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Anhang Gemeinsamer Ministerrat, 20. 10. 1871

I. Reskript an den böhmischen Landtag

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_I2/pdf/oe_hu_mrp_I2_zusatz1.pdf.

         ERGÄNZENDE PROTOKOLLE ANDERER

                             PROVENIENZ

                   Nr. I Ministerrat, Wien, 20. Oktober 1871

    Gegenwärtige: der Reichskanzler Graf Beust (25. 10.), der Reichskriegsminister FML. Freiherr
v. Kuhn (27. 10.), der Reichsfinanzminister Graf Lonyay (28. 10.), der kgl. ung. Ministerpräsident
GrafAndrässy (o. D.), der kgl. ung. Minister am Ah. Floflager Freiherr v. Wenckheim (30. 10.), der
Vorsitzende des Ministerrates und der k. k. Minister des Innern Graf Flohenwart [ohne Vidimie¬
rung], der k. k. Finanzminister Freiherr v. Flolzgethan (30. 10.), der k. k. Landesverteidigungsmini¬
ster GM. Freiherr v. Scholl (31. 10.), der k. k. Minister für Kultus und Unterricht Jirecek (3. 11.),
der k. k. Handelsminister und Leiter des Ackerbauministeriums Dr. Schäffle (2. 11.), der k. k. Ju-
stizminister Dr. Habietinek (1. 11.), der k. k. Minister für Galizien Ritter v. Grocholski (10. 11.).

    Protokollführer: Anton Artus.
    Gegenstand: Reskript an den böhmischen Landtag.

    KZ. 2816-MRZ. 111
    Protokoll I des zu Wien am 20. Oktober 1871 abgehaltenen Ministerrates unter
dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers.1

    Seine Majestät geruhen die Sitzung mit der Ah. Bemerkung zu eröff¬
nen, daß der Gegenstand derselben bekannt sei, nur daß der zweckmäßigste Weg

        Dieses Protokollfindet sich zwar in der Serie der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates,
        HHStA. PA. XL, (Interna) Karton 286, und von seiner Thematik her gehört es auch dorthin:
        Es ist die Fortsetzung der Beratung RMRZ. 120 vom Vortag. Vor dem Text des Protokolls
        liegt ein Merkzettel: ,,Abschrift zweier gemeinsamen Ministerratssitzungen vom 20. Oktober
        1871 (betreffend die 'böhmischen Fundamentalartikel') nebst einiger anderen auf den Ge¬
        genstand bezüglichen Korrespondenzen des Reichskanzlers Grafen Beust."
         Von den Teilnehmern und Formmerkmalen sowie der Eintragung des Ministerrates her gese¬
        hen, ist es jedoch eine Beratung der cisleithanischen Regierung, zu der gemeinsame und
        ungarische Minister eingeladen werden. Das Protokollfindet sich auch bei den cisleithani¬
        schen Ministerratsprotokollen: AVA, Ministerratsprotokolle Karton 3, und die Abschrift:
        AVA, Ministerratsprotokolle Karton 41 Abschriften, Brandakten 1871. Aufder maschinen¬
        schriftlichen Abschrift steht: Verglichen und mit dem nach dem Brande vom 15. Juli 1927
        Vorgefundenen, lückenhaften Protokolle gleichlautend. Wien, am 10. März 1929. General¬
        staatsarchivar: Stritzky.
        In der Serie der gemeinsamen Ministerratsprotokolle ist das Protokoll nicht mit KZ. und
        natürlich auch nicht mit RMRZ. versehen. Bei der Veröffentlichung geben wir die Registra¬
        turnummer des Protokolls in der AVA an.
<pb/>370 Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871

der wäre, daß zuerst das an den böhmischen Landtag zu erlassende Reskript be¬
sprochen und dann sämtliche Punkte des Operates des böhmischen Landtages
hervorgehoben werden, welche einem oder dem andern der Minister Anlaß zu
Bemerkungen geben.

   Das Reskript betreffend liegen verschiedene Entwürfe vor, deren letzten, vom
diesseitigen Ministerium in teilweiser Amendierung eines Entwurfes des gemein¬
samen Ministeriums formulierten in a) beiliegenden, der Vorsitzende des Mini¬
sterrates Graf Hohenwart zur Verlesung bringt.2

   Der Reichskanzler glaubt, einige allgemeine Bemerkungen über die
diesem dritten Entwürfe vorangegangenen Verhandlungen vorausschicken zu
sollen.

   Das gemeinsame Ministerium habe sich nach Kenntnisnahme von der Adresse
des böhmischen Landtages der Erwägung der Frage nicht verschließen können,
ob dasselbe die den bezüglichen Vorgängen gegenüber bis dahin beobachtete
Passivität fernerhin beizubehalten oder ob und inwiefern es Veranlassung habe,
seine Stimme in der Sache zu erheben.

   Das gemeinsame Ministerium hat sich mit Rücksicht auf den Inhalt der Adres¬
se einerseits und andererseits mit Rücksicht auf die dadurch wachgerufenen Er¬
wartungen und Befürchtungen diese letztere Frage nur bejahend beantworten zu
können geglaubt, und zwar aus einem dreifachen Gesichtspunkte.

    1. Obliege ihm die Pflicht, vom Standpunkte seiner verfassungsmäßigen Stel¬
lung und Verantwortlichkeit, daran zu halten, daß diejenigen Gesetze, welche das
Verhältnis zu Ungarn regeln, in beiden Reichshälften gegen jeden Zweifel an ih¬
rem Rechtsbestande geschützt werden, welcher unanfechtbar sei und einer nach¬
träglichen Anerkennung von Seite des böhmischen Landtages umsoweniger be¬
nötige, alsjede Änderung dieser Gesetze ausschließlich nur durchjene legislativen
Faktoren möglich erscheine, welche bei ihrem Zustandekommen mitgewirkt ha¬
ben.

   2. Erscheine der Wirkungskreis des gemeinsamen Ministeriums durch den ma¬
teriellen Teil der Adresse und der Propositionen des böhmischen Landtages be¬
rührt, und zwar in einer Weise, die geeignet wäre, die Aktion dieses Ministeriums
zu erschweren und deren Erfolge in Frage zu stellen. In dieser Beziehung liege
daher für das gemeinsame Ministerium die Aufforderung vor, dahin zu wirken,
daß in der betreffenden Enuntiation die volle Freiheit gewahrt bleibe, ob und in¬
wieweit die Regierung Seiner Majestät die Propositionen dem Reichsrate gegen¬
über zu vertreten gemeint sei.

   3. Da durch das bloße Erlassen der Adresse des böhmischen Landtages ein
faktischer Zustand hervorgerufen wurde, welcher den gemeinsamen Ministerien
sehr bedenklich erschien, mußte es von denselben als sehr wünschenswert er¬
kannt werden, daß in der Ah. Kundgebung hierüber nichts enthalten sei, was ge-

2 Beilage A. zum Ministerratsprotokolle I. vom 20. Oktober 1871. An den Landtag Unseres
        Königreiches Böhmen.
<pb/>Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871  371

eignet wäre, die hervorgetretenen Gegensätze zu verschärfen und die vorhandene
Mißstimmung zu erhöhen. Diesen letzteren Gesichtspunkt zur Geltung zu brin¬
gen, mußte sich namentlich das Ministerium des Äußern als berufen fühlen, weil
sonst die eingeschlagene auswärtige Politik sehr gestört und jener Vorteile be¬
raubt werden könnte, welche dadurch bereits erreicht worden sind, teils gehofft
werden können. Aus diesen Gesichtspunkten wurde ein au. Vortrag erstattet,3 in¬
folgedessen Seine Majestät Beratungen des gemeinsamen Ministeriums anzxiord-
nen geruhten, welchen GrafAndrässy und teilweise auch Graf Hohenwart beige¬
zogen wurden.4 Im Laufe dieser Beratungen wurde der ursprüngliche Entwurf
des Ah. Reskriptes der gemeinsamen Konferenz mitgeteilt. Das gemeinsame Mi¬
nisterium hat sich überjene Abänderungen geeinigt, welche es von seinem Stand¬
punkte als absolut notwendig erachtete. Jetzt liege ein Gegenentwurf des diessei¬
tigen Ministeriums vor. Der Reichskanzler gesteht, daß die drei Gesichtspunkte,
welche das gemeinsame Ministerium festzuhalten habe, durch diesen Entwurf
keine Berücksichtigung finden. Allerdings sei ein Passus vorhanden, welcher die
Gültigkeit der Ausgleichsgesetze ausspreche, allein nachdem eine Manifestation
des böhmischen Landtages vorliege, welche zwar die Ausgleichsgesetze agnos¬
ziere, dabei aber doch andere Gedanken verrate, erscheine eine entschiedenere
und explizitere Enuntiation in dieser Beziehung, namentlich was die Kompetenz
der zu allen, auch zu den Übereinkommen auf bestimmte Termine berufenen bei¬
derseitigen legislativen Faktoren betrifft, unbedingt notwendig. Was dann den
Schlußsatz angehe, so müsse er sich, insofern derselbe eine Akzeptation der
Adresse zu involvieren scheine, dagegen auf das Entschiedenste erklären. Aus
diesen Erwägungen sei er daher nicht in der Lage, dem vorgelesenen Entwürfe
beizustimmen.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident glaubt vor allem betonen zu
sollen, daß er sich nicht berechtigt fühle, vom Standpunkte des Landes Ungarn in
der Sache mitzusprechen, weil er in der Erkenntnis der Pflicht jedes Ministers,
Differenzen zu beseitigen und nicht zu vermehren, zu den ohnedies an den Tag
getretenen Gegensätzen nicht auch noch den zur andern Reichshälfte hinzufugen
wolle. Er habe daher in der ganzen Angelegenheit nur jene Punkte in das Auge
gefaßt, welche sich auf beiden Reichshälften Gemeinsames beziehen. Insofern
diese Punkte nicht nur für Ungarn allein zur gesetzlichen Geltung gelangt seien,
finde er hierin die Basis für seine Beteiligung an der Sache. Seiner Auffassung
nach wirkt jede Veränderung des bestehenden Staatsrechtes auf beide Teile der

GMR. v. 16.10.1871, RMRZ. 119. Anm. 4. (Au. Vortrag von Beust vom 13.10.1871. HHStA.,
Kabinettsarchiv, Denkschriften, Karton 13. Desweiteren Ministerrat v. 20. 10. 1871 [MRZ
fehlt] Protokoll II. Beilage: HHStA., PA. XL, Karton 286. Veröffentlicht in: Beust, Aus drei
Viertel-Jahrhunderten Bd. 2 501-510.J
In Wirklichkeit waren es zwei gemeinsame Ministerräte. Beim Ministerrat vom 16. Oktober
war Hohenwart nicht anwesend, aber zur Konferenz vom 19. Oktober beriefman beide Mi¬
nisterpräsidenten ein. GMR. v. 16. 10. 1871, RMRZ. 119; GMR. v. 19. 10. 1871, RMRZ.
120.
<pb/>372 Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871

Monarchie, deren dualistische Gestaltung füglich nur so verstanden werden kön¬
ne, daß beide Regierungen unabhängig voneinander regieren und administrieren,
daß aber jede Veränderung von maßgebenden obersten Grundsätzen nur im bei¬
derseitigen Einvernehmen geschehen könne. In dieser Auffassung habe ihn die
Gnade Seiner Majestät gestärkt, indem Allerhöchstdieselben ihn zur Teilnahme
an diesen Beratungen zu berufen geruht haben. Seine Ansichten betreffend behal¬
te er sich vor, sie bei den einzelnen Absätzen des Entwurfes auszusprechen; im
allgemeinen schließe er sich von dem oben angedeuteten Standpunkte den An¬
schauungen des gemeinsamen Ministeriums ganz an, wie er auch den dort verein¬
barten Entwurf des Ah. Reskriptes als ganz entsprechend erkenne.

   Über Ah. Aufforderung verliest der Vorsitzende des diesseitigen Ministerrates
nochmals die erste Alinea des diesseitigen Entwurfes.

   Der kgl. ung. Ministerpräsident findet gegen den früher von
andererseits beanstandeten Ausdruck staatsrechtliche (Verhältnisse Unseres Kö¬
nigreiches Böhmen) in der Voraussetzung einer entsprechenden Erläuterung im
weiteren Verfolge des Reskriptes nichts zu erinnern, daher in weitere Erörterun¬
gen hierüber vorläufig nicht eingegangen wird.

   Der Alinea 2 des Entwurfes a) hält der Reichskanzler die korrespondierenden
Alineas 2 und 3 des Entwurfes des gemeinsamen Ministeriums b) entgegen als
die oben erörterten Anschauungen über die Notwendigkeit einer entschiedenen
Betonung der Rechtsgültigkeit der Ausgleichsgesetze und der ausschließlichen
Kompetenz der beiderseitigen Reichsvertretungen zu allfälligen Abänderungen
zum präzisen Ausdrucke bringend.5

   Diese Alineas lauten: ,,2. Mit der au. Adresse vom 10. d. M. hat der Landtag
Uns das Resultat seiner Beratung vorgelegt und Wir verkennen in den hiebei zu
unserer Kenntnis gebrachten Motiven nicht das Bemühen, diesen Unseren Wün¬
schen nachzukommen.&quot; ,,3. Wir müssen jedoch nachdrücklich hervorheben, daß
die über die Behandlung der gemeinsamen Angelegenheiten und das Verhältnis
der beiden Teile der Gesamtmonarchie zueinander durch die Vereinbarung der
legislativen Körper dieser Teile, den Reichsrat und den ungarischen Reichstag,
geschaffenen mit Unserer Sanktion versehenen Gesetze in volle Rechtskraft für
die ganze Monarchie erwachsen sind und nur auf dem durch dies Übereinkom¬
men bezeichneten Wege geändert oder insofern die Bestimmungen dieses Über¬
einkommens auf bestimmte Zeit geschlossen worden sind, erneuert werden, in
den Bereich der Kompetenz eines anderen legislativen Faktors aber nicht gezo¬
gen werden können.&quot;

   Der Vorsitzende des diesseitigen Ministerrates
weist in eingehender Erörterung daraufhin, wie der Gang der Verhandlungen mit
Böhmen aufeinem Kompromisse zwischen zwei prinzipiell verschiedenen Stand-

5 Beilage B. zum Ministerratsprotokolle I. vom 20. Oktober 1871. An den Landtag Unseres
        Königreiches Böhmea
<pb/>Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871  373

punkten beruhe. Böhmen stehe bekanntlich auf dem historischen Rechte, die an¬
deren auf dem Rechte der Dezember-Verfassung.

   Zwischen dieser Verschiedenheit müsse vermittelt werden. Diesen Zweck im
Auge schien es dem diesseitigen Ministerium genügend, daß das Gesetz über die
gemeinsamen Angelegenheiten als ein für die Monarchie in voller Rechtskraft
bestehendes Gesetz betont werde. Anderes scheine nicht notwendig zur sicher¬
stellenden Konstatierung dessen, um was es sich handle.

   Der ungarische Ministerpräsident bemerkt, in dem Entwür¬
fe des gemeinsamen Ministeriums sei in dem ersten Absätze der Alinea 2 das
Bemühen des Landtages anerkannt worden, den Ah. Wünschen nachzukommen,
welche Ah. Wünsche nach Alinea 1 dahin gingen, daß der Landtag die zeitgemä¬
ße Ordnung der staatsrechtlichen Verhältnisse Böhmens im Geiste der Mäßigung
und Versöhnung berate. Es wurde dieser Passus in der Rücksicht aufgenommen,
die Stellung des diesseitigen Ministeriums möglichst zu erleichtern, und wurde
künstlich gesucht, worauf eine solche Anerkennung zu begründen wäre, was end¬
lich in den Motiven gefunden wurde, da, wie er glaube, der Geist der Mäßigung
und Versöhnung sich sonst wohl kaum bemerkbar gemacht habe. Dieser erste
durch die notwendige Rücksicht auf die Position des Ministeriums bedingte Pas¬
sus lasse sich aber von der dritten Alinea im Entwürfe des gemeinsamen Ministe¬
riums nicht trennen.

   Werde, wie dies im Entwürfe des diesseitigen Ministeriums geschehe, der Ah.
Befriedigung darüber Ausdruck gegeben, daß der Landtag sich der Erkenntnis
nicht verschließe, wienach die Ausgleichsgesetze unanfechtbar zu Recht beste¬
hen, so würde sich ein Widerspruch mit den Tatsachen ergeben, welche gerade
das Entgegengesetzte bekunden, insofern Böhmen nachträglich den Ausgleichs¬
gesetzen beitrete. Es sei unmöglich, daß die Krone darin eine Erkenntnis des
Rechtsbestandes finde.

   Die Fassung des gemeinsamen Ministeriums dagegen präzisiere, daß das, was
Seine Majestät in Übereinstimmung mit den beiderseitigen Legislativen zu erlas¬
sen geruhten, für die ganze Monarchie Gesetz geworden, und daß diese Gesetze
nur auf dem durch das Übereinkommen bezeichneten Wege geändert oder, sofern
es sich um die Vereinbarungen für eine bestimmte Zeitdauer handle, erneuert
werden können. Präzis sei auch ausgesprochen, daß diese Gesetze sämtlich in die
Kompetenz eines anderen legislativen Faktors nicht gezogen werden können. In
prinzipieller Richtung erscheine es dringend geboten, daß Seine Majestät feste
Hand darauf legen, daß an den Ausgleichsgesetzen in keiner Weise gerüttelt wer¬
de. Der Geist dieser Gesetze verlange es aber entschieden, daß sie nicht ohne
vorhergegangene Übereinkommen der beiden Regierungen und aufgrund gleich¬
lautender Vorlagen an die beiden Vertretungskörper einer Änderung entgegenge-
führt werden. Dies betone nur der Entwurf des gemeinsamen Ministeriums in
entschiedener Weise.

   Der Vorsitzende des diesseitigen Ministerrates
weist daraufhin, daß in dem böhmischen Operate die Ausgleichsgesetze in allen
<pb/>374 Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871

Artikeln anerkennt worden seien. Ungarn gegenüber sei alles festgehalten wor¬
den, was für beide Teile Geltung habe, und was Böhmen anstrebe, involviere
eventuelle Modifikationen nur desjenigen Gesetzes, welches für diese Reichs¬
hälfte für sich allein zustande gekommen sei.

   Der Reichsfinanzminister erörtert die wesentlichen Differenzen,
welche zwischen beiden Formulierungen bestehen. Einmal spreche der Entwurf
des diesseitigen Ministeriums eine gewisse Befriedigung aus, daß die Böhmen
die Ausgleichsgesetze anerkannt haben. Das sei nun nicht ganz im Einklänge mit
der Adresse, welche ausdrücklich sage, daß Böhmen seinen Beitritt zu dem sei¬
nerzeit ohne dessen Mitwirkung zustande gekommenen Übereinkommen mit Un¬
garn nachträglich rechtskräftig erkläre. Weiter werde von der Gewähr gespro¬
chen, welche das fragliche Übereinkommen dadurch erlangen würde, sowie von
der auf diesem Wege zu ermöglichenden heilsamen Fortbildung dieser Beziehun¬
gen zu Ungarn. Darin liege nun, daß Ausgleichsgesetze für Böhmen bisher nicht
gültig waren, daß die Böhmen sie jetzt zwar anerkennen, aber zugleich in Aus¬
sicht nehmen, die betreffenden gegenseitigen Beziehungen zu regeln und heilsa¬
mer Fortbildung bzw. Veränderungen zuzuführen.

   Diese Veränderungen seien, wie er sich nach genauen Studien der Vorlagen
überzeugt, sehr maßgebender Art. Denn 1. werde die Parität, wie sie in den §§28
und 29 des ungarischen Ausgleichsgesetzes vorgesehen sei,6 alteriert, indem dort
einerseits die Länder der ungarischen Krone und die übrigen Länder und Provin¬
zen Seiner Majestät zusammen, andererseits als ganz gleichberechtigte Teile sich
gegenübergestellt erscheinen, und indem weiteres in Konsequenz dieser Parität
die Wahl der Delegierten aus den Reichsvertretungskörpem hier wie dort festge¬
stellt erscheint; 2. wird, und dies scheine ihm eine viel bedeutendere Diffikultät,
von Seite Böhmens die Gültigkeit des Übereinkommens mit Ungarn in betreff
der Quote zu den gemeinsamen Auslagen und des Zoll- und Eiandelsbündnisses
nur bis zur Dauer anerkannt, für welche diese Pakte geschlossen sind, wonach es
den Anschein hat, als wolle Böhmen bei der Erneuerung als selbständiger Faktor
eintreten. Das aber würde dem Ausgleichgesetze entschieden widerstreiten, da
auch die Erneuerung dieser Vereinbarungen nur auf demselben Wege erfolgen
könne, auf welchem sie ursprünglich zustande gekommen. Eine andere Alterie-
rung betreffe die im § 467 des ungarischen Gesetzartikels vorgesehene, für die
Folge ihrer Basis eventuell entkleidete Bestimmung, daß im Falle der Auflösung
des Reichstages auch die daraus gewählte Delegation aufhöre. Mit Rücksicht auf
diese Differenz würde wohl kaum gesagt werden können, daß Böhmen die Aus¬
gleichsgesetze angenommen habe.

    Die Fassung des diesseitigen Ministeriums gehe nur von dieser Voraussetzung
aus, während die Formulierung des gemeinsamen Ministeriums wohl den Moti-

         GA. XII/1867. §§ 28 und 29. In Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 338-
         339.
         GA. XII/1867. § 46. In: Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 344.
<pb/>Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871  375

ven, von welchen der Landtag geleitet wurde, die Anerkennung nicht versage, in
der Sache selbst aber den seit der Ah. Sanktionierung aufrechten Rechtsbestand
der auf einem andern als auf dem Wege der Vereinbarung der nach diesen Geset¬
zen hiezu berufenen Faktoren nicht abänderbaren Ausgleichsgesetze für die gan¬
ze Monarchie prägnant zum Ausdrucke bringe. Darin liege eben die prinzipielle
Differenz beider Entwürfe.

   Graf Hohenwart erklärte sich zwar bereit, eine der prinzipiellen Auffassung
des gemeinsamen Ministeriums entsprechende Bestimmung in bezug auf den
Modus einer eventuellen Abänderung der Ausgleichsgesetze überhaupt und der
auf denselben beruhenden speziellen Vereinbarungen mit einer bestimmten Zeit¬
dauer in die Vorlagen an den Reichsrat aufzunehmen bzw. die diesfallige Kompe¬
tenz dem Delegiertenkongresse vorzubehalten, wodurch den Komplikationen in
merito begegnet würde. Indes schiene es ihm doch von hoher Wichtigkeit, daß
dieses Prinzip von überaus großer Tragweite auch in dem Ah. Reskripte zum
Ausdrucke gelange, da für solche die Ah. Namensfertigung tragende Akte immer
nur das Wohl der Monarchie in der höheren Auffassung desselben maßgebend
sein sollte.

   Und daß das Fallenlassen des Prinzips, daß nicht ein Landtag für sich einseitig
eine Änderung der Ausgleichsgesetze vornehmen könne, höchst bedenkliche
Konsequenzen namentlich in Ungarn nach sich ziehen würde, bedürfe kaum ei¬
ner näheren Erörterung. Es dürfte genügen, daraufhinzuweisen, daß dann in Un¬
garn der Opposition Tür und Tor geöffnet wäre, zumal wenn sie sich auf einen
Akt der Krone würde berufen können. aVelleitäten in der Richtung des Anstre¬
bens einer vollen Selbständigkeit des Landes seien vorhanden, und würden die¬
selben auf diesem Wege nur vermehrt und gekräftigt werden3 Es handle sich um
die Lebensprinzipien für die Monarchie, welche mit Ah. Zustimmung Seiner Ma¬
jestät seit 1867 gewonnen wurden, aufgrund welcher sich die Lage bisher in be¬
friedigender Weise entwickelte und welche auch für die Zukunft eine weitere
gedeihliche Entwicklung verbürgen. Es sei daher nicht geraten, daran zu rütteln.
Er sei also in Übereinstimmung mit dem ungarischen Ministerpräsidenten für den
Entwurf des gemeinsamen Ministeriums.

   Der Vorsitzende des diesseitigen Ministerrates
führt aus, daß er die Konsequenzen, welche der Reichsfinanzminister aus den
Stellen der böhmischen Adresse ableite, die von der Fortbildung der Beziehungen
zu Ungarn sprechen, als begründet anzusehen durchaus nicht vermöge. Es heiße
in dem betreffenden Alinea ausdrücklich, daß ,,dieser Anerkennung (der Aus¬
gleichsgesetze) entsprechend&quot; durch die Fundamentalartikel die Beziehungen zu
Ungarn in einer Weise geregelt würden, welche weder mit dem Geiste noch mit
dem Wortlaute des ungarischen Gesetzes im Widerspruche steht, indem eine dem
ganzen wie seinen Teilen gleich heilsame Fortbildung dieser Beziehungen der

         Gemäß der Abschrift im A VA Karton 41 lautet dieser Satz so: Die Richtung der Opposition in
        Ungarn ist das Streben nach einer vollen Selbstständigkeit des Landes bis zur Personalunion

        und würden dieselben auf diesem Wege nur vermehrt und gekräftigt werden.
<pb/>376 Nr. 1 Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871

Zeit und dem naturgemäßen Entwicklungsgänge staatlicher Institutionen überlas¬
sen wird. Dadurch erkläre Böhmen keineswegs, daß es eine solche Fortbildung
auf dem Wege einer Vereinbarung Ungarns mit Böhmen für sich allein beziehe,
sondern daß es eine solche Fortbildung überhaupt anstrebe.

   In betreff der zweiten Einwendung des Reichsfinanzministers wegen der Pari¬
tät sei er ebenfalls anderer Meinung. Der § 28 des Ausgleichsgesetzes stelle aller¬
dings die vollständige Parität fest. Diese bestehe darin, daß die Länder der unga¬
rischen Krone einerseits und die übrigen Länder andererseits als ganz
gleichberechtigt erscheinen. Daher seien auch zwei Delegationen zu wählen mit
der gleichen Mitgliederzahl. Wie aber diese Delegationen gewählt werden, dar¬
über bestimme das für jede Reichshälfte bestehende Gesetz; eine Modifikation
des für diese Länder bestehenden Gesetzes tangiere somit den im Ausgleichsge¬
setze ausgesprochenen Grundsatz der Parität durchaus nicht. Übrigens entspre¬
che der gegenwärtige Modus der Wahl der Delegierten in die diesseitige Delega¬
tion dem Wortlaute des § 29 des Ausgleichsgesetzes viel weniger als der vom
böhmischen Landtage proponierte, indem es bisher in der Tat nicht die ,,Länder
und Provinzen&quot; waren, welche die Delegationswahl ausübten. Was endlich die
Erneuerung des Übereinkommens wegen der Quote und des Zoll- und Handels¬
bündnisses betreffe, so habe er nur zu bemerken, daß über den Weg, aufwelchem
eine solche Erneuerung zustande zu kommen hätte, in den bisherigen einschlägi¬
gen Gesetzen nichts enthalten sei. Nur im Reichsratsstatute finde sich (§ 11 lit. 1)
die Bestimmung, wonach die Gesetzgebung betreffend die Form der Behandlung
der durch die Vereinbarung mit den zur ungarischen Krone gehörigen Ländern als
gemeinsam festgestellten Angelegenheiten der Kompetenz des Reichsrates Vor¬
behalten ist.8 Er habe sich indes schon bereit erklärt zu der Aufnahme einer kor¬
respondierenden Bestimmung in bezug auf den Wirkungskreis des Delegierten¬
kongresses.

    Der ungarische Ministerpräsident glaubt auch, daß die Sa¬
che saniert sei, sobald die gleiche Bestimmung in den Wirkungskreis des Dele¬
giertenkongresses aufgenommen werde.

    Was indes die Bemerkung des Vorsitzenden des diesseitigen Ministerrates be¬
treffe, daß bezüglich der Ausgleichsgesetze Ungarn gegenüber alles festgehalten
worden, so glaube er doch auf den Entfall des Oberhauses hinweisen zu sollen,
welches nach den dem ungarischen Gesetze vollkommen entsprechenden §§ 6
und 7 des diesseitigen Gesetzes über die Behandlung der gemeinsamen Angele¬
genheiten zur Entsendung von Mitgliedern zu Delegation berechtigt sei.9 Hie¬
durch werde die Zusammensetzung der Delegationen gewiß wesentlich tangiert,

         Gesetz vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 141, wodurch das Grundgesetze über die Reichs¬
         vertretung vom 26. Februar 1861 abgeändert wird. Bernatzk, Die österreichischen Verfas¬
         sungsgesetze 390--404.
         Gesetz vom 21. Dezember 1867, betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie
         gemeinsamen Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung. Bernatzik, Die österreichi¬
         schen Verfassungsgesetze 439-451.
<pb/>Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871  377

wenn auch der diesfälligen Änderung der jetzigen sicher besseren Übung vom
ungarischen Standpunkte nicht entgegengetreten werden müsse. Keinesfalls sei
es aber ganz gleichgültig, woher die Delegierten gewählt werden. Es wäre sicher
ein gewaltiger Unterschied für die diesseitigen Länder, wenn die ungarische De¬
legation etwa aus den Komitaten gewählt würde. Er persönlich wäre kaum im¬
stande, Gründe zu finden, welche die Aufhebung des Herrenhauses motivieren
würden.

   Auch das sei in das Auge zu fassen, daß das Delegationsinstitut umso schwie¬
riger zu halten sein dürfte, je mehr man daran selbst rüttelt. Das Zustandekom¬
men dieses Institutes sei keine leichte Sache gewesen. Nun, da es angenommen,
habe man damit doch jedenfalls befriedigende Erfolge erzielt, und vielleicht wür¬
de sich die Monarchie ohne dasselbe nicht in einer so guten Lage befinden. Die
Frage erscheine daher als wohlberechtigt, ob man Veränderungen machen dürfe
oder solle, die nicht absolut notwendig seien. Der richtige Standpunkt der Mon¬
archie sei nach seiner Überzeugung der, nur das zu verändern, was absolut nicht

haltbar sei.
   Der Vorsitzende des diesseitigen Ministerrates

entgegnet, daß er nie gesagt habe, es sei gleichgültig, woher die Delegierten ge¬
wählt würden. Seine Äußerung ging nur dahin, daß die Bestimmung der Art und
Weise der Entsendung der Delegierten Sache der betreffenden Reichshälfte sei.

   Der Handelsminister will aus dem Gange der Verhandlungen mit
den Böhmen nur hervorheben, daß es namentlich die feudal-konservativen Per¬
sönlichkeiten waren, welche gegen das Herrenhaus aufgetreten sind, und zwar
entgegen den von der Regierung vertretenen Ansichten. Die Regierung habe alles
getan, um diese Herren zum Fallenlassen des Gedankens der Beseitigung des
gegenwärtigen Herrenhauses zu bestimmen, sie seien jedoch dabei geblieben,
indem sie die konservativen Interessen für mehr sichergestellt erklärten, wenn
sich der Adel in die Mitte der bürgerlichen Vertreter begebe. Indes haben auch
andere konservative Staaten wie das neue deutsche Reich den Bestand eines
Oberhauses zur Wahrung der erhaltenden Interessen nicht für notwendig erkannt.
Endlich scheine ihm zwischen den Komitaten in Ungarn, die doch nur Verwal¬
tungsgebiete repräsentieren, und den diesseitigen Ländern ein sehr wesentlicher
Unterschied einzutreten. Abgesehen von der staatsrechtlichen Seite müsse aber
auch auf die quantitativen Unterschiede Rücksicht genommen werden, welche an
einer gewissen Grenze denn doch in qualitative Umschlägen.

    Der ungarische Ministerpräsident gibt zu, daß die Komita-
te, wenn sie vermöge ihrer historischen Entwicklung in Ungarn auch eine höhere
Potenz bilden, als der Handelsminister voraussetze, in eine Parallele mit den
Landtagen nicht gestellt werden können, was er auch nicht beabsichtigt habe. Ob
das Äußerste geschehen in bezug auf die Aspirationen der feudalen Partei, müsse,

wie er glaube, dahin gestellt bleiben.
<pb/>378 Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871

   Ihm komme vor, als bob mehr hätte geschehen können, eben von dem Stand¬
punkte, daß eine selbständige Politik nicht möglich sei.b Das Absehen von einem
Oberhause im deutschen Reiche sei durch den Umstand wohlmotiviert, daß es
dort eben nur einen Adel der Einzelländer gibt, weil ein Vertretungskörper, wo
die partikularistischen Tendenzen des Adels die Oberhand behielten, dem Eini¬
gungszwecke der Regierung wenig entsprechen würde. Hier sei das aber anders.
Jedenfalls sei Ungarn in der Theorie nicht so weit vorgeschritten, daß es ohne
Oberhaus bestehen könnte. Übrigens wäre er, jedoch nur für seine Person, mit
Rücksicht auf den Wert, den Graf Hohenwart auf die Sache zu legen scheine,
nicht entgegen, wenn ein Passus aufgenommen würde des Inhaltes, daß Seine
Majestät in der Aufnahme der Ausgleichsgesetze in die Propositionen oder Wün¬
sche (nicht Fundamentalartikel, gegen welche Bezeichnung er im Hinblick auf
die Bezeichnung ähnlicher Kundgebungen aus Ungarn in der früheren Periode
eifrigst protestieren müsse) nur eine Anerkennung dieser Tatsache finden wollen.0
Über das Ah. Befragen Seiner Majestät, wohin ein solcher Passus eingeschaltet
werden sollte, meinte der ungarische Ministerpräsident, daß dies dort geschehen
könnte, wo von der Rechtskraft der Ausgleichsgesetze für die ganze Monarchie
die Rede ist.

   Seine Majestät geruhen anzudeuten, daß der letzte Satz der zweiten
Alinea des 3. Punktes des Entwurfes des gemeinsamen Ministeriums (in den Be¬
reich der Kompetenz eines anderen legislativen Faktors aber nicht gezogen wer¬
den können) vielleicht doch wegbleiben könnte.

   Der Reichskanzler wendet sich gegen die erste Entgegnung des Vor¬
sitzenden des diesseitigen Ministerrates, soweit diese den Standpunkt des Kom¬
promisses mit Böhmen als maßgebend hinstellte. Wenn der Reichskanzler sich
hiebei auf das Gebiet der inneren Politik begeben müsse, so liege es eben in der
Natur der Sache, um die es sich handle. Wenn von einem Kompromisse mit Böh¬
men die Rede sei, so könne ganz abgesehen [davon], daß notorisch zwei Fünftel
der Bevölkerung nicht beistimmen, insofern die Majorität des Landtages als ma߬
gebend in Betracht komme, eine so bedeutende Minorität doch nicht geradezu
ganz unbeachtet bleiben. Auch könne wohl nicht behauptet werden, das König-

b_b Den bezeichneten Satzteil hat in der Textvariante im AVA (wahrscheinlich Andrässy) durch¬
        gestrichen und unter einem * eingetragen: es schwer müßte, das Äusserste für die Verteidi¬
         gung einer Institution zu tun, die der Herr Handelsminister so eben als seiner Ansicht nach
         als wertlos und nicht notwendig bezeichnet hat.
         Darunter steht eine Eintragung von Schäffle: Die in der vorstehenden Korrektur mir in den
         Mund gelegte Bezeichnung eines Herrenhauses als wertlos und nicht notwendig ist nicht er¬
         folgt. Wenn der kgl. ung. Ministerpräsident mir eine solche Ansicht imputiere, so geschah es
        jedenfalls als nicht mit den nackten Worten, ich hätte das Herrenhaus ,,als wertlos und nicht
         notwendig bezeichnet.&quot; Schäffle m. p.

c In der Textvariante im AVA wird der Satz so fortgesetzt: im Gegensatz mit finden können,
         welch letzterer Ausdruck der Richtung der Adresse nicht entsprechend gebraucht werden
         könnte.
<pb/>Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871  379

reich Böhmen sei immer außerhalb der Dezember-Verfassung gestanden und
gehe erst jetzt daran, seine Beziehungen zu den übrigen Ländern zu regeln. Eine
solche Stellung habe wohl seinerzeit der ungarische Landtag ab initio eingenom¬
men.

   Der böhmische Landtag sei 1867 ordnungsmäßig gewählt worden unter Betei¬
ligung aller Elemente, die nationalen und feudalen mit inbegriffen. Dieser nämli¬
che Landtag aber hat durch seine Vertreter im Reichsrate bei der Dezember-Ver¬
fassung mitgewirkt und die Verfassung angenommen. Die nationale Opposition
sei auch im Landtage erschienen und habe denselben erst verlassen, als es zur
Wahl in den Reichsrat kam, worauf dann die bekannten weiteren Schritte folgten.
Die Sache steht also eigentlich so, daß die Majorität des gegenwärtigen Landta¬
ges das gegenwärtige Verhältnis geändert haben wolle. Unter diesen Verhältnis¬
sen schiene es eine so arge Zumutung an die Majorität des Landtages nicht, daß
sie die Rechtsbeständigkeit dessen anerkenne, was auf legalem Wege Gesetz für
die ganze Monarchie geworden. Der Standpunkt des Kompromisses dürfte also
den Wünschen des gemeinsamen Ministeriums umsoweniger im Wege stehen, als
dem anderen Paziszenten doch daran gelegen sein muß, das leisten zu können,
was er leisten soll. Eine Enuntiation in der gewünschten Richtung könnte daher,
wie er glaube, auf Seite des Landtages unmöglich als eine Verletzung oder Schmä¬
lerung betrachtet werden.

   Der ungarische Ministerpräsident begreift die Schwierig¬
keit und möchte ihr sehr gerne Rechnung tragen, obwohl er persönlich nicht wei¬
tergehen könnte. Er glaube aber, daß man der Schwierigkeit nicht ausweiche.
Seine Majestät würden in die Lage kommen, das zweimal zu sanktionieren, ein¬
mal bei der Ah. Sanktion der Fundamentalartikel und dann bei der Krönung. Es
würde also wiederholt eidlich bekräftigt, was er für moralisch unmöglich halte.

   Minister Ritter v. Grocholski scheint es, daß wenn die Fassung
des gemeinsamen Ministeriums angenommen würde und Seine Majestät das Re¬
skript so hinauszugeben geruhen, man sich keiner Illusion darüber würde hinge¬
ben können und dürfen, daß die Böhmen nicht in den Reichsrat kommen. Er
wolle sich nicht darüber aussprechen, ob und inwieweit er mit dem Operate ein¬
verstanden sei. Er akzeptiere den Standpunkt der Regierung, welcher Seine Ma¬
jestät die Aufgabe zu stellen geruhten, im Wege der Verständigung die allseitige
tatsächliche Anerkennung der Verfassung herbeizufuhren. In dieser Aufgabe war
bereits ausgesprochen, daß es Nationen und Völker im Reiche gebe, welche die
Verfassung negieren.

   Was Böhmen anlange, so sei es ein offenes Geheimnis, daß von Seite dersel¬
ben behauptet werde, der Reichsrat vom Jahre 1867 sei als engerer Reichsrat der
Februar-Verfassung zu einer Abänderung der Verfassung nicht kompetent gewe¬
sen. Bei dieser Sachlage war es für die Regierung geboten, den Böhmen gegen¬
über davon zu abstrahieren, wer Recht oder Unrecht habe, auf sie zu wirken, daß
sie in den Reichsrat kommen und ihnen zu sagen, daß die Sache dort nach Wunsch
werde geregelt werden. Er glaube nicht zu irren, wenn er sage, daß die Böhmen
<pb/>380 Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871

diesen Standpunkt akzeptiert haben. Sie lassen sich nicht in Rechtsdeduktionen
ein, sondern sie erkennen den Reichsrat tatsächlich und den ungarischen Aus¬
gleich ausdrücklich an.

   Wenn nun ein Ah. Reskript käme, welches besagen würde, 1. die Anerkennung
des Ausgleiches brauchen wir nicht, und 2. ihr dürft denselben gar nicht in euren
Bereich ziehen, dann wäre der ganze Standpunkt verrückt, und dürften die Böh¬
men dann kaum hoffen können, weitere Berücksichtigung zu finden. Das sei voll¬
kommen klar, daß, wenn das Reskript in der schneidenden Formulierung des ge¬
meinsamen Ministeriums hinausgehen würde, die Böhmen nicht kommen. Denn
es heißt: nicht ihr habt das Recht, sondern der Reichsrat, und ein Landtag darf
sich mit diesen Dingen überhaupt nicht befassen, ihr habt also die eigene Kom¬
petenz überschritten. Er wolle nicht sagen, daß eine Kompetenzüberschreitung
nicht stattgefimden hat. Allein das Appuyieren darauf werde die Böhmen sicher
bestimmen, nicht hereinzukommen. Es komme also darauf an, ob man auf ihr
Erscheinen im Reichsrate wenig oder viel Wert legt. Wenn der Reichskanzler
gegen die obenerwähnte Auffassung des Kompromisses Einwendungen erhoben
hat, so glaube er, daß dieser Standpunkt allerdings so aufgefaßt werden müsse,
wenn man praktisch vergehen wolle, um Resultate zu erzielen.

   Dem diesseitigen Entwürfe werde vorgeworfen, daß Seine Majestät etwas in
den Mund gelegt werden wolle, was in den Vorlagen angeblich nicht enthalten
sei, nämlich die Befriedigung über die Anerkennung des Ausgleiches. Nun aber
sei sowohl in der Adresse als in den Fundamentalartikeln und in den Motiven
diese Erkenntnis überall durchgedrungen, daß der Ausgleich mit Ungarn zu Recht
besteht. Wenn der böhmische Landtag nachträglich beizutreten erkläre, so liege
hierin ein Negieren des bisherigen Rechtsbestandes nicht. Denn ,,nachträglich
beitreten&quot; heiße nicht ,,akzeptieren&quot;. Er finde also in dem diesseitigen Entwürfe
nichts, was nicht der Wahrheit entspräche. Eine Ah. Sanktionierung des Operates
werde und könne nicht stattfinden, da eine Regierungsvorlage und nicht das Ope-
rat den Gegenstand der reichsrätlichen Verhandlung zu bilden haben werde. Inso¬
fern es in die Vereinbarungen anläßlich der Krönung einbezogen werden würde,
könnten diesbezügliche Kautelen immer noch getroffen werden. Nach dem Ge¬
sagten glaube er, daß sich die von dem diesseitigen Ministerium proponierte Fas¬
sung zur Annahme empfehle.

   Der ungarische Ministerpräsident bemerkt, er lege das Ge¬
wicht auf das Erscheinen der Böhmen. Er möchte auch bezweifeln, daß sie nicht
hieher kommen, zumal sie in einen Reichsrat mit einer für sie günstigen Zweidrit¬
telmajorität berufen werden. dSie würden doch nur sehr schwer die Verantwor¬
tung für die Abstinenz unter so vorteilhaften Konstellationen auf sich nehmen
können.0 Es geschehe ja auch nichts in der Richtung der Verweigerung ihrer
Wünsche, nur daß man konstatiere, wie die Ausgleichsgesetze für alle Teile bin-

d_d Der Textvariante im AVA gemäß lautet der Satz so: Jedenfalls ist es sicher anzunehmen, daß
         sie würden doch nur sehr schwer die Verantwortung für die Abstinenz unter so vorteilhaften
         Konstellationen auf sich nehmen können.
<pb/>Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871  381

dend zu Recht bestehen und als Fundamentalgesetze beider Reichshälften der
Diskussion und Beschlußfassung eines Landtages nicht unterliegen. In der Sache
sei ferner zu berücksichtigen, einmal, daß Seine Majestät Ah. Selbst sprechen
sollen und dann, daß es sich um eine Gattung Rassenkampf handle.

   Wenn die Krone in die Lage kommt, unter solchen Verhältnissen Stellung zu
nehmen, so könne dies seiner innigsten Überzeugung zufolge nur in der Mitte
geschehen. Man müsse eben auch auf die Deutschen reflektieren. So wenig Be¬
deutung er sonst den öffentlichen Blättern beizulegen gewohnt sei, so liege doch
in den Hinweisungen der Journale, das gemeinsame Ministerium, der größere
Kronrat sei auf dem Wege zu einem faulen Kompromiß befindlich, ein Fingerzeig
in bezug auf das, was die Deutschen nicht wollen, nämlich, daß ihnen der legale
Vorwand der Abstinenz nicht entzogen werde. Eine gewisse Rücksichtnahme auf
die Deutschen liege unzweifelhaft in der Opportunität.

   Die Äußerungen des Ministers v. Grocholski hätten gewiß vieles für sich. Er
wolle auch zugeben, daß die Deutschen durch die beantragte Fassung des Re¬
skriptes nicht würden gewonnen werden. Es sei aber ein Unterschied, ein Ele¬
ment nicht gewinnen, und es, während es geschwächt werden wollte, dadurch zu
stärken, daß man ihm eine glänzende Fahne überliefert. Die Remedur liege darin,
daß das Ministerium Herr der Situation bleibe, wenn es aber die gegenteilige
Meinung aufkommen lasse, dann schwäche dies nach allen Seiten.

   Die Gefahr, wenn die Krone nur in einer6 Richtung Stellung nehme, sei unter
den gegebenen Umständen jedenfalls die überwiegende.

   Nach weiteren Ausführungen dieser Gesichtspunkte kommt der ungarische
Ministerpräsident daraufzurück, daß das Nichterscheinen der Böhmen im Reichs¬
rate unter den für sie so günstig geänderten Verhältnissen nicht vorauszusehen
sei. Und sollten sie ja nicht in Masse kommen, so dürften sie in der kürzesten Zeit
einzeln bittend erscheinen. Er sei also für einen Mittelweg.

   Der kgl. ung. Minister am Ah. Hoflager will sich darauf
beschränken, nur den auf den ungarischen Ausgleich bezüglichen Passus näher in
das Auge zu fassen. Obwohl er als sehr wünschenswert erkenne, daß die Böhmen
in den Reichsrat kommen, so glaube er doch nicht, daß das um jeden Preis her¬
beigeführt werden müßte. Die Kalamität des Nichterscheinens schiene ihm je¬
denfalls geringer, als wenn die wichtigsten Fundamentalprinzipien der Monar¬
chie einer Gefährdung preisgegeben würden.

   Ohne sich in die nähere Untersuchung der Adresse und der Propositionen so¬
wie der eventuellen Konsequenzen derselben einzulassen, müsse doch der Um¬
stand hervorgehoben werden, daß ungeachtet der böhmische Landtag den Aus¬
gleich anerkannt habe, er doch den Modus der Wahl der Delegierten abzuändem
beabsichtige und auch sonst nach Inhalt der Propositionen sich in Beziehung auf
den Ausgleich Rechte zu vindizieren scheine, welche nach den Ausgleichsgeset¬
zen eben nur den beiderseitigen Reichsvertretungen Vorbehalten seien. Bei der

        In den maschinengeschriebenen Text im AVA nachträglich eingetragen: einseitigen und par¬

        teiischen
<pb/>382 Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871

hohen Bedeutung der Ausgleichsvereinbarungen als der Fundamentalgesetze bei¬
der Teile des Reiches erscheine die Aufrechthaltung derselben und die Abwehr
jedes Eingreifens in dieselben von Seite nicht berechtigter Faktoren als der in
erster Linie in das Auge zu fassende Gesichtspunkt. Von diesem ausgehend und
insbesondere in der Erwägung, daß es sich auf Seite des böhmischen Landtages
in der Tat um eine Überschreitung der Kompetenz handle, welche mit Stillschwei¬
gen nicht übergangen werden könne, stimme er für die Fassung des gemeinsamen
Ministeriums.

    Der Vorsitzende des diesseitigen Ministerrates
will zugeben, daß, was der ungarische Ministerpräsident darzutun versucht habe,
die Böhmen keinen Grund hätten, den Eintritt in den Reichsrat zu verweigern. Es
handelt sich aber nicht darum, ob ein solcher Schritt berechtigt wäre oder nicht,
sondern ob er faktisch getan oder unterlassen werden würde. Und da könne er
aufgrund der ihm zu Gebote stehenden genauen Kenntnis der Sachlage die be¬
stimmte Versicherung aussprechen, daß die Böhmen aufgrund eines Reskriptes in
der Fassung des gemeinsamen Ministeriums gewiß nicht kommen werden, und
daß die Notwendigkeit eintreten würde, zu direkten Wahlen zu schreiten.

    Übrigens sei auch das nicht richtig, daß es sich um Rassen handle. Es handle
sich eben nur um Parteien. Ein Beweis dessen liege darin, daß sich Tirol und
Oberösterreich, eminent deutsche Länder der Monarchie, auf Seite der Aus¬
gleichsbestrebungen befinden, welchen gegenüber eben nur die liberaldeutsche
Partei in Opposition steht. Und von dieser würde, wie er überzeugt sei, nicht einer
durch die beantragte Änderung der Stilisierung des Ah. Reskriptes gewonnen
werden.

    Der kgl. ung. Ministerpräsident entgegnet, der Unterschied
liege eben darin, daß die Krone in der Mitte bleibe. Wenn sich das konstatieren
ließe, daß es sich nur um die deutschliberale Partei und deren vollkommen unbe¬
rechtigte Ansprüche auf die Regierung der Monarchie handle, würde die Situati¬
on allerdings in einem einigermaßen veränderten Lichte erscheinen. Aber das
Bild der eventuellen neuen Situation zeige den Gegensatz zwischen ,,slawisch
und deutsch&quot;. Das ,,slawisch und deutsch&quot; werde sich in den sicher eintretenden
Konsequenzen immer mehr entwickeln, weil die Böhmen die Suprematie nicht
werden behaupten können, sondern über die Leitha hinübergreifen werden, wo
 sich dann das ,,slawisch-deutsch&quot; in einer für die Krone sehr unerwünschten
 Form geltendmachen würde. Das Ende dieses Ausgleiches sehe er darin voraus,
 daß Galizien, womit, wie er meinte, der Anfang zu machen gewesen wäre, ganz
 durchfallen werde; dann werde Tirol an die Reihe kommen. Das Überschwengli¬
 che der Selbständigkeit werde das Richtige der Selbständigkeit ertöten. Die
 Schwierigkeit liege eben darin, die Mitte zu halten.

    Der Reichskanzler glaubt ebenfalls nicht, daß durch das vorgeschla¬
 gene Reskript die Abstinenz der Deutschen werde vermieden werden können.
 Aber die Rechtfertigung hiefür werde ihnen bedeutend erschwert.
<pb/>Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871  383

   Übrigens sei die Aufnahme, welche die Sache in ganz Europa gefunden, denn
doch nicht ganz außer Betracht zu lassen. Wenn Minister Grocholski das Erschei¬
nen der Böhmen in Zweifel zog, falls die Beantwortung der Adresse in der von
dem Ministerium selbst beantragten Weise erfolge, so müßte konsequent in alles
eingegangen werden, was die Böhmen verlangen, um sich der Reichsratsbeschik-
kung von ihrer Seite zu versichern. Wenn die Regierung nichts tut, als daß sie
notwendige Sätze ausspricht, an welchen das gemeinsame und das ungarische
Ministerium festzuhalten gesetzlich begründete Veranlassung haben, dann ist die
Regierung schuldlos daran, wenn die Reichsratsbeschickung abgelehnt wird.
Man muß es eben auf den Effekt ankommen lassen, wenn nur das, was geschieht,
das Rechte ist.

   Die deutsche Partei betreffend, könne nicht übersehen werden, daß es sich
nicht mehr um die sog. Clique oder die Verfassungspartei im engeren Sinne hand¬
le, sondern daß sehr viele konservative deutsche Kreise von der Mißstimmung
ergriffen seien. Die Länder betreffend, so könne man abgesehen von einzelnen
Teilen Böhmens doch auch nicht behaupten, daß Oberösterreich und Tirol in ihrer
Gesamtheit auf dem Standpunkte der böhmischen Propositionen stehen.

   Der diesseitige Finanzminister glaubt zunächst konstatieren
zu sollen, daß er jenem Ministerrate nicht beigezogen war, in welchem, wie Graf
Hohenwart bemerkte, der letzte Entwurf des Ah. Reskriptes beraten wurde, was
ihm übrigens nur sehr willkommen sei, weil er der dort vereinbarten Formulie¬
rung jedenfalls die heftigste Opposition hätte machen müssen. Er wäre eigentlich
dafür, daß von einem Ah. Reskripte ganz abgesehen und über diese ganz maßlose
Adresse dem Landtage ganz einfach gesagt werde, daß das Ministerratspräsidium
mit den geeigneten Vorlagen an den Reichsrat Ah. beauftragt worden sei. Mit
dem vorliegenden Entwürfe des diesseitigen Ministeriums könnte er sich unbe¬
dingt nicht einverstanden erklären. Es wäre dies nur eine Fortsetzung des ersten
Reskriptes, welches so viel des Unheilvollen zur Folge hatte. Der Standpunkt
dieses Entwurfes sei nicht der Reichs-, sondern der spezifisch böhmische Stand¬
punkt. Auch halte er es für fraglich, ob mit allen diesen Zugeständnissen sich die
Tschechen zur Beschickung des Reichrates werden bestimmen lassen. Er glaube
es nicht, das Resultat werde daher kein anderes sein als ein leeres Haus vor dem
Schottentore. Wenn aber schon ein Reskript erlassen werden solle, trete er dem
Entwürfe des gemeinsamen Ministeriums unbedingt bei.

   Seine Majestät geruhen anzudeuten, daß die beiden Entwürfe in eini¬
gen Hauptsätzen eigentlich übereinstimmen. Der Standpunkt, daß alles vermie¬
den werde, daß auch der deutschen Seite kein legaler Vorwand zur Abstinenz
gegeben werde, erscheine ein vollkommen korrekter für die Regierung. Seine
Majestät wollen zwar alles, was Allerhöchstdieselben heute auszusprechen geru¬
hen, nicht als Entscheidung betrachtet wissen, welche Seine Majestät bei der
Wichtigkeit der Sache Ah. Sich noch Vorbehalten.

   Gleichwohl geruhen Seine Majestät darauf hinzuweisen, daß ein Punkt dann
doch noch in Erwägung zu ziehen sein dürfte, nämlich der, daß die Absicht doch
<pb/>384 Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871

war, endlich eine Verständigung mit den Böhmen zustande zu bringen. Ob es sich
nun empfehlen würde, nachdem dieser Weg einmal eingeschlagen worden, und
nachdem der böhmische Landtag - ob er berechtigt war oder nicht, komme hier
nicht in Betracht - nunmehr den ungarischen Ausgleich, also das ganze bestehen¬
de Recht der Monarchie, positiv anerkannt habe, diese Anerkennung in trockener
Weise geradezu zurückzuweisen, schiene bei der Wichtigkeit des Faktums der
Anerkennung doch noch genau erwogen werden zu sollen.

   Der ungarische Ministerpräsident erlaubt sich darauf hin¬
zuweisen, daß die Böhmen den Ausgleich nur unter der Bedingung annehmen,
daß alle ihre Wünsche erfüllt werden. Er gibt in näherer Ausführung den Beden¬
ken Ausdruck, welche ihm namentlich die in der Konsequenz gelegene Eventua¬
lität darzubieten scheint, daß die Deutschen dieselben Wege der Resistenz betre¬
ten, welche die Böhmen zur Erreichung ihrer Wünsche würden geführt haben.
Diese Eventualität sei sehr nahe gelegen und würde eine solche Aktion mit Rück¬
sicht auf die durch die Ablehnung an 40 Millionen weitaus günstigeren Position
der Deutschen denselben den gewünschten Erfolg wahrscheinlich bringen. Ein
Ende der Komplikationen sei daher auf diesem Wege kaum vorauszusehen. Es
wird sonach auf die zweite Alinea des zweiten Punktes des Entwurfes des dies¬
seitigen Ministeriums übergegangen. Der ungarische Ministerpräsident spricht
sich insofern dagegen aus, als er bemerkt, Böhmen hätte Rechte nicht gehabt,
welche die Machtstellung der Monarchie zu gefährden geeignet gewesen wären.

    Vom Standpunkte der ungarischen Regierung müßte er darauf gefaßt sein, auf
Seite der die Beseitigung der gemeinsamen Gesetze anstrebenden Opposition als
Motiv den Hinweis auf die Vorgänge hier zu vernehmen, welche so würden auf-
gefaßt werden, daß die bisher in einem Parlamente konzentrierten Rechte ohne
Gefährdung der Machtstellung des Reichs dezentralisiert werden können. Daß
die Machtstellung gewinne, werde wohl ebensowenig behauptet werden können,
als daß die Böhmen Opfer gebracht haben.

    Der Vorsitzende des diesseitigen Ministeriums gibt
zu bedenken, daß es sich nur um eine Anerkennung des Bemühens handle, die
Landesrechte mit der Machtstellung des Reiches in Einklang zu bringen. Wie das
Resultat dieser Bemühungen sein werde, werde sich zeigen, komme aber hier
vorerst nicht in Frage.

    Der ungarische Ministerpräsident befürwortet gleichwohl
die Formulierung des zweiten Punktes des Entwurfes des gemeinsamen Ministe¬
riums. ,,Wir anerkennen in den hiebei zu Unserer Kenntnis gelangten Motiven
nicht das Bemühen, diesen Unseren Wünschen nachzukommen&quot; - gegen wel¬
chen Passus sich der Vorsitzende des diesseitigen Mini¬
sterrates entschieden erklärt. Auch Seine Majestät geruhen an¬
zudeuten, daß dieser Satz geschraubt sei und keine große Freundlichkeit enthalte.
Unangenehmes wolle ja nicht gesagt werden, der Passus sei wohl überhaupt nicht
notwendig.
<pb/>Nr. I Ministerrat, Wien, 20. 10. 1871  385

    Zu Punkt 4 des Entwurfes des diesseitigen Ministeriums bemerkt der Vor¬
sitzende des Ministerrates, daß der Passus wegen der geeigne¬
ten Vorlagen füglich wegbleiben könnte, da es nicht notwendig sei, dem Landtage
zu sagen, welche Vorlagen die Regierung dem Reichsrate zu machen beabsich¬
tige.

   Der Reichskanzler macht aufmerksam, daß, wenn im Reskripte von
Vorlagen des Ministeriums, welche ihm geeignet erscheinen, gar nichts erwähnt
werde, die Annahme eine Berechtigung hätte, daß sich die Regierung die Propo¬
sitionen des Landtages als solche aneigne. Dieser Präjudizierung würde vorge¬
beugt, und würde zugleich eine Verstärkung der Aufforderung der Reichsratsbe¬
schickung darin liegen, wogegen auf böhmischer Seite kaum etwas erinnert
werden könnte, da es den Böhmen doch selbst darum zu tun sein müsse, daß die
Regierung vorwärtskommt. Auch würde der unparteiische Standpunkt der Regie¬
rung manifestiert den Deutschen gegenüber, bei welchen der betreffende Passus
gleichwohl besonderen Beifall nicht finden dürfte.

   Der Reichsfinanzminister ist ebenfalls für die Beibehaltung des
die geeigneten Vorlagen betreffenden Passus des Entwurfes des gemeinsamen
Ministeriums. Übrigens schiene ihm noch rätlich, dort, wo von der zur Abände¬
rung der Staatsgrundgesetze notwendigen Zustimmung beider Häuser des Reichs¬
rates die Rede ist, auch des weiteren Erfordernisses der Ah. Sanktion Erwähnung
zutun.

   Auch der diesseitige Finanzminister fände dies angezeigt,
wenngleich die Ah. Sanktion sich von selbst verstehe, um der Auffassung im
Publikum zu begegnen, als sei die Zustimmung der Krone bereits erfolgt und
bedürfe es nur mehr der Beschlüsse der beiden Häuser des Reichsrates. Auch der
ungarische Ministerpräsident schließt sich dem an.

   Seine Majestät geruhen zu bemerken, daß die Zustimmung des
Reichsrates hier nur als Gegensatz der Idee angeführt erscheine, daß der böhmi¬
sche Landtag für sich allein eine Abänderung der Staatsgrundgesetze beschließen
könnte. Die angedeutete mißverständliche Auffassung in bezug auf die Sanktion
würde wohl nirgends Platz greifen.

   Zu Punkt 4 des Entwurfes des diesseitigen Ministeriums erklärt sich der un¬
garische Ministerpräsident in entschiedener Weise gegen den
Hinweis auf das königliche Wort als der Gewährleistung der Rechte Böhmens,
wodurch Seiner Majestät Ah. Person in den Vordergrund gestellt, ja preisgegeben
werde. Er führt die sich vom monarchischen Standpunkte gegen eine solche Ver¬
pfandung des Wortes Seiner Majestät obwaltenden Bedenken in näherer Erörte¬
rung aus, der monarchische und konstitutionelle Standpunkt erheische den jeder¬
zeitigen Eintritt der verantwortlichen Minister. Die Bedenken erhöhen sich in
diesem Falle mit Rücksicht aufdie Unbestimmtheit der Rechte, welche hier durch
das Ah. Wort Seiner Majestät gewährleistet werden sollten. Insofern das Vertrau¬
en in das Wort Seiner Majestät das Hieherkommen der Böhmen bewirken sollte,
wäre das Mittel mit den schweren Bedenken in der Tat nicht im Einklänge, er
<pb/>386 Nr. la An den Landtag Unseres Königreiches Böhmen, o. O., o. D.

wäre daher für die Beibehaltung des Punktes des Entwurfes des gemeinsamen
Ministeriums.

   Der Reichsfinanzminister wäre auch für die Weglassung der
Einsetzung des königlichen Wortes.

   Auch Seine Majestät geruhen zu bemerken, wie auch Allerhöchst-
dieselben glauben, daß die Aufnahme dieses Passus, welcher Seiner Majestät be¬
reits in dem ersten Entwürfe aufgefallen, nicht gut möglich sei.

   Seine Majestät geruhen hierauf auf die Besprechung der Punkte der Funda¬
mentalartikel zu übergehen, welche auf irgendeiner Seite zu Bedenken Anlaß ge¬
ben.

   Wien, am 20. Oktober 1871.
   HohenwarP

  Nr. la An den Landtag Unseres Königreiches Böhmen, o. O., o. D.

   Beilage Azurn MRProt. Iv. 20. 10. 1871, MRZ. 111

   1. Mit Unserem Reskript vom 12. September d. J. haben Wir den Landtag Un¬
seres Königreiches Böhmen aufgefordert, im Geiste der Mäßigung und Versöh¬
nung die zeitgemäße Ordnung der staatsrechtlichen Verhältnisse Unseres König¬
reiches Böhmen zu beraten.

   2. a Mit der alleruntertänigsten Adresse vom 10. d. M. hat der Landtag Uns
das Resultat seiner Beratung vorgelegt, und mit Befriedigung entnehmen Wir
daraus, daß der Landtag sich des Erkenntniß nicht verschließe, wienach das durch
Unser königliches Wort sankzionierte Übereinkommen über die Behandlung der
gemeinsamen Angelegenheiten unanfechtbar zu Recht besteht.

      b. Auch verkennen Wir nicht das Bemühen, die Rechtsansprüche des Landes
in Einklang zu bringen mit der Machtstellung des Reiches.

   3. Nachdem jedoch die staatsrechtlichen Verhältnisse Unserer nicht ungari¬
schen Königreiche und Länder durch die von Uns erlassenen Grundgesetze ihre
Regelung gefunden haben, daher eine Änderung derselben nur mit Zustimmung
beider Häuser des Reichsrates erfolgen kann, fordern Wir den Landtag auf, durch
Entsendung seiner Vertreter in den Reichsrat zu dem großen Werke der Versöh¬
nung mitzuwirken.

   4. Wir erwarten um so zuversichtlicher, daß er dieser Unserer Aufforderung
nachkommen werde, als er in Unserem königlichen Worte die Gewährleistung
der Rechte Unseres Königreiches Böhmen erblickend und demselben rückhaltlos
vertrauend durch Vornahme dieser Wahl bereitwillig den Beweis geben wird,
brüderliche Gesinnung für alle Völker des Reiches, achtungsvoller Berücksichti¬
gung jeglichen Rechtsanspruches und patriotischer Würdigung der unabweisli-

r Am Ende des Textes im AVA: [Ah. E.] Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis
        genommen. Wien, 12. November 1871. Franz Joseph.
<pb/>Nr. Ib An den Landtag Unseres Königreiches Böhmen, o. O., o. D.  387

eben Bedürfnis Unserer Monarchie. Nur auf diesen Grundlagen aber kann das
große Werk des Ausgleiches zu segensvollem die Gewähr der Dauer in sich tra¬
genden Abschlüße gelangen.

   5. Hiemit entbieten Wir dem Landtage Unseren kaiserlichen und königlichen
Gruß.

  Nr. Ib An den Landtag Unseres Königreiches Böhmen, o. O., o. D.

   Beilage B zum MRProt. Iv. 20. 10. 1871, MRZ. 111

    1. Mit Unserem Reskript vom 12. September d. J. haben Wir den Landtag Un¬
seres Königreiches Böhmen aufgefordert, im Geiste der Mäßigung und Versöh¬
nung die zeitgemäße Ordnung der staatsrechtlichen Verhältnisse Unseres König¬
reiches Böhmen zu beraten.

   2. Mit der alleruntertänigsten Adresse vom 10. d. M. hat der Landtag Uns das
Resultat seiner Beratung vorgelegt, und Wir verkennen in den hiebei zu Unserer
Kenntnis gebrachten Motiven nicht das Bemühen, diesen Unsem Wünschen
nachzukommen.

   3. Wir müssen jedoch nachdrücklich hervorheben, daß auf die über die Be¬
handlung der gemeinsamen Angelegenheiten und das Verhältnis der beiden Teile
der Gesamtmonarchie zueinander durch die Vereinbarung der legislativen Körper
dieser Teile den Reichsrat und den ungarischen Reichstag geschaffen mit Unserer
Sanktion versehenen Gesetze in volle Rechtskraft für die ganze Monarchie er¬
wachsen sind und nur auf dem durch dies Übereinkommen bezeichneten Wege
geändert oder insofeme die Bestimmungen dieses Übereinkommens auf be¬
stimmte Zeit geschlossen worden sind, erneuert werden, in den Bereich der Kom¬
petenz eines anderen legislativen Faktors aber nicht gezogen werden können.

   4. Die staatsrechtlichen Verhältnisse Unseres Königreiches Böhmen zu den
nicht ungarischen Königreichen und Ländern Unserer Monarchie haben durch
die von Uns erlassenen Grundgesetze ihre Regelung gefunden. Eine Änderung
derselben kann daher erst dann erfolgen, wenn vorerst die hiezu nötige Abände¬
rung der Staatsgrundgesetze mit Zustimmung beider Häuser des Reichsrates er¬
folgt sein wird.

   5. Unsere Regierung wird in dieser Beziehung denselben die geeignet erschei¬
nenden verfassungsmässigen Vorlagen machen, und wir fordern den Landtag auf,
durch Entsendung seiner Vertreter in den Reichsrat zu dem großen Werke der
Versöhnung mitzuwirken.

   6. Wir erwarten, daß der Landtag durch Vornahme dieser Wahl bereitwillig den
Beweis geben wird brüderlicher Gesinnung für alle Völker des Reiches, ach¬
tungsvoller Berücksichtigung jeglichen Rechtsanspruches und patriotischer Wür¬
digung der unabweislichen Bedürfnisse Unserer Monarchie. Wir erwarten dies
um so zuversichtlicher als Wir uns der Erwägung nicht verschließen können, daß
<pb/>388 Nr. II Ministerrat, Wien, 20. Oktober 1871

nur auf diesen Grundlagen das große Werk des Ausgleiches zu segensvollem, die
Gewähr der Dauer in sich tragenden Abschlüße gelangen kann.

   7. Hiemit entbieten Wir dem Landtage Unseren kaiserlichen und königlichen
Gruß.

                  Nr. II Ministerrat, Wien, 20. Oktober 1871

    Gegenwärtige: der Reichskanzler Graf Beust (o. D.), der Reichskriegsminister FML. Freihherr
v. Kuhn (o. D.), der Reichsfinanzminister Graf Lönyay (29. 10.), der kgl. ung. Ministerpräsident
GrafAndrassy (o. D.), der kgl. ung. Minister am Ah. Hoflager Freiherr v. Wenckheim (30. 10.), der
k. k. Finanzminister Freiherr v. Holzgethan (30. 10.), der k. k. Landesverteidigungsminister GM.
Freiherr v. Scholl (31. 10.), der k. k. Minister für Kultus und Unterricht Jirecek (3. 11.), der k. k.
Handelsminister und Leiter des Ackerbauministeriums Dr. Schäffle (2. 11.), der k. k. Justizminister
Dr. Habietinek (1. 11.), der k. k. Minister für Galizien Ritter v. Grocholski (o. D.).

    Protokollführer: Anton Artus.
    Gegenstand: Reskript an den böhmischen Landtag (Fortsetzung), im Zusammenhang damit
böhmische Fundamentalartikel.

    KZ. 2817-MRZ. 112
   Protokoll II des zu Wien am 20. Oktober 1871 abgehaltenen Ministerrates un¬
ter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers.1

    Seine Majestät geruhen aufzufordem, daß sich von den beteiligten
Ministem über jene Punkte der Fundamentalartikel ausgesprochen werde, gegen
welche Bedenken vorliegen.2

    Der ungarische Ministerpräsident erklärt, folgende Beden¬
ken zu haben.

    1. Schiene ihm die Veränderung des Namens ,,Reichsrat&quot; nicht ohne Beden¬
ken. So unbedeutend die Sache an und für sich scheine, so sei doch der Effekt
nicht zu unterschätzen, den die Sache machen würde. Er halte dafür, daß derartige
Änderungen in einer aufkonservativen Grundlagen beruhenden Monarchie über¬
haupt nicht stattfinden sollten.

         Die Verhandlung ist die Fortsetzung vom Protokoll I des zu Wienam20. Oktober 1871 abge¬
         haltenen Ministerrates unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers. Es ist also ebenso
         eine die Funktion des gemeinsamen Ministerrates erfüllende Beratung wiejener. Vgl. MR. I.
         v. 20. 10. 1871, MRZ. 111. Anm. 1. Aufdem Exemplar im PA. XL. Karton 286 gibt es weder
         Gegenwärtige noch Gegenstand. Im Text vom AVAfinden sich beide. In der Liste der Gegen¬
         wärtigenfehlt aber aus irgendeinem Grunde Hohenwart.
         Der Text der sog. Fundamentalartikel vom 10. Oktober 1871. Veröffentlicht in: Bernatzik,
         Die österreichischen Verfassungsgesetze 1097-1108.
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