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Gemeinsamer Ministerrat, 18. 7. 1870

I. Unsere Politik angesichts der politischen Lage

Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_I2/pdf/oe_hu_mrp_I2_z1.pdf.

DOKUMENTE
<pb/><pb/>                             PROTOKOLLE

           Nr. 1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 18. Juli 18701

    RS. (undRK.)
    Gegenwärtige: Seine k. k. Hoheit Erzherzog Albrecht (o. D.), der Reichskanzler Graf Beust
(o. D.), der kgl. ung. Ministerpräsident Graf Andrässy (o. D.), der k. k. Ministerpräsident Graf
Potocki (o. D.), der Reichskriegsminister Freiherr v. Kuhn (o. D.), der Reichsfinanzminister v.
Lönyay (26. 7.).
    Protokollführer: Sektionsrat Freiherr v. Konradsheim.
    Gegenstand: Unsere Politik angesichts der politischen Lage.

   KZ. 2855 - RMRZ. 67
   Protokoll des zu Wien am 18. Juli 1870 abgehaltenen Ministerrates für ge¬
meinsame Angelegenheiten unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers.

   Seine Majestät der Kaiser geruhte, die Besprechung mit der
Hinweisung auf die durch den preußisch-französischen Kriegsausbruch geschaf¬
fene bedrohliche Sachlage zu eröffnen, wodurch auch an Österreich-Ungarn die
Notwendigkeit herantrete, sich über die einzuschlagende Politik klar zu werden
und sonach die entsprechenden Maßregeln einzuleiten. Bei der folgenschweren
Wichtigkeit der heute zu fassenden Beschlüsse fordere Allerhöchstderselbe die
Anwesenden auf, ihre Ansichten mit aller Offenheit auszusprechen, ebenso sei es
aber auch Sein Ah. Wille, daß die Entscheidung, die er nach Anhören der Mei¬
nungen Seiner Räte treffen werde, von allen Seiten einmütig und energisch voll¬
zogen werde.

   Reichskanzler Graf Beust erbat sich hierauf das Wort, um ein
Bild der momentanen Lage Europas zu geben. Die letzten Vorgänge dürfe er als
bekannt voraussetzen. In diesem Augenblicke sei der Krieg bereits erklärt, und

        Das Protokoll wurde erstmals als Beilage des ungarischsprachigen Buches von Diöszegi
        publiziert, später erschien sein Buch auch in deutscher Sprache Diöszegi, Ausztria-Magyar-
        orszäg es a francia-porosz häboru 1870-1871 257 ff.; Diöszegi, Österreich-Ungarn und der
        französisch-preußische Krieg 1870-1871 286 ff. Die wichtigsten Analysen des Ministerrates
        außer der genannten Monographie: Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deut¬
        schen Reiches 210 ff; Beyrau, Russische Orientpolitik und die Entstehung des deutschen
        Kaiserreiches 1866-1870/71 192 ff; Potthoff, Die deutsche Politik Beusts von seiner Beru¬
        fung zum österreichischen Außenminister Oktober 1866 bis zum Ausbruch des deutsch-fran¬
        zösischen Krieges 1870-1871 352 ff.
<pb/>4 Nr. 1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 18. 7. 1870

habe sich gestern ein französischer General mit der Kriegserklärung nach Berlin
begeben.2 Zwar habe England unter Anrufung jenes Artikels des Pariser Vertrages
vom Jahre 1856, wonach die Vertragsschließenden das Versprechen abgeben, in
Streitfällen bevor zum Schwerte gegriffen wird, die Vermittlung der Unbeteilig¬
ten eintreten zu lassen,3 noch einen Versuch gemacht, um eine diplomatische Ver¬
handlung zur Verhinderung des Kriegsausbruches zu ermöglichen, und es sei
auch vom Fürsten Metternich4 der Gedanke einer Mediation Österreichs und Ita¬
liens angeregt worden, aber so gerne man auch zu weiteren Vermittlungsversu¬
chen bereit sei, so müsse man doch zugeben, wie wenig festen Boden dieselben
haben, nachdem Kaiser Napoleon5 erklärt habe, durch die aufgetauchte Kongress¬
idee sich in den militärischen Vorbereitungen nicht beirren lassen zu wollen.

   Gegenüber dem völkerrechtlich schon morgen zulässigen Beginn der Kriegs¬
operationen sei nun die Gruppierung der Staaten des Kontinents derart, daß zu¬
nächst die süddeutschen Staaten, wo mit einem Male das deutsche Nationalbe¬
wußtsein zum Durchbruch gelangte, den casus foederis ohne Vorbehalt anerkannt
und Preußen ihre Truppen zur Verfügung gestellt hätten. Belgien und die Schweiz
seien an und für sich neutral, hätten aber dennoch militärische Maßregeln zur
Aufrechthaltung ihrer Neutralität ergriffen, ebenso wie Holland, welches gleich¬
falls neutral bleiben wolle.

   Die Haltung Rußlands, welches bisher noch nicht Farbe bekannte, sei gleich¬
wohl in den letzten Tagen akzentuierter geworden, infolge der Reise des Fürsten
Gortschakow6 nach Berlin, und man gehe nicht fehl, wenn man Abmachungen
Rußlands mit Preußen über vorläufig neutrales Verhalten des ersteren, aber akti¬
ves Einschreiten im Falle der Niederlage Preußens voraussetze, ja die allemeue-
sten Indizien ließen sogar auf die Lust nach einer Diversion Rußlands nach Gali¬
zien für den Fall des Eintretens in die Aktion schließen. Die öffentliche Meinung
in Rußland neige sich übrigens nach den erhaltenen Nachrichten mehr zu Frank¬
reich als zu Preußen, und dieses sei jedenfalls eine merkwürdige Erscheinung,
welche bei einer Teilnahme Rußlands am Kriege nicht übersehen werden dürfe.
Was Italien betreffe, so habe es sich bisher reserviert gehalten und wolle sich die
Freiheit der Aktion wahren - eine Stellung, die schon in der bedrängten Finanz¬
lage des Reiches, welche dem Ministerium die möglichste Sparsamkeit zur Pflicht
mache, die Erklärung finde. Italien sei deshalb geneigt mit uns Hand in Hand zu
gehen. Übrigens müsse noch ein Moment bedacht werden, welches für die Hal-

        Am 17. Juli 1870 geht die Kriegserklärung von Paris an den Vertreter Frankreichs in Berlin
         ab. Am 19. Juli wird sie in Berlin übergeben.
         Artikel 8 des Pariser Vertrages von 1856 legte nieder, daß bei einem Konflikt einer der Mäch¬
         te mit der Türkei vor dem Rekurs zu den Waffen die Vermittlung der anderen Signatarmächte
         angerufen werden solle. Vgl. Aktenstücke zur orientalischen Frage Bd. 2 345.
         Fürst Richard Metternich-Winnenburg, 14. 11. 1859- 13. 12. 1871 Botschafter Österreichs
         in Paris.
         Napoleon III., Kaiser der Franzosen.
         Fürst Alexander Michailowitsch Gortschakow, 1856-1882 Minister des Äußern Rußlands.
<pb/>Nr. 1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 18. 7. 1870  5

tung Italiens den Ausschlag geben könnte, nämlich die Besetzung Roms, worüber
Frankreich noch nicht das letzte Wort gesprochen habe. Mache Napoleon in die¬
ser Beziehung Konzessionen, so sei es leicht möglich, daß Italien sich ihm dafür
zur Verfügung stelle.

   Im Norden werde Schweden und Norwegen sich passiv verhalten; über die
Haltung Dänemarks wisse man noch nichts gewisses, wenigstens hätten sich die
Allianzgerüchte mit Frankreich noch nicht bestätigt, aber es sei wahrscheinlich,
daß es sich in den Kampf gegen Preußen einmischen werde. Im Süden sehe die
Türkei aufunsere Haltung; sie wolle sich an Österreich-Ungarn anschließen, und
es seien daher von dieser Seite wiederholte Anfragen an Vortragenden gelangt.

   Wir selbst aber hätten bisher noch nach keiner Seite hin Verpflichtungen ein¬
gegangen; unsere bisherige Passivitätspolitik sei noch durch keine bestimmte
Maßregel alteriert. Es sei bisher absichtlich alles vermieden worden, was auf die
Regierung auch nur den Schein des Abweichens von der Politik der Passivität
hätte werfen können, schon aus Rücksicht für unsere Presse, welche - wie mit
Sicherheit angenommen werden könne - infolge preußischer Lockmittel den
Kampf auch bei uns als einen deutschen aufgefaßt wissen wolle. Sehe man eben
auf die Haltung anderer Staaten, namentlich aufjene unseres Nachbars im Osten,
so frage er sich, ob die bisherige Passivität noch weiterhin eingehalten werden
könne oder ob es sich nicht vielmehr empfehle, uns auf einen solchen Fuß zu
setzen, daß uns die Ereignisse, wenn sie an uns herantreten, nicht imvorbereitet
treffen. Diese sei aber eine Frage, bei welcher in erster Reihe die inneren Elemen¬
te in Betracht gezogen werden müssen und worüber sich also vor allem jene
Ratgeber der Krone aussprechen mögen, welche den inneren Elementen näher
stehen als der Minister des Äußern.

   Ministerpräsident Graf Andrässy: Wenn er mit einem
spontanen Antrag über die Haltung der Monarchie in der heranbrechenden Krise
hervortreten solle, so müsse er sich zunächst die Frage vorlegen, ob die bisherige
Passivität, die allerdings das Einfachste wäre, noch fernerhin möglich sei. Die
Frage könne er nur mit ,,Nein&quot; beantworten. Österreich-Ungarn könne nicht in¬
different dastehen gegenüber Preußens Agitationen im Innern unserer Monarchie,
welches unter dem Aushängeschild des Liberalismus und Deutschtums in der
diesseitigen Reichshälfte eben so schüre, wie es in Ungarn für seine Zwecke
Agenten halte und Journale kaufe; es solle nicht die Hände in den Schoß legen
gegenüber den Bemühungen Frankreichs in den Donaufürstentümem, wohin
letzteres Ordres gesendet habe, die auf den Sturz des dermaligen Regimes hinzie¬
len und Ereignisse heraufbeschwören, welche uns notwendig alarmieren müssen.
Wenn nun aber Österreich-Ungarn nicht zum Spielball seiner Nachbarn werden
solle, und dies sei ein Standpunkt, welchen er mit Hinweisung auf Rußland nicht
nur in Ungarn begreiflich machen zu können hoffe, sondern welchen er von dort
aus auch gegen etwaige weitere Passivitätsgelüste in der diesseitigen Reichshälf¬
te zur Geltung bringen zu lassen sich anheischig mache, so ergebe sich die weite¬
re Frage: welche Stellung dasselbe einnehmen solle, damit die Monarchie aus der
<pb/>6 Nr. I Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 18. 7. 1870

hereinbrechenden Krise nicht nur ungeschädigt hervorgehe, sondern, wenn sie in
die Aktion eintreten muß, daraus einen Nutzen ziehe?

   Da seien im Augenblicke nur zwei Stellungen möglich: entweder Krieg mit
Frankreich gegen Preußen oder Neutralität.

   Zu einem Kriege im Verein mit Frankreich seien wir aber nicht berufen, es
erübrige also nur die Neutralität. Dieselbe dürfe jedoch nicht gleichbedeutend
werden mit Passivität, weil sie in diesem Sinne für Preußen wohl erwünscht sein
könne, von Frankreich aber verübelt werden würde und uns selbst nach keiner
Seite nützen dürfte; sie solle aber auch nicht als bewaffnete Neutralität3 deklariert
werden, weil solche leicht als Provokation unserer Nachbarn gedeutet und uns
daraus die Lust nach der Okkupation der Donaufürstentümer imputiert werden
könnte, sondern Vortragender meine einen Zustand der Neutralität, ähnlichjenem
Hollands, der uns gestattet, gewisse militärische Vorbereitungen zu treffen, um
von den Ereignissen nicht überrascht zu werden.

   In dieser Absicht mögen Pferde und Vorräte angekauft, auch ein Teil der Ar¬
mee, vielleicht 300 000 Mann, parat gemacht und im Übrigen die Einrichtung so
getroffen werden, daß wir binnen drei Wochen schlagfertig sind. Man solle über¬
haupt, ohne sich die Hände nach irgendeiner Seite zu binden, und bnach Abgabe
einer Neutralitätserklärungb, das pure Interesse als Losungswort ausgeben und
jedem, der darnach fragt, offen bekennen, daß wir, solange Preußen allein bleibt,
uns in den Krieg nicht einmengen und die militärischen Vorbereitungen nur we¬
gen den Eventualitäten im Orient treffen. Der Reichskanzler werde wohl leicht
die Gelegenheit wahmehmen können, um Preußen eine solche Erklärung unserer
Maßregel nahezulegen und dasselbe durch die Versicherung, daß wir, wenn nicht
angegriffen, auch nicht in die Aktion eintreten werden, zum Ablassen von weite¬
ren Agitationen zu bestimmen.

   Nur mit dieser Erklärung könne man auch den Delegationen entgegentreten,
deren Geldbewilligungsrecht unter keinen Umständen umgangen werden könne.

   Die von ihm definierte zuwartende Neutralität halte Vortragender nach keiner
Seite hin für gefährlich, denn wenn auch Preußen siegen sollte, was für uns aller¬
dings kein wünschenswerter Ausgang des Kampfes wäre, so könne dies unmög¬
lich in kurzer Zeit geschehen, da der Krieg nicht ein napoleonischer, sondern ein
französischer Nationalkrieg sei und Frankreich gewiß die größte Hartnäckigkeit
entwickeln werde; siege aber Frankreich, so bleibe es uns noch immer unbenom¬
men, zu Gunsten ceffektiver Garantien des Europäischen Gleichgewichtes0 einzu¬
treten. Nur wenn Rußland sich einmenge, bliebe uns keine Wahl.

    Ministerpräsident Graf Potocki: Wenn es sich um Passivi¬
tät oder Neutralität handle, so könne er nicht leugnen, daß erstere Strömung in
den deutschen Provinzen, soweit die öffentliche Meinung zu Tage trete, jetzt die

a Korrektur Andrässys aus nach völkerrechtlicher Doktrin.
b&#39;b Korrektur Andrässys aus ohne eine förmliche Neutralitätserklärung abzugeben.
c_c Korrektur Andrässys aus Deutschlands.
<pb/>Nr. 1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 18. 7. 1870  1

Oberhand habe. Er halte sich als Ministerpräsident ferner für verpflichtet, die
Sympathien, die in Cisleithanien für Deutschland bestehen, zu konstatieren. Sei¬
ne persönlichen Sympathien für Frankreich wolle er jedoch nicht verhehlen,
ebenso wenig wie seine Überzeugung, daß wir früher oder später zur bewaffneten
Neutralität gelangen werden. Rußland werde uns zur Armierung drängen, denn
sowie es Preußen schlecht gehe, werde es Galizien besetzen, und dies müsse man
verhindern.

   Im Augenblicke sei er noch für Passivität mit fortgesetzter diplomatischer Tä¬
tigkeit und müsse Wert darauf legen, daß ihm, bevor die bewaffnete Neutralität
proklamiert wird, Zeit gelassen werde, dem diesseitigen Ministerrate die Sachla¬
ge vorzutragen und sich seiner Mitwirkung bei den durch die bevorstehende Ar¬
mierung bedingten Einleitungen zu versichern.

   Die Armierung verursache Kosten, welche von den Delegationen votiert wer¬
den müssen, und um letztere sobald als möglich versammeln zu können, müßten
nunmehr die Landtage und sohin der Reichsrat einberufen werden. Die Sache sei
nicht ohne große Schwierigkeiten; es würden in den Vertretungskörpem Melodi¬
en angeschlagen werden, die gerade im gegenwärtigen Augenblicke höchst unan¬
genehm klingen, aber man müsse dies alles als unerläßliche Vorbedingung für
den Zusammentritt der Delegationen hinnehmen.

   Ministerpräsident Graf Andrässy derklärt zur Klarstellung
seines Antrages, daß er durch die befürwortete Neutralität nicht die Neutralite
armee gemeint habed. Die neutralite armee nach Ansicht des Vorredners sei noch
verfrüht und zu teuer. Sie werde Preußen, welches sich im Rücken bedroht sehe,
den Anlaß geben, den Kriegsschauplatz auf unser Gebiet zu verlegen, was nicht
sein dürfe. Er wiederhole, daß er vorläufig keine förmliche Rüstung, sondern nur
eine partielle Truppenaufstellung wünsche.

   Seine Majestät der Kaiser hatte hierauf die Gnade zu bemer¬
ken, daß eine halbe Armierung bei unserer Armeeorganisation schwer durchzu¬
führen sei. Man solle bedenken, daß gewisse Anschaffungen im großen und gan¬
zen gleichzeitig erfolgen müßten, daß die nötigen Festungsarbeiten nicht nur
partiell vorgenommen werden könnten und daß auch die Mobilisierung der Ar¬
mee Zeit erfordere. Von der Einberufung, die - wenn sie sich nicht gleichzeitig
auf die Reservisten ausdehne - zwecklos sei, müsse man noch sechs Wochen
rechnen bis zum Moment, wo die Armee schlagfertig genannt werden könne. Es
sei auch notwendig, daß die Mannschaft im Schießen und Exerzieren frisch ein¬
geübt werde. Dies alles könne nicht nur mit einem Teil der Armee vorgenommen
werden, und es gebe nur die eine Alternative: entweder vollständige Armeeausrü¬
stung oder Passivität.

   Seine k. k. Hoheit Erzherzog Albrecht fügte seinerseits
bei, daß die Artillerie nur ein Viertel des Bedarfes an feuergewohnten Pferden
habe, die neuangeschafften müßten, bevor sie im Feld verwendet werden können,

d~d Einfiigung Andrässys.
<pb/>8 Nr. 1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 18. 7. 1870

im Feuer einexerziert werden. Nach Erlassung der Einberufungsordre gingen
acht Tage verloren, bis die Mannschaft im Ergänzungsbezirke versammelt sei,
weitere 14 Tage seien erforderlich, bis sie beim Regimente eintreffe, dazu komme
noch die Zeit des Aufmarsches aufden Operationsschauplatz. Im günstigsten Fal¬
le und wenn der Pferdeeinkauf gut vonstatten gehe, brauche man für alles 40
Tage.

   Reichsfinanzminister v. Lonyay: Es scheine ihm zunächst
darauf anzukommen, die von uns zu befolgende Neutralität zu präzisieren. Graf
Andrässy habe, wie er glaube, die Neutralität im Gegensatz zur Passivität richtig
dahin definiert, daß sie die Aufstellung von Truppen, um eventuell unsere Gren¬
zen besetzen zu können, bedinge.

   Zuerst müsse dahin gestrebt werden, daß die Monarchie keinen Schaden leide,
an die Ausnützung der Krise solle man nur in zweiter Reihe denken. In diesem
Anbetrachte wünsche er auch den Sieg der französischen Waffen, was uns aber in
unserer Aufgabe für die Abkürzung und Lokalisierung des Krieges zu wirken
nicht hindern dürfe. Da nun Italien geneigt sei mit uns Hand in Hand zu gehen
und Frankreich Österreichs Mediation wünsche, so möge man nach den Andeu¬
tungen des Grafen Potocki einige Tage der Passivität noch benützen, um auf di¬
plomatischem Felde für diesen Zweck zu wirken.

   Erkläre sich Österreich-Ungarn für neutral, so sei dies zunächst ein Gewinn für
Preußen, und er frage, ob wir bei einer solchen Erklärung, wobei jedoch streng zu
akzentuieren sei, daß wir im Falle der Einmischung Rußlands gleichfalls in die
Aktion eintreten, von Preußen nicht die Zusicherung verlangen können, daß es
mit seinen Agitationen im Inlande aufhöre.

   Für alle Fälle müßten die Delegationen sobald als möglich einberufen werden,
um die konstitutionellen Formen zu wahren, und zwar solle man die Landtage
und den Reichsrat, aus welchen jene filtrierte Körperschaft hervorgehe ad hoc
einberufen, damit dieselben nicht durch Herbeiziehen sonstiger Diskussionen die
Delegationswahlen verzögern.

   Reichskriegsminister Freiherr v. Kuhn: Die bewaffne¬
te Neutralität, um die es sich hier handle, habe eine andere völkerrechtliche Be¬
deutung, als welche der Reichsfinanzminister ihr unterlege. Die Grenzbewachung
sei lediglich Aufgabe eines Observationscorps. Wenn man Kriegsvorbereitungen
treffe, so müsse man sich auch darüber klar werden, ob man den Krieg auch füh¬
ren wolle, dann wann und gegen wen.

   Nach seiner Ansicht sei der Krieg auch für uns unausweichlich, nachdem alles
rüste, so weit wir sehen. Ähnlich den Verhältnissen vor dem dreißigjährigen Krie¬
ge gebe es auch heute eine Menge aufgehäuften Zündstoff und ungelöste Fragen,
die ihre Lösung nur nach einer allgemeinen europäischen Konflagration finden
werden, welch letztere jede Lokalisierung des Krieges ausschließe. Für Öster¬
reich sei bei einem Siege Frankreichs nichts zu befürchten, siege aber Preußen,
und dies sei nicht immöglich, denn der Vorteil sei augenblicklich auf seiner Seite,
so gehe das Reich den größten Gefahren entgegen. So rasch wie im Jahre 1866
<pb/>Nr. 1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 18. 7. 1870  9

werde der Feldzug freilich nicht beendet sein, aber es sei immer denkbar, daß
Preußen, wenn es siegt, bald siegt.

   Um die Gefahren dieses Sieges abzuwenden, müssen wir bis dahin fertig gerü¬
stet sein, damit wir unser Schwert im entscheidenden Momente zu Gunsten
Frankreichs in die Waagschale werfen können. Für den Feldherm sei es von Ge¬
wicht, den Moment zu wissen, wann er gerüstet sein müsse, diesen müsse ihm der
Staatsmann angeben. Da der Moment heute aber noch nicht berechnet werden
könne, so sei Vortragender, um nichts zu versäumen, für allsogleiche Rüstung in
großartigem Maßstabe. Das Wichtigste dazu sei nun die Pferdeanschaffung und
Ausrüstung. Die Anschaffung allein ohne Fourage koste für 80 000 Pferde, wel¬
che die Armee benötigt, 18 Millionen. Mit Einschluß sonstiger Monturstücke, als
Leibbinden, Kapuzen, die im Kriegsfälle benötigt werden, beliefen sich die sofort
nötigen Anschaffungen auf 22 Millionen; dazu komme noch die Ausgabe für die
Herstellung verschanzter Punkte.

   Seine k. k. Hoheit Erzherzog Albrecht: In den heuti¬
gen Argumentationen sei eine Lücke geblieben, man habe nämlich die Zeitbe¬
rechnung vergessen, die - wenn wir in die Aktion eintreten wollen - einer der
wichtigsten Faktoren sei. So sehr Seine k. k. Hoheit auch der Ansicht zustimme,
daß man den konstitutionellen Vorgang einhalten solle, zumal im entgegengesetz¬
ten Falle ein großer Teil der im preußischen Solde stehenden inländischen Presse
das Außerachtlassen der konstitutionellen Formen als Vorwand zum Angriffe auf
die Regierung benützen werde, so müsse vom militärischen Gesichtspunkte doch
großes Gewicht darauf gelegt werden, daß über der Sorge um die Form nicht die
wichtigste Zeit verloren gehe. Man müsse sich die Fragen vorlegen, wie lange es
dauern kann, bis wir uns entschließen müssen? Preußen rüste unter der Hand
schon seit 14 Tagen; die Mobilmachung betreibe es heimlich seit 8. Juli. Es könne
also zwischen dem 1. und 4. August schlagfertig sein. Die Franzosen dürften am
27.-30. Juli den Rhein überschreiten. Sie könnten Ende August an der sächsi¬
schen Grenze sein, Anfang September könne also die entscheidende Schlacht
stattfinden, die uns zur Tat ruft.

   Nun sei es aber sehr gewagt, unsere Aufstellung erst in diese Zeit zu verlegen,
besonders, nachdem Rußland, welches wir bei unseren Entschlüssen im Auge
behalten müssen, auch nur noch circa zwei Monate braucht, um durch Nach-
schaffimg der ihm abgehenden Pferde die in Polen stehenden Truppen schlagfer¬
tig zu machen. Es komme noch zu bedenken, daß Rußland für einen Winterfeld¬
zug gerüstet sei und wir nicht und umgekehrt, wir im Frühjahre ohne weiteres
manövrierfähig seien, während die russische Armee sich in der Zeit von März bis
Mai wegen des großen Kotes nicht rühren könne. Militärisch stelle sich die Sache
also so: Könne und wolle man halben September in die Aktion nicht eintreten, so
lasse man die Rüstung ganz bleiben, wolle man sich aber für dann bereit halten,
so treffe man die Vorbereitungen gleich und energisch.

   Reichskanzler Graf Beust: Er habe sich absichtlich darauf be¬
schränkt, vorläufig nur die allgemeine Lage zu erörtern und die Frage der einzu-
<pb/>10 Nr. 1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 18. 7. 1870

schlagenden Politik von den inneren Momenten abhängig zu machen, weil die
Ausführung der ersteren durch letztere bedingt werde. Wäre der Minister des
Äußern in seinen Entschlüssen von den Fragen im Innern des Reiches nicht ab¬
hängig, so sei es leicht, sich das Tableau zurechtzulegen, er brauche einfach dem¬
jenigen Teile beizuspringen, welchem man den Sieg wünscht.

    In den letzten Jahren seien wir mit Frankreich auf einen guten Fuß gekommen,
einerseits weil kein Streitobjekt vorhanden war und unsere Interessen zusammen¬
fielen, anderseits, weil es unmöglich war, mit Preußen ein halbwegs aufrichtiges
Verhältnis herzustellen. Zu einer Allianz mit Frankreich würde aber gehören, daß
wir uns vorerst über alles verständigt hätten. Es sei aber anders gekommen, und
Frankreich behaupte selbst, daß es durch die Ereignisse überrascht worden sei.
Sei dem, wie es wolle, es unterliege keinem Zweifel, daß wir, nachdem das Rad
plötzlich ins Rollen gekommen sei, uns bei unseren heutigen Verhältnissen zwar
nicht mitreißen lassen konnten, vielmehr gegen Frankreich die Freundschafts¬
pflicht üben mußten, es vor einer Provozierung des deutschen Nationalbewußt¬
seins zu warnen, aber unsere Politik könne doch nur die sein, daß wir alles ver¬
meiden, was wie eine Unterstützung der Feinde Frankreichs aussehe, zumal schon
die Neutralitätserklärung Preußen mehr zustatten komme als Frankreich, wel¬
chem sie erst mundgerecht gemacht werden müsse.

    Dabei brauchten wir nicht zu fürchten, daß das in Bewegung gesetzte Rad über
uns hinwegrolle, denn auch er glaube, daß sich der Krieg in die Länge ziehen
werde und wir noch rechtzeitig Posten fassen können. Was unseren möglichen
Nutzen betreffe, so stimme er dem Grafen Andrässy darin bei, daß der Motor
unserer Handlungen ausschließlich unser Interesse sein solle. So wichtig aber für
uns auch die Frage erscheine, wer von den beiden Streitteilen Sieger bleibe, so
wäre es bei der Perfidie Preußens doch nutzlos unsere Neutralität an Preußen
gleichsam zu verkaufen. Wir würden im Siegesfalle Preußens ganz und gar die
Geprellten sein, und dieses würde aus einem solchen Übereinkommen alle mög¬
lichen unerfüllbaren Zumutungen von uns ableiten, wie es seinerzeit auch aus
dem Gasteiner Vertrag7 nachträglich ganz unberechtigte Konsequenzen zog. Da¬
gegen könne im Siegesfalle Frankreichs ein kluges Vorgehen uns Früchte tragen.
Könnten wir nun aber ab initio auch nicht mit Frankreich gehen und nötige uns
dies zur Rolle des Zuschauers gegenüber den beiden Kriegsführenden, so verhin¬
dere dies doch nicht, daß wir, wenn wir den Vorteilen des Friedens durch An¬
bahnung der Kriegsbereitschaft entsagen, unsere Blicke nach Rußland werfen,
welches von Tag zu Tag gefährlicher werde, und hier könnten wir im Falle eines
Krieges auch auf die Popularität des Krieges bei uns rechnen.

         Gasteiner Konvention vom 14. 8. 1865 zwischen Österreich und Preußen, geschlossen auf
         Bismarcks Betreiben; sie setzte fest, daß Österreich die Verwaltung Holsteins, Preußen die
         Schleswigs erhielt; Lauenburg ging in den Besitz Preußens über, das an Österreich eine Ent¬
         schädigung zahlte. Am 6. Juni 1866 ziehen die preußischen Truppen unter Bruch der Gastei¬
         ner Konvention in Holstein ein.
<pb/>Nr. 1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 18. 7. 1870  11

   Die Vorgänge Belgiens und der Schweiz könnten für uns kein analogen bieten,
denn diese seien an und für sich als neutral anerkannt, es sei auch wenig belang¬
reich, ob von uns einfache oder bewaffnete Neutralität erklärt werde, denn beide
seien völkerrechtlich nie genau präzisiert worden, und Neutralität schlechtweg
schließe die Bewaffnung nicht aus; worauf es aber bei diesem Kriege zumeist
ankomme, sei, daß wir uns durch Vorbereitung für den Kampf gegen Überra¬
schung sichern, daß wir dies ohne Provokation erklären (möge man dieser Erklä¬
rung nach außen welchen Namen immer geben), dann daß wir mit Italien im
Vernehmen bleiben und zwar in frankreichffeundlichem Sinne, da wir schon
überhaupt ihm die Pille der Neutralitätserklärung zu verschlucken geben müssen.
Man werde vielleicht gegen eine Neutralitätserklärung bei gleichzeitiger Armie¬
rung sich auf die Erfahrungen des Krimkrieges berufen; daraus folge aber noch
nicht, daß man nie zu Truppenaufstellungen schreiten solle, ohne loszuschlagen.
Übrigens hätten wir nicht nur einen sich immer mehr definierenden Feind, näm¬
lich Rußland vor uns, sondern es sei auch, wenn wir friedlich vermittelnd eintre-
ten wollen, nötig, bewaffnet zu sein, und dieses Motiv werde seinerzeit von den
Delegationen gewiß nicht verkannt werden, so wie man auch die öffentliche Mei-
nung darüber aufklären solle, daß die Regierung mit der Anordnung von Rüstun¬
gen nicht der Eingebung leichtsinniger Kriegslust, sondern dem Gebote der Si¬
cherung des Reiches nach allen Seiten folge.

   Ministerpräsident Graf Andrässy: Zur allgemeinen Lage
müsse er noch einiges erwähnen. Er könne zunächst die Ansicht des Kriegsmini¬
sters nicht teilen, daß der Friede für uns durchaus nicht zu halten sei, vielmehr
solle man an dem Gesichtspunkte Festhalten, daß wir ein desto schwereres Ge¬
wicht in die Waagschale werfen können, je mehr und je länger wir Geld und
Leute sparen. Der Krieg könne, wie alle Vorredner anerkennen, unmöglich so
kurz ausfallen, daß wir zu spät kommen sollten, wenn wir daran teilnehmen wol¬
len. Da wir aber nicht erobern wollen, so mögen wir uns nicht nur deshalb vorei¬
lig in den Krieg stürzen, damit wir nicht zu spät kommen. Unser gutes Verhältnis
zu Italien und zur Türkei bürge uns dafür, daß wir nicht zu spät kommen, und wir
würden gewiß nicht den Fehler Napoleons im Jahre 1866 begehen, welcher die
neue Sachlage nur deshalb ruhig hinnehmen mußte, weil er zur Zeit, wo er hätte
eintreten sollen, nicht fertig war. Aber wir sollten auch nicht den Fehler begehen,
daß wir es unterlassen, vor der Entscheidung alle möglichen Chancen zu erwä¬
gen. Napoleon habe noch nie ein Unternehmen ganz zu Ende geführt und gehe,
wie die Erfahrung lehre, oft ohne seine Bundesgenossen selbständig vor. Wer
bürge uns, wenn wir uns zu sehr mit ihm einlassen, dafür, daß er nicht mit Preu¬
ßen für seinen Teil plötzlich abschließe und uns Preußen und Rußland preisgebe?
Auch sei die Chance noch nicht erwogen, daß Preußen und Frankreich sich ge¬
genseitig so schwächen können, daß wir, wenn wir noch intakt dastehen, als
Schiedsrichter ihnen den Frieden diktieren können.

   Die zuwartende Stellung biete für uns aber auch nach andern Seiten die mei¬
sten Vorteile; wir könnten sicher sein, daß wir dafür die Zustimmung des eigenen
<pb/>12 Nr. 1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 18. 7. 1870

Volkes haben werden, was allein schon ein großer Gewinn sei; wir könnten mitt¬
lerweile uns bei der Türkei versichern, was sie im Falle eines Krieges mit Ru߬
land zu leisten imstande sei; wir könnten verhindern, daß in der Walachei die rote
Republik proklamiert werde;8 wir könnten die Zeit benützen, um Serbien, dessen
Stellung im Kampf mit Rußland von der größten Wichtigkeit sei, zu neutralisie¬
ren. Die Meinung des Reichskanzlers, eine Explikation mit Preußen sei nutzlos,
vermöge Vortragender nicht zu teilen; er traue Bismarck9 auch nicht, aber jetzt
liege es in des letzteren eigenem Interesse uns nichts zu tun, sobald er von uns
eine Erklärung darüber habe, daß wir uns nur, wenn eine dritte Macht herbeige¬
zogen wird, einmischen. Da wir nun, wenn die Preußen uns über unser beabsich¬
tigtes Verhalten fragen, doch jedenfalls eine Antwort geben müssen, so mögen
wir ihnen lieber aus eigener Initiative sagen, daß wir keine Rache nehmen wol¬
len; den Franzosen könne man deshalb immerhin zu verstehen geben, warum wir
uns ruhig verhalten, und ihnen sagen, daß wir an ihrem voreilig begonnenen
Krieg nicht teilnehmen können, aber gleichwohl uns vorsehen müssen, weil wir
an Preußen und Rußland gefährliche Nachbarn haben.

   Reichskanzler Graf Beust: Er glaube nicht, daß Preußen uns
ein aut-aut entgegenhalten werde; es würde in ähnlichem Falle uns auch nicht
antworten und solange wir nicht armieren, habe niemand nach unseren Absichten
zu fragen. Eine Erklärung an Preußen, wie sie der Vorredner meine, werde uns
nur nach außen kompromittieren, ohne uns gegen Preußen zu nützen. Wir müßten
jedenfalls mit Frankreich Fühlung behalten, denn dieses könne, wenn es wolle,
uns Italien wieder auf den Hals setzen und uns in Tirol, Dalmatien, Triest Schwie¬
rigkeiten bereiten.

   Es erübrige nach all dem Gesagten nichts als zu mobilisieren und dabei die
Neutralität zu erklären. Diese Erklärung solle selbstverständlich auch Preußen
gemacht werden, aber nicht in spezieller Weise gleichsam in Form einer Abma¬
chung, sondern auf dem diplomatisch üblichen Wege durch Zirkulamoten an un¬
sere Gesandtschaften;10 im Sinne der Neutralität werde er sich auch dem preußi-

         Über die Verhältnisse in Rumänien: GMR. v. 15. 7. 1870, RMRZ. 66. In: Die Protokolle des
         GEMEINSAMEN MINISTERRATES DER ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE 1/1 381-382. Wäh¬
         rend der Zuspitzung des preußisch-französischen Gegensatzes sympathisiert in Rumänien die
         Öffentlichkeit mit Frankreich, rechnet mit einem Sieg der Franzosen und darauf, daß man die
         Herrschaft des Hohenzollernjursten Karl stürzen könne. Im Sommer 1870 verschwören sich
         republikanische Offiziere, doch scheitert am 20. August der revolutionäre Versuch der roten
         Partei in Ploefti (Plojest). Vgl. Binder-Iuima, Die Institutionalisierung der rumänischen
         Monarchie unter Carol I. 1866-1881 220-230.
         Otto von Bismarck Fürst, seit 1867 Kanzler des Norddeutschen Bundes, 1871 erster Reichs¬
         kanzler.

            Auswärtige Angelegenheiten. Correspondenzen des kaiserlich-königlichen Ministeriums

         des Äussern vom November 1866 bis 1872 No. 4: vom August 1869 bis November 1870
         20-21. ,,Circulair du Comte Beust aux Missions Imperiales et Royales&quot; v. 20.7. 1870. Öster¬
         reich erklärt sich nach dem Beschluß des Ministerrates im deutsch-französischen Kriegfür
<pb/>Nr. 1 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 18. 7. 1870  13

sehen Gesandten11 gegenüber, der sich [sic!] täglich bei ihm anfrage, aussprechen
und die Bewaffnung als Gebot der eigenen Sicherheit und als Mittel darzustellen,
damit unsere Neutralität respektiert werde. Er bitte nun, man möge sich darüber
einigen, wann die Erklärung abzugeben sei. Lange könne man damit nicht zuwar¬
ten, weil sie sich als unmittelbare Folge der französischen Kriegserklärung dar¬
stellen müsse. Preußen rechne übrigens noch immer darauf, durch einen Druck
auf die öffentliche Meinung bei uns es dahin zu bringen, daß wir mit ihm gehen
- mögen wir ihm beruhigende Erklärungen geben oder nicht. Nach weiterer Dis¬
kussion, wobei die Mitglieder der Konferenz ihre Ansicht nochmals präzisierten
und wobei die vom Ministerpräsidenten Grafen Potocki
wie vom Reichsfinanzminister v. Lonyay nochmals venti¬
lierte Frage, ob es nicht genüge, die Mobilisierung nur bis zu einem gewissen
Stadium vorzubereiten, infolge des Bedenkens Seiner k. k. Hoheit
des Erzherzogs Albrecht, daß man auf alles gefaßt sein müsse, da
sich die Verhältnisse von heute aufmorgen ändern können, von Seiner Ma¬
jestät dem Kaiser verneinend beantwortet wurde; wobei ferner
Reichskriegsminister Freiherr v. Kuhn betonte, wie die
Zeitungen heute bei uns nicht die wahre öffentliche Meinung ausdrücken, wäh¬
rend Ministerpräsident Graf Potocki wiederholt hervorhob,
wie notwendig es sei, für die Armierung in den Delegationen eine Stütze zu fin¬
den, und um Zeit bat, um für unsere Politik mit ihren Konsequenzen die cislei-
thanische Regierung in einem für morgen anberaumten Ministerrate zu
gewinnen,12 und Ministerpräsident Graf Andrässy seiner¬
seits bemerkte, daß, wenn eine Erklärung im Sinne des Reichskanzlers erfolgen
solle, dies mit der durch die Umstände gebotenen Beschleunigung erfolgen müs¬
se, damit der weiteren Propaganda in Österreich zu Gunsten des Teutonismus die
Spitze abgebrochen werde, und daß für diese Erklärung ja nur eine Form gewählt
werden möge, die nicht herausfordert; nachdem endlich Reichskanzler
Graf Beust abermals darauf hingedeutet hatte, daß man den Vertretungs-
körpem die von Rußland uns drohende Gefahr nahe legen müsse, geruhten
Seine Majestät der Kaiser in Übereinstimmung mit den heute
abgegebenen Meinungen der Konferenzmitglieder den Ah. Beschluß dahin zu

eine beobachtende, zuwartende Neutralität. Beust erläutert diesen Entschluß in seiner Zirku¬
larnote dahingehend: ,,Diese Haltung schließt jedoch die Pflicht nicht aus, für die Sicherheit
der Monarchie zu wachen und ihre Interessen zu beschützen, indem man sich in die Lage
versetzt, jede mögliche Gefahr abzuhalten.&quot;
Hans Lothar von Schweinitz, 1869 Gesandter des Norddeutschen Bundes.
Cisleithanischer Ministerrat vom 19. 7. 1870 über die Armierung war in den nur sehrfrag¬
mentarisch erhaltenen Brandakten nicht auffindbar. Aber siehe au. Vortrag des k. k. Finanz¬
ministers v. 19. 7. 1870, HHStA., Kab. Kanzlei 2788/1870 und au. Vortrag des k. k. Finanz¬
ministers v. 21. 7. 1870, Ebd., Kab. Kanzlei 2832/1870, womit die Erlassung eines
Ausfuhr- und Durchfuhrverbotes von Waffen, Waffenbestandteilen, Munition und Muniti¬
onsgegenständen angezeigt wird. Ebd., Kab.Kanzlei 2832/1870.
<pb/>14 Nr. 2 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 22. 7. 1870

fassen, daß vorläufig Neutralität beobachtet, zugleich aber mit der bei der Sach¬
lage nötigen Armierung, und zwar zunächst mit den zeitraubenden Vorbereitun¬
gen, nämlich Befestigungsarbeiten und Pferdeeinkäufen, begonnen werden solle.
Den Mächten sei die Neutralität Österreich-Ungams bekannt zu geben und
gleichzeitig mit dieser Deklaration eine die Rüstungen motivierende Aufklärung
zu erteilen. Die Rüstungen sollen mit dem Tage der Neutralitätsdeklaration be¬
ginnen, und es möge Graf Potocki seine Eröffnungen an den cisleithanischen
Ministerrat derart beschleunigen, daß die Deklaration sofort erfolgen könne.

   Schließlich brachte Reichskriegsminister Freiherr v.
Kuhn noch die Frage der Erlassung eines Waffenausfuhrverbotes zur Sprache,
mit Hinweisung darauf, daß die Wemdlsche Fabrik bedeutende Lieferungsaufträ¬
ge aus Rußland erhalten habe.

   Seine Majestät der Kaiser gemhte zu befehlen, daß sich die
betreffenden Ministerien auch darüber, sowie es über das Pferdeausfuhrverbot
bereits geschah, ins Vernehmen setzen sollen,13 und Ministerpräsident
Graf Andrässy erwähnt in letzterer Beziehung, daß er die Formel für die
Publikation des Pferdeausfuhrverbotes bereits nach Ungarn gesendet habe, nach¬
dem die mittlerweile erfolgte Kriegserklärung den Moment herbeigefiihrt habe,
bis zu welchem der ungarische Ministerrat die Publikation verschoben zu wissen
wünschte.

   Womit die Sitzung geschlossen wurde.
                                                                                                   Beust

Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen.
Wien, 27. Juli 1870. Franz Joseph.

           Nr, 2 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 22. Juli 18701

    RS. (und RK.)
     Gegenwärtige: der kgl. ung. Ministerpräsident GrafAndrässy (o. D.), der k. k. Ministerpräsident
Graf Potocki (26. 7.), der Reichskriegsminister Freiherr v. Kuhn (26. 7.), der Reichsfinanzminister
v. Lönyay (28. 7.), der kgl. ung. Minister am Ah. Hoflager Graf Festetics (o. D.).

         Über das Pferdeausfuhrverbot siehe GMR. v. 15. 7. 1870, RMRZ. 66. In: Dm Protokolle des
         GEMEINSAMEN MINISTERRATES DER ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE 1/1 377-381. Ge¬
         mäß Beschluss des gemeinsamen Ministerrates vom 15. Juli wird in beiden Reichshälften ein
         Pferdeausfuhrverbot eingeführt. Siehe MOL. Sektion K-26, 1251/1870, 1761/1870.

         Die Ministerratsdebatte analysiert Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußi¬
         sche Krieg 1870-1871 67 ff.
<pb/>