit wurde im gemeinsamen
Ministerrat nicht behandelt.11

    Nach Ansicht des gemeinsamen Außenministers Gohichowski divergierten die
Auffassungen der beiden Landesregierungen in mehreren staatsrechtlichen Fragen im
Sommer 1904 bereits in einem solchen Ausmaß, daß die Unterzeichnung bestimmter
internationaler Verträge praktisch unmöglich geworden war. Er nahm Verhandlungen
mit den beiden Ministerpräsidenten auf, und in Gesprächen sowie auf schriftlichem
Wege konnte man sich in manchen Fragen auch verständigen.12 Im gemeinsamen
Ministerrat wurde die Angelegenheit nicht einmal erwähnt, obwohl der Handelsvertrag
mit Italien, der zu diesem Zeitpunkt behandelt wurde, eine gute Gelegenheit dazu
geboten hätte.13

9 GMR. v. 11.9.1907, GMCZ. 461; GMR. v. 9.10.1907, GMCZ. 461 und GMR. v. 13.10.1907, GMCZ. 463.
10 Vgl Goluchowski an Gautsch v. 2& 1.1905, HHStA., PA. I, Karton 630, V/CdM.
11 Berhatzk, Die österreichischen Verfassungsgesetze 648.
12 GotuchowsH an (Be baden Ministerpräsidenten v. 14.6.1904, HHSrA., PA. I, Karton 630, V/CdM.
13 GMR. v. 16.8.1904, GMCZ. 446
|| || Einleitung  LXXV

   Warum kam es gerade 1907 zu den Ministerberatungen über staatsrechtliche
Fragen? Die Antwort scheint naheliegend: 1907 konnte endlich der wirtschaftliche
Ausgleich zwischen den beiden Staaten vereinbart werden, und es schien nützlich,
parallel dazu und im Zusammenhang damit auch die staatsrechtlichen Differenzen
auszuräumen. Die gemeinsame Regierung mußte sich auch deshalb darum bemühen,
weil in Ungarn eine „auf der Basis von 1848" stehende, d. h. auch die staatsrechtliche
Opposition einschließende Koalitionsregierung an der Macht war, und in Österreich
war Ministerpräsident Beck um eine „Generalbereinigung", d. h. um die Klärung aller
zwischen Ungarn und Österreich noch offenen wirtschaftlichen und staatsrechtlichen
Fragen ernsthaft bemüht.14

   Offenkundig hielt es ein Außenminister wie Aehrenthal, der eine betont aktive
Außenpolitik betrieb, für wichtig, die staatsrechtlichen Fragen zu klären. Ein besonde¬
rer Grund dafür war die geplante Annexion Bosniens und der Herzegowina, um deren
weitgehende staatsrechtliche Konsequenzen man von vornherein wußte.15 Die staats¬
rechtlichenDebatten im gemeinsamenMinisterrat des Jahres 1907 sind abernicht allein
darauf zurückzuführen. Bei der Lektüre der Ausführungen Aehrenthals im Ministerrat
vom 11. September 1907 hat man den Eindruck, daß er die ungarischen Regierungsmit¬
glieder schockieren wollte. Zu einer Zeit, da in den Beziehungen zwischen den beiden
Reichshälften (infolge der unbestreitbar wachsenden Rolle Ungarns innerhalb der
Monarchie) eine gewisse Lockerung nicht nur in den Parolen, sondern auch in der
Praxis eingetreten war, nahm Aehrenthal einen Standpunkt ein, der nicht nur zu dieser
Entwicklungstendenz, sondern selbst zu den Gesetzen von 1867 im Widerspruch stand.
Er erkannte zwischen den pragmatischen und den paktierten gemeinsamen Angelegen¬
heiten sowie den autonomen Angelegenheiten, zumindest in deren Behandlung, keinen
Unterschied.16 Aehrenthal bestand darauf, daß die Monarchie in allen internationalen
Verträgen mit dem Ausland als ein einheitlicher Staat auftrat. Er erkannte nur die
Monarchie als staatsrechtliches Subjekt an, Ungarn oder Österreich hingegen nicht.
1867 hätte Ungarn auf einen TeU seiner Souveränität verzichtet, meinte er provokato¬
risch dem ungarischen Ministerpräsidenten der Koalitionsregierung gegenüber. Kern
jedes Vertrages wäre, daß die vertragschließenden Parteien für gewisse Vorteüe den
Verlust anderer in Kauf nähmen. Im Austausch für bestimmte Attribute der Souverä¬
nität habe sich Ungarn „den gemeinsamen Schutz, die Zusammenfassung der Kräfte im
Rahmen der Monarchie, eine geachtete Stellung innerhalb der europäischen Staaten¬
familie" erworben. Aehrenthal hatte zwar unbedingt recht, doch war es der ungarischen
Seite unmöglich, das zuzugeben. Diesem Standpunkt des Außenministers hatte nicht
einmal eine auf der Grundlage von 1867 stehende Regierung beipflichten können, noch
weniger die seine, die die Anhänger von 1848 versammelte, sagte Wekerie.

14 Sutter, Die Ausgleichsverhandlungen zwischen Österreich und Ungarn 1867-1918 99-101; Allmayer-
    Beck, Ministerpräsident Baron Beck 163 ff.

15 Die staatsrechtlichen Fragen der geplanten Annexion wurden auf dem GMR. v. 26. 8.1896, GMCZ. 392,
    GMR. v. 30. & 1896, GMCZ. 394, und GMR. v. 30.1.1897, GMCZ. 399, debattiert.

16 GMRProt v. 11.9.1907, GMCZ. 461, Anm. 2,3 und 4.
|| || LXXVT  Einleitung

   Der österreichische Ministerpräsident Freiherr V. Beck sympathisierte eher mit dem
ungarischen Standpunkt und wollte sich in staatsrechtlichen Fragen keineswegs verstei¬

fen.
   Der gemeinsame Finanzminister Buriän gab in seinem Tagebuch seine Einschätzung

der Geschehnisse wie folgt: .Aehrenthal hält an der bisherigen Terminologie in bezug
auf die Handelsverträge fest, damit die Einheit der Monarchie vor dem Ausland besser
herausgestellt wird. Ich verstehe Aehrenthals Standpunkt zu gut und würdige ihn, teüe
ihn jedoch nicht ganz, denn die Terminologie müsse der tatsächlichen Lage entsprechen
und solle nicht dasverhüllen wollen, wasnicht möglichund nicht nötig ist. Diebeweinten
Status-quo-ante-Zustände können durch das Beharren auf der Terminologie nicht
gerettet werden."17 In den Ministerratssitzungen äußerte Aehrenthal die Ansicht, daß
der Frieden die Fortsetzung des Krieges sei, was hier bedeutete, daß die Einheit der
Außenpolitik ebenso starr zu bewahren wäre wie die der Armee. War er ein Anfänger?
Wußte er nicht, wie weit man auf der gemeinsamen Ministerkonferenz gehen durfte?
Gotuchowski hätte sich zu derartigen Äußerungen gewiß nicht verstiegen. Er hatte
prinzipielle Polemik in staatsrechtlichen Fragen im Laufe von elf Jahren immer zu
umgehen gewußt. Auch Aehrenthal war nicht unvorsichtig. Die gleichermaßen unan¬
tastbare Einheit der Armee und der Außenpolitik war keine Zufallsidee, kein zufälliger
Schnitzer. Er verfolgte schon 1904 als Botschafter in St. Petersburg besorgt die Ge¬
schehnisse; die Art und Weise, wie die Brüsseler Zuckerkonvention unterschrieben
wurde, hielt er für einen gefährlichen Präzedenzfall, der im Widerspruch zu den
Gesetzen von 1867 stand. Aehrenthal unterstrich bereits damals, daß die Gemeinschaft
für die auswärtigen Angelegenheiten ebenso galt wie für die Armee, d. h. „dank der
Armee und der diplomatischen Vertretung treten die beiden Gebiete im Verkehr mit
den fremden Staaten als ein Faktor auf (das Wort Reich würde hier mehr am Platz sein,
ist aber leider auch außer Gebrauch gesetzt) ... pour l'Autriche et la Hongrie zu
unterzeichnen kann nur als das Aufgeben des früher auf Einheitlichkeit gerichteten
Wülens und als der Beginn einer neuen staatsrechtlichen Evolution angesehen
werden".18 „Mir scheint es, daß ohne Aufrechterhaltung der gemeinsamen Wirtschafts¬
interessen und ohne Geltendmachung der letzteren nach außen in der bisher herge¬
brachten Form die Bedingungen für den Fortbestand der .ganzen Monarchie* über¬

haupt nicht mehr vorhanden sind."19
    Außenminister Aehrenthal hatte 1907 endlich Gelegenheit, seine früher gewonnene

Überzeugung vor dem gemeinsamen Ministerrat zu erläutern. Er hatte seine politische
Laufbahn mit einer großen Konzeption begonnen, mit einem Plan, der die Außen- und
Innenpolitik der Monarchie gleichermaßen umfaßte. Auch hatte er von vornherein
Ambitionen gehabt, Reichskanzler zu werden. Als junger Botschafter in St. Petersburg
 (1899) konzipierte er außenpolitische Pläne in seinen Denkschriften an den Außenmi¬
nister, die in Wahrheit Gohichowski selbst als Instruktion für den neuen Botschafter in

17 Tagebuch des gemeinsamen Finanzministers Istvdn Buriän, 8. 10. 1907, Reformätus Egyhäz Zsinati
    Lev£ltära, Budapest, Nachlaß Buriän.

18 Aehrenthal an Gotuchowski v. 17. 2.1904, HHSxA., PA. I, Karton 630,84/CdM.
19 Aehrenthal an Gotuchowsldv. 30.1.1904, ebd., 52/CdM.
|| || Einleitung  lxxvh

St. Petersburg hätte entwerfen sollen.20 Damals war Aehrenthal aber noch Anhänger
des Dualismus und glaubte daran, daß ein auf der Herrschaft zweier Nationen aufge¬
bautes Reich imstande sein würde, eine europäische Großmachtpolitik zu betreiben.
Ab 1903 verfolgte er die inneren Ereignisse mit wachsender Besorgnis, und die ungari¬
sche Krise von 1905 hatte seinen Glauben endgültig erschüttert. In den ersten Tagen
nach der Ernennung der Fejerväry-Regierung (immer noch als Botschafter in St. Pe¬
tersburg), schrieb er, der österreichische Außenminister hätte vor allem eine Reichs¬
politik zu betreiben, die innere Entwicklung diesseits und jenseits der Leitha in
Richtung Einheit zu beeinflussen, und erst wenn die innere Einheit garantiert wäre,
könne von einer Außenpolitik gesprochen werden.21

   Im Jahre 1907 war Außenminister Aehrenthal, der sich an der Vorbereitung des
wirtschaftlichenAusgleichs zwischen den beiden Ländern aktivbeteiligte, bestrebt, eine
langfristige Regelung der wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Staaten auf 25 Jahre
zuwege zu bringen. Als dies dann doch nicht gelang, war er bemüht, wenigstens die
bestehenden Verhältnisse zu konservieren.22

   Sein provokatorisches Auftreten im Ministerrat war Bestandteü dieser Konzeption,
und sein für den Monarchen erarbeiteter Vortrag bewies, welch große Bedeutung er
dem winzigsten Zugeständnis in Richtung wirtschaftlicher und politischer Selbständig¬
keit, jedem Wort, das die Reichseinheit gefährdete, beimaß. Die internationalen Han¬
delsverträge sollten, wie er vom Kompromiß des Ministerrats an den Monarchen
berichtete, außer vom Außenminister bzw. dessen Vertreter auch von den Vertretern
der beiden Staaten unterschrieben werden. Dies wäre kaum mehr als ein „dekoratives
Zugeständnis, ohne daß dadurch in staatsrechtlicher Hinsicht etwas geändert wird".
Ein Positivum, das gegenüber den Ungarn erreicht werden konnte, bestünde darin, daß
die Bezeichnung ,Jc. u. k. gemeinsame Regierung Österreich-Ungams" oder .gemein¬
same Regierung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie" „ein für alle Mal sicher-

gestellt ist".2
   Rückblickend sind die staatsrechtlichen Auseinandersetzungen des Jahres 1907

gewiß nicht von zu großer Bedeutung. Aehrenthals Bestreben war indes doch von
größerem Belang, als dies der Text der einschlägigen Ministerratsprotokolle vermuten

20 Wank, Zwei Dokumente Aehrenthals aus den Jahren 1898-99 zur Lösung der inneren Krise in Öster¬
    reich-Ungarn 339-362; HanAk, Magyarorszäg törtdnete 1890-1918 749-752.

21 Wank, Aehrenthal's Programme to the constitutional transformation of the Habsburg Monarchy

    514-517.
22 Memoire des Ministers Grafen Aehrenthal v. 5. 2.1907 über die Grundsätze zur Regelung von Wirt¬

    schaftsfragen angesichts der pendenten Ausgleichsverhandlungen, ebd. 532-536.
23 Abschrifteinesau. ImmediatvortragesvonAehrenthalv. 29.10.1907, HHSrA., PA. I, Karton 636, VIII/C-6.

    Vgl GMRProl v. 9.10.1907, GMCZ. 462, Anm. 2. Genauer stimmte die zitierte gemeinsame Ministerkon¬
    ferenz darin überein, daß bei der Unterzeichnungvon Handelsverträgen die Formel Delegierter der k. u. k.
    ypy-ingamcn österreichisch-ungarischen Regierung gebraucht werden soll. Es ist allerdings fraglich, ob

    damit die vier Jahrzehnte lange Auseinandersetzung darüber, ob es eine gemeinsame Regierung oder nur

    gemeinsame Minister gab, die zusammen keine Regierung bildeten, tatsächlich entschieden wurde.
|| || LXXVffl  Einleitung

läßt.24 Er wollte einen unaufhaltsamen Prozeß zum Stillstand bringen und war bemüht,
dazu auch das Forum der gemeinsamen Minister zu nutzen. Deswegen brachte er die
staatsrechtlichen Streitigkeiten vor den gemeinsamen Ministerrat, wodurch er dieses
Gremium eigentlich mit neuem Inhalt erfüllte. Dies geschah gewiß nicht imbewußt,
denn der Außenminister, der nach der Stärkung der Reichseinheit strebte, der Reichs¬
kanzlerambitionen hatte, wollte auch den gemeinsamen Ministerrat mit einem erwei¬
terten Kompetenzbereich, d. h. mit Regierungsfunktion, ausgestattet sehen.

24 Hier soll vermerkt werden, daß der Charakter des GMRProt. v. 9.10.1907, GMCZ. 462, und des GMRProt.
     13.10. 1907, GMCZ. 463, von dem früheren Protokolle abweicht. Sie sind eher als zusammenfassende
    Aufzeichnungen von den geführten Diskussionen zu bezeichnen, nicht als tatsächliche Protokolle.