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Gemeinsamer Ministerrat, 16. 10. 1871

I. Rückwirkung der staatsrechtlichen Aktion für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder auf Stellung und Abgaben des gemeinsamen Ministeriums

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_I2/pdf/oe_hu_mrp_I2_z53.pdf.

354 Nr. 53 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 16. 10. 1871

   Reichskanzler Graf Beust stimmte dieser Ansicht bei und
enunzierte demgemäß das Ergebnis der heutigen Besprechung, indem er zugleich
die Bereitwilligkeit der ungarischen Regierung zur Teilnahme an den fraglichen
Kommissionsverhandlungen konstatierte,10 womit die Sitzung geschlossen
wurde.

                                                                                         Konradshein
[Ah. E. fehlt.]

        Nr. 53 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 16. Oktober 1871

    RS. (und RK.)
    Gegenwärtige: der Reichskriegsminister Freiherr v. Kuhn (18. 10.), der Reichsfinanzminister
Graf Lönyay (17. 10.), Sektionschef v. Hofinann (o. D.), Sektionschef Freiherr v. Orczy (o. D.).
    Protokollführer: Hof- und Ministerialrat v. Teschenberg.
    Gegenstand: Rückwirkung der staatsrechtlichen Aktion für die im Reichsrate vertretenen
Königreiche und Länder auf Stellung und Aufgaben des gemeinsamen Ministeriums.

   KZ. 2815-RMRZ. 119
   Protokoll des zu Wien am 16. Oktober 1871 abgehaltenen Ministerrates für
gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Reichskanz¬
lers Grafen Beust.

   Reichskanzler Graf Beust eröffnet die Sitzung mit einer Skiz-
zierung der augenblicklichen Lage. Die Entwicklung der Ereignisse seit dem Ein¬
tritte des gegenwärtigen Ministeriums für die im Reichsrate vertretenen König¬
reiche und Länder sei zur Genüge bekannt. Dem Reichskanzler persönlich sei
schon durch die Art der Bildung des Ministeriums eine gewisse Passivität aufer¬
legt worden. Er habe es sich zur Pflicht gemacht, den Bestrebungen des Ministe¬
riums nicht hindernd entgegenzutreten, aber ebensowenig habe sich ihm eine
Handhabe zur Unterstützung dieser Bestrebungen dargeboten. Aus dieser Hal¬
tung der Passivität sei er auch nicht herausgetreten, als die innere Politik allmäh¬
lich gewisse Nachteile auf dem Gebiete der auswärtigen Politik zu äußern be¬
gann, und er habe diese Reserve bis zum gegenwärtigen Augenblick nicht
verlassen.1

       Akten betreffend der Internationale im kgl. ung. Ministerpräsidium: MOL. Sektion K-26,
        1066/1871. Oer kgl. ung. Innenminister an kgl. ung. Ministerpräsidenten v. 27. 10. 1871 über
       die Lage der ungarischen Arbeiterbewegung. Ebd.

i GrafKarl Hohenwart ernennt der Herrscher am 6. Februar 1871 zum Ministerpräsidenten.
       Beust war bei der Regierungsbildung zur Passivität verurteilt. Siehe Beust, Aus drei Viertel-
        Jahrhunderten Bd. 2 456-465; Przbram, Erinnerungen eines alten Österreichers Bd. 2 292
        ff.
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   Der erste Schritt, zu welchem er innerhalb der skizzierten Zurückhaltung ge¬
drängt worden sei, war das kaiserliche Reskript an den böhmischen Landtag.2 Er
habe dasselbe aus den Zeitungen kennengelemt und könne nicht leugnen, durch
manches darin sehr überrascht gewesen zu sein. Abgesehen von der vorgeschla¬
genen Prozedur habe er dem Vorsitzenden des cisleithanischen Ministeriums
Grafen Hohenwart auch seine Bedenken über die durch den Wortlaut des Re¬
skripts ausgesprochene Ausscheidung Böhmens aus dem Rahmen der Verfassung
und über die Gegenüberstellung des böhmischen Staatsrechtes und der Verfas¬
sung als zweier gleichberechtigter Faktoren nicht verhehlen können. GrafHohen¬
wart habe beruhigende Aufklärungen im Sinne der Ausführungen der Abendpost
gegeben und die Anerkennung des böhmischen Staatsrechtes auf die Bedingung
einer verfassungmäßigen Anerkennung durch den Reichsrat zurückgeführt. In
diesem Sinne war die Vermutung gestattet, daß das Reskript lediglich den Eitel-
keitsgefühlen und Suszeptibilitäten der staatsrechtlichen Opposition in Böhmen
etwas weitgehende Konzessionen eimäume, in der Sache aber nichts vergeben
sei. Allein hierauf sei die böhmische Adresse erfolgt,3 und man habe sich sofort
die Frage vorlegen müssen, ob man es da mit einer eigentlichen Adresse, einer
spontanen Kundgebung zu tun habe, oder ob nicht vielmehr eine gewisse Über¬
einstimmung und Mitwisserschaft der Regierung anzunehmen sei. In der Absicht
der Regierung, die Proposition des böhmischen Landtages dem Reichsrate vorzu¬
legen, liege allerdings der Gedanke der Aneignung dieser Propositionen. Mit
Rücksicht darauf habe Redner nicht unterlassen können, die schwerwiegenden
Bedenken, welche er gegen die Vorschläge vom Standpunkte seines speziellen
Ressorts zu entwickeln hatte, Seiner Majestät in einem au. Vorträge darzulegen.4
Seine Majestät habe geruht, ihm bekannt zu geben, daß die Fassung des neuerli¬
chen Reskriptes an den böhmischen Landtag noch eine offene sei und daß Aller-
höchstderselbe gewillt sei, die an dieses Reskript anzuknüpfenden Fragen noch
einmal der Erörterung eines Ministerrates unter Beiziehung des gemeinsamen
Ministeriums sowie des königlichen ungarischen Ministerpräsidenten zu unter¬
werfen. Zu diesem Zwecke sei die gegenwärtige Vorbesprechung des gemeinsa¬
men Ministeriums anberaumt.

   Infolge Aufforderung des Reichskanzlers verliest sodann Sektionschef
v. Hofmann den betreffenden au. Vortrag.

   Reichskriegsminister Freiherr v. Kuhn erörtert die Be¬
denken, die ihm die Entwürfe des böhmischen Landtages vom speziellen Stand¬
punkte seines Ressorts darzubieten scheinen, indem er diese Bedenken nach der

Kaiserliches Reskript an den böhmischen Landtag vom 12. September 1871. In Bernatzik,
Die österreichischen Verfassungsgesetze 1091-1092.
Die Kommission des Landtages entwarfdie sogenannten Fundamentalartikel vom 10. Okto¬
ber 1871. Veröffentlicht in: Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 1097-1108.
Au. Vortrag von Beust von 13.10. 1871. HHStA., Kabinettsarchiv, Denkschriften, Karton 13.
Siehe auch Beilage zu MR. v. 20. 10. 1871, [MRZ. fehlt] HHStA., PA. XL, Karton 286.
703-726. Veröffentlicht in: Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten Bd. 2 501-510.
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sachlichen und geistigen Richtung und zwar sowohl für die Armee als für die
Landwehr präzisiert. Es sei keine Frage, daß durch die böhmischen Propositionen
das gegenwärtig geltende Wehrgesetz mehrfach tangiert sei; stelle man sich aber
auf den Boden des herbeizuführenden Zustandes, so werde eine neue Gesetzge¬
bung außerordentlich erschwert. Schon der dualistische Zustand mache die Le¬
gislative sehr schwerfällig, wie sich an zahlreichen Beispielen, so namentlich an
dem Unteroffiziersgesetz, dem Pferdekonskriptionsgesetze etc.5 zeige. Die Her¬
beiführung der vorgeschlagenen Änderungen könne diese Schwerfälligkeit nur
steigern. Ins einzelne übergehend verweist der Reichskriegsminister insbesonde¬
re auf Fundamentalartikel XI Punkt 5 und den darin ausgesprochenen Vorbehalt
wegen des Rekrutenkontingents. Dadurch werde das Wehrgesetz alteriert. Fort¬
währenden Änderungen dieser Gesetze könne er aber von seinem Standpunkte
nicht das Wort reden. Schon jetzt werde, wie beispielsweise in Salzburg, der Ver¬
such gemacht, andere Grundlagen als die gesetzlichen für die Frage des Kontin¬
gentes zu gewinnen, so namentlich die absolute Bevölkerungsziffer durch die
Ziffer der Diensttauglichen zu ersetzen.

   Nach § 13 des Ausgleichsgesetzes sei eine Änderung des Wehrgesetzes nur
durch die Legislativen beider Reichshälften möglich, es würde daher nicht genü¬
gen, den Reichsrat allein hierüber zu vernehmen, und die vorgeschlagene Alterie-
rung des Wehrgesetzes präjudiziere also allerdings keine gemeinsamen Rechte
der Monarchie und greife in das Ressort des gemeinsamen Ministeriums.

   Zu diesen unmittelbaren sachlichen Bedenken traten weiter noch gewisse Ide¬
ale, die Einheit der Armee sei allerdings prinzipiell unangetastet, allein der geisti¬
ge einheitliche Verband ohne Zweifel gelockert und in Frage gestellt. Der letzte
Absatz des 5. Punktes des Fundamentalartikels XI lasse die Absicht kaum ver¬
kennen, die Landwehr ganz in das eigene Budget aufzunehmen und über dieselbe
selbständig zu verfügen, damit sie das Prinzip der cisleithanischen Landwehr
durchbreche. Man habe allerdings schon bezüglich Tirols eine Ausnahme ge¬
macht, allein dort seien wenigstens eigenartige und spezielle Verhältnisse dafür
maßgebend gewesen. So bestimmte allerdings die Gefahr, den Nutzen der Land¬
wehr illusorisch gemacht zu sehen, umsomehr, als der Landtag voraussichtlich
mehr für die Landwehr bewilligen werde, um die Votierungen für die Armee ein¬
schränken zu können.

   Reichsfinanzminister v. Lönyay knüpft zunächst an den
vom Reichskanzler erstatteten au. Vortrag an, ein wichtiges Aktenstück, das ihm
die äußere Lage vollkommen richtig aufzufassen scheine. Es sei von entscheiden¬
der Wichtigkeit, daß das deutsche Element nicht entfremdet und zurückgedrängt
werde, andererseits sei nicht zu verkennen, daß die auf den Ausgleich und die
Versöhnung der vorhandenen inneren Gegensätze gerichteten Bestrebungen im
Prinzip vollkommen legitim seien und ein Erfolg dieser Bestrebungen die Macht-

5 Überdas Unteroffiziersgesetz siehe GMR. v. 14. 3. 1871, RMRZ. 106. Gegenstand: III. Anm.
         8. Über das Pferdekonskriptionsgesetz ebd. Anm. 7.
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Stellung der Monarchie nur erhöhen und damit die Aufgaben des Reichskanzlers
auch nur erleichtern könne. Wenn dadurch die zentralisierte Leitung all der Ange¬
legenheiten, die zur Sicherung der Machtstellung des Staates und zur Kräftigung
der gemeinsamen Interessen gehören, nicht gefährdet würde.

   In einem einzigen Punkte finde er die Besorgnisse des Memoires zu weitge¬
hend, in dem Punkte nämlich, daß der Minister des Äußern in seiner Politik auch
an eine Übereinstimmung mit der in Aussicht genommenen böhmischen Hof¬
kanzlei gebunden sein werde. Das Gesetz weise ihn nur an die Übereinstimmung

mit den beiderseitigen Delegationen.
   Reichskanzler Graf Beust entgegnet, daß die logischen und

faktischen Konsequenzen des Zustandes, wie er geschaffen werden solle, dazu
drängen müßten. Einerseits werde der Begriff des cisleithanischen Ministerpräsi¬
denten notwendig eine gewisse Einbuße erfahren, andererseits die in Aussicht
genommene staatsrechtliche Veränderung dem böhmischen Hofkanzler durch die
Natur der Verhältnisse eine sehr bedeutende und tiefeingreifende Stellung anwei¬
sen, deren Einflüssen sich der Minister des Äußern zu entziehen kaum in der

Lage sein werde.
    Sektionschef v. Hofmann ergänzt diese Bemerkung dahin, daß

die Stellung des böhmischen Hofkanzlers wohl für die Gruppe der Länder böh¬
mischer Krone gedacht sei. Das natürliche Schwergewicht dieser Gruppe werde
aber schwerlich einer maßgebenden Wirkung verfehlen. Dem Minister des Äu¬
ßern werde nach der Lage der Tatsachen nichts übrig bleiben, als sich in allen
Fällen mit den gesetzlichen und autoritativen Repräsentanten Böhmens, Ungarns,
Galiziens, der Deutschen usf. zu benehmen; jede energische und auf die Verhält¬
nisse der Gesamtmonarchie, auf die obersten Rücksichten der Dynastie basierte
Entscheidung werde dadurch handgreiflich illusorisch gemacht.

    Reichskanzler Graf Beust: Die logische Konsequenz werde
durch das praktische Ergebnis noch überholt werden; das Beispiel eines hervor¬
ragenden Mitgliedes des böhmischen Landtages, Riegers, der ausgeführt, wie die
orientalische Politik der Monarchie auf ganz andere Grundlagen als die gegen¬
wärtige gestellt werden müsse, beweise dies zur Genüge.6

Rieger, Frantisek Ladislav (1818-1903), Abgeordneter des böhmischen Landtags. Wahr¬
scheinlich handelt es sich um das ,,Memorandum der Vertreter der tschechischen Nation zur
Außenpolitik&quot; (vom 8. Dezember 1870), in welchem offen ßr ein Zusammengehen Öster¬
reichs mit Rußland in der Pontusfrage plädiert und der österreichischen Regierung zum
Vorwurfgemacht wurde, daß sie zögere, sich Rußland anzuschließen. Beust war nicht bereit,
das im wesentlichen von Riegerformulierte Memorandum dem Herrscher oder dem Reichs¬
rat zur Kenntnis zu bringen, und sandte es am 14. Dezember an den böhmischen Landtags¬
abgeordneten zurück. Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich Bd. 2 106; das Me¬
morandum publiziert: Srb, Politicke dejiny näroda ceskeho od roku 1861 az do nastoupem
ministerstva Badenova r. 1895. Zitiert und ausßhrlich behandelt von KleteCka, Der Aus¬
gleichsversuch des Ministeriums Hohenwart-Schäffle mit Böhmen im Jahre 1871 15-20.
<pb/>358 Nr. 53 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 16. 10. 1871

   Reichsfinanzminister Graf Lönyay führt die Diskussion
nach dieser Zwischenbesprechung auf die eigentlichen Angelegenheiten des Fi¬
nanzressorts zurück. Abgesehen von den vielen Bedenken, die gegen das böhmi¬
sche Elaborat im allgemeinen zu präzisieren seien und von denen ein nicht gerin¬
ger Teil insbesondere dem ungarischen Ministerpräsidenten zufalle, ergeben sich
doch auch vom finanziellen Standpunkte nicht unwesentliche Schwierigkeiten
aus diesem Elaborate, ln der Disputation der eigenen Quote, welche die Eigen¬
verwaltung der böhmischen Finanzen bedinge und prinzipiell eine Trennung der
letzteren von den cisleithanischen bedeute, könne eine Kräftigung des Staatskre¬
dits sicher nicht gefünden werden. Im Gegenteile sei es ohne Zweifel im höheren
und entscheidenderen Grade bedenklich für die Staatgläubiger, wenn die durch
Cisleithanien repräsentierte Finanzeinheit aufgehoben würde. Durch die Funda¬
mentalartikel sei Böhmen eine Ungarn adäquate Stellung in Finanzangelegenhei¬
ten zugewiesen. Es hätte eine Quote für die gemeinsamen Auslagen der Monar¬
chie, eine Quote für die Anforderungen des Delegiertenkongresses, eine Quote
für die Staatsschuld zu leisten. Daß, falls eine Vereinbarung für diese Gegenstän¬
de nicht zustande käme, die Entscheidung des Monarchen in den Vordergrund
gestellt würde, könne für die allgemeinen Richtungen der Kritik kaum abschwä¬
chend sein. Es empfehle sich dies überhaupt niemals, in dem vorliegenden Falle
müsse es zu bedauerlichen Konsequenzen führen. In dem Ausgleich mit Ungarn
habe sich die Möglichkeit geboten, Berufung an eine derartige Entscheidung ein¬
zulegen, und auch da sei sie nur zögernd und als Auskunftsmittel akzeptiert wor¬
den, eine Vereinbarung zwischen Böhmen und den übrigen Ländern sei fast un¬
möglich, und dann werde jedes Jahr die souveräne Entscheidung postuliert
werden müssen. Der Ausgleich mit Kroatien habe da die richtigeren Wege gewie¬
sen. Nicht das sich ausgleichende Land habe die Quote seiner Beitragsleistung zu
bestimmen, sondern umgekehrt das Ganze für das Land, dessen Einzelinteresse
sich dem Interesse des Ganzen unterordnen müsse. Und allerdings könne nur
scharfbetont werden, daß diese Fragen auf die auswärtige Politik lebhaft zurück¬
wirken. Eine eingreifende auswärtige Politik sei ohne geordnete Finanzen schwer
möglich. Der Fall sei nach den Fundamentalartikeln allerdings denkbar, daß das
Land Böhmen namhafte Schulden für die eigenen Bedürfnisse kontrahiere, in
demselben Maße würde die Sicherheit der Staatsgläubiger gefährdet. Es müßten
sich mithin die ernstesten Bedenken, von der Verfassungsmäßigkeit abgesehen,
gegen die Durchführbarkeit der betreffenden Propositionen erheben.

    Reichskanzler Graf Beust lenkt nach dieser speziellen Erörte¬
rung vom Standpunkte der Ressortminister die Frage wieder in die allgemeinen
Richtungen der Diskussion und betont die Wichtigkeit der Teilnahme und Erhal¬
tung des deutschen Elementes. Es sei nicht zu übersehen, daß in Böhmen, das für
die fernere Konstituierung Cisleithaniens maßgebend zu werden sich anschicke,
neben drei Millionen der für die Propositionen des böhmischen Landtages Einge¬
nommenen auch zwei Millionen vorhanden seien, die sich diesen Vorschlägen
gegenüber in entschiedener Ablehnung verhielten. Das Argument, daß Böhmen
<pb/>Nr. 53 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 16. 10. 1871  359

eine solche Bedeutung behaupte, daß es schlechthin eine Sonderstellung bean¬
spruchen könne, dürfte vielfach zu dem Gegenargument leiten, daß es nur wün¬
schenswert sein könne, ein so reiches und wichtiges Land dem Ganzen zu erhal¬
ten. Und entschieden biete der Weg, den der böhmische Landtag eingeschlagen,
der formalen Kritik reichliche Handhaben.

   Ein Landtag, der sich selbst nicht als den legalen bezeichnet, hat die Absicht,
völlig neue, völlig unerhörte Grundlagen der Verfassungsordnung zu erschließen.
Damit zeige sich die Hohlheit des ganzen Gebäudes. An dem Wunsche, an dem
Bestreben, dem festen Willen zur Herstellung des Friedens sei allerdings unbe¬
dingt festzuhalten. Aber dabei dürfe eben das deutsche Element nicht fehlen, und
Seine Majestät habe geruht, selbst als den Ah. Wunsch zu bezeichnen, daß dieses
Element herangezogen und nicht auf dem Boden der unbedingten Opposition
erhalten werde.

   Sektionschef v. Hofmann glaubt, daß kein Zweifel darüber be¬
stehen könne, daß die Regierung die Verpflichtung habe, alle Bedenken, welche
die böhmischen Elaborate bezüglich der unbedingten Rechtsgültigkeit des unga¬
rischen Ausgleichs und des infolge desselben entstandenen praktischen Rechts¬
zustandes anregen könnte, a limine frei zurückzuweisen. Es müsse mit Entschie¬
denheit die Unmöglichkeit betont werden, Entscheidungen auf Grundlage dieses
Rechtsbodens, der durch die Dauer von fünf Sessionen der Delegationen unbe¬
stritten geblieben, bezüglich ihrer Verfassungsmäßigkeit in irgendeiner Richtung
zu bestreiten. Der Ausgleich mit Ungarn, das mit Rücksicht darauf Geübte sei
Recht und bleibe Recht unbeschadet jeder staatsrechtlichen Aktion. Als zweiten
Punkt in dieser Richtung hebt Redner hervor, daß bezüglich der Frage der Verän¬
derung der Zusammensetzung der Delegationen und im allgemeinen jede Ände¬
rung des Ausgleichsgesetzes mit Ungarn die Einvernehmung bzw. Zustimmung
des gemeinsamen Ministeriums und namentlich des königlichen ungarischen Mi¬
nisteriums erforderlich sei, was sich bezüglich des ersteren auch aus den Bestim¬
mungen des Delegationsgesetzes vom 21. Dezember 1867 deutlich ergebe.7

   Reichsfinanzminister Graf Lönyay betont dabei insbeson¬
dere die verfassungsmäßige Stellung des ungarischen Ministeriums. Es sei ganz
unverkennbar, daß zahlreiche Stellen der Ausgleichsgesetze mit den böhmischen
Propositionen nicht in Konkordanz stehen, so § 28 (des ungarischen Gesetzes),8
welcher die Länder der ungarischen Krone ,,zusammen&quot; den anderen Königrei¬
chen und Ländern gleichfalls ,,zusammen&quot; gegenüberstelle. § 26, der durch das
Wort ,,gleichermaßen&quot; nicht bloß die Anzahl der zu Wählenden, sondern auch
den Modus der Wahl, d. h., die Wahl durch beide Häuser, vor Augen habe, § 32,

RGBl. Nr. 146/1867 betreffend die allen Ländern der österreichischen Monarchie gemeinsa¬
men Angelegenheiten und die Art ihrer Behandlung. In: Bernatzik, Die österreichischen Ver¬
fassungsgesetze 439-451.
GA. XII/1867, ebd. 329-350. § 46: Für den Fall, daß Se. Majestät einen Reichstag auflösen
sollte, hört auch die Delegation des aufgelösten Reichstages auf, und der neue Reichstag
wählt einen neuen Ausschuß (Delegation).
<pb/>360 Nr. 53 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 16. 10. 1871

in welchem die Einzahl des Wortes ,,Vertretung&quot; andeute, daß nicht mehrere Ver¬
tretungen bzw. mehrere Wahlkörper maßgebend sein sollten, endlich und sehr
entscheidend für die Frage § 46, nach welchem die Wahlmandate für die Delega¬
tion durch die Auflösung des Reichstags erlöschen soll, während die Wirksamkeit
der böhmischen Delegierten nach Fundamentalartikel IV (Alinea 7)9 durch die
Auflösung des böhmischen Landtages erlöschen würde, was allerdings eine ein¬
schneidende Änderung des betreffenden Gesetzes involviere.

   Die vom Sektionschef v. Hofmann angeregte Frage des Umfangs der Verant¬
wortlichkeit des gemeinsamen Ministeriums gibt nach kurzer Diskussion Sek¬
tionschef Freiherrn v. Orczy Gelegenheit, insbesondere die
Verantwortlichkeit des königlichen ungarischen Ministeriums zu betonen. Der
ungarische Reichstag, eventuell ohne Zweifel zur Mitwirkung und Entscheidung
berufen, könne möglicherweise einer vollbrachten Tatsache gegenüberstehen.
Wäre er versammelt, so hätte er jedenfalls das Recht, das Ministerium zu inter¬
pellieren, ob es den betreffenden Fragen rechtzeitig seine pflichtmäßige Obsorge
zugewandt und präjudizierende Entscheidungen abgewandt habe.

   Reichsfinanzminister Graf Lönyay akzeptiert diesen
Standpunkt. Das Einvernehmen mit Ungarn sei Grundbedingung jeder Änderung
des Delegationsgesetzes, und der cisleithanischen Reichshälfte könne keineswegs
die Entscheidung hierüber allein überlassen werden. Die Ausgleichsgesetze kön¬
nen im allgemeinen nicht anders abgeändert werden als in dem Wege, in welchem
sie zustande gekommen seien, durch das Einvernehmen der beiderseitigen Lan¬
des- und des gemeinsamen Ministeriums, durch die gesetzliche Intervention und
die Übereinstimmung des ungarischen Reichstages und des cisleithanischen
Reichsrates, endlich durch die Sanktion der Krone.

   Nachdem Sektionschef Freiherr v. Orczy diese Bemer¬
kungen durch die Hinweisung auf die Natur bilateraler Verträge vervollständigte,
die speziell in dem Ausgleiche mit Ungarn mehrfach und in ersprießlicher Rück¬
wirkung auf die Ah. Dynastie und die inneren Beziehungen der Monarchie zur
Geltung gebracht worden sei, regt Reichskanzler Graf Beust den
weiteren Punkt an, daß daraufhingewirkt werde, dem Ah. Wunsche Seiner Maje¬
stät und den vitalsten Bedürfnissen der Monarchie entsprechend, die Teilnahme
der Deutschen an der weiteren Fortführung der Aktion zu ermöglichen und Seiner
Majestät in dieser Beziehung praktische Vorschläge zu unterbreiten.

   Sektionschef v. Hofmann fuhrt im Zusammenhang mit der Be¬
merkung des Reichsfinanzministers Grafen Lönyay, daß die Nichtbeteiligung der
Deutschen wohl als ein politischer Fehler der betreffenden Partei zu betrachten
sei, daß damit aber jedenfalls eine hochwichtige Frage der Monarchie berührt
werde - in längerer Auseinandersetzung die politischen Bestrebungen und die
augenblickliche Stellung derselben in die Diskussion ein. Unleugbar sei die Ge-

9 Siehe Anm. 8: Wird der Landtag aufgelöst, so erlischt auch die Wirksamkeit der landtägli¬
        chen Delegierten. Der neu zusammentretende Landtag wählt neue Delegierte.
<pb/>Nr. 53 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 16. 10. 1871  361

fahr vorhanden, daß die jetzige Abstinenz der Partei zu einer Abstinenz derselben
überhaupt, zu einem jetzt schon im Keime vorhandenen Hinausstreben führen
werde. Die prinzipielle Gefahr liege darin, daß man sich des moralischen Über¬
gewichtes, das die Deutschen heute nach den Ereignissen von 1870 und nach der
Bildung des deutschen Reiches beanspruchen, zujener Stellung, welche sie 1869
noch einnahmen, nicht völlig bewußt sei. Heute glaubten die Deutschen, An¬
spruch darauf und die Kautelen eines großen Rückhaltes an dem neugebildeten
deutschen Reiche zu haben, wenn sie fordern und mit aller Kraft des passiven und
immer weitergehenden Widerspruches zu behaupten sich anschicken, daß über
ihre bisherige Lage nicht hinausgegangen, ihre Rechtsstellung in der Monarchie
mindestens nicht verschlimmert werde. Wenn sich die Umgestaltung der Verfas¬
sungspartei in eine deutschnationale vollzogen habe, so sei dies allerdings eine
unerfreuliche und eine für die Monarchie bedenkliche, aber darum doch eine Tat¬
sache. Die Gefahren für die Dynastie und für die Monarchie seien damit nicht
mehr zu leugnende geworden, und darum stelle sich allerdings als Hauptaufgabe
heraus, den Deutschen die fernere Teilnahme an den inneren Angelegenheiten,
welchen sie sich jetzt mit Rücksicht auf gewisse Zweideutigkeiten der offiziellen
Kundgebungen zu verweigern drohen, nicht nur zu ermöglichen, sondern ihnen
zur Pflicht zu machen, wofern sie überhaupt den legalen Standpunkt nicht ver¬
leugnen und sich in das Unrecht setzen wollen. Im Reskript sei daher vor allem
den Deutschen jeder legale Vorwand zur ferneren Passivität imzweideutig zu be¬
nehmen.

   Reichsfinanzminister Graf Lönyay glaubt die Politik der
Passivität der Deutschen vom Standpunkt der Erkenntnis der eigenen Opportuni¬
tät als praktisch bestreiten zu müssen, schließt sich indes der Ansicht an, daß
diese Passivität im Staatsinteresse tunlichst hintangehalten werden müsse. Er regt
daher die Frage an, ob der Erlaß eines neuen Reskriptes an den böhmischen Land¬
tag sich überhaupt als Notwendigkeit heraussteilen werde.

   Reichskanzler Graf Beust glaubt, daß der Nichterlaß des Re¬
skriptes ohne Zweifel eine gewisse Beruhigung hervorbringen werde, hält aber
für zweifelhaft, ob für die Deutschen diese negative Tatsache hinreichen werde,
sie zu einem Verlassen der jetzt beschlossenen Politik des passiven Widerstandes
und der Reserve zu vermögen.

   Nachdem noch Reichsfinanzminister Graf Lönyay dar¬
aufhingewiesen, daß es in dieser Beziehungjedenfalls wünschenswert sein mü߬
te, Fühlung mit der deutschen Partei zu gewinnen und ihre Auffassung zur Sache
zu erfahren, faßt Reichskanzler Graf Beust die Beschlüsse des
gemeinsamen Ministerrates dahin zusammen: das Reichsministerium halte dafür,
daß wenn überhaupt unter den gegenwärtigen Verhältnissen ein Ah. Reskript an
den böhmischen Landtag notwendig sein sollte, das Reichsministerium darauf
bestehen müßte, daß 1. in diesem Reskripte der Ausgleich mit Ungarn in unzwei¬
deutiger Weise als unzweifelhaft zu Recht bestehend perfekt und einer nachträg¬
lichen Ratihabierung von Seite des böhmischen Landtags oder irgendwelcher
<pb/>362 Nr. 54 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 10. 1871

anderer Faktoren sowie einer Immatrikulierung in die betreffenden Landesgeset¬
ze in keiner Weise bedürftig bezeichnet werden müsse; 2. daß nicht minder un¬
zweideutig hervorzuheben sei, daß jede Abänderung der für die Gesamtmonar¬
chie geltenden Gesetze, insbesondere also des für die Behandlung der
gemeinsamen Angelegenheiten Österreich-Ungams festgestellten Gesetzes vom
21. Dezember 1867 und des XII. Gesetzartikels vom Jahre 1867 nur in der Art
und Weise, wie diese Gesetze zustande gekommen seien, also durch das Überein¬
kommen der beiderseitigen Legislativen nach vorausgegangener Beratung ihrer
Ministerien und des gemeinsamen Ministeriums, endlich durch die Sanktion der
Krone erfolgen könne, die einseitige Genehmigung der Vertretungskörper der ei¬
nen oder der anderen Reichshälfte für einen derartigen Abänderungsvorschlag
daher als ausreichend nicht betrachtet werden könne. 3. Der gemeinsame Mini-
sterrat hält es endlich vom Standpunkte der allgemeinen Interessen der Gesamt¬
monarchie für höchst wünschenswert, daß das kaiserliche Reskript, falls ein sol¬
ches erlassen werden sollte, den Deutschen die Möglichkeit ihrer ferneren
Teilnahme an der Verfassungsrevision für die im Reichsrate vertretenen König¬
reiche und Länder eröffne.

   Womit die Sitzung geschlossen wurde.
                                                                                                  Beust

[Ah. E.] Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen.
Wien, 21. Oktober 1871. Franz Joseph.

        Nr. 54 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. Oktober 1871

    RS. (und RK.)
    Gegenwärtige: der kgl. ung. Ministerpräsident GrafAndrässy (o. D.), der k. k. Ministerpräsident
Graf Hohenwart (o. D.), der Reichskriegsminister Freiherr v. Kuhn (o. D.), der Reichsfinanzmini¬
ster Graf Lönyay (o. D.).
    Protokollführer: Sektionsrat Freiherr v. Konradsheim.
    Gegenstand: Ah. Reskript auf die Adresse des böhmischen Landtages.

   KZ. 3780-RMRZ. 120
   Protokoll des zu Wien am 19. Oktober 1871 abgehaltenen Ministerrates für
gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Reichskanz¬
lers Grafen Beust.

   Reichskanzler Graf Beust eröffhete die Sitzung, indem er mit
Hinweis auf die bei Seiner Majestät dem Kaiser stattzufindende Beratung über
die Beantwortung der böhmischen Landtagsadresse die Resultate einer Vorbe¬
sprechung darlegte, zu welcher das gemeinsame Ministerium sich unlängst verei¬
nigt hatte, um die eigene Stellung gegenüber der im Zuge befindlichen staats-
<pb/>