Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)
EINLEITUNG 1. Außenpolitische Fragen vor dem gemeinsamen Ministerrat Der vorliegende Band beginnt mit Dokumenten, die in der historischen Litera¬ tur schon detailliert behandelt worden sind. Es sind die Protokolle des gemeinsa¬ men Ministerrates vom Juli 1870, besonders das Protokoll vom 18. Juli, in denen die Stellung der Monarchie zum deutsch-französischen Krieg debattiert wurde.1 Bei der Analyse der Beratungen wurde vor allem die Frage gestellt, von welchen Vorstellungen die verschiedenen Interessengruppen bei ihren Entscheidungen über ein außenpolitisches Thema beeinflußt wurden, von dem schon damals of¬ fensichtlich war, daß es entscheidende Bedeutung für die Zukunft des deutschen Staates und für die Neugestaltung Mitteleuropas haben würde. Als Erster hat Ist- vän Diöszegi den Text der Verhandlungen veröffentlicht und zugleich die kriti¬ sche Analyse der früheren Literatur und des Protokolls selbst vorgenommen. Er hat die Entscheidung, die getroffen wurde, in ihrem langfristigen politischen Zu¬ sammenhang untersucht. Er war der Ansicht, im Ministerrat sei zwar die Hof- und die Militärpartei - vertreten selbstverständlich durch die beiden Habsburger, den Herrscher und Erzherzog Albrecht, sowie durch den Kriegsminister Franz Kuhn von Kuhnenfeld - mit einem selbständigen, im Grunde antipreußischen Programm aufgetreten, aber über eine ausgereifte und langfristige Konzeption hätte am ehesten der ungarische Ministerpräsident Graf Gyula Andrässy verfügt (und außer ihm der gemeinsame Finanzminister Menyhert Lönyay, der wenig außenpolitische Kenntnis und Erfahrung besaß). Die ungarische Lobby vertrat den ungarischen liberalen Standpunkt, wogegen die führende politische Kraft der anderen Hälfte der dualistischen Monarchie, die deutschliberale Verfassungspar¬ tei (mit der der 67er Ausgleich geschlossen worden war), von Amts wegen durch den cisleithanischen Ministerpräsidenten Graf Alfred Potocki und außerdem durch Reichskanzler Freiherr Friedrich Ferdinand Beust repräsentiert werden Das Protokoll vom 18. Juli hat erstmals Diöszegi als Anhang zu seiner ungarischsprachigen Monographiepubliziert, später ist sein Buch auch in deutscher Sprache erschienen. Diösze¬ gi, Ausztria-Magyarorszäg es a francia-porosz häborü 1870-1871 257 ff. Diöszegi, Öster¬ reich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 286 ff; Analyse dieses Mini¬ sterrates ebd. 40-67; die wichtigsten Analysen darüber hinaus sind Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches 210 ff; Beyrau, Russische Orientpolitik und die Entstehung des deutschen Kaiserreiches 1866-1870/71 192 ff; Potthoff, Die deutsche Poli¬ tik Beusts von seiner Berufung zum österreichischen Außenminister Oktober 1866 bis zum Ausbruch des deutsch-französischen Krieges 1870-1871 352 ff. || || X Einleitung mußte, der sich auf diese Partei stützte. Heinrich Lutz, in dessen eindrucksvoller Monographie die Textanalyse des Ministerratsprotokolls vom 18. Juli eine ähn¬ lich wichtige Rolle spielt, akzeptiert im großen und ganzen Diöszegis vielleicht etwas starre Kategorien über die Interessengruppen in der Konferenz und auch seine Ansicht, worüber die gemeinsame Regierung in Wirklichkeit bei der besag¬ ten Sommerkonferenz entscheiden mußte. Dennoch macht er wichtige Einwände. Er fragt, ob es eine „Hofpartei" in dem Sinne gegeben hat, wie Diöszegi dies voraussetzt, und weiter, ob die Verfassungspartei im Ministerrat überhaupt ver¬ treten war, nachdem mit der Regierungsumbildung von 1870 und der Ernennung Graf Potockis in der cisleithanischen Innenpolitik eine antiliberale, konservativ- föderalistische Wende eingetreten war. Die Liberalen traten sehr wohl dagegen auf, und ihre Opposition wurde durch den heranreifenden Krieg weiter gestärkt. Diöszegi meint, die Ungarn hätten den deutsch-französischen Krieg gern benützt, um Rußland zurückzudrängen und die orientalische Frage zu lösen oder zumin¬ dest zu verschleppen. Das erkläre, warum der ungarische Ministerpräsident eine nachgiebigere Haltung gegenüber Preußen vorgeschlagen habe (daß nämlich die Monarchie der preußischen Regierung in einer ausdrücklichen Erklärung die Neutralität zusichem solle). Diöszegi hält Andrässys Auffassung für realpolitisch begründet: „1870, im Entstehungsjahr der russisch-slawischen Gefahr, einen Plan zur Neuordnung Deutschlands im Sinne der österreichischen Interessen aufzu¬ stellen, kann nur ein Zeichen der außenpolitischen Blindheit und nicht staatsmän- nischer Genialität sein."2 Lutz dagegen vertritt die Ansicht, 1866-70 hätten zwei Fragen auf der Tagesordnung gestanden, die slawische und die deutsche, beide von grundsätzlicher Bedeutung nicht nur wegen der internationalen Stellung, der Großmachtfunktion der Monarchie, sondern weil sie die inneren Verhältnisse des Habsburgerreiches berührten. Doch der Krieg brach 1870 am Rhein aus und nicht im Osten. Der deutsch-französische Krieg erfüllte die acht Millionen zählende deutsche Bevölkerung der Monarchie mit nationalen Empfindungen. Diese bren¬ nende Aktualität erfaßten die Ungarn im Juli 1870 weniger als die nichtungari¬ schen Teilnehmer des Ministerrates, obwohl man kaum behaupten kann, daß die deutsch-mitteleuropäische Neuordnung für das Reich weniger wichtig war als das russisch-slawische Problem. Beust habe - nach Lutz - die Komplexität der Situation, den Einfluß der Außenpolitik auf die inneren Verhältnisse des Reiches besser verstanden, ja vielleicht als einziger unter den Mitgliedern des Ministerra- tes. Der Kanzler sei fähig gewesen, gleichzeitig die österreichischen (auf die Ge¬ samtmonarchie bezogene) und die deutschen Interessen zu vertreten. Er war sich über die Ambivalenz des Nationalbewußtseins der acht Millionen Deutschöster¬ reicher und auch darüber im Klaren, was das Deutschtum, die deutsche Tradition für die Monarchie bedeutete: Wenn das Habsburgerreich seine Identität bewahren wollte, mußte es die Deutschen für die Monarchie erhalten. Man kann der Erklä¬ rung von Lutz Beusts Vergangenheit und historische Erfahrung hinzufügen. Er 2 Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 63. || || Einleitung XI war es gewesen, der Anfang 1867 den Kaiser davon überzeugt hatte, daß er im Gegensatz zum Standpunkt des seinem Herzen näherstehenden konservativ-fö¬ deralistischen Staatsministers Grafen Richard Belcredi das Reich auf dem deut¬ schen und ungarischen Element bauen müsse. 1870 stand er treu zu dieser Über¬ legung.3 Lutz spricht Andrässy eine gewisse nationale Voreingenommenheit zu und so auch seinem hochangesehenen ungarischen Monographen. Uns aber beschäfti¬ gen hier und jetzt keineswegs die großen Fragen in ihren Zusammenhängen, wir wollen nicht die Erörterungen von Diöszegi, Lutz und anderen widerlegen oder weiterführen, mit denen sie die internationalen und inneren Verhältnisse analy¬ siert haben; uns interessiert der Mechanismus der Entscheidungsfindung, und hier, in diesem Ministerrat von entscheidender Bedeutung, eben auch die Tatsa¬ che, daß die Teilnehmer, die eine bestimmte Weitsicht, politische Auffassung, ein Vorleben, gesellschaftliche und nationale Bindungen hatten - die wir gerade aus den zitierten Aufarbeitungen gut kennen -, jetzt nicht diese vertreten oder nicht nur diese. Als Teilnehmer am gemeinsamen Ministerrat sind sie gemeinsame oder Landesminister, und was uns jetzt interessiert, ist diese Rolle. Die dualistische Einrichtung setzt eine Machtdreiheit voraus: Es gibt das Reich und die zwei ihm in bestimmter Hinsicht untergeordneten Staaten. Das Reich wird vertreten durch die gemeinsame Regierung und den Herrscher, die beiden Staaten durch ihre Minister. Der gemeinsame Ministerrat ist das Forum, in dem sich diese drei Faktoren untereinander abstimmehTDieses System war jedoch im Sommer 1870 noch in fast allen seinen Elementen unsicher. Die politischen Kon¬ zeptionen der beiden berufenen Vertreter der „Gesamtmonarchie", der Habsburg- Dynastie, des Hofes und der Hofpartei einerseits und des in der reichsdeutschen Kultur aufgewachsenen, über deutsche Bindung und Sendung verfügenden, sich auf die Deutschliberalen stützenden Außenministers andererseits, waren im Som¬ mer 1870 unterschiedlich. Nur damals ist es vorgekommen, daß die Hofpartei - als quasi Partei - bei den Ministerratssitzungen erschien (in der Person Erzher¬ zog Albrechts bei drei unter Vorsitz des Kaisers stattfindenden Konferenzen)4 und dort eine von der des Außenministers etwas abweichende Auffassung vertritt. Diöszegi schreibt: Diese Partei hatte sich nicht mit der im Krieg von 1866 erlitte¬ nen Niederlage abgefunden, hatte ihre auf die deutsche Hegemonie gerichteten Pläne nicht endgültig aufgegeben. Im deutsch-französischen Krieg wünschte sie selbstverständlich die Niederlage Preußens, aber sie hatte keine klaren Vorstel¬ lungen darüber, was geschehen solle, wenn Preußen den Krieg tatsächlich verlie¬ ren würde. In der Ministerkonferenz selbst haben die beiden Habsburger nur in militärischen Teilfragen ihre - fachlichen - Ansichten geäußert. Die „Hofpartei" 3 Somooyi, Vom Zentralismus zum Dualismus 90. GMR. v. 18. 7. 1870, RMRZ. 67; GMR. v. 15. 8. 1870, RMRZ. 77; GMR. v. 30. 8. 1870, RMRZ. 81. Danach hatAlbrecht noch ein Vierteljahrhundert dieselbe Funktion inne (Gene¬ ralinspektor des Heeres), nimmt aber niemals mehr am gemeinsamen Ministerrat teil. || || XII Einleitung war keine echte Partei wie die ungarische liberale Partei oder die deutschöster¬ reichische Verfassungspartei, auf die sich Beust stützte. Sie war es selbst dann nicht, wenn wir nicht nur an ihre im Ministerrat erscheinenden „Vertreter" den¬ ken, an den Kaiser, den Erzherzog, an Kriegsminister Kuhn, sondern an ihre ge¬ sellschaftliche Basis, die Aristokratie, den hohen Klerus, das Heer und einzelne Gruppen der Bürokratie. Was dieses Lager zusammenhielt, war ein konservatives und pränationales gesamtösterreichisches dynastisches Staatsbewußtsein. In die¬ ser Gesellschaft mit breiter sozialer und politischer Skala gab es Reminiszenzen einer mitteleuropäischen und deutschen Sendung der Monarchie, doch gelang es weder 1866-70 noch zur Zeit der Krise im Juli 1870, ein durchführbares politi¬ sches Programm auszuarbeiten. Es war Außenminister Beust, der die deutsche Frage kannte, Erfahrungen in der deutschen Politik als einstiger sächsischer Mi¬ nister und österreichischer Außenminister und dann Kanzler gesammelt hatte, der genau spürte, daß das Habsburgerreich, wenn es seine Identität erhalten wollte, keine Außenpolitik betreiben konnte, die die Deutschösterreicher verletzte. Also "mußte den Preußen eine versöhnliche Geste gemacht und dies bei ailen Teilneh¬ mern des gemeiüsamen Ministerrates durchgesetzt werden: bei der Hofpartei, der cisleithanischen Regierung, die damals (zur Zeit der Potocki-Regierung) bei wei¬ tem kein Vertreter der deutschen Interessen war.5 Und auch Andrässy (oder die ungarische liberale Partei) mußte dies akzeptieren, der selbst ebenfalls, ja sogar als einziger eine dezidierte außenpolitische Konzeption auf stabiler sozialer und natmnaler Basis^S^aß (Russenge^efschäft, dynamische Ostpolitik), die zwar mit den Interessen des Reiches übereinstimmte, aber spezifisch ungarisch betont war.6 Beust mußte seinen Standpunkt zur Geltung bringen in einer so schwerwie¬ genden Entscheidungssituation, wie sie kein Außenminister bis 1914 mehr zu bewältigen hatte: Der traditionell deutschsprachige Vielvölkerstaat, an dessen Spitze ein deutscher Fürst stand, mußte seinen Platz im sich neugestaltenden Mitteleuropa finden, zu einem Zeitpunkt, an dem die inneren Kräfte- und Interes¬ senverhältnisse unsicher und unartikuliert waren, die berufenen Vertreter des Reichsinteresses nicht einmal untereinander völlig einig waren und an dem der Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern im katholischen Österreich ein deutscher Protestant aus der Fremde war, zugleich im Bündnis und im ununter- Potocki spricht im Ministerrat ganz offen von der Geteiltheit der cisleithanischen Bevölke¬ rung, davon, daß die deutschen Länder Sympathiefür Deutschland, dagegen er persönlich (und offensichtlich das hinter ihm stehende slawisch-föderalistische Lager) für Frankreich empfinden. GMR. v. 18. 7. 1870, RMRZ. 67. Es ist vielleicht nicht uninteressant, daraufhinzuweisen, daß Beust im Ministerrat eine aus¬ gesprochene Aufforderung richtet er« jene Ratgeber der Krone ... welche den inneren Ele¬ menten näher stehen als der Minister des Äußern, die Schritte der Außenpolitik aus der Sicht der inneren Verhältnisse zu beurteilen. Potocki tut das auch (siehe Anm. 5), Andrässyjedoch tut sehr weise daran, seine eigene Konzeption nicht als Teilinteresse erscheinen zu lassen, sondern als politische Überlegung, die als einzige den Interessen der „Gesamtmonarchie" entspricht. || || Einleitung XIII brochenen Konflikt mit den beiden führenden Nationen des Reiches. -- Der Mini¬ sterrat vom 18. Juli ist nur in diesem Zusammenhang interpretierbar.7 Schließlich stimmte der Ministerrat vom 18. Juli für die bewaffnete NeutraH- tät: „Seine Majestät der Kaiser geruhten in Übereinstimmung mit den heute ab¬ gegebenen Meinungen der Konferenzmitglieder den Ah. Beschluß dahin zu fas¬ sen, daß vorläufig Neutralität beobachtet, zugleich aber mit der bei der Sachlage nötigen Armierung, und zwar zunächst mit den zeitraubenden Vorbereitungen, nämlich Befestigungsarbeiten und Pferdeeinkäufen, begonnen werden solle." Die folgenden Wochen vergingen mit den Kriegsvorbereitungen. Binnen nicht ganz dreier Wachen wurden zehn Beratungen abgehalten (in der ersten Jahres- ~HHfte insgesamt drei). Die "Gegenstände der Beratungen waren: Sicherung der finanziellen Deckung der Kriegsvorbereitungen, Befestigungsarbeiten, Eisen¬ bahnbau und umfangreicher Pferdeankauf. Der Ministerrat vom 4. August faßt den Beschluß der Mannschaftseinberufung. Die Monarchie bereitet sich dem¬ nach aufKrieg vor und rechnet mit Ausnahme von Kriegsminister Kuhn mit dem Sieg der Franzosen. Am 5. August trifft in Wien die erste Nachricht der französi- .sehen Niederlage ein. Die österreichische Regierung bemüht sich, die Spuren der 'Kriegsvorbereitung verschwinden und ihre diplomatischen Partner glauben zu lassen, daß ihre bisherigen Schritte Friedens-Verteidigungszwecken dienten.8 Die Kriegsvorbereitungen werden also nicht eingestellt. Im Ministerrat vom 7. August hält es der Kaiser für unstatthaft, daß man auf die erste französische Niederlage hin vor der Durchführung der bereits angeordneten Maßnahmen zurückschreckt; wie die Dinge sich auch gestalten mögen, muß man auf sie vorbereitet sein. Der Ministerrat hält also unverändert an dem begonnenen Festungsbau und der Beschleunigung des Baues der Nordostbahn fest - unter Betonung ihres Verteidi¬ gungscharakters.9 Eine gewisse politische Wende wird erstmals im Ministerrat vom 22. August erkennbar. Der Hintergrund der die Wende herbeiführenden DipldmatiFwurde'' von Diöszegi und Lutz detailliert aufgeklärt.10 Nach dem preußischen Sieg bemü¬ hen sich England und auch Rußland, eine neue Beziehung mit Österreich aufzu¬ bauen. England bietet Österreich den Beitritt zu der mit Italien und Rußland ge¬ schlossenen Neutralitätserklärung an, „welche dahin gehe, durch einen einfachen Notenaustausch das Prinzip auszusprechen, daß keine der beteiligten Mächte aus ihrer Neutralität heraustreten solle, ohne es vorher den übrigen Mächten anzuzei¬ gen". Und Rußland fordert Österreich zur Mitwirkung am Schutz der französi- 7 Über alles eingehender Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches 210-222, weiter Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Mon¬ archie 1867-1906 151-154. 8 Dioszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 102-103. 9 GMR. v. 7. 8. 1870, RMRZ. 74; GMR. v. 13. 8. 1870, RMRZ. 76; GMR. v. 15. 8. 1870, RMRZ. 77. 10 Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches 238 ff.; Diöszegi, Öster¬ reich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 131-146. || || XIV Einleitung sehen Integrität auf (zur gemeinsamen Abwehr der Folgen der preußischen Erfol¬ ge), ein Schritt, der in Kenntnis des Vorausgegangenen nicht wenig überrascht. Obwohl Beust - wie Diöszegi schreibt - die Auffassung teilt, daß der preußische Besitz Elsaß-Lothringens Österreich bis zu einem gewissen Grade vom norddeut¬ schen Druck entlasten würde, hält er dennoch mit Rücksicht auf die späteren Verhältnisse den Schutz der französischen Integrität für die richtigere Politik. Die Annäherung an Rußland hat selbstverständlich innenpolitische Vorausset¬ zungen. Es hat den Anschein, daß Beust bei der Lösung der innenpolitischen In¬ teressengegensätze sehr bereitwillig ist. In bezug auf Polen betont er zwar, daß die Monarchie dies als ihre innere Angelegenheit betrachtet, ist aber doch zu der Erklärung bereit, „daß wir keineswegs eine Insurrektion Polens beabsichtigen". Demgegenüber wünscht er, daß Rußland in der tschechischen Frage eine ähnliche Geste setzte, also „Rußland seine Gemeinschaft mit den tschechischen Bestre¬ bungen desavouire". Das dritte Element des Beustschen Vortrages im Ministerrat ist das vorläufige Bewendenlassen bei den bisherigen militärischen Vorkehrungen. „Seine Vorlage vom 22. August war nicht Bestandteil irgendeines größeren politischen Pro¬ gramms, diente lediglich dazu, daß die Monarchie die Zeit des preußischen Über¬ gewichts überstand, bis sich günstigere Umstände ergaben."11 Das Programm von Beust wurde am schärfsten vom ungarischen Ministerprä¬ sidenten kritisiert. Seiner Ansicht nach kann die Annäherung Rußlands nicht als dauerhafte politische Tendenz verstanden werden (und die Entwicklungen der folgenden Wochen belegten den Vorbehalt des ungarischen Ministerpräsidenten). „Es sei auch möglich, daß Rußland uns nur vorschieben wolle, um Preußen zu bedrohen oder um durch uns die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen." Er hält die Zurückhaltung bei der Bewaffnung für unstatthaft und ebenfalls, daß von den Russen eine Erklärung (bezüglich der Tschechen) erbeten wird, was eine Einmischung in unsere Angelegenheiten wäre. Zurückweisen will aber auch Andrässy die russische Annäherung nicht. Der unter Vorsitz des Kaisers abgehaltene Ministerrat hat unbestritten über weitreichende Fragen beraten: ^Österreich-Ungarns fernere Politik". Es war eine Befätungpelh Gedänkenaustausch im wahren Sinne des Wortes. Der Herrscher bringt ungewöhnlich zurückhaltend nur seine Fragen und Unsicherheiten zum Ausdruck. Die Ministerberatung trifft keine Entscheidung und das Ergebnis der Besprechung faßt nicht der Kaiser zusammen, sondern der Reichskanzler: Sie akzeptieren das Neutralitätsangebot Englands, erwidern Rußlands Annäherung und werden den Schutz der Integrität Frankreichs unterstützen.12 Andererseits Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 142. Diese Unterstützung istjedoch verhalten. Denn der Herrscher sagt im Ministerrat: Eine wei¬ tere Frage sei nun die Integrität Frankreichs. Es sei klar, daß wir dieselbe bei den Friedensver¬ handlungen befürworten müssen, aber fraglich, ob dies mit besonderer Wärme geschehen solle und ob es nicht vielmehr in unserem Interesse liege, wenn Preußen seinem Staatskörper einen Bestandteil einfüge, dessen Besitz kein ruhiger und imverbitterter sein würde. || || Einleitung XV lehnt der Ministerrat den Vorschlag des Außenministers zur Einstellung der Be¬ waffnung und besonders die Eventualität ab, daß den Russen ermöglicht wird, sich in innerösterreichische Angelegenheiten einzumischen (d. h. in bezug aufdie tschechischen Bestrebungen eine Erklärung abzugeben). Nach dem Ministerrat vom 22. August werden demnach keine Maßnahmen zur Abrüstung beschlossen. Am 30. August bewilligt der Ministerrat 50 Millio¬ nen Gulden für die außerordentlichen Militärausgaben im Jahr 1870. Kuhn rech¬ net auch weiter mit der Möglichkeit eines Krieges gegen Preußen, obwohl Beust in der unter dem Vorsitz des Kaisers abgehaltenen Beratung vom 11. September sagt: „Über die zukünftige politische Gestaltung lasse sich heute nichts Bestimm¬ tes sagen, am wenigsten könne man einen Krieg als gewiß in Aussicht stellen, aber schon der Zweifel an der Erhaltung des Friedens genüge zur Einleitung der notwendigen Rüstungen." Ende September ändert sich die internationale diplomatische Atmosphäre. Rußland kehrt zu seiner früheren preußenfreundlichen Außenpolitik zurück. Eng¬ land und auch Rußland schlagen der französischen republikanischen Regierung die Annahme der deutschen Friedensbedingungen vor. Reichskanzler Beust und mit ihm die österreichische DipIpmatie müssen langsam die unabänderliche Tat¬ sache der Entstehung des einheitlichen Deutschlands zur Kenntnis nehmen.13 'Aber diese Veränderung hinterließ keine Spuren in dien Ministerratsprotokollen. Wie unsicher die Kompetenz des gemeinsamen Ministerrates war, beweist nichts besser, als daß lange Wochen hindurch im gemeinsamen Ministerrat kein Wort über die für die österreichisch-ungarische Monarchie entscheidenden internatio¬ nalen Veränderungen fallt. Lutz schreibt: „Von den Quellen her fallt auf, daß damals auf österreichischer Seite die deutsche Frage und das Ringen um Süd¬ deutschland wohl in den diplomatischen Korrespondenzen und in der Öffent¬ lichkeit, nicht aber in dem Entscheidungsgremium des gemeinsamen Ministerra¬ tes zur Sprache kamen. Beust hatjinscheinend diese Dinge absichtlich aus dem hier drohenden Streit der Meinungen herausgehalten."14 Man kann sogar sagen, daß Beust den gemeinsamen Ministerrat des mit inneren Problemen und gegen¬ sätzlichen Interessen ringenden Reiches auf keinen Fall als Forum betrachtete, von dem er für die schicksalhaften Schritte seiner Außenpolitik Unterstützung erwarten konnte. Die Entwicklung der internationalen Lage kam direkt (also nicht als bloßer Hinweis im Zusammenhang mit Budgetfragen) im Laufe des Herbstes erstmals in der unter Vorsitz des Kaisers abgehaltenen Konferenz am 6. November zur Am 23. November unterzeichnet Bayern und am 25. November Württemberg den Verfassungs¬ vertrag, womit im Wesentlichen die deutsche Vereinigung abgeschlossen ist. Am 25. November informiert Bismarck Beust: Die vier Süddeutschen Staaten haben Verträge abgeschlossen über ihre nationale Verbindung mit Norddeutschland. Bismarck stellte Österreich vor vollendete Tatsachen. Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 146-179; Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches 284--308. Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches 285. || || XVI Einleitung Sprache. „Politische Mitteilungen des Reichskanzlers" lautet der Gegenstand des Ministerrates in der Formulierung des Sektionsrates Freiherm von Konradsheim. Wir wissen, daß mit „politischer Frage" die internationale Politik gemeint war. Beust meldet, daß die Konsuln aus Jassy und Odessa Berichte über russische Bewaffnung gesandt hätten. Über die vorwiegend militärisch zu betrachtende Angelegenheit entfacht sich eine Diskussion zwischen Kriegsminister Kuhn und Kanzler Beust (der ungarische Ministerpräsident ist gar nicht anwesend, ihn ver¬ tritt der in der großen Politik unerfahrene ungarische Minister am Ah. Hoflager). Kuhn steht auf dem Standpunkt, daß zwischen Preußen und Rußland weitgehen¬ de Abmachungen bestehen, und wenn ersteres mit Frankreich nur erst fertig sein werde, so werde sicherlich die Frage des Pariser Vertrages von Rußland wieder angeregt und speziell die Frage des Schwarzen Meeres in den Vordergrund ge¬ stellt werden. Beust bestreitet dies. Er sagt, mit einem zweiten Krimkrieg sei si¬ cher nicht zu rechnen. Er hält eher die Lage Rumäniens für besorgniserregend: Fürst Karl stehe auf schwachen Füßen und Preußen wolle dann mit russischer Hilfe für Karl Ordnung schaffen. Rußland könne in die rumänischen Fürstentü¬ mer einmarschieren und die Frage sei, was die Monarchie dann tun solle: Entwe¬ der marschiere man auch selbst gleichzeitig mit den Russen ein oder betrachte den Einmarsch der Russen als Casus Belli. Der Ministerrat entscheidetjedenfalls, den einen Tag zuvor beschlossenen Truppenabbau vorerst aufzuschieben.15 Am 9. November trifft dann die Note des russischen Außenministers Gortscha- kow mit der einseitigen Kündigung der Schwarzmeerklauseln des Pariser Vertra¬ ges ein. Die orientalische^Fise meldete sich also schon, bevor der deutsch¬ französischeHKrieg zu Ende gegangen war. Wie auch immer es um die preußisch-russischen Beziehungen gestanden haben mochte, ob es „weitgehende Abmachungen" zwischen beiden Mächten gab, worüber Kuhn einige Tage zuvor im Ministerrat gesprochen hatte, oder nicht: Die Monarchie war in eine sehr schwierige Lage geraten. Das Ausstrecken diplomatischer Fühler in Richtung Preußen im Laufe des September und Oktober - von dem es in den Ministerbera¬ tungen keine Spur gibt - hatte die Pontuskrise unmittelbar beeinflußt. Der latent vorhandene Zusammenhang zwischen deutscher und orientalischer Frage war jetzt offenkundig geworden.16 Aml4.NovemberbehandeltederMinisterrat„RußlandsneuesteZirkulamote".17 In der Beratung zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen den außenpoli- GMR. v. 6. 11. 1870, RMRZ. 90. Mannschaftsentlastung bei der Infanterie: GMR. v. 5. 11. 1870, RMRZ. 89. Gegenstand: IV. Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches 351-352. GMR. v. 14. 11. 1870, RMRZ. 91. Den Ministerrat analysieren in weiterem internationalem Zusammenhang Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870- 1871 179-194; Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches 342-370; Palotäs, A nemzetközi Duna-hajözäs a Habsburg-Monarchia diplomäciäjäban 1856-1883 45-50. Die Erörterungen hier beschränken sich aufden Text des Ministerratsprotokolls und darauf, wie der Beschluß des Ministerrats zustande kommt. || || Einleitung XVII tischen Konzeptionen Beusts und Andrässys („...entspann sich nun eine längere Diskussion, an welcher sich zumeist der Reichskanzler und der ungarische Mini¬ sterpräsident beteiligten"). Zwar stimmten beide und auch die übrigen Konfe¬ renzteilnehmer darin überein, daß man Rußlands Vertragsbruch zurückweisen und sich an der Haltung Englands orientieren müsse. Andrässy wollte aber mehr als das, er wollte einen kollektiven Protest der Mächte mit Beteiligung Preußens gegen den russischen Vertragsbruch erreichen. Wenn es gelänge, Preußen und Rußland in dieser Frage voneinander zu trennen, wäre das ein großes Ergebnis der Diplomatie.18 Beust aber glaubte nicht daran, daß man die beiden Länder ge¬ geneinander ausmanövrieren könne. Er meinte und - wie aus der historischen Literatur bekannt -- wußte, daß die russische Note keineswegs eine unüberlegte Sache war, sondern daß sie auf der Unterstützung Preußens beruhte. Die Mini¬ sterkonferenz lehnte schließlich Andrässys Überlegung ab, daß die Trennung Rußlands und Preußens möglich wäre. Besonders Kuhn warnte vor einer drohen¬ den Haltung gegenüber Rußland. So nahm also der Ministerrat einen abwarten¬ den Standpunkt ein: Er lehnte nicht nur die Möglichkeit des Kollektivprotestes ab, sondern auch eine Kongreßinitiative (vor ihr warnte auch Franz Joseph selbst)19. Er beschloß, man müsse mit England und dem Osmanischen Reich ver¬ handeln und - für jeden möglichen Fall vorbereitet - eine gewisse Kriegsbereit¬ schaft aufrechterhalten. Sehr bald wurde es offensichtlich, daß die englische Regierung die Gortscha- kow-Note zurückwies und Rußlands Vorgehen, und zwar die Form, in der Ru߬ land die einseitige Kündigung des Pariser Vertrages ausgesprochen hatte, für in¬ akzeptabel hielt.20 Hätte sich Rußland mit der Bitte um die Revision des Vertrages an England gewandt, würde man dessen Prüfung, in Zusammenarbeit mit den übrigen Signatarmächten, für möglich gehalten haben. Preußen hält den Zeitpunkt des russischen Auftretens für ungünstig, will aber den Anschein vermeiden, es ließe sich gegen Rußland einnehmen. Bismarck äu¬ ßert gegenüber seinem britischen Verhandlungspartner: Es ist offensichtlich, daß die Artikel des Pariser Vertrages bezüglich des Schwarzen Meeres für Rußland unerträglich und unvereinbar mit seiner Großmachtstellung geworden sind. Im Laufe der Besprechungen erinnert er daran, daß die Briten (Palmerston) von An¬ fang an dieser Meinung gewesen seien und daß Beust 1867 einen ähnlichen Standpunkt vertreten habe. Preußen habe den Krieg, zu dem es infolge des fran¬ zösischen Angriffs gekommen sei, noch nicht beendet, und deshalb sei der Zeit- In seiner nachträglichen Korrektion des Ministerratsprotokolls bestätigt er: eine bloße Tren¬ nung Preußens von Rußland in dieser Frage sei schon ein sehr großes Resultat, welches in der nahen Zukunft die weittragendsten Folgen haben könne. „Seine Majestät der Kaiser hatte die Gnade, sich gleichfalls dahin auszusprechen, daß man streng nach dem Vertrage Vorgehen und sich nicht auf ein Terrain begeben solle, auf welches uns die übrigen Mächte möglicherweise nicht folgen." Siehe Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 195- 196. || || XVIII Einleitung punkt der Aufkündigung des Vertrages nicht günstig. Aber es wolle die Vorgangs¬ weise einer mit ihm in freundschaftlichem Verhältnis stehenden Macht nicht kritisieren. Er schlägt vor, daß die Signatarmächte des Pariser Vertrages zur Re¬ gelung der entstandenen Fragen zusammentreten.21 Da die Engländer seinen Standpunkt günstig aufhehmen, erbittet Bismarck die Meinung der Russen über den Konferenzplan und schlägt als Austragungsort St. Petersburg vor. Nach der englischen und preußischen günstigen Aufnahme der russischen Note konnte auch die Monarchie nicht mehr bei ihrer früheren ablehnenden Hal¬ tung bleiben. „Wir sind dagegen, daß Petersburg zum Konferenzort gewählt wird" - schreibt Beust am 25. November an den Londoner Botschafter Apponyi -, „aber wir haben nichts dagegen, daß sie in einer anderen Stadt stattfindet."22 Nach der einwilligenden österreichischen Antwort vom 25. November bestand kein Hin¬ dernis mehr, daß die Großmächte mit den Vorbereitungen zu der Konferenz be¬ gannen, die zur Lösung der Pontuskrise berufen war. Nach Verwerfen des Schau¬ platzes St. Petersburg fiel die Wahl auf London. Beust machte zwar noch den Versuch, eine Vorkonferenz einzuberufen, in der die Beauftragten Englands, Ita¬ liens und der Türkei die gemeinsame Richtlinie erarbeiten sollten, die in der Kon¬ ferenz zu verfolgen wäre (dieser Vorschlag wird im gemeinsamen Ministerrat vom 14. November besprochen), England aber wollte sich nicht ohne die Preußen und hinter ihrem Rücken in diplomatische Verhandlungen einlassen, so daß dann der Plan der Vorkonferenz von der Tagesordnung verschwand. Am 17. Dezember behandelt der gemeinsame Ministerrat in Wien die öster¬ reichischen Grundprinzipien, die in der Londoner Konferenz vertreten werden sollen. An der Konferenz unter Vorsitz des Herrschers nehmen außer den gemein¬ samen Außen- und Kriegsministem nur der ungarische Ministerpräsident und der Leiter der Marinesektion im Kriegsministerium, Vizeadmiral von Tegetthoff teil. Es ist nicht wahrscheinlich, daß der dritte gemeinsame Minister Lönyay und der cisleithanische Ministerpräsident Potocki deshalb nicht anwesend waren, weil sie auf ihrer ursprünglichen, im Ministerrat vom 14. November vertretenen konzili¬ anten Auffassung gegenüber Rußland beharrten und nicht an der Ausarbeitung der antirussischen Politik teilnehmen, ihr aber auch nicht im Wege stehen wollten - wie das Diöszegi in der oft zitierten hervorragenden Monographie annimmt.23 Am gemeinsamen Ministerrat nehmen diejenigen teil, die zu ihm einberufen wer¬ den. Auch die Annahme, daß die, von denen die Einladung abhing, also der Herr¬ scher und der Außenminister, Lönyay und Potocki deshalb nicht einberiefen, weil sie keinen Standpunkt hören wollten, der von ihrem eigenen abwich, ist nur eine Hypothese. Sicher ist, daß die Richtung der Außenpolitik vom Außenminister, in Die Verhandlungen Bismarcks und des englischen Unterstaatssekretärs Udo Rüssel: Dm grosse Politik der europäischen Kabinette 1871-1914, Bd. 2 13-16. Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 205. Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 211-212. Diöszegi schrieb dieses Buch ursprünglich ungarisch in den 1960er Jahren, lange bevor er und andere systematisch die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates untersuchten. || || Einleitung XIX gewisser fachlicher Hinsicht vom Kriegsminister und von Graf Gyula Andrässy festgelegt wurde -- von letzterem auf Grund seiner besonderen Stellung, die er seinem persönlichen Prestige, seiner außenpolitischen Informiertheit und mar¬ kanten Anschauung sowie der Tatsache verdankte, daß er der ungarische Mini¬ sterpräsident war. Diese Position war in der Außenpolitik wichtiger als die Stel¬ lung des österreichischen Ministerpräsidenten.24 Wahrscheinlich war der Einfluß des ungarischen Ministerpräsidenten in der Außenpolitik auch in den späteren Jahrzehnten, als sich die Machtverhältnisse in Cisleithanien klar herausgebildet hatten, größer als die seines österreichischen Kollegen. 1870-71 war die Lage anders: Österreich suchte seinen Platz im (nach der Verwirklichung der deutschen Einheit) neuen Europa zu einer Zeit, als die Lage der Deutschen in den im Reichs¬ rat vertretenen Königreichen und Ländern völlig unsicher war. Beust konnte beim ungarischen Ministerpräsidenten - ungeachtet ihrer gelegentlichen Gegensätze, unterschiedlichen Lagebeurteilungen und Andrässys fallweise ausgesprochen ge¬ gen Beust gerichteten Tätigkeit - und bei der ungarischen politischen Elite Unter¬ stützung für seine Außenpolitik finden. Das ist reichlich in den zitierten Werken von Diöszegi, Lutz und Beyrau nachzulesen. Dennoch muß bei der Untersuchung des Mechanismus der Entscheidungsfindung betont werden: Das Wesen des dua¬ listischen Systems ist, daß der Außenminister seine Außenpolitik unter Einbezie¬ hung der Ministerpräsidenten beider Staaten gestaltet; daß aber der Einfluß der beiden Ministerpräsidenten gleich wäre, davon ist weder im Text der Gesetze noch in der politischen Alltagspraxis die Rede. Die Beratung vom 17. Dezember leitet Beust ein: Es muß bestimmt werden, welche Instruktion für den k. u. k. Botschafter bezüglich der Haltung Österreich- Ungams auf der bevorstehenden Konferenz zur Regelung der Pontusfrage zu ge¬ ben sei. Beust skizziert zu allererst die entstandene Lage. Er rechnet damit, daß die an der Londoner Konferenz teilnehmenden Staaten Artikel 14 des Pariser Vertrages als gültig betrachten, daß nämlich der Pariser Vertrag nur mit Unterstüt¬ zung der übrigen Signatarmächte geändert werden kann. Das ist auch der Stand¬ punkt der Monarchie. Es sei eine Haltung auszuarbeiten, die in ihrer Form Ru߬ lands Empfindlichkeit nicht verletzt, man werde also nicht die formelle Zurücknahme der Note Gortschakows verlangen. Was das Meritum der Sache betrifft, schlage er jedoch eine nachdrückliche Stellungnahme vor. Der Kem des Vorschlags ist, daß man im Falle einer mit dem Einverständnis der Großmächte durchgeführten Revision des Pariser Vertrages der Pforte das Recht der 'fakulta- Cisleithanien kannte kein Einverständnis und keine Zustimmung ihrer Regierung in bezug aufdie gemeinsame Außenpolitik, wie es GA. XII/1867, § 8,_/wr Ungarn vorschrieb. Im De¬ legationsgesetz hieß es in § 5 nur: Die Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten wird durch ein gemeinsames verantwortliches Ministerium besorgt [...]. Möglicherweise war ge¬ rade dieser Unterschied in den beiden Ausgleichsgesetzen in der Anfangsphase bedeutender als später, als sich das dualistische System auch paritätisch eingespielt hatte. Hier danke ich Anatol Schmied-Kowarzik, daß er meine Aufmerksamkeit aufden Unterschied beider Dele¬ gationsgesetze lenkte. || || XX Einleitung tiven Öffnung' der Meerengen zugesteht, wobei den Nicht-Anrainer-Staaten des Schwarzen Meeres die Durchfahrt einer bestimmten Anzahl von Kriegsschiffen gewährt werden muß. Diese sollte sich nach der maritimen Stärke Rußlands im Schwarzen Meer richten. Weiter verlangt man die eventuelle Erhöhung der An¬ zahl der Stationsschiffe an der Donaumündung und den Fortbestand der Europäi¬ schen Donaukommission mit dem Zusatz, eine Schiffgebühr zu erheben, um mit deren Einnahme die Hindernisse der Schiffahrt am Eisernen Tor zu beseitigen. Die Instruktion für die Londoner Konferenz oder anders formuliert, der Mini¬ sterrat vom 17. Dezember, ist wegen des außenpolitischen Inhaltes und auch for¬ mal (aus der Sicht der Beschlußfassung) außerordentlich wichtig: 1. Dies ist viel¬ leicht der erste Ministerrat, der (auch wenn nicht expressis verbis) die veränderten mitteleuropäischen Verhältnisse und Preußens bestimmende Rolle akzeptiert und nicht mehr damit rechnet, daß Rußland und Preußen auseinander gebracht wer¬ den können. 2. Jetzt wird die orientalische Frage tatsächlich zum zentralen au¬ ßenpolitischen Thema der Monarchie, was sie im denkwürdigen Ministerrat vom 18. Juli natürlich noch nicht gewesen war. 3. Was die Beschlußfassung betrifft: Am 17. Dezember tagt eine dem Parlament verantwortliche gemeinsame Regie¬ rung (oder etwas dieser ähnliches). Der Außenminister trägt vor, die Teilnehmer diskutieren darüber, und die Konferenz faßt mit Genehmigung des Kaisers einen Beschluß. Eine den Delegationen bis zu einem gewissen Grade verantwortliche Regierung entscheidet über eine außenpolitische Frage, konkret darüber, welche Instruktion dem Vertreter der Monarchie bezüglich des zu befolgenden Stand¬ punktes in einer internationalen Konferenz gegeben werden solle, eine Instrukti¬ on, die dann in den diplomatischen Correspondenzen veröffentlicht werden wird, also für die parlamentarische Öffentlichkeit bestimmt ist.25 Wir wissen, daß sich Beust des Wertes derartiger Gesten genau bewußt war.26 Für die Rolle des konsti¬ tutionellen Ministers brauchte er sie aus inneren Gründen (um die deutschöster¬ reichischen Liberalen zu gewinnen) und zugleich, um sich die Sympathie der li¬ beralen deutschen Mittelstaaten zu sichern. Aus der Geschichtsliteratur wissen wir, daß die Angelegenheit der an Apponyi zu sendenden Instruktion mit dem Ministerratsbeschluß vom 17. Dezember nicht abgeschlossen ist.27 Am 13. Januar findet eine erneute Beratung statt, jetzt auch mit der eindeutigen Themenbezeichnung „Die Donauffage", also darüber, welche Anweisung dem in der Londoner Konferenz verhandelnden österreichisch-unga¬ rischen Botschafter konkret in der Donaufrage gegeben werden soll. Auch das ist ein regulär registrierter Ministerrat, allerdings mit unüblichen Teilnehmern. Außer dem Außenminister als Vorsitzendem sind Andrässy und Auswärtige Angelegenhiten. Correspondenzen des kaiserlich-königlichen Ministeriums des Äußern vom November 1866 bis 1872, Bd. 5 11 ff. Somogyi, Die Delegationen als Verbindungsinstitution zwischen Cis- und Transleithanien 1159-1162. Palotäs, A nemzetközi Duna-hajözäs a Habsburg-Monarchia diplomäciäjäban 1856-1883 48-50. || || Einleitung XXI zwei ranghohe Beamte des Außenministeriums anwesend, Sektionschef Bela Or- czy und Hof- und Ministerialrat Gagem. Es ist eine ausgesprochene Fachbera¬ tung zur Vorbereitung jener Konferenz, zu der man dann den cisleithanischen Ministerpräsidenten einlädt sowie die beiden Handelsminister, da die Frage in ihre Kompetenz fallt. Interessant ist Andrässys Vorschlag, auch den ungarischen Verkehrsminister zu der geplanten Konferenz einzuladen, da die hier zu verhan¬ delnden Fragen das Verkehrswesen tangieren, doch sollen die beiden ungarischen Fachminister - sagt Andrässy - dann nur ein Votum abgeben. Hat er tatsächlich für möglich gehalten, daß der gemeinsame Ministerrat in irgendeiner Sache durch Abstimmung beschließt? - Wahrscheinlich weist er eher nur darauf hin, daß er kein ungarisches Übergewicht in der als vorwiegend ungarische Angelegenheit betrachteten Donaufrage beansprucht. Andrässy ist der Auffassung, der Pariser Vertrag enthalte Bestimmungen über die Neutralität des Schwarzen Meeres und über alles, was mit derselben unmittel¬ bar in Verbindung stehe. Dahin gehöre die Donaufrage in ihrem ganzen Umfan¬ ge. Beust meint, der Zusammenhang beider Dinge werde in London schwer zu beweisen sein, man müsse eher so auftreten, daß, falls man die Aufhebung der Neutralität des Schwarzen Meeres anerkenne, im Tausch für diese Konzession eine andere Konzession fordere. Dem widerspricht Andrässy: „Die Feststellung einer allgemeinen Entscheidung über unser Donaugebiet widerspreche der Würde Österreich-Ungams nicht minder als die Neutralisierung des Schwarzen Meeres der Dignität Rußlands. Letzteres sei an sich nicht anzuerkennen, habe man es aber einmal als Prinzip aufgestellt, so biete es von selbst den Anknüpfungspunkt für die Haltung Österreichs. Hier liege der Kausalnexus zwischen beiden Fragen, und dieser Nexus sei eben zu benützen und auszubeuten." Es kommt zu einer seltsamen Rollenverteilung in der Konferenz. Beust möch¬ te eine taktische Anweisung formulieren, Gagem weist auf die internationalen Rechtsprobleme hin, die von den seit 1856 geänderten Verhältnissen herrühren (nämlich vom Anschluß der süddeutschen Staaten an Preußen, von der Vereini¬ gung der mmänischen Fürstentümer), und der ungarische Ministerpräsident ent¬ wickelt eine Konzeption der großen Politik. Im Grunde unterscheiden sich Rolle und auch Rollenverständnis aller drei aktiven Teilnehmer (Orczy kommt kaum zu Wort) voneinander. Schließlich erhält Gagem die Aufgabe, im Geiste des Ministerrates eine Voll¬ macht für Botschafter Apponyi zu verfassen, deren Text dann Gegenstand des nächsten Ministerrates (am 17. Januar) sein solle. Den 13. Januar können wir nicht als regulären gemeinsamen Ministerrat betrachten, nicht nur wegen seiner seltsamen Zusammensetzung, sondern auch, weil in ihm kein Beschluß gefaßt wird, der Außenminister nicht das Ergebnis der Beratung zusammenfaßt, sondern es einem Fachexperten überläßt, was dann Gegenstand des folgenden Ministerra¬ tes werden wird. Es ist eine Fachkonferenz, die - man kann auch sagen - zufällig || || XXII Einleitung bei den gemeinsamen Ministerratsprotokollen registriert wird.28 Genauso hätte es eine im Außenministerium abgehaltene Fachkonferenz sein können, selbst dann, wenn der ungarische Ministerpräsident eine weitreichende außenpolitische Kon¬ zeption, ein außenpolitisches Bekenntnis, ein Zukunftsprogramm entwickelt. Der Besprechung im kleinen Kreis vom 13. Januar folgt vier Tage danach ein richtiger gemeinsamer Ministerrat. Der Entwurf der Instruktion und die dann an Apponyi gesandte Instruktion spiegeln das Konferenzergebnis genau wider.29 Die Instruktion legte als Grundprinzip fest: Österreich-Ungarn stimmt nur dann der Beseitigung der Neutralität des Schwarzen Meeres, also der von Rußland ge¬ wünschten Aufhebung der Pontus-Klausel zu, wenn die offenen Donaufragen „befriedigend" geordnet werden. In der Besprechung am 13. Januar hatte Beust die Argumentation noch als imbelegbar bezeichnet, in der Instruktion vom 19. Januar erörterte er bereits selbst, welch enger Zusammenhang zwischen Artikel 11 des Pariser Vertrages (der Pontus-Klausel) und Artikel 21 der Acte Public vom November 1856, der Neutralität der Institution der Europäischen Donaukommis¬ sion, bestehe; wenn der eine aufgehoben werde, müsse auch der andere geändert werden. Österreich habe 1856 ein Opfer gebracht, als es einwilligte, daß die ge¬ samte Donau als Fluß gemäß der Konvention gelte, und ein ähnliches Opfer sei es gewesen, eine gewisse Art von Kontrolle der Nicht-Uferstaaten über den gan¬ zen Fluß zu akzeptieren; als Gegenleistung habe es die Beschränkung der russi¬ schen Macht im Schwarzmeerbecken erhalten. Bei seinem Drängen auf die Be¬ seitigung der europäischen Kontrolle hielt es Beust für notwendig zu betonen, daß die Habsburgermonarchie nicht die Beseitigung der freien Donauschiffahrt anstrebe (die habe sie allen Staaten in zweiseitigen Verträgen garantiert), sondern den Wiedererwerb ihres Selbstbestimmungsrechtes. Bestandteil dessen sei, daß sie am Eisernen Tor die Schiffahrtshindemisse beseitigen und mit den betreffen¬ den Uferstaaten selbst Vereinbarungen treffen könne. Die Londoner Konferenz erarbeitete eine Konvention, die dem neuen Einver¬ ständnis der Großmächte juristische Form gab und die teilweise die Forderungen der Monarchie erfüllte.30 Die Frage verschwand jedenfalls von der Tagesordnung des gemeinsamen Ministerrates. Beust hat - wie gesehen - auch schon im November 1870,31 zur Zeit der Pon- tus-Krise, die Gestaltung des Schicksals der rumänischen Fürstentümer aus der Sicht der Monarchie für wichtiger gehalten als alles andere. Schon damals war die Möglichkeit aufgetaucht, daß, wenn die Situation Fürst Karls unhaltbar wür¬ de, Rußland die beiden Fürstentümer okkupieren könnte, was die Monarchie un- 28 Aufdem Deckblatt wird nachträglich die Bezeichnung „Mlnisterrat für gemeinsame Angele¬ genheiten" durchgestrichen. 29 Beust an Apponyi v. 19. 1. 1871. HHStA., PA. VIII, Karton 77. 30 Den Text der Londoner Konvention siehe Dm grosse Politik der europäischen Kabinette 1871-1914, Bd. 2 Nr. 226; ihre Analyse: Palotäs, A nemzetközi Duna-hajözäs a Habsburg- Monarchia diplomäciajäban 1856-1883 51-54. 31 GMR. v. 5. 11. 1870, RMRZ. 89. Gegenstand: IV. || || Einleitung XXIII bedingt als Casus Belli betrachten würde. Die rumänische Lage wurde im März 1871 kritisch. Als der Bukarester deutsche Konsul Joseph von Radowitz aus An¬ laß des Geburtstages Kaiser Wilhelms eine Abendeinladung gab, zog das Buka¬ rester Volk, republikanische Losungen rufend, auf die Straßen und griff die Fest¬ teilnehmer an. Es drohte die Möglichkeit, daß der rumänische Hohenzollemfürst auf seinen Thron verzichten mußte. Der gemeinsame Ministerrat erwog, was in der gegebenen Lage das Interesse der Monarchie sei.32 Beust war - wenn das Ministerratsprotokoll als Quelle dienen kann - für ein aktives Auftreten: Wenn Rußland in die Moldau einmarschiere, müsse die Monarchie wahrscheinlich das¬ selbe tun, jedenfalls aber den russischen Schritt als Casus Belli betrachten. Und er vertraute darauf, daß sein Vorgehen von Preußen unterstützt würde. Kuhn warnte -- wie immer -- vor den Russen. Für Lönyay war die Aufrechterhaltung des Status quo nicht unbedingt notwendig und die Trennung der beiden Fürstentümer voneinander vorstellbar. Er hielt es für günstig, wenn an der Südostgrenze der Monarchie Kleinstaaten entstünden. Sämtliche Teilnehmer analysierten die gan¬ ze drohende Veränderung und entwickelten ihren Standpunkt aus dem Gesichts¬ punkt, welchen Einfluß die Veränderung auf die Nationen der Monarchie haben könnte. Ein spezifischer Gedankenaustausch, eine sachliche Diskussion findet im Mi¬ nisterrat statt, aber offensichtlich nicht mit dem Anspruch, eine Entscheidung zu treffen. Außenpolitische Entscheidungen werden ausschließlich bei Beratungen unter Vorsitz des Kaisers gefaßt. Und dies ist keine solche. Die Konferenzteilneh¬ mer wägen Chancen ab und analysieren die Interessen der Monarchie bei gleich¬ rangiger Teilnahme der drei gemeinsamen Minister. Alle vertreten einen markan¬ ten eigenen Standpunkt, der offenbar auf nicht in allen Details ausgeführter spezieller Information beruht. Der k. k. Ministerpräsident Hohenwart spielt nur eine Nebenrolle. Andrässy ist nicht persönlich anwesend, doch beruft sich Beust auf ihn und auf seinen Standpunkt, und bemerkenswerter Weise gerade gegen¬ über Lonyay. Beachtenswert ist, wie bestimmend Lönyays ungarische Identität und seine ungarischen Erfahrungen sind (denn als Beust davon spricht, „daß zur Observierung an der siebenbürgischen Grenze die Honveds verwendet werden können, Lönyay riet hievon ab, um bei den Walachen nicht die mißliebigen 1848er Erinnerungen wachzurufen"). Der Ministerrat wäre - in dieser Form - gemäß der Beschlußfassungspraxis eine Vorbesprechung gewesen, die Vorbereitung einer beschlußfassenden Konfe¬ renz. Da es Karl schließlich gelang, auf dem Thron zu bleiben, ist es nicht zu der in der Sache entscheidenden (unter der Leitung des Kaisers abgehaltenen) Kon¬ ferenz gekommen. Wie wurden also die außenpolitischen Entscheidungen gefällt? Wie geschildert, im Sommer und Herbst 1870 nach sachlichen Diskussionen im Ministerrat. Aber als eine erneute Wende in der Außenpolitik der Monarchie 32 GMR. v. 31. 3. 1871, RMRZ. 107. Gegenstand: II: Rumänische Angelegenheiten. || || XXIV Einleitung eintrat, Bismarck im Dezember 1870 Österreich eine Annäherung anbot, die die Monarchie anfangs zögernd und mit Vorbehalten (am 25. Dezember 1870), da¬ nach (am 18. Mai 1871) mit dem Blick auf eine Konzeption für die Zukunft annahm - wurden diese Entscheidungen nicht mehr im Ministerrat gefaßt.33 Die Dokumente der Wende hat Beust selbst formuliert, abseits vom Ministerrat. Er begab sich nachrGäsfeih, wo sich Herrscher und Reichskanzier zu treffen pflegten, um diplomatische Verträge über das Schicksal der deutschen Nation zu schließen (wie sie es auch 1865 getan hatten). Dort arbeitete er ein neues Pro¬ gramm aus, die Zusammenarbeit mit dem geraffe^ebofenen Deutschen Kaiser- ' rdchTeme Zusammenarbeit, die auf den Traditionen des einstigen Deutschen Bundes, der gemeinsamen Herkunft der beiden deutschen Staaten, Deutschlands und der Habsburgermonarchie, auf den geschichtlichen Traditionen und den künftigen gemeinsamen Interessen aufbaute.34 Im Juli 1870 mußte Beust für die große Entscheidung (die in letzter Vereinfa¬ ll c^un§ 80 lauten könnte: Die Monarchie will für Königgrätz keine Revanche neh- .„jfigP) 11® Zustimmung und Unterstützung des Hofes, aer gemeinsamen Minister j und der Regierungen beider Staaten gewinnen. Für die Wende vom 18. Mai 1871 j (die in letzter Vereinfachung bedeutete, daß die MonarchTe eine neue, auf diplo- j matischen Verträgen beruhende Beziehung zum neuen deutschen Staat aufbaut, ;|: und zwar nicht nur im Interesse der internationalen Sicherheit der Monarchie, j sondern auch zum Schutz des deutschen Charakters des Vielvölkerreiches der V Habsburger) konnte er nicht die Unterstützung sämtlicher führender politischer Faktoren des Reiches gewinnen. An dieser Stelle müssen wir mit einigen Worten auf die damaligen inneren Verhältnisse Cisleithaniens hinweisen.35 Im Herbst 1870 war die innere Krise des engeren Österreich völlig offensichtlich geworden: der Konflikt zwischen den auf dem Dualismus und dem cisleithanischen Zentralismus bestehenden deut¬ schen Liberalen und den Anhängern einer föderalistischen Umgestaltung. Das Selbstbewußtsein der deutschen Liberalen wurde selbstverständlich durch den Sieg der Deutschen über Frankreich gestärkt, und sie erwarteten, daß der Einfluß des deutschen Sieges auch in der österreichischen Innenpolitik spürbar werde. Franz Joseph versuchte jedoch nicht, der sich monatelang hinziehenden Regie¬ rungskrise (Ministerpräsident Potocki reichte mehrmals seinen Rücktritt ein) mit Hilfe der deutschen Liberalen Herr zu werden. Hinter Beusts Rücken begann er 33 Denkschrift von Beust v. 25. 12. 1870. In: Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten, Bd. 2 443- 445; Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 1870-1871 223- 226; Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches 393-394. Den au. Vortrag vom 18. Mai 1871 publizierte Lutz, Zur Wende der österreichisch-ungarischen Au¬ ßenpolitik 1871 169-184. Vgl. Diöszegi, ebd. 240-248. 34 Lutz, Zur Wende der österreichisch-ungarischen Außenpolitik 1871 180. 35 Aufdie Frage kommen wir im Zusammenhang mit den Ministerratssitzungen vom Oktober 1871 noch zurück. || || Einleitung XXV Verhandlungen mit den föderalistischen Konservativen und ernannte im Februar 1871 die Regierung Hohenwart. Es kam zu einer eigenartigen politischen Konstellation: eine deutschfreundli- che gemeinsame Regierunß unter Beusts Führung und eine slawenfreundliche, ausgesprochen könservätiv-föderalistische cisieithanische Regierung unter Ho- henwart. Die gemeinsame Regierung, also Beust, ging den Weg der Aussöhnung mit Preußen-Deutschland, und zwar nicht einfach als Antwort auf das preußische Angebot, sondern weil er diese Außenpolitik als innere Existenzvoraussetzung des Reiches betrachtete. Doch innere Unterstützung für seine außenpolitische Konzeption, das Zusammengehen mit Deutschland, war von der cisleithanischen Regierung nicht zu erhoffen. Beust konnte keinen gemeinsamen Ministerrat ein¬ berufen, weil er mit dessen Unterstützung von vornherein nicht rechnen konnte. Am 10. Mai 187J wurde der den deutsch-französischen Krieg beendende ¥rankfurtejcExiede unterzeichnet, und am 18. Mm wäSSTsiSi Beust 'an den Kai¬ ser mit seinem Plan einer neuen außenpolitischen Orientierung, die die Zukunft der Monarchie an der Seite des neugegründeten Deutschen Reiches suchte. Der Vortrag vom 18. Mai ist ein Wendepunkt, und zwar nicht allein hinsichtlich sei- nes äußenpolitischen Inhalts, sondern - was uns hier in erster Linie interessiert - auch in der Art der Behandlung der Angelegenheiten. In seinem Vortrag skizziert Beust eine Konzeption, die er in ihren Details dem Herrscher schon in den voran¬ gehenden Monaten vorgestellt und von ihm hatte annehmen lassen. Aber die Ge¬ samtüberlegung als umfassendes Zukunftsprogramm war neu,36 und deshalb un¬ terbreitet er sie dem Kaiser, um nach der erhofften Genehmigung alljene Faktoren gewinnen zu können, mit denen er der Verfassung gemäß in der Führung der Au¬ ßenpolitik Zusammenarbeiten muß: den gemeinsamen Ministerrat und die Dele¬ gationen. Diesbezüglich ist dieser Vortrag ein Vorläufer für die Sitzungen des gemeinsa¬ men Ministerrates der folgenden Jahre, in denen sich die außenpolitische Kon¬ zeption der gemeinsamen Regierung nicht in der Diskussion herausformt - wie im Sommer und Herbst 1870-, sondern in denen der gemeinsame Ministerrat nur dazu dient, daß der Außenminister die Ministerpräsidenten über jene Zusammen¬ hänge der Außenpolitik informieren kann, die sie kennen müssen, und ihre Ein¬ willigung erhalte, seine Konzeption vor die Delegationen bringen zu dürfen. Der den Vortrag vom 18. Mai einleitende Satz bezeichnete die Absicht, im Falle der Ah. Genehmigung „eine bestimmte Unterlage für die von der k. u. k. Regierung gegenüber den Delegationen einzunehmende Haltung zu gewinnen", und der ab¬ schließende Passus enthielt die Bitte um die Genehmigung des Programmes, „Nicht die einzelnen Züge bieten etwas Neues, alles Detail ist Euer Majestät bekannt und von Allerhöchstdenselben vielfach huldreichst gebilligt. Aber, daß sich aus diesen Bruchstücken ein Ganzes herauswachse, welches der politischen Welt als reiflich erwogenes und unabän¬ derlich festgestelltes System erscheine, dies ist, wie eingangs erwähnt, das Bedürfnis des Augenblickes..." || || XXVI Einleitung denn er wolle „...sowohl den Delegationen gegenüber - natürlich in der durch diplomatische Rücksichten gebotenen Beschränkung - ... sowie selbstverständ¬ lich den Ministerpräsidenten der beiden Reichshälften hievon in angemessener Weise Kenntnis geben" - das waren Ausdrücke, welche auch Wendungen aus den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates sein konnten. Beust bat also den Herrscher nicht einfach um die Bestätigung der Richtung der Politik, sondern auch um die Genehmigung einer Prozedur der konstitutionellen Bestätigung der Außenpolifik, welche m'äerffölgeftden Jahrzehnten zur wichtigsten Funktion der gemeinsamen Ministerberatungen im Bereich der Außenpolitik werden sollte. In den Jahren 1870-71, als in der Habsburgermonarchie das Fundament des Beziehungssystems gelegt wurde, dem sie bis zu ihrem Zerfall treu blieb, tagte der gemeinsame Ministerrat so oft wie nie wieder bis zum Weltkrieg. Vom 18. Juli 1870 bis zum 18. Mai 1871 (vom besagten Ministerrat bis zu Beusts die neue Außenpolitik begründenden au. Vortrag) wurde der Ministerrat bei 46 Anlässen einberufen und beschäftigte sich bei 24 von ihnen direkt mit außenpolitischen Fragen, Militärvorbereitungen (d. h. Fragen im Zusammenhang mit der „aktiven Neutralität"), Befestigungsarbeiten, dem Bau strategisch wichtiger Eisenbahnen usw.37 Und die wirkliche außenpolitische Entscheidung? Im Juli 1870 fiel sie - wie zu beweisen versucht wurde - notwendigerweise im Ministerrat. Im Mai 1871 konnte sie nur mit Umgehung des Ministerrates zustande kommen. Die politische Praxis und letztlich auch die gesetzlichen Vorschriften erlaubten bei¬ des. 2. Die konstitutionelle Verantwortung der gemeinsamen Regierung - die Delegationen als Forum der Verfassungskontrolle a) Die konstitutionelle Behandlung der gemeinsamen Angelegenheiten Der Ministerrat am 18. Juli beschloß -- wie schon gesagt wurde -- die „bewaff¬ nete Neutralität" der Monarchie, was praktisch Kriegsvorbereitung bedeutete und außerordentliche Ausgaben verlangte. Zum zentralen Thema des Ministerrates wird die Beschaffung der finanziellen Mittel für die Militärmaßnahmen. Lonyay macht schon nach dem Ministerrat vom 18. Juli darauf aufmerksam, wie wichtig 37 GMR. v. 18. 7. 1870, RMRZ. 67; GMR. v. 22. 7. 1870, RMRZ. 68; GMR. v. 23. 7. 1870, RMRZ. 69; GMR. v. 24. 7. 1870, RMRZ. 70; GMR. v. 30. 7. 1870, RMRZ. 71; GMR. v. 3. 8. 1870, RMRZ. 72; GMR. v. 4. 8. 1870, RMRZ. 73; GMR. v. 7. 8. 1870, RMRZ. 74; GMR. v. 15. 8. 1870, RMRZ. 77; GMR. v. 22. 8. 1870, RMRZ. 78; GMR. v. 6. 9. 1870, RMRZ. 82; GMR. v. 28. 9. 1870, RMRZ. 85; GMR. v. 29. 10. 1870, RMRZ. 86; GMR. v. 2. 11. 1870, RMRZ. 88; GMR. v. 5. 11. 1870, RMRZ. 89; GMR. v. 6. 11. 1870, RMRZ. 90; GMR. v. 14. 11. 1870, RMRZ. 91; GMR. v. 6. 12. 1870, RMRZ. 93; GMR. v. 17. 12. 1870, RMRZ. 96; GMR. v. 9. 1. 1871, RMRZ. 97; GMR. v. 13. 1. 1871, RMRZ. 98; GMR. v. 17. 1. 1871, RMRZ. 100; GMR. v. 26. 2. 1871, RMRZ. 104; GMR. v. 31. 3. 1871, RMRZ. 107. || || Einleitung XXVII es sei, „korrekt konstitutionell vorzugehen."38 Da es in den vergangenen drei Jah¬ ren des Dualismus keine so umfangreiche Finanztransaktion gegeben habe, wer¬ de das jetzige Verfahren Präzedenzwert bekommen. Für korrekt halte er, wenn der Reichsfinanzminister den vom Kriegsminister erbetenen Kredit im Einver¬ nehmen mit beiden Landesfinanzministem billige, in der Hoffnung, daß er nach¬ träglich die Indemnität von den Delegationen erhalte. Der Reichsfinanzminister brauchte nicht nur deshalb unbedingt die Unterstützung der Finanzminister bei¬ der Länder, weil dies das Gesetz auch für das ordentliche Budget und um so mehr für das außerordentliche vorschrieb, sondern weil die Landesfinanzminister spä¬ ter in ihren Abgeordnetengremien für die Ausgaben eintreten mußten. Im Mini¬ sterrat herrscht vollstes Einverständnis: Beide Ministerpräsidenten befürworten, daß zum gemeinsamen Ministerrat die Landesfinanzminister eingeladen werden, um einen „verstärkten" gemeinsamen Ministerrat abzuhalten. Die Wichtigkeit ei¬ ner konstitutionellen Bewilligung des Budgets und die gemeinsame Verantwor¬ tung der gemeinsamen und der Landesminister wurden vom gemeinsamen Mini¬ sterrat als Selbstverständlichkeit betrachtet. In diesen Tagen wirkte der gemeinsame Ministerrat wie eine operative Regie¬ rung, er tagte so oft wie eine richtige Regierung in gefahrvoller Zeit. Am 24. Juli wird darüber beraten, daß zur Deckung der außerordentlichen Ausgaben die ge¬ meinsame Aktive39 verwendet werden solle sowie eine bestimmte Summe aus dem Stellvertretungsfond,40 die nachträglich refundiert wird. An der Sitzung neh¬ men die beiden Landesfinanzminister teil. Ihre konstitutionelle Rolle ist klar. Es ist notwendig, daß sie zu den Ausgaben der gemeinsamen Regierung beitragen, daß sie die Verantwortung mit den gemeinsamen Ministem teilen. Das Festhalten an den verfassungsmäßigen Formen spiegelt sich in einer Reihe von Ministerrats¬ debatten. So auch in der vom 3. August,41 als man die Beschleunigung des Baus der strategisch wichtigen Eisenbahnen behandelt. Der k. k. Handelsminister Sisi- no Freiherr von Pretis drängt auf den Bau einer Verbindungsbahn, die den Bahn¬ hof der Staatsbahn in Prag und jenen der böhmischen Westbahn in Smichow ver¬ binden würde, doch es ist nicht klar, wer ihre Kosten tragen soll. Da die Strecke Militärzwecken diene - sagt der Kaiser - müssen ihre Kosten aus gemeinsamer Quelle gedeckt werden. Der gemeinsame Finanzminister Lönyay hält es für er¬ forderlich, sogar noch die Worte des Herrschers zu präzisieren: Die in Anschlag kommenden Kosten müssen ins Extraordinarium des Reichskriegsministeriums eingestellt werden. 38 GMR. v. 22. 7. 1870, RMRZ. 68. Über den Begriffgemeinsame Aktive siehe GMR. v. 23. 7. 1870, RMRZ. 69. Anm. 4. Über den BegriffStellvertretungsfond siehe GMR. v. 23. 7. 1870, RMRZ. 69. Anm. 6. 41 GMR. v. 3. 8. 1870, RMRZ. 72. || || XXVIII Einleitung b) Der Einfluß der cisleithanischen inneren Krise auf die Institution der Delegationen Bekanntlich war das umstrittenste Element des 1867er Ausgleichs die Institu¬ tion der Delegationen.42 Die Ungarn wollten den Delegationen keine große Rolle zubilligen, weil sie befürchteten, daß aus einem Gremium mit weiterreichender Kompetenz im Laufe der Zeit ein Äez'c/zsparlament werden könne. So vertrauten sie den Schutz der Verfassungsmäßigkeit einem Gremium an, von dem sie vor allem sagten, worin es nicht eingreifen könne, was nicht in seine Kompetenz gehört. Die Deutschösterreicher dachten grundsätzlich anders. Sie hätten sich ein Reichsparlament gewünscht, ein Abgeordnetengremium, das soviel wie möglich vom einheitlichen Reich bewahrt und wirksamen Schutz nicht nur (oder viel¬ leicht nicht vor allem) vor dem Absolutismus des Herrschers bietet, sondern vor den Sonderinteressen der anderen Reichshälfte sowie der cisleithanischen König¬ reiche und Länder. Als sie die ungarische Konzeption der Delegationsinstitution akzeptierten, taten sie dies, weil sie darin die Idee der Reichseinheit und die Mög¬ lichkeit ihrer künftigen Verwirklichung sahen. Beust betonte auch in den Mini¬ sterratssitzungen der ersten Jahre, man müsse die Delegationen schützen als ge¬ meinsame Einrichtung, die die Ausgleichsgesetze noch belassen haben;43 der Sektionsleiter im Ministerium des Äußeren, Hofinann, der Beusts Denken nahe¬ stand, äußerte, die beiden Delegationen gehören zusammen und man müsse auf¬ passen, daß dieses Grundprinzip nicht verletzt würde.44 Aber 1870-71 ergibt sich das Problem gerade daraus, daß die Delegationen eine gemeinsame Institution sind. Die von den Parlamenten der beiden Reichs¬ hälften gewählten Delegationen mit je 60 Mitgliedern verknüpften die beiden Reichshälften: das Parlament Ungarns und Cisleithaniens und ihr konstitutionel¬ les System. Das Delegationsgesetz schreibt streng vor, daß die Delegationswah¬ len in beiden Reichshälften gleichzeitig, in identischer Weise geschehen müssen, der Herrscher die Delegationssessionen gleichzeitig einberuft und sie in außerge¬ wöhnlichen Fällen zur gemeinsamen Abstimmung eine „Zusammensitzung" ab¬ halten. Der spezifische Funktionsmechanismus der Delegationen führte unver¬ meidlich dazu, daß bei ihrer Tätigkeit die inneren Probleme beider Staaten aufeinander einwirkten, sich miteinander verbanden. Dies Phänomen trat im Herbst 1870 mit besonderer Schärfe auf. Im Wiener Reichsrat waren seit dem Ausgleich die deutschen Liberalen in der Mehrheit. Die Opposition, zu der die slawischen bürgerlichen Parteien und unter- Diefrüheren Ministerratsdebatten zur Institution der Delegationen: Dm Protokolle des ge¬ meinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie 1/1, Einleitung XVI- XXI; über die weiteren Zusammenhänge der Frage: Somogyi, Die Delegationen als Verbin¬ dungsinstitution zwischen Cis- und Transleithanien 1107-1116. GMR. v. 25. 11. 1868, RMRZ. 27. In: Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie 1/1 146. 44 GMR. v. 21. 10. 1868, RMRZ. 21. Ebd. 111. || || Einleitung XXIX schiedliche Aristokratengruppen gehörten und deren stärkster Faktor die tsche¬ chische Staatsrechtsopposition war, wies die 1867er Dezemberverfassung und die dualistische Einrichtung der Monarchie zurück, verlangte die Anerkennung „der staatsrechtlichen Eigenständigkeit des Königreiches Böhmen" und lehnte die Vornahme der Wahlen in den Reichsrat ab, wollte also keine Abgeordneten in den Reichsrat senden, der die Delegationsmitglieder wählen und die gemeinsa¬ men Ausgaben genehmigen mußte. Seit Frühling 1870 ist Potocki der Ministerpräsident der cisleithanischen Re¬ gierung, eines Ministeriums, das mit der föderalistischen Opposition der Länder über gewisse Modifizierungen der 1867er Verfassung verhandeln wollte. Es such¬ te einen Kompromiß zwischen der bestehenden Verfassungsbasis und der Aner¬ kennung des tschechischen Verfassungsrechtes, mit Billigung des Herrschers, aber ohne auf parlamentarisch-politische Unterstützung rechnen zu können. Das Unternehmen war aufjeden Fall ungewiß und überaus riskant. Unter solchen Umständen kam es zur 1870er Herbstsitzung der Delegatio¬ nen.45 In den Ministerratssitzungen zur Vorbereitung der Delegationssession wer¬ den ernsthafte Besorgnisse zur Sprache gebracht, und offensichtlich nicht mehr bloß wegen der verfassungsmäßigen Genehmigung der gemeinsamen Ausgaben, sondern allgemein und prinzipiell über die Lebensfähigkeit der Institution der Delegationen. Andrässy befurchtet, in Folge der cisleithanischen Krise könnte eventuell nur die ungarische Delegation mit der Arbeit beginnen: „Einen solchen Zustand, wo sich die beiden Delegationen gleichsam als verschiedene Faktoren gegenübergestellt werden, solle man gar nicht aufkommen lassen."46 Und er hält es für unstatthaft, daß wegen innerer Probleme (der Opposition der deutschöster¬ reichischen Liberalen gegen die Potocki-Regierung) die konstitutionelle Ent¬ scheidung über das gemeinsame Budget verhindert werden könne. Man müsse den Abgeordneten begreiflich machen, daß „die Berufung der Delegationen ... von Seiner Majestät ausging, und daß es ihre konstitutionelle Pflicht sei, daselbst zu erscheinen, denn Parteimanöver, welche gegen die Regierung unter Umstän¬ den angewendet werden können, seien vis-ä-vis der Krone nicht zulässig". Die Delegationen sind eine für die verfassungsmäßige Behandlung der ge¬ meinsamen Angelegenheiten unbedingt notwendige Institution, die mit der Kro¬ ne von Anfang an verbunden ist.47 Die Macht des Herrschers ist erforderlich, um in allen Konflikten, die eine Gefahr für die Funktion des dualistischen Systems darstellen (wie aktuell in der tschechischen Krise), Schutz zu bieten. Man kann sich darüber wundem, daß Andrässy meinte, die politische Unzufriedenheit sei kein Grund, das Budget abzulehnen (welche andere Möglichkeit hat ein Abge- Über die innere Krise in Cisleithanien: Urban, Die tschechische Gesellschaft 1848 bis 1918, Bd. 1 358-362. GMR. v. 14. 11. 1870, RMRZ. 91. Dieser Gedanke lautete - wie gesehen - in Hofmanns For¬ mulierung: „die beiden Delegationen gehören zusammen". „Die Delegationen werden alljährlich vom Kaiser einberufen" - lauten beide Ausgleichsge¬ setze: GA. XH/1867 § 32; RGBl. v. 21. 12. 1867. 146. § 11. || || XXX Einleitung ordnetengremium, seine Vorbehalte gegenüber der Regierung zum Ausdruck zu bringen?!). Aber hier geht es nicht darum, sondern daß die Unzufriedenheit mit der cisleithanischen Regierung kein Grund sein könne, die Verhandlung des ge¬ meinsamen Budgets zu verweigern.48 Der ungarische Ministerpräsident mahnt nicht einfach ein, daß die Einhaltung der konstitutionellen Formen eine Pflicht gegenüber der Krone sei, sondern versucht, die cisleithanische innere Krise, „Par¬ teimanöver, welche gegen die Regierung unter Umständen angewendet werden können", von den gemeinsamen Angelegenheiten femzuhalten. Es ist bezeich¬ nend, daß der Herrscher die Worte des ungarischen Ministerpräsidenten wieder¬ holt, wenn er sagt, daß „die Verweigerung des Zusammentrittes kein konstitutio¬ nelles Mittel sei". - Die Delegationen beginnen schließlich am 24. November mit ihrer Arbeit und nehmen in einer außerordentlich langen, fast drei Monate dau¬ ernden Session das gemeinsame Budget für 1871, mit gewissen Korrekturen, an. c) Die Delegationen als Forum der Verfassungskontrolle Im Dezember 1870 wenden sich einige Mitglieder der ungarischen Delegation mit dem Wunsch an den Kriegsminister, die Militärvorräte kontrollieren zu dür¬ fen.49 Bekanntlich war die Heeresorganisation „Herrscherrecht". In diesem Be¬ reich die konstitutionellen Rechte zur Geltung zu bringen, war ein neuralgischer Punkt des Systems. Kuhn ist der Ansicht, man könne zwar gegen die Kontrolle der Militärvorräte keinen Einwand erheben, doch sei zu befürchten, daß die Delegationen dann ihre Tätigkeit auch auf die Visitation der Truppen und die Prüfung der Ausbildung ausdehnen wollen, was wiederum unstatthaft sei. Andrässy würde die Ambitionen der ungarischen Delegierten unterstützen, weil dies das Vertrauen in die Institution der Delegationen erhöhen, die Berechtigung des Angriffes der Linken auf die Delegationen in Frage stellen und beweisen würde, daß die Delegationen tatsächlich die Funktion der Verfassungskontrolle ausüben und nicht bloß dazu da seien, die Forderungen der Regierung zu geneh¬ migen. Zurückzuweisen sei aber „die Möglichkeit eines Auftretens von Delegati¬ onskommissären nach Art der Revolutionskommissäre". Die Voraussetzung da¬ für sieht Kuhn darin, daß der Delegationsausschuß nur aufAufforderung und mit Genehmigung des Kaisers zustande komme und einen Bericht über seine Erfah¬ rungen verfasse, aber keinen weiteren Antrag aufgrund dieses Berichtes stelle. Im Jahr darauf, als das Problem der Delegationswahl erneut auftaucht, wiederholt Beust die Ansicht Andrässysfachgemäß injuristischer Sprache: daß „die Delegationswahl, zwar ver¬ zögert, aber schon deshalb nicht verweigert werden könne, weil die Legislative dem gemein¬ samen Ministerium unmittelbar nicht gegenüberstehe und das Landesministerium, welches sich mit der Vertretung möglicherweise in Opposition befinden kann, hier gleichsam nur als Zwischenträger erscheine". GMR. v. 14. 3. 1871, RMRZ. 106. 49 GMR. v. 6. 12. 1870, RMRZ. 93. || || Einleitung XXXI „Diese drei Momente böten genügende Garantien gegen die Entstehung eines staatsrechtlichen Präjudizes." Da einige ungarische Delegationsmitglieder die Angelegenheit der Inspektion aufgeworfen haben, beschließt der Ministerrat, Kuhn müsse erreichen, daß ihm in der Plenarsitzung der ungarischen Delegation eine Frage in dieser Sache gestellt werde und er darauf eine Antwort gebe, die der Delegation Gelegenheit und Mög¬ lichkeit biete, eine Kontrollkommission zu bilden, während der Weihnachtsferien die Inspektion der Magazine vorzunehmen und anschließend den Bericht zu er¬ statten. Der Ministerrat vom 10. Dezember behandelt den Entwurf der Antwort, die auf die Interpellation von Apponyi und Gefährten50 am 12. Dezember zu geben ist. Zu der ganzen Geschichte kommt uns eine Tagebucheintragung Thallöczys aus späterer Zeit in den Sinn. „Wenn die geschätzte Nachwelt einmal die Ver¬ handlungen der Delegationen lesen wird, soll sie beim Begriff der beiden Dele¬ gationen nicht an so etwas wie ein ernsthaftes Kontrollgremium denken. Es ist eine Tretmühle, in der die Delegierten in der Rolle der Mühlengesellen immer fragen: Worüber sollen sie wohl den gnädigen Herrn interpellieren. Das fragen sie üblicherweise die Exzellenz selbst. Fachkenntnisse, Pflichteifer, ernsthafte Kontrolle sind den guten Herren fremd: Vanitatum vanitas das Ganze."51 Der Kriegsminister ist übrigens bereitwillig: Er verspricht, die notwendigen Angaben der Kommission zur Verfügung zu stellen. Bereits in diesem Ministerrat am 10. Dezember kommt zur Sprache, daß es richtig wäre, wenn bei der Kontrolle der Militärvorräte „die Mitwirkung beider Delegationen herangezogen und die Angelegenheit nicht bloß als Sache der un¬ garischen Delegation behandelt werde."52 Die Reichsratsdelegation will jedoch nicht an der offensichtlich konzilianten ungarischen Aktion teilnehmen, sondern ihre verfassungsmäßige Kontrollfunktion selbständig geltend machen: mit Fest¬ stellung eines Normalfriedensbudgets.53 Es stellt sich die Frage - auch für die Teilnehmer am Ministerrat-, wie weit ein Zusammenhang zwischen den Ansprü¬ chen beider Delegationen besteht bzw. ob die „deutsche" Delegation (im Sprach¬ gebrauch Andrässys und anderer) den Vorschlag der Ungarn und die ungarische Delegation den der Reichsratsdelegation unterstützen. Aus den Äußerungen Andrässys geht hervor, daß die Delegationsstandpunkte von der Innenpolitik beeinflußt sind. Einzelne Mitglieder der Reichsratsdelegati¬ on (offenbar die in Opposition zur Potocki-Regierung stehenden deutschen Libe¬ ralen) wollen deshalb nicht an der Inspektion der Heeresvorräte teilnehmen, weil die dort vorfindlichen günstigen Verhältnisse nicht in ihre politische Konzeption 50 GMR. v. 10. 12. 1870, RMRZ. 94. Tagebuch von Lajos Thallöczy I, 296 aus dem Jahr 1890. Orszägos Szechenyi Könyvtär Kezirattär, Quart. Hung. 2459. Das ist Franz Josephs Standpunkt. 53 GMR. v. 11. 12. 1870, RMRZ. 95. || || XXXII Einleitung passen - sie wollen die positiven Zustände nicht anerkennen. Statt dessen würden sie eine Kommission aufstellen, die ein Jahr lang arbeitet, ohne ihre Ergebnisse an die Öffentlichkeit bringen zu müssen. Obwohl Kuhn aus gewissen finanziellen Überlegungen heraus die Feststellung eines Normalffiedensbudgets nicht zurückweist, bezieht der Ministerrat dagegen Stellung, und zwar aus zwei Gründen: Es sei unvorstellbar, daß die Feststellung des Normalffiedensbudgets keine Fragen der Heeresorganisation berühre, die wiederum ausschließliches Recht des Herrschers sei. Darüber hinaus widerspre¬ che die Aufstellung der Enquetekommission dem Delegationsgesetz. Denn die Delegationen können keine langfristigen Entscheidungen fällen, nur das normale jährliche Budget für das betreffende Jahr beschließen.54 Die Ungarn würden ge¬ wiß gegen die Kompetenzüberschreitung der Delegationen protestieren. Somit ergibt sich, daß in beiden Delegationen in dieser auch innenpolitisch un¬ sicheren Kriegssituation (das Kriegsministerium erbittet wiederholt die Zustim¬ mung der Abgeordnetengremien zu außerordentlichen Ausgaben) erwogen wird, das Gewicht der Delegationen zu erhöhen, daß dem aber nicht nur die Herrscher¬ rechte, sondern auch das konstitutionelle System selbst im Wege stehen. Andrässy macht darauf aufinerksam, daß es vorzuziehen sei, den Antrag (des Normalffie- densbudgets) in der deutschen Delegation zu Fall zu bringen, da es sich nicht emp¬ fehle, einer Differenz zwischen den beiden Delegationen zum Ausdruck zu verhel¬ fen. Die Delegationen lassen sich gegeneinander ausspielen oder sie heben gegenseitig ihre Bestrebungen auf, und das verletzt nicht nur Andrässys ungarisch geprägte konstitutionelleAuffassung, sondern auch das Funktionieren des Systems, über das wiederum die Mitglieder des Ministerrates jederzeit sorgsam wachen. d) Die Rolle der Delegationen bei der Verwertung der Militärobjekte Die Angelegenheit des Verkaufs gewisser Militärobjekte beschäftigte die ge¬ meinsame Regierung seit 1869. Damals stellte sich erstmals heraus, daß eine Reihe alter Militärgebäude den städtischen Bauvorhaben und Modemisierungs- bestrebungen im Wege stehen. Der Kriegsminister wollte die sich bietende Mög¬ lichkeit nutzen und meinte, er könne die alten Gebäude bzw. vor allem die Grund¬ stücke selbst, deren Wert infolge der Stadtentwicklungen erheblich gestiegen waren, an die Stadt (oder den Staat), in der sie liegen, verkaufen und den Erlös für solche Investitionen verwenden, für die die Delegationen nur schwer oder über¬ haupt nicht die Deckung garantieren würden.55 54 Denselben Standpunkt vertreten GMR. v. 15. 1. 1871, RMRZ. 99 und GMR. v. 10. 7. 1871, RMRZ. 115. 55 Über die weiteren staatsrechtlichen Zusammenhänge der Frage: Die Protokolle des ge¬ meinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie 1/1, Einleitung XXI- XXIV. || || Einleitung XXXIII Aber auch schon 1869 erhoben beide Landesregierungen Vorbehalte gegen die Pläne von Kriegsminister Kuhn. Der ungarische Finanzminister (damals hatte Menyhert Lönyay dieses Amt inne) vertrat den Standpunkt, im Sinne des Aus¬ gleichs sei nur das Heer gemeinsam, nicht aber die verschiedenen Einrichtungen des Heeres, da diese ja immer aus den Quellen des jeweiligen Landes errichtet wurden. Aber selbst wenn sie gemeinsam wären, könnte die Kriegsverwaltung auch dann nicht frei, ohne Befragung der Delegationen, über sie verfügen. Der österreichische Finanzminister Brestei akzeptierte vorbehaltlos den Standpunkt seines Kollegen. Schließlich beschloß der gemeinsame Ministerrat am 26. Mai 1869: Dem Kriegsministerium kommt nur das Nutzungsrecht der Militärobjekte zu, das Eigentumsrecht dagegen dem Staat, auf welchem das fragliche Objekt gelegen sei. Im Ministerrat unter Vorsitz des Kaisers akzeptierte die Militärfuh- rung, „dem in Ungarn tief eingewurzelten Rechtsbegriffe vom Eigentum der un¬ garischen Krone Rechnung zu tragen"56, und beschloß, daß die „absolut entbehr¬ lichen" Objekte an die Finanzverwaltung des betreffenden Territoriums ohne weitere Abrechnung zurückfallen sollen, wogegen die Angelegenheit der „be¬ dingt entbehrlichen Immobilien" von Fall zu Fall den Delegationen überlassen werden müsse, „wo allein möglich sei, die Wahrung des gemeinsamen Stand¬ punktes mit der Berücksichtigung territorialer Interessen zu vereinen".57 Seit dem Ministerratsbeschluß vom Mai 1869 waren zwei Jahre vergangen, mit einer schweren internationalen Krise und mit Kriegsvorbereitung, und die Zusammensetzung der gemeinsamen Regierung hatte sich geändert. Der damali¬ ge ungarische Finanzminister war Mitglied der gemeinsamen Regierung gewor¬ den. Welches Verfahren aber die Kriegsverwaltung einhalten müsse, wenn sie statt eines überflüssig gewordenen Militärgebäudes ein anderes bauen lassen wolle (weit weg vom Stadtzentrum, auf billigerem Grund, aber größer und mo¬ derner), das war auch weiterhin ungewiß. Diesmal sprach der Finanzminister der österreichischen Regierung seine kon¬ stitutionellen Vorbehalte an. Holzgethan sagte geradeheraus, das Reichskriegsmi¬ nisterium wolle sich von den Delegationen emanzipieren. Es wolle Kasernen bauen und Gebäude tauschen können ohne Einwilligung der Delegationen. Doch sei zu solchen Aktionen deren Zustimmung erforderlich, und die in Frage kom¬ menden, von den Delegationen bewilligten Ausgaben trügen die beiden Länder gemäß ihrem Quotenanteil.58 Er konstatierte eigentlich dasselbe, was schon der gemeinsame Ministerrat im Jahre 1869 in seinem Beschluß festgelegt hatte, daß die Militärobjekte das Eigentum des Staates bilden, in dem sie liegen. Allerdings zog er aus dieser Feststellung eine wichtige staatsrechtliche Folgerung: Die Mili¬ tärobjekte bilden kein Eigentum des Reichskriegsministeriums, wodurch nämlich 56 Beusts Formulierung: GMR. v. 26. 5. 1869, GMCZ. 48. In: Die Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1/1 270-277. 57 Ebd. 58 GMR. v. 10. 5. 1871, RMRZ. 112. || || XXXIV Einleitung dieses ein Staat im Staat wäre, ein dritter Staat entstünde. Die Militärverwaltung sei nicht ein dritter Staat, sondern ein Organ der gemeinsamen Verwaltung. Holz- gethan vertieft sich hier in ein Thema und nimmt sehr bestimmt in einer Streitfra¬ ge Stellung, die im Laufe der Jahrzehnte des Dualismus immer wieder auftauchen wird, ob nämlich infolge der gemeinsamen Angelegenheiten über den beiden Reichshälften ein gemeinsamer Staat entstanden sei. Holzgethan verneint dies mit Nachdruck: Die Militärverwaltung sei nicht als dritter Staat, sondern als Or¬ gan der gemeinsamen Verwaltung zu betrachten. In seiner Interpretation (im we¬ sentlichen dem ungarischen Standpunkt entsprechend) hat die Existenz der ge¬ meinsamen Angelegenheiten kein gemeinsames Reich geschaffen, es gebe kein über beiden Staaten stehendes Reich, und es könne deshalb auch kein Reichsei¬ gentum geben.59 Nicht weniger beachtenswert ist die Aussage des ungarischen Ministerpräsidenten Gyula Andrässy im gemeinsamen Ministerrat: Man müsse nicht zu einem prinzipiellen Standpunkt kommen. „Es handle sich nicht um ein allseitig erschöpfendes und alle Schwierigkeiten lösendes Prinzip, wie dies selbst in Ländern von ganz homogener Gesetzgebung schwer aufzustellen, bei den ver¬ fassungsmäßigen Zuständen Österreich-Ungams fast unmöglich sei. Das, worauf es ankomme, sei die Schöpfung eines praktischen Modus vivendi." Die prakti¬ sche Lösung hilft der Kriegsverwaltung, entsprechende Gebäude statt der weni¬ ger entsprechenden zu beschaffen, ohne jeden Schritt von der Delegationsent¬ scheidung abhängig zu machen. In der Sache gelang es nach mehrstündiger Diskussion schließlich doch nicht, zu einer Einigung zu kommen. Die Beschlußfassung wurde auf einen weiteren Ministerrat unter Vorsitz des Kaisers verschoben, zu dem es in der Periode Beust/ Lönyay, also bis Oktober 1871, nicht gekommen ist. e) Die gemeinsame Abstimmung der Delegationen Die ungarische Delegation war im allgemeinen bei den gemeinsamen Kriegs¬ ausgaben großzügiger als die deutsche, was man damit zu erklären pflegte, daß Ungarn nur mit 30 % der gemeinsamen Ausgaben belastet war. In Wirklichkeit handelte es sich nicht dämm. Die deutsche liberale Mehrheit der cisleithanischen Delegation forderte aus prinzipiellen Überlegungen heraus immer wieder die Verringerung der Militärausgaben. Im Herbst 1870 wollte sie darüber hinaus dem Budgetvorschlag nicht zustimmen, weil er auch von der für slawisch-föderali¬ stisch gehaltenen Regierung Potocki vertreten wurde. Im Januar 1871 behandelt der gemeinsame Ministerrat zweimal hintereinander das Budget und die Frage seiner Aufnahme durch die Delegationen.60 Die Stand- 59 Über die „ Rechtsnatur " der Doppelmonarchie siehe ausfiihrlicher: Stourzh, Der Dualismus 1867 bis 1918 1223 ff. 60 GMR. v. 19. 1. 1871, RMRZ. 101; GMR. v. 31. 1. 1871, RMRZ. 102. || || Einleitung XXXV punkte beider Delegationen widersprechen einander scharf, und zwar in einer Prinzipienfrage. Die Reichsratsdelegation lehnt es ab, daß eine gewisse Summe für Landwehrzwecke verwendet wird. Sie wurde dazu nicht von finanziellen Überlegungen, sondern von der Auffassung geleitet, daß die Landwehr die einheit¬ liche Armee spalte. Deshalb wollte sie dieser Institution möglichst wenig Gewicht, eine nur ergänzende, ordnungserhaltende Rolle im Inneren zubilligen. Ungarn da¬ gegen betrachtete die ungarische Landwehr (Honved) als wichtigen ergänzenden Teil des gemeinsamen Heeres, wünschte sich eine mit Artillerie ausgerüstete Landwehr und monierte, daß wenige Artillerieeinheiten im Land stationiert seien. Da der Standpunkt beider Delegationen sich so deutlich voneinander unterschei¬ det, wird erwogen, ob man die beiden Delegationen, wenn der übliche Nuntien¬ wechsel zu keinem Ergebnis führt, nicht (wie dies das Gesetz vorschreibt)61 zu einer gemeinsamen Sitzung und Abstimmung Zusammenkommen lassen solle. Es ist bemerkenswert, daß beim Ministerrat am 19. Januar außer den gemein¬ samen Ministem nur zwei ungarische Minister anwesend sind: Ministerpräsident Andrässy und Finanzminister Kerkäpoly, obwohl gar keine speziell im ungari¬ schen Interesse liegende Sache verhandelt wird. Gründe für diese besondere Zu¬ sammensetzung mochten gewesen sein, daß die Lage der Regierung Potocki sehr unsicher war und sie der gemeinsamen Regierung kaum wirkliche Unterstützung bieten konnte, daß der Ministerrat gerade in Buda/Ofen stattfand, und vor allem wohl die Tatsache, daß der gründlichste Kenner der gemeinsamen Institutionen eben doch der ungarische Ministerpräsident Gyula Andrässy war. Der Herrscher und auch Reichskanzler Beust sind der Ansicht, man müsse die zwei Delegationen nicht als zwei geschlossene Körperschaften betrachten, son¬ dern als einen vereinigten Vertretungskörper, in dem anläßlich der gemeinsamen Abstimmung die Vertreter nicht den Standpunkt ihrer Delegation (also der unga¬ rischen oder reichsrätlichen Delegation) vertreten, sondern ihre eigene Ansicht. Andrässy, der früher so oft vor gemeinsamen Sitzungen der beiden Delegationen gewarnt hatte (weil „das Prinzip der gemeinsamen Abstimmung das dualistische System leicht gefährden könne"62 - sagte er 1868), hält diesmal die gemeinsame Abstimmung nicht für gefährlich. „Die Maschine müsse gebraucht werden kön¬ nen, sonst tauge sie nicht viel." „Die verfassungsmäßigen Ergebnisse des Aus¬ gleiches seien nun gefestigt genug, um einen kleinen Stoß ertragen zu können. Insofern halte er die Anwendung der gemeinsamen Abstimmung, wo sie eben nicht vermieden werden könne, nicht für allzu bedenklich."63 Der gemeinsame Finanzminister Lönyay mahnt, man müsse die Prinzipien¬ streitigkeiten vermeiden, man dürfe solche Fragen, welche Rolle die ungarische 61 RGBl. 146/1867 § 31 bzw. GA. XII/1867 § 35-36 handeln von der gemeinsamen Abstim¬ mung. GMR. v. 25. 11. 1868, RMRZ. 27. ln: Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE 1/1 147. 63 GMR. V. 19. 1. 1871, RMRZ. 101. || || XXXVI Einleitung Honved oder die österreichische Landwehr spielt, nicht in den Raum stellen, weil dann die Reichsratsdelegation einfach nicht bereit sein werde, das Militärbudget zu beschließen. Auch Andrässy schlägt die Umgehung der prinzipiellen Frage, also eine Kompromißlösung vor. Die umstrittene Summe soll so im Budget er¬ scheinen, daß die Möglichkeit nicht ausgeschlossen bleibt, sie „eventuell" auch für die Zwecke der Landwehr zu verwenden. Der Ministerrat nimmt für die ge¬ meinsame Abstimmung Stellung und wünscht ihren Erfolg, nicht im Interesse der Genehmigung eines Budgetpostens, sondern zur Verteidigung des Instituts der Delegationen als „ein vereinigter Vertretungskörper". Unbestrittenermaßen war die Kompetenz der Delegationen außerordentlich beschränkt und ihre Funktion wurde von den Vertretern der Politik und Regie¬ rung in einem gewissen Ausmaß unterschiedlich interpretiert, was die Institution noch zerbrechlicher werden ließ. Dennoch wurde die verfassungsmäßige Verbin¬ dungsinstitution gebraucht und letztlich waren die gemeinsame Regierung und die Landesregierungen darüber ähnlicher Meinung.64 3. Der gemeinsame Ministerrat über die Diener des gemeinsamen Staates a) Die Pensionen der gemeinsamen Beamten und des Militärs Eine spezifische Frage der dualistischen Umgestaltung war, wie der Staat für die gemeinsamen Beamten und für Militärpersonen sorgt, genauer gesagt, wer über die Rentenversorgung der gemeinsamen Beamten und Soldaten bestimmen soll. Die Frage tauchte schon ein Jahr nach dem Ausgleich auf, damals vor allem die Frage der finanziellen Behandlung der gemeinsamen Pensionen.65 1870 treten nicht die finanztechnischen, sondern eher die politisch-staatsrechtlichen Proble¬ me in den Vordergrund. Der gemeinsame Finanzminister Lönyay ließ einen Vorschlag für die Pension der gemeinsamen Beamten erstellen, war sich aber selbst nicht sicher, was mit seinem Antrag geschehen solle.66 Da die Delegationen kein Gesetz schaffen könn¬ ten, wäre es das korrekte Verfahren, wenn die Pension der gemeinsamen Beamten von den beiden Legislativen beschlossen würde. In diesem Fall würden sie aber in einer (gemeinsamen) Angelegenheit, „mit welcher sie gesetzlich nichts zu tun haben", ein Gesetz beschließen. Zur Lösung dieses Widerspruches schlug er im gemeinsamen Ministerrat vor, die Pension der gemeinsamen Beamten einfach Vgl. detaillierter: Somogyi, Die Delegationen als Verbindungsinstitution zwischen Cis- und Transleithanien 1159-1162. GMR. v. 21. 10. 1868, RMRZ. 21. In: Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie 1/1 107-110. Vgl. GA. 1870:IX: über die Pension der Organe der vom Jahre 1849 bis zum Jahre 1867 faktisch bestehenden Zentralregierung. 66 GMR. v. 6. 9. 1870, RMRZ. 82. || || Einleitung XXXVII auf dem Verordnungsweg zu regeln. Seine Kollegen, Außenminister Beust und Kriegsminister Kuhn, würdigen die Besorgnisse des gemeinsamen Finanzmini¬ sters. Andrässy sucht -- wie üblich -- nach einer Kompromißlösung: Man müsse die Delegationen von der Gesetzgebung ausschließen, doch könne man ihnen das von beiden Parlamenten beschlossene Gesetz nachträglich zur Kenntnisnahme mitteilen, wie dies vor zwei Jahren auch mit dem Wehrgesetz geschehen sei.67 Die Konferenz einige Wochen später, nun bereits unter dem Vorsitz des Kai¬ sers, setzt das Pensionsgesetz für die gemeinsamen Zivilbeamten auf die Tages¬ ordnung.68 Hier hält es der Herrscher für erwägenswert, „ob man die Versor¬ gungsansprüche der fraglichen Beamten und ihrer Angehörigen überhaupt in Form eines den Legislativen vorzulegenden Gesetzes regeln müsse, oder ob nicht etwa, was allerdings praktischer wäre, der einfache Normalienweg genüge". So geschieht es, daß nach einer Reihe von Vorträgen Lönyays in dieser Sache69 die Pension der gemeinsamen Beamten zwar provisorisch, aber auf dem Verord¬ nungsweg geregelt wird und dieser provisorische Zustand dann jahrzehntelang in Geltung bleibt.70 Das Zivilpensionsnormale war noch nicht entstanden, als die Pension der Mi¬ litärpersonen vor den gemeinsamen Ministerrat kam.71 Beachtenswert ist, daß nun schon Kriegsminister Kuhn dem ihm zur Vidimierung zugesandten Protokoll eine Marginalnote hinzufügt: „Ich stellte es als eine Prinzipienfrage hin, ob das Pensionsnormale den Vertretungskörpem der beiden Reichshälften, nicht den Delegationen vorgelegt werden soll, den Delegationen steht meiner Ansicht kein Recht zu, über die Ausmaße der Pensionen im einzelnen zu entscheiden." Der Ministerrat unternimmt es nicht, in der Prinzipienfrage zu entscheiden, dies be¬ trachtet er als Recht des Herrschers. Der Kaiser wollte, wie zu erwarten war, keinesfalls die Pension der Militärper¬ sonen vor die Parlamente der beiden Staaten bringen lassen und befürwortete die Verordnungsregelung. Bei dieser Gelegenheit argumentierte Beust, es sei besser, 67 GA. 1867:XII § 13 besagt nämlich, daß die Festlegung und Veränderung des Verteidigungs¬ systems nur im Wege der Gesetzgebung geschehen kann, und zwar nach gleichen Prinzipien aufgrund beiderseitiger Vereinbarung beider Gesetzgebungen. Vgl. Polner, Magyarorszäg es Ausztria közjogi viszonya törteneti kifejlödeseben es jelen alakjäban 178. 68 GMR. v. 5. 11. 1870, RMRZ. 89. Au. Vortrag des Reichsfinanzministers über die Ruhe- und Versorgungsbezüge der gemeinsa¬ men Zivilbeamten v. 15. 9. 1870. HHStA., Kab.Kanzlei, KZ. 3636/1870. Der Herrscher weist an, den Entwurf weiter zu verhandeln. Erneuter Vortrag des Reichsfinanzministers v. 12. 11. 1870. Ebd. KZ. 4396/1870. Darin erstellt der Reichsfinanzminister mit Verweis auf seinen au. Vortrag vom 15. September und den Ministerrat vom 5. November auf die dort verlauteten Wünsche des Herrschers seinen neuen Entwurf. Ah. E. 13. 11. 1870. Verordnung Sr. k. u. k. Apostolischen Majestät, womit die Pensions- und Versorgungsansprü¬ che der bei den gemeinsamen Civilbehörden und Ämtern angestellten Beamten und Diener, deren Witwen und Waisen provisorisch geregelt werden. HHStA., AR. Fach 4, Karton 413. 71 GMR. v. 30. 10. 1870, RMRZ. 87. || || XXXVIII Einleitung die Militärpensionen gesetzlich festzulegen, weil die Delegationen dann die für die Pension bestimmte Summe nicht verweigern können. Schließlich stimmt der Herrscher unter der Bedingung zu, „daß die Ingerenz der Legislativen auf innere Armeeangelegenheiten über die Regelung der Pensionsbezüge nicht hinausstreckt werde".72 Ein halbes Jahr später arbeitet Kriegsminister Kuhn auf wiederholtes Drängen der Delegationen zwei umfangreiche Elaborate aus: Normale über Versorgung der Offiziere, Militärgeistlichen, Militärbeamten und Normale betreffend die Militärversorgung der Unteroffiziere und Soldaten,73 die der Ministerrat wieder unter dem Vorsitz des Kaisers behandelt.74 Die Frage ist wieder, wie der Entwurf des Kriegsministers formal behandelt werden soll, ob als Entwurf einer Armee¬ verordnung oder als Gesetzentwurf, und wenn die Arbeiten des Kriegsministeri¬ ums als letzterer interpretiert werden, welches Vertretergremium dann zu dessen Verhandlung befugt sei. Kuhn lehnt nicht ab, über die Militärpension ein Gesetz zu schaffen, und zwar auf solche Weise, wie es auch im Falle des Wehrgesetzes, Militärstrafgesetzes oder Pferdekonskriptionsgesetzes geschehen sei, daß der Vorschlag also von den Ministerpräsidenten der beiden Staaten dem Wiener Reichsrat bzw. dem ungarischen Reichstag vorgelegt wird. Auch Beust vertritt ähnlich wie früher75 den Standpunkt, man müsse ein Gesetz über die Militärpen¬ sionen schaffen, und dann könnten die Delegationen nachträglich nicht die Her¬ absetzung des Pensionsetats verlangen. Natürlich betont auch Andrässy, daß nur die Parlamente über Gesetzgebungsrecht verfugen, dennoch würde er es für nütz¬ lich halten, die Delegationen in den Vorbereitungsprozeß des Gesetzes einzube¬ ziehen, weil deren Einverständnis fordern würde, daß die beiden Parlamente gleichförmige Gesetze verabschieden. Der Kaiser willigt in diesem Ministerrat in die Ausarbeitung beider Gesetzesentwürfe ein, die der Kriegsminister Ende 1871 dem Herrscher unterbreitet. Im Januar 1872 hat er dann eine Allerhöchste Ent¬ schließung „behufs verfassungsmäßiger Behandlung an beide Ministerpräsiden¬ ten leiten" lassen.76 72 GMR. v. 5. 11. 1870, RMRZ. 89. 73 Au. Vortrag des Reichskriegsministers vom 15. 5. 1871 Nr. 1561 um Ag. Sanktion des Ent¬ wurfes eines neuen Normale betreffend die Versorgung der Offiziere, Militär-Geistlichen, Militärbeamten und der sonst im Gagebezuge stehenden Personen des Heeres, dann des Nor¬ male betreffend die Militärversorgung der Unteroffiziere und Soldaten des Heeres, sowie um die Allh. Ermächtigung diese beiden Entwürfe der verfassungsmäßigen Behandlung zufüh¬ ren zu dürfen. KA. MKSM. 74-3/2/1871. 74 GMR. v. 15. 6. 1871, RMRZ. 114. 75 GMR. v. 5. 11. 1870, RMRZ. 89. 76 Au. Vortrag des Reichskriegsministers v. 30. 11. 1871 Gesetzentwurf über die Versorgung der Personen der k. k. Kriegsmarine [Nr. 1646]; au. Vortrag des Reichskriegsministers v. 13. 12. 1871, womit der Entwurf des Gesetzes betreffend die Militärversorgung der Personen des k. k. Heeres au. vorgelegt wird. [Nr. 4401] Ah. E. v. 20. 1. 1872. MKSM. 74-3/3/1872. || || Einleitung XXXIX Die Annahme der Militärpensionen in beiden Parlamenten scheint dennoch keine so einfache Sache gewesen zu sein. 1875 -- damals war bereits Alexander Freiherr von Koller der Reichskriegsminister - war der gemeinsame Ministerrat noch immer um die Beschleunigung des Militärpensionsgesetzes bemüht77 und das betreffende Gesetz wurde erst am Ende des Jahres angenommen.78 Bei der Regelung der Pension der gemeinsamen Beamten und der Militärs zeig¬ ten sich die grundsätzlichen Widersprüche im parlamentarischen System des dua¬ listischen Reiches, die wieder und wieder aufbrechende Unsicherheit hinsichtlich der Kompetenzen der Delegationen und der beiden Parlamente. Was soll gesche¬ hen, wenn über Angelegenheiten entschieden werden muß, die das ganze Reich betreffen, wie kann erreicht werden, daß beide Parlamente in gemeinsamen Ange¬ legenheiten identische Gesetze schaffen? Der Vermittler war in diesen Jahren üb¬ licherweise Gyula Andrässy. Der ungarische Ministerpräsident vertrat immer die Ansicht, man dürfe in den anstehenden Angelegenheiten keinen prinzipiellen Be¬ schluß fassen (weil dies in der gegebenen Reichsstruktur sehr schwer und in vielen Fällen gar nicht möglich sei), sondern müsse eine praktische Lösung finden. Die ungarische Delegation dürfe kein Gesetz schaffen - wiederholt er in den Beratun¬ gen über die Pension der gemeinsamen Beamten und der Militärs immer wieder -, aber laßt uns deshalb die Delegationen nicht vom Prozeß der Gesetzgebung aus¬ schließen, denn ohne sie kann keine für die Gesamtmonarchie nutzbare Entschei¬ dung gefallt werden. Und wenn es nicht gelingt, in irgendeinem konkreten Fall ein Gesetz zu schaffen, ist die Möglichkeit einer provisorischen Lösung gegeben, die Regelung per Verordnung (wie bei der Beamtenpension), und die verfassungsmä¬ ßige Entscheidung kann auf bessere Zeiten verschoben werden. Der gemeinsame Ministerrat ist das Forum der Abstimmung der Standpunkte und Interessen, der Schaffung von Kompromissen, das ist sicher seine wichtigste Aufgabe. b) Gesetz über die Anstellung ausgedienter Unteroffiziere Gemäß dem Wehrgesetz von 1868 hatten jene, die mindestens zwölf Jahre im Heer und mindestens acht Jahre als Unteroffizier gedient haben, dadurch den Anspruch auf die Verleihung von Anstellungen im öffentlichen Dienste, dann bei den vom Staate subventionierten Eisenbahn-, Dampfschiff- und anderen Unter¬ nehmungen erlangt. Das Wehrgesetz bestimmt auch, daß über dessen praktische Verwirklichung ein Gesetz erlassen werden muß.79 GMR. v. 13. 1. 1873, RMRZ. 159. Die vor dem Erscheinen stehenden Ministerratsprotokolle der Andrdssy-Periode hat mir Imre Ress zur Verfügung gestellt, wofür ich ihm danke. RGBl. 158/1875, Gesetz vom 27. Dezember 1875, betreffend die Militärversorgung der Per¬ sonen des k. k. Heeres, der k. k. Kriegsmarine und k. k. Landwehr bzw. GA. LI/1875. 79 GA. XL/1868 § 38 (vgl. 11/1873), RGBl. Nr. 151 § 38 v. 5. 12. 1868. || || XL Einleitung Bis zum Frühjahr 1870 ist der Entwurf des ungarischen Honvedministers fer¬ tiggestellt, aber ein Punkt weckt beim Reichskriegsminister derartige Besorgnis, daß er mit seiner Abdankung droht. Es handelt sich darum, daß der ungarische Vorschlag jene Unteroffiziere bevorzugen würde, die mindestens zwei Jahre bei den Honveds gedient haben, gegenüber jenen, die ausschließlich beim Heer oder bei der Kriegsmarine waren. Der Kriegsminister hält es für inakzeptabel, daß die Honveds über die gemeinsame Armee gestellt werden sollen, was er „mit seinem Sinne für das Wohl und für den Geist des einheitlichen Heeres sowie für die Har¬ monie zwischen allen Theilen der bewaffneten Macht, endlich mit seinem Rechts¬ gefühle nicht vereinnehmen kann."80 Natürlich kommt es nicht zu Kuhns Rück¬ tritt, es beginnen Verhandlungen, im Laufe derer die ungarische Regierung verspricht, den inkriminierten Passus zurückzunehmen.81 Beide Regierungen be¬ ginnen mit der Ausarbeitung des Gesetzesvorschlages und da eine übereinstim¬ mende Regelung erforderlich ist, stimmen sich beide Regierungen ab. Die Be¬ strebung der Ungarn, die Honvedsoldaten zu bevorteilen, ist nicht mehr spürbar, und so kommt es nicht zu einem Konflikt zwischen den Standpunkten beider Regierungen. Gerade umgekehrt. Gegen den Kriegsminister, der erreichen möch¬ te, daß auch die Munizipialbehördenstellungen in den Gesetzentwurf einbezogen werden, bringen beide Landesregierungen gleicherweise ihre verfassungsmäßi¬ gen Besorgnisse zum Ausdruck.82 Die Entstehung des Gesetzes über die Anstel¬ lung ausgedienter Unteroffiziere verdient gerade deswegen besondere Aufmerk¬ samkeit, weil es einen der nicht allzu häufigen Fälle darstellt, daß beide Staaten gemeinsam zum Schutz ihrer Gesetze gegen die Ambitionen des Reichskriegsmi¬ nisters auftreten. Seit dem Frühling 1870 drängt Kuhn auf die Regelung der Beschäftigung aus¬ gedienter Unteroffiziere, er hält es für wichtig, „daß den Unteroffizieren, welche sich mit der Aussicht auf einstige Anstellung im Civildienste zum Weiterdienen verpflichten wollen, eine Bürgschaft für die Realisierung der ihnen zugesagten Begünstigung dargeboten werde".83 Die diplomatisch-militärische Krise im Som¬ mer verdrängt aber dieses Thema und es kommt erst im Herbst auf die Tagesord- nung des gemeinsamen Ministerrates. Beide Ministerpräsidenten berufen sich darauf, daß die Autonomie der Munizipalbehörden, ihr Recht auf die Besetzung gewisser Stellen durch Wahl, respektiert werden müsse. Kuhn weist die konstitu¬ tionellen Einsprüche der beiden Landesminister spöttisch und hochmütig zurück (soweit sich dies dem formalisierten Text des Ministerratsprotokolls entnehmen läßt) und besteht darauf, daß die Sache der Munizipalbehördenstellen zumindest in Vorschlag gebracht werde.84 Binnen eines halben Jahres gibt es jedoch keinen 80 Au. Vortrag des Reichskriegsministers [Nr. 793] v. 3. 3. 1870, KA. MKSM. 72-4/3/1870. 81 Siehe die Ah. E. v. 6. 3. 1870 aufden Vortrag des Reichskriegsministers. Ebd. 82 Au. Vortrag des k. k. Landesverteidigungsministers [Nr. 2066] v. 27. 3. 1870. Ebd. 83 Ebd. 84 GMR. v. 6. 9. 1870, RMRZ. 82. || || Einleitung XLI wesentlichen Fortschritt in dieser Frage.85 Dagegen findet Ende April im Kriegs¬ ministerium eine Beratung statt, in der die Mitglieder der beiden Regierungen den Herrscher über die laufenden, das Militär betreffenden Gesetze informie¬ ren.86 Diese ausgesprochen fachliche Besprechung zeigt die Kompromißgeneigt¬ heit der Parteien, die dann auch im angenommenen Gesetz zum Ausdruck kommt. Denn das in Cisleithanien im April 1872 und in Ungarn ein Jahr später beschlos¬ sene Gesetz macht einen definitiven Unterschied zwischen den Stellen, die aus¬ schließlich ausgedienten Unteroffizieren Vorbehalten sind, und jenen, bei deren Besetzung die ausgedienten Unteroffiziere nur einen Vorteil genießen.87 Die lange Entstehungsgeschichte des Gesetzes (das Thema stand ja seit 1868 auf der Tagesordnung) zeigt, daß es, wenn auch unter Schwierigkeiten, dem Wie¬ ner Reichsrat und dem ungarischen Reichstag doch gelang, in einer militärischen (also gemeinsamen) Angelegenheit im wesentlichen gleichlautende Gesetze zu verabschieden; demnach erwies sich dieses wichtige Element des dualistisch¬ konstitutionellen Systems als tatsächlich funktionsfähig. 4. Staatsrechtliche Probleme Im folgenden geht es nicht um Staatsrechtsfragen im eigentlichen Sinn, also um solche, die die dualistische Umgestaltung direkt betrafen und die in den ersten ein bis zwei Jahren der Epoche im gemeinsamen Ministerrat bestimmende Rollen spielten; etwa ob die Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten in die Kom¬ petenz des „Reichs-" oder des „gemeinsamen" Ministers gehört oder wie im „Ti¬ tel" des Herrschers die neuen staatsrechtlichen Verhältnisse zum Ausdruck kom¬ men.88 Hier wird eher von Gegenständen die Rede sein, die vom gemeinsamen Ministerrat wegen ihrer staatsrechtlichen Implikationen behandelt wurden, wie im Falle der Entmilitarisierung der Militärgrenze, der Niederschlagung des dal¬ matinischen Aufstandes oder der Übergabe des Ludovicealfonds an Ungarn. Letztlich hatte ein großer Teil der im Ministerrat behandelten Angelegenheiten staatsrechtliche Implikationen, bzw kamen im Laufe der Diskussionen in der Ar- 85 Vgl. GMR. v. 14. 3. 1871, RMRZ. 106. 86 KA.MKSM. 65-2/2 v. 26. 4. 1871. An der Beratung nehmen außer dem Kriegsminister die beiden Ministerpräsidenten, der ungarische Finanzminister Kerkapoly, Unterstaatssekretär im kgl. ung. Landesverteidigungsministerium Ernö Hollän, der k. k. Landesverteidigungsmi¬ nister Freiherr von Scholl und FML. Alexander Benedek teil, der üblicherweise den Kriegs¬ minister in der ungarischen Delegation vertrat. 87 RGBl. Nr. 60/1872 bzw. GA. n/1873. Beachtenswert ist, daß der Text beider Gesetze nicht völlig identisch ist. § 4 der ungarischen Variante hält die Hälfte derfrüher umstrittenen Mu- nizipialbehördenstellenfür ausgediente Unteroffizierefrei, worüber im österreichischen Ge¬ setz keine Rede ist. 88 Siehe De Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarche 1/1, Einleitung XXV-XXX. || || XLII Einleitung gumentation der Teilnehmer am Ministerrat die staatsrechtlichen Elemente der Angelegenheiten zum Vorschein. Es ist ja bekannt, daß diesseits und jenseits der Leitha der Begriff gemeinsame Angelegenheiten unterschiedlich interpretiert wurde. In Österreich waren die gemeinsamen Angelegenheiten, die gemeinsamen Ministerien und das gemeinsame Heer Ausdruck der Einheit, sie bedeuteten, daß das einheitliche Reich nach 1867 in diese Bereiche zurückgedrängt worden war. In Ungarn dachte man in zwei Staaten, die zwar durch die gemeinsamen Angele¬ genheiten miteinander verbunden waren, ohne daß aber die Existenz der gemein¬ samen Angelegenheiten eine Reichsgemeinschaft geschaffen hätte. Diese unter¬ schiedliche Rechtsaulfassung wirkte sich in zahlreichen praktischen Fragen aus und die Stellungnahmen in den praktischen Fragen waren immer wieder von staatsrechtlichen Überlegungen durchwoben. a) Die Frage der Aufhebung der Militärgrenze Der 1867er Ausgleich verfugte nichts über die kroatische Militärgrenze, weil aber der GA. V/1848 sie als Teil Ungarns anerkannte, trat mit der Wiederherstel¬ lung der '48er Gesetze - zumindest nach ungarischer Auffassung - 1867 automa¬ tisch das '48er Gesetz wieder in Kraft. Im kroatisch-ungarischen Ausgleich von 1868 übernahm Ungarn die deklarierte Verpflichtung, die legislative und admini¬ strative Vereinigung der Militärgrenze mit Kroatien zu betreiben.89 Durch die dualistische und verfassungsmäßige Umgestaltung der Monarchie und dann die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht war die Aufrechterhaltung des Mili¬ tärgrenzsystems endgültig anachronistisch geworden. Besondere Aktualität er¬ hielt die Sache dadurch, daß die Militärverwaltung in der Grenze mit einem gro߬ angelegten Waldverkaufsgeschäft begonnen hatte, um aus dessen Einnahmen ihr Budgetdefizit zu decken. Diese Unternehmung weckte schlimme Besorgnisse, denn es war durchaus umstritten, ob das Kriegsministerium in eigener Befugnis überhaupt ein Geschäft derartigen Volumens in Angriff nehmen dürfe. Daneben war zu befürchten, daß der auf 20 Jahre geplante Holzeinschlag die zivile Um¬ wandlung der Militärgrenze für die ganze Periode verhindern werde. Nach lan¬ gen Ministerratsverhandlungen erreichte der ungarische Ministerpräsident Gyula Andrässy im August 1869, im wesentlichen mit Umgehung des gemeinsamen Ministerrates, daß der Herrscher die sofortige Übergabe der beiden Warasdiner Regimenter an die Zivilbehörden anordnete und die Organisierung der Zivilver¬ waltung für die übrigen neun kroatisch-slawonischen Regimenter versprach.90 89 GA. XXX/1868. 90 Über die Entmilitarisierung der Militärgrenze siehe: GMR. v. 30. 6. 1868, RMRZ. 18; GMR. v. 3.11. 1868, RMRZ. 23; GMR. v. 14. 11. 1868, RMRZ. 24; GMR. v. 17. 11.1868, RMRZ. 25; GMR. v. 9. 2. 1869, RMRZ. 34; GMR. v. 18. 2. 1869, RMRZ. 36; GMR. v. 27. 2. 1869, RMRZ. 37; GMR. v. 7. 5. 1869, RMRZ. 43; GMR. v. 26. 5. 1869, RMRZ. 44; GMR. v. 1. 7. 1869, RMRZ. 53; GMR. v. 11. 8. 1869, RMRZ. 58; GMR. v. 13. 8. 1869, RMRZ. 59; GMR. v. 12. 10. || || Einleitung XLIII Im Dezember 1869 einigt sich der Kriegsminister mit der ungarischen Regie¬ rung über die Einzelheiten, wie die Übergabe der beiden Warasdiner Regimenter praktisch vor sich gehen solle, welche Investitionen aus dem Waldverkaufsge¬ schäft in dem Gebiet getätigt werden sollen (Sumpfentwässerung, Kanal- und Eisenbahnbau), und sie vereinbaren auch, daß das Grenzverwaltungsbudget aus dem Heeresbudget ausgesondert wird. Die Entmilitarisierung wurde von der Lokalbevölkerung (den Grenzern) un¬ terschiedlich aufgenommen. Im Januar 1870 ernannte der Herrscher FML. Anton Freiherr von Mollinary zum kommandierenden General in Agram mit der Aufga¬ be, die Auflösung des Militärgrenzsystems in den Ländern am Südrande der Monarchie durchzuführen. Als Mollinary im Sommer 1871, in den Momenten kriegerischer Spannung, eine Rundreise in der Militärgrenze unternahm, emp¬ fand er die dortigen Verhältnisse als besorgniserregend und befürchtete, im Falle einer eventuellen Mobilisierung würden die Grenzer dem Befehl des Herrschers einfach nicht Folge leisten. Mollinarys Bericht bildete die Grundlage und den Gegenstand des Ministerrates vom 4. August. Die Provinzialisierung der Militärgrenze war wirklich ein kompliziertes, viel¬ verzweigtes Problem. Sie berührte die Grundlage der Existenzbedingungen der Grenzer. Offensichtlich mußte man sie an der Umgestaltung interessiert werden lassen (darüber sprach der gemeinsame Finanzminister Lönyay und im Zusam¬ menhang mit den politisch-staatsrechtlichen Fragen auch der ungarische Mini¬ sterpräsident); zu regeln waren das Nutznießungsrecht der Wälder, die Verwen¬ dung der Einnahmen aus den geplanten riesigen Waldgeschäften, das Kommunitätswesen, die Freizügigkeit der Grenzer, die Erleichterung des Besitz¬ kaufes; und für die Offiziere der Militärgrenze mußte die Möglichkeit geschaffen werden, ein ziviles Amt zu besetzen. Es handelte sich um den komplizierten Fra¬ genkomplex der Verbürgerlichung eines traditionell militärischen Gebietes und hier bedeutete die Verbürgerlichung bei weitem nicht nur die „Entmilitarisie¬ rung", sondern wirklich die Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschafts¬ struktur. Die Umgestaltung hatte jedoch auch eine nicht weniger wichtige politisch¬ staatsrechtliche Seite. Der kroatisch-ungarische Ausgleich schrieb die Entmilita¬ risierung der Militärgrenze und Vereinigung mit Zivilkroatien vor. Der ungarische Ministerpräsident betont im gemeinsamen Ministerrat die Un¬ trennbarkeit von sozialer und staatsrechtlicher Umgestaltung. Die Provinzialisie¬ rung der Militärgrenze müsse bei gleichzeitiger Einführung der Reformen vor sich gehen. Es sei zu vermeiden, daß der Reichskriegsminister als einziger Wohl¬ täter in der Militärgrenze erscheine, bei der Umgestaltung müßten Militär- und 1869, RMRZ. 61; GMR. v. 14. 10. 1869, RMRZ. 62. Publiziert in Dm Protokolle des gemein¬ samen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie Ul; und die Einleitung zu diesem Band XXVIH-XXX. || || XLIV Einleitung Zivilverwaltung Zusammenwirken. Die Verbürgerlichung (in der Interpretation des ungarischen Ministerpräsidenten) müsse das Ansehen der kroatischen Zivil¬ regierung, die kroatischen politischen Faktoren der Unionspartei (der kroatisch¬ ungarischen Ausgleichspartei) stärken. Die Grenzauflösung hängt also sehr wohl mit dem dualistischen System zu¬ sammen - dessen organische Bestandteile die Wiederherstellung der Einheit der ungarischen Krone und der eigentümliche Subdualismus sind, der im 68er kroa¬ tisch-ungarischen Ausgleich verwirklicht wurde. Für die ungarische Politik ist die Verbürgerlichung der Militärgrenze eigenartigerweise eine staatsrechtliche (nationale) Errungenschaft. - Darauf weist Andrässy hin, wenn er sagt, daß „in Ungarn der Verband mit Österreich noch nie so akzentuiert wurde als in dem gegenwärtigen Moment. Diese günstige Stimmung solle man nicht durch Zurückgehen in der Grenzfrage trüben." Die Entmilitarisierung hängt noch in anderer Hinsicht mit dem Dualismussystem zusammen, und zwar mit einem neuralgischen Punkt, der Aufteilung der gemeinsamen Ausgaben. Die Verbürger¬ lichung erfordert, daß eine neue Quotenvereinbarung zwischen Cisleithanien und Ungarn zustande kommt. Und da die politischen Kräfte Cisleithaniens natürlich nicht mit Sympathie aufhehmen, daß die Militärgrenze nach Jahrhunderten - zu¬ mindest mittelbar - unter die Oberhoheit der ungarischen Krone kommen solle, sind sie nicht besonders bestrebt, in der Quotenfrage mit dem ungarischen Ver¬ handlungspartner ins Einvernehmen zu kommen (die im übrigen auch die cislei- thanische innenpolitische Krise behindert). Im Ministerrat vom 4. August, mitten in der Kriegsvorbereitung, kommt der ganze Komplex der Militärgrenzfrage zur Sprache, also die gesellschaftlichen und die staatsrechtlich-politischen Probleme, und daß eine der wichtigsten Vor¬ aussetzungen für praktische Maßnahmen die Übereinkunft der beiden Länder in der Quotenfrage wäre. Weil aber die Entwicklung der außenpolitischen Verhält¬ nisse ungewiß ist, kann der gemeinsame Ministerrat nichts anderes tun, als die Probleme zu konstatieren. Einen wirklichen Beschluß faßt er nicht. Franz Joseph macht nur darauf aufmerksam, daß der Friede in der Militärgrenze erhalten und gesichert werden müsse, damit die Grenzer im Mobilisierungsfalle der Marschord¬ re bereitwillig Folge leisten. Man müsse die Provinzialisierung populär machen. Was im Ministerrat aus dem Munde des Herrschers verlautet, ist aber eher als politisches Grundprinzip und nicht als Handlungsbeschluß zu betrachten. Aus Mollinarys Memoiren wissen wir,91 daß der Reichskriegsminister nach dem Ministerrat die Verhandlungen mit der ungarischen Regierung fortsetzte, bis Der Herrscher warfolgender Ansicht: „An der dualistischen Gestaltung des Reiches, sowie an dem durch den Ausgleich vom Jahre 1868 geregelten staatsrechtlichen Verhältnisse zwi¬ schen Kroatien und Ungarn dürfe nicht gerüttelt werden, daherjene Personen ferne zu halten seien, die zur Beratung und Beschlussfassung über die Art und Weise der Aufhebung des Militärsystems und die künftige staatsrechtliche Stellung ihres Landes einen Grenzer-Land¬ tag verlangten. Derlei könne durchaus nicht bewilligt werden. Auch müsse bis zum Tage der || || Einleitung XLV dann der deutsch-französische Krieg und die diesem folgenden internationalen Komplikationen eine Zeitlang das Militärgrenzproblem verdrängten.92 Nach dem Krieg, als das Problem, die Grenzer könnten im Falle einer Mobilisie¬ rung den Herrscherbefehl nicht befolgen, notwendigerweise seine Aktualität verliert, treten die staatsrechtlichen und Budgetfragen im Zusammenhang mit der Verbürger¬ lichung der Militärgrenze in den Vordergrund bzw. kommen sie auf die Tagesord¬ nung des gemeinsamen Ministerrates; also die Änderung der Quote infolge der Grenzinkorporierung,93 die Kostendeckung für die 1871 noch bestehende Mili¬ tärgrenze, die Durchsetzung des Standpunktes, daß ungeachtet der geplanten Ver¬ bürgerlichung die Aufrechterhaltung der Militärgrenze im laufenden Jahr noch das gemeinsame Budget belastet,94 das Schicksal der überzählig werdenden Militärgrenz¬ offiziere, ihre Übernahme ins gemeinsame Heer oder in die Zivilverwaltung.95 Die Gesetze vom 8. Juni 1871 mit ihrer entscheidenden Bedeutung für den Prozeß der Militärgrenzregelung verfügten nicht nur über die Quote, sondern leg¬ ten „die Übergabe eines Teiles der Militärgrenze in die Zivilverwaltung" fest.96 Damit war der Prozeß der Beseitigung der Militärgrenze imumkehrbar geworden, aber seine Durchführung zog sich ein Jahrzehnt lang hin, währenddessen die ge¬ sellschaftlich-politischen Spannungen in dem Gebiet nicht abrissen und von Zeit zu Zeit zum offenen Aufstand führten.97 Übergabe der Militärdistrikte an die Zivilbehörden in absoluter Weise, wie bisher, regiert und verwaltet werden." Mollinary, Sechsundvierzig Jahre im österreichisch-ungarischen Heere 1833-1879, Bd. 2 205. 92 Ebd. 223. 93 GMR. v. 5. 11. 1870, RMRZ. 89. In dieser Angelegenheit wird 1871 eine Lösung gefunden. Beide Regierungen einigen sich darauf, daß von der jährlich festzustellenden Summe der gemeinsamen Ausgaben zunächst die Quote von 0,4 Prozent bzw., wenn auch die übrigen Teile der Militärgrenze mit Kroatien vereinigt werden, 2 Prozent zu Lasten Ungarns abgezo¬ gen werden. Den diesbezüglichen Gesetzesvorschlag legen im Frühling 1871 die Finanzmi¬ nister ihren Parlamenten vor. Das angenommene Gesetz: Gesetz v. 8. 6.1871, RGBl. Nr. 49. In: Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 558-559; das betreffende ungari¬ sche Gesetz: GA. IV/1872. 94 GMR. v. 15. 1. 1871, RMRZ. 98. 95 GMR. v. 20. 7. 1871, RMRZ. 117. 96 Au. Vortrag des Reichskriegsministers v. 25. 5. 1871 wegen Erlaß eines Ah. Manifestes einer kais. Verordnung und eines kgl. Reskriptes betreffend die Ausscheidung einiger Gebietsteile aus der Militärgrenze und deren Übergabe in die Zivilverwaltung. Ah. E. v. 8. 6. 1871, K. k. Verordnung v. 8. 6. 1871 betreffend die Bestimmungen für die Übergabe der beiden Waras- diner Grenzregimentsbezirke, der Militärkommunitäten Zengg, Beiovar und Festung Ivanic, dann der Gemeinde Sissek des zweiten Banalgrenzregimentes aus der Militär- in Civil- Verwaltung. KA.MKSM 49-2/24-25/1871. 97 Neuerdings bietet eine hervorragende Zusammenfassung dieser Frage: Katus, Hungary in the dual Monarchy 1867-1918 55-68. Vgl. weiter: Horel, Soldaten zwischen den nationalen Fronten 73-97. || || XLVI Einleitung b) Dalmatinische Angelegenheiten Der gemeinsame Ministerrat setzt 1870 mehrfach die Ausgaben für Dalmatien auf die Tagesordnung und beschließt nach unterschiedlichen Vorbehalten und Einsprüchen am Ende wie üblich, man müsse verhindern, daß die Angelegenheit Dalmatiens vor den Reichsrat komme, und deshalb sollten die dalmatinischen speziellen Ausgaben in das gemeinsame Budget eingestellt werden.98 Um die Dinge verstehen zu können, muß man die spezifische staatsrechtliche Lage Dalmatiens kennen. Dalmatien geriet in den 1860er Jahren, als das verfassungsmäßige Leben in der Monarchie einsetzte, in eine eigenartige Lage. Praktisch gleichzeitig tagten in Zagreb der kroatisch-slawonisch-dalmatinische Sabor und in Zadar der dalmati¬ nische Landtag. Im Dezember 1867 sanktionierte der Herrscher die österreichi¬ sche Dezemberverfassung, die Dalmatien als eines der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder (also als Teil Österreichs) anerkannte, und einige Mona¬ te später den kroatisch-ungarischen Ausgleich (Nagodba), in dem eine Reihe von Paragraphen die Einheit Kroatiens, Slawoniens und Dalmatiens, das kroatisch- slawonisch-dalmatinische Parlament und die kroatisch-slawonisch-dalmatinische Regierung behandeln. Die Nagodba anerkannte das Recht der ungarischen Heili¬ gen Krone auf das Land, so daß Dalmatien de facto zu Österreich, de jure sowohl hierhin als auch dorthin gehörte. Im Dezember 1868 verursachte die Angelegenheit Dalmatiens im österreichi¬ schen Reichsrat einen Sturm.99 Die deutschösterreichischen Liberalen protestier¬ ten dagegen, daß die Zagreber Gesetze von Kroatien-Slawonien-Dalmatien spra¬ chen. Es ging nicht nur um das Schicksal des Landes, sondern um das darin versteckte juristische Präzedenz: Kann die ungarische Gesetzgebung (der kroa¬ tisch-ungarische Ausgleich) die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Län¬ der tangieren? In welchem Verhältnis stehen die Gesetze beider Reichshälften (Österreich und Ungarn) zueinander? Wo war die gemeinsame Regierung, als der kroatisch-ungarische Ausgleich geschlossen wurde, und was tat sie zum Schutz der Dezemberverfassung? Die gemeinsame Regierung mobilisierte - wie sie es bei solchen Anlässen zu tun pflegte - die Archivare, Historiker und Staatsrechtler, sammelte die Meinun¬ gen der Experten und urteilte auf dieser Basis, daß Dalmatien seit 1797 im selben Verhältnis zum engeren Österreich stehe wie sämtliche übrigen Königreiche und Länder. Dieses Verhältnis hätten die Verfassungen von 1861 und 1867 sanktio¬ niert. Der kroatisch-ungarische Ausgleich habe sich in einen Bereich verirrt, der Dalmatinische Angelegenheiten wurden im GMR. v. 15. 8. 1870, RMRZ. 77; GMR. v. 11. 9. 1870, RMRZ. 84; GMR. v. 29. 10. 1870, RMRZ. 86 besprochen. 99 Die staatsrechtliche Situation Dalmatiens diskutierte der gemeinsame Ministerrat am 4. Ja¬ nuar 1869. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie 1/1 167--168. Siehe den Kommentar zum Protokoll. || || Einleitung XLVII die reale Befugnis beider Vertragspartner übersteige, und sei deshalb nicht ver¬ bindlich. Aber auch nach all dem wies der gemeinsame Ministerrat nicht § XXX der Nagodba zurück, sondern meinte, wenn die Kroaten einst bemüht sein wer¬ den, ihre Sehnsüchte und Wünsche tatsächlich zur Geltung zu bringen, werde die gemeinsame Regierung auf der Februar- und Dezemberverfassung bestehen. In Wirklichkeit nahm sie den Standpunkt ein, die Nagodba sei bloß ein Text. Sie nahm zur Kenntnis, daß in der Monarchie zwei gegensätzliche Gesetze in Kraft seien, wollte keine klare Lage schaffen, nicht entscheiden, nicht eingeste¬ hen, daß im Reich Interessen aufeinanderstießen. Im wesentlichen gleichen Sinnes war auch die Stellungnahme des ungarischen Ministerpräsidenten Gyula Andrässy: Er anerkannte die De-facto-Lage und sagte nur, wie die Dinge auch immer stünden, ein ungarischer Politiker könne nicht auf irgendein virtuelles Recht der Ungarischen Heiligen Krone verzichten (d. h. er könne nicht eingeste¬ hen, daß er auf Dalmatien verzichtet habe).100 Der Fall Dalmatiens ist ein auffälliges Zeichen dafür, daß das komplizierte System von Kompromissen, auf dem der Ausgleich (einschließlich der Nagodba) beruhte, notwendigerweise staatsrechtliche Unsicherheiten, Unklarheiten enthielt und es im Interesse des funktionierenden Systems ratsam war, eindeutige und prinzipielle Entscheidungen zu vermeiden. Obwohl den Reichsratsabgeordneten gesagt wurde, daß Dalmatien in demsel¬ ben Verhältnis zum engeren Österreich wie sämtliche übrigen Königreiche und Länder stehe, war dies nicht einmal dem formalen Verwaltungsrecht gemäß der Fall. Die Statthalter Dalmatiens gehörten dem Militärstand an. Sie standen also nicht nur der höchsten Zivilverwaltung vor, sondern befehligten in ihrer Eigen¬ schaft als Militärkommandanten von Zara gleichzeitig die k. u. k. Truppen in Dal¬ matien.101 Diese Lösung war selbstverständlich die Folge der außerordentlich gefährdeten strategischen Lage Dalmatiens: Das Festland-Dalmatien grenzte mit seiner gesamten Länge an das Türkische Reich. Obwohl die Türkei selbst in freundschaftlichem Verhältnis zur Monarchie stand, waren ihre slawischen Län¬ der dennoch eine ständige Bedrohung für die Monarchie. Die inneren und äuße¬ ren Existenzbedingungen Dalmatiens waren die Gründe, die Zivil- und Militär¬ verwaltung in einer Hand zu vereinigen.102 1869 brach in Dalmatien ein Aufstand aus. Infolge der Einführung der allge¬ meinen Wehrpflicht verloren die Ragusaner und Cattareser ihr früheres Privileg und wurden in die österreichische Landwehr gemustert, was in der Gegend ele¬ mentaren Widerstand hervorrief. Die Militärfuhrung kommandiert große reguläre 100 Lederer, Gr6fAndrässy Gyula beszedei Bd. 2 249-251. 101 Buczynski, Der Dalmatinische Landtag 1982. Die militärischen Statthalter Dalmatiens wa¬ ren: Johann Wagner (1867-1869), Gabriel Freiherr von Rodich (1870-1881). 102 Ein ausgezeichnetes Bild der besonderen strategischen und staatsrechtlichen Lage Dalmati¬ ens bietet: Memoire des Reichsfinanzministers Freiherr v. Becke v. 6. 2. 1869. ln: Dm Proto¬ kolle DES GEMEINSAMEN MlNISTERRATES DER ÖSTERREICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE 1/1 201- 206. || || XLVIII Einleitung Kräfte gegen die Aufständischen, General Auersperg wird zum Kommandanten der Militärstreitkräfte im Bezirk Cattaro ernannt, mit militärischer und politischer Generalvollmacht versehen, doch fuhrt sein Auftreten nicht zum Erfolg. Die zu¬ nehmend eskalierende Guerillabewegung niederzuschlagen gelingt erst dem Nachfolger Auerspergs, dem aus Kroatien stammenden und die Verhältnisse der Gegend kennenden General Rodich. In Wirklichkeit schließt dieser einen Kom¬ promiß mit den Aufständischen, die die Waffen niederlegen und Amnestie erhal¬ ten.103 Die weitverzweigte und komplizierte Aktion kostete natürlich viel Geld. Doch brauchte der Ministerrat nicht darüber zu verhandeln, wie ungeschickt und unvorbereitet das Vorgehen der cisleithanischen Regierung, die Einführung des Wehrgesetzes in einem Gebiet gewesen war, das zuvor nur in loser Beziehung zur Zentralregierung gestanden hatte, in deren Bewohnern sich kaum irgendwelche Loyalität gegenüber dem Staat oder gar der Dynastie entwickelt hatte - dies wäre vielleicht auch für die Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates ein zu kompli¬ ziertes Problem gewesen. Sie mußten nur beschließen, ob das Einschreiten der bewaffneten Macht gegen den dalmatinischen Aufstand den Charakter einer mi¬ litärischen Maßregel hatte oder eine administrative Verfügung war, ob also die Kosten aus dem gemeinsamen oder aus dem cisleithanischen Budget gedeckt werden müßten.104 Formal werden vielleicht jene recht gehabt haben, die die Lösung des dalmati¬ nischen Problems als „Verwaltungstätigkeit" qualifizierten und somit das cislei- thanische Budget belastet hätten. Die im gemeinsamen Ministerrat anwesenden cisleithanischen Minister warnten jedoch davor, und nicht einmal so sehr aus fi¬ nanziellen Erwägungen heraus, sondern wegen der politischen Folgen. Wenn die fraglichen Ausgaben ins cisleithanische Budget eingestellt würden, käme das ganze dalmatinische Problem erneut vor das Parlament und würde einen außeror¬ dentlichen Angriff auf die Regierung auslösen. Statthalter Rodichs Lage würde unhaltbar.105 Man muß versuchen - sagen Ministerpräsident Potocki und Innen¬ minister Taaffe - die Pazifizierungskosten als Teil des gemeinsamen Budgets von den Delegationen annehmen zu lassen.106 Beachtenswert ist, daß Ministerpräsi¬ dent Andrässy den Standpunkt seiner österreichischen Kollegen teilt, er „machte die Andeutung, daß sich die Gemeinsamkeit der Auslage ... schon aus der prag- 103 Frieden vom 11.1. 1871. Verbreitet wurde auch, Baron Rodich habe durch Geldgeschenke an die Aufständischen die Einstellung der Feindseligkeiten und die Unterwerfung der Insurgen¬ ten erkauft. 104 Statthalter Rodich, den der Herrscher nach längerem Interregnum im August 1870 an die Spitze der Provinz ernannt hatte, versuchte mitfriedlichen Mitteln die Bewegung zu brem¬ sen. 105 Rodich wird am 11. Dezember 1869 zum Militärkommandanten in Dalmatien und nach der erfolgreichen Niederschlagung des Aufstandes am 22. August 1870 zum Statthalter von Dal¬ matien ernannt. 106 GMR. v. 11. 9. 1870, RMRZ. 84. || || Einleitung XLIX matischen Sanktion, welche der gemeinsamen Verteidigung gegen äußere und innere Feinde erwähnt, nachweisen lasse".107 Andrässy wollte mit dieser Äußerung vielleicht andeuten, daß die Angelegen¬ heit Dalmatiens nicht bloß die cisleithanische Regierung betreffe, daß Ungarn nicht auf das „virtuelle Recht" auf Dalmatien und natürlich auch nicht auf seine Verpflichtung verzichtet habe.108 Das ist jedoch nur eine Hypothese, eine staats¬ rechtliche Klügelei -- wie sie dem Denken jener Zeit nicht fremd war. Wichtiger und greifbarer war und hat offensichtlich die Stellungnahme der gemeinsamen Minister und auch des ungarischen Ministerpräsidenten beeinflußt, daß 1870 - wovon an anderer Stelle bereits die Rede war - der Wiener Reichsrat in Oppo¬ sition zur Regierung Potocki stand und deren Forderungen im allgemeinen nicht unterstützte. Im Falle Dalmatiens war sein Widerstand besonders begründet, weil er die Regierung für den Aufstand verantwortlich machte. Die gemeinsamen Mi¬ nister mußten die inneren Verhältnisse Cisleithaniens akzeptieren, sie wollten die cisleithanische Regierung nicht in eine unmögliche Lage bringen und waren des¬ halb bereit, die dalmatinischen Ausgaben als gemeinsames Budget zu deklarie¬ ren, und der ungarische Ministerpräsident unterstützte die gemeinsamen Minister darin.109 c) Die Frage des Ludovicealfonds Die niedrige Zahl der Ungarn im Offizierscorps des gemeinsamen Heeres und der Offiziersmangel in der ungarischen Landwehr war ein akutes Problem in der Periode nach dem Ausgleich. Das ist natürlich eine politische Frage und zudem eine, die gut das ambivalente Verhältnis der Ungarn zum gemeinsamen Reich anzeigt. Die ungarische Politik verlangte ständig, den Anteil ungarischer Offizie¬ re im gemeinsamen Heer zu erhöhen, zugleich aber gelang es von Jahr zu Jahr nicht, die ungarischen Stiftungsplätze zur Ausbildung ungarischer Offiziere in den Offiziersausbildungsstätten zu besetzen.110 Ein seltsamer Aspekt der Frage war, daß das Vermögen der ungarischen Stiftungen als Einnahme des Reichs- 107 GMR. v. 11. 9. 1870, RMRZ. 84. 108 Eigenartigerweise interpretiert der ungarische Ministerpräsident die Pragmatische Sanktion bei dieser Gelegenheit so, daß sie „der gemeinsamen Verteidigung gegen äußere und innere Feinde" diene. Derartiges sagt Andrässy auch bei anderer Gelegenheit. Im Falle eines Krieges: Speziell Dalmatien erheische um so größere Vorsicht, als wir es dort im Kriegsfall nicht nur mit auswärtigen Feinden, sondern im Lande selbst mit den Croviscianem [sic!] etc. zu tun haben werden. GMR. v. 15. 8. 1870, RMRZ. 77. 109 Festetics, der kgl. ung. Minister am Ah. Hoflager, erkannte den gemeinsamen Charakter der dalmatinischen Ausgaben nicht an, aber dem ist keine größere Bedeutung beizumessen. Im Ministerrat vom 29. Oktober vertrat er offensichtlich Andrässy und durchschaute die Ange¬ legenheit mit Sicherheit nicht. 110 Hajdu, Tisztikar es közeposztäly 62-69; Papp, Die königliche ungarische Landwehr (Hon- ved) 1868-1914 672-676. || || L Einleitung kriegsministeriums verbucht wurde, also in das gemeinsame Budget eingestellt wurde und daß diese im 18. Jahrhundert geschaffenen ungarischen Stiftungen in Wirklichkeit dem Ganzen der Offiziersausbildung der Monarchie dienten. Nach dem Ausgleich forderte Ministerpräsident und Honvedminister Andrässy die Rückgabe des Fonds an Ungarn, womit er der Sache der ungarischen Offiziers¬ ausbildung und natürlich der Stärkung der Honveds dienen wollte. Es entfaltete sich in dieser Sache eine lange und vielverzweigte Diskussion zwischen Andräs¬ sy und Reichskriegsminister Kuhn.1" Andrässy betonte, der Ludovicealfonds sei aus der Steuer ungarischer Leute, aus Landesmitteln zustande gekommen, seine Bestimmung war von vornherein die Schaffung eines ungarischen Offiziersaus¬ bildungsinstituts gewesen.112 Der gemeinsame Kriegsminister betont zwar die Bewahrung der Einheit des Heeres, verschließt sich jedoch nicht der Übergabe des Fonds. Gleichzeitig bemüht er sich aber, den scheinbaren Widerspruch auszu¬ nutzen, daß die ungarische Regierung trotz der Tatsache, daß es in den gemeinsa¬ men Offiziersausbildungsinstituten nicht gelingt, die ungarischen Stiftungsplätze zu besetzen, versucht, dessen Übergabe zu erreichen.113 Kuhn möchte ein seltsa¬ mes Junktim schaffen: Wenn irgendwann die Stiftungsplätze besetzt seien, werde er bereit sein, die mit der ungarischen Regierung begonnenen Verhandlungen über die Refimdierung des Fonds fortzusetzen.114 Hinter den scheinbar fachlichen Argumenten verbergen sich selbstverständlich politische Ziele: Stärkung der Honveds, d. h. der Nachweis einer nationalen Er¬ rungenschaft, auf der einen Seite, die krampfhafte Verteidigung der Einheit des Heeres auf der anderen. Und in der Diskussion im gemeinsamen Ministerrat kommt der spezifische cisleithanische Gesichtspunkt zum Vorschein: Wenn aus dem gemeinsamen Budget die 50 Millionen des Ludoviceal-Buttlerschen Fonds herausgenommen werden, müssen sie irgendwie ersetzt werden, und 70 % der 50 Millionen würden Cisleithanien belasten (im Quotenanteil), Ungarn nur 30 %, somit würde Ungarn mit der Fondsrückgabe doppelt gewinnen. Deshalb sei zu erwarten, daß die ganze Aktion dann im Reichsrat und in der Reichsratsdelegati¬ on auf höchsten Widerstand stoßen werde.115 111 Die Angelegenheit des Ludovicealfonds im gemeinsamen Ministerrat: GMR. v. 29. 8. 1870, RMRZ. 80; GMR. v. 30. 10. 1870, RMRZ. 87; GMR. v. 5. 11. 1870, RMRZ. 89. 112 Anfang 1872 erklärt im ungarischen Ministerrat über die Stellung des Ludoviceums der den Vorschlag einbringende Honvedoberst Bela Ghyczy, Sektionsschef im Honvedministerium, GA VII/1808 undXVII/1828 über das Ludoviceum könnten aufdiejetzigen Verhältnisse nicht angewendet werden; denn damals habe man das Lehrinstitutfür die Ausbildung der in den ungarischen Regimentern des gemeinsamen Heeres dienenden Offiziere gedacht, jetzt aber werde das Institut den ungarischen Honvedzwecken dienen. Ung. Ministerrat v. 6. 2. 1872, Nr. 11/1872 [KZ. XI.] MOL, Sektion K-27. 113 Zuschrift des Reichskriegsministeriums an kgl. ung. Landesverteidigungsminister v. 1. 2. 1870. KA.MKSM. 14-10/13/1870. 114 Siehe au. Vortrag des Reichskriegsministers v. 29. 10. 1870. Ebd. 115 GMR. v. 29. 8. 1870, RMRZ. 80. Dies erklärtjener Finanzminister Holzgethan, der anson- || || Einleitung LI Der Rahmen des gemeinsamen Ministerrates, sein üblicher Einigungsmecha¬ nismus konnte offensichtlich den Kompromiß der Ansichten Kuhns, Andrässys und Holzgethans nicht zustande bringen. Übrigens beschränkte sich seine Aufga¬ be auch nur auf die Lösung der von Holzgethan skizzierten finanztechnischen Frage. Die inhaltliche Entscheidung blieb dem Herrscher Vorbehalten. Als Franz Joseph im November 1870 schließlich die Rückgabe des Ludovicealfonds an Ungarn beschließt, schreibt Kriegsminister Kuhn in sein Tagebuch: „1870. nov. 8: Heute herabgelangt ein Handbillet des Kaisers an mich, in welchem anbefoh¬ len wird den LUDOVICEAL Fond dem ungarischen Ministerium zu übergeben und auch wegen Übergabe des Ludoviceums, behufs der Kreierung einer Hon- vedmilitäranstalt mit dem Ministerium ins Einvernehmen zu setzen!!! -- Nun wenn der Kaiser selbst alles tut, um der Kreierung einer ungarischen Armee vor¬ zuarbeiten, so ist es seine Sache, ich habe meine Ansicht hierüber in einem Vor¬ trage auseinandergesetzt."116 Es brauchte noch zwei Jahre, bis der Herrscher das Gesetz über die Aufstellung der Ungarischen Königlichen Ludovika-Akademie sanktionieren konnte.117 d) Wiedereinführung des Placetum regium in Ungarn Die Wiedereinführung des Placetum regium in Ungarn gehört zu den Themen, die formal die inneren Verhältnisse der Länder betrafen (also keine klassischen gemeinsamen Angelegenheiten waren) und nur durch den Zusammenhang mit anderen Themen vor den gemeinsamen Ministerrat kamen: In diesem Fall, weil die Wiedereinführung des Placetum regium staatsrechtliche Probleme aufwarf und vermutlich auch aufCisleithanien eine gewisse Rückwirkung ausgeübt hätte; und selbstverständlich gab es außenpolitische Zusammenhänge, denn zu der gan¬ zen Aktion kam es ja im Zusammenhang mit der Aufkündigung eines internatio¬ nalen Vertrages. Bekanntlich war Beust auch nach den liberalen kirchenpolitischen Gesetzen des Reichsrates von 1868 bestrebt, die diplomatischen Beziehungen zum Heili¬ gen Stuhl auffechtzuerhalten. Zu diesem Zweck sandte er den Unterstaatssekretär Otto Freiherr Rivalier von Meysenbug nach Rom, damit er den Protest des Pap¬ stes gegen die Konfessionsgesetze vom Mai 1868 mildere, und Meysenbug ge¬ lang es auch zu erreichen, daß es nicht zum formalen diplomatischen Bruch kam. Beusts ferneres außenpolitisches Ziel war jedoch und wurde es besonders im In- sten selbst weitgehend die Konsequenzen der dualistischen Einrichtung und damit auch die Aufteilungsrelation der Teilnahme an den Quoten der gemeinsamen Kosten akzeptierte. 116 KA. Nachlaß Kuhn-Kuhnenfeld B 670. KA. 117 GA. XVI/1872: über die Aufstellung der ungarischen königlichen Honved-Ludovika-Akade- mie. Die das Gesetz vorbereitenden ungarischen Ministerräte: v. 6. 2. 1872 Nr. 11/1872 [KZ. XI]; v. 18.4.1872 Nr. 36/1872 [KZ. XXXI]; v. 8. 9.1872 Nr. 76/1872 [KZ. LIX.] MOL, Sektion K-27. || || LII Einleitung teresse der Stärkung der Beziehungen zu Frankreich und Italien im Sommer 1870, durch diplomatische Mittel einen freiwilligen Verzicht der Kurie auf das Konkor¬ dat zu erwirken. Den Anlaß dafür bot das Infallibilitätsdogma des Ersten Vatika¬ nischen Konzils. Am Tag nach der Verkündigung des Dogmas beginnen die Ver¬ handlungen des österreichischen Ministerrates, in denen Kultusminister Stremayr die Auffassung vertritt, daß das Konkordat durch die neueste Erklärung des päpst¬ lichen Stuhles über die Machtvollkommenheit des Oberhauptes der katholischen Kirche hinfällig geworden sei, ohne daß es einer förmlichen Kündigung dieses Staatsvertrages bedürfe. Ministerpräsident Alfred Graf Potocki erklärt aus religi¬ öser Überzeugung seine Vorbehalte gegen diese Vorgangsweise. Schließlich wird am 30. Juli nach langer Diskussion entschieden, daß das Konkordat durch ein kaiserliches Handschreiben außer Kraft gesetzt wird. Dieses Handschreiben wur¬ de nicht vom Ministerpräsidenten, sondern nur vom Kultusminister gegenge¬ zeichnet."8 Der Gesandtschaftsträger der Botschaft beim Vatikan, Joseph Palom- ba-Caracciollo erhielt den Auftrag, die Kurie von der Lösung des Vertrages in Kenntnis zu setzen.119 Während man auf das Unfehlbarkeitsdogma in Cisleithanien - auf liberale Forderung hin - mit Außerkraftsetzung des Konkordats von 1855 antwortet, ist die Situation in Ungarn anders. Das Konkordat, das ja in der Zeit des Neoabsolu¬ tismus entstanden war, hatte nie Gesetzeskraft erlangt, und so konnte auch von seiner Außerkraftsetzung nicht die Rede sein. Die Notwendigkeit des selbständi¬ gen Vorgehens begründete der ungarische Kultusminister Jözsef Eötvös in einem au. Vortrag, der einer umfangreichen historischen Studie und staatsrechtlichen Abhandlung gleichkam.120 Sein Grundgedanke war, daß die Lehre von der päpst¬ lichen Unfehlbarkeit im Widerspruch zu den Grundlagen der modernen Staats¬ ordnung stehe. In Eötvös' Argumentationssystem ist dies aber nicht einfach zum Schutz der Staatsmacht (des modernen Rechtsstaates) erforderlich. Der Kultus¬ minister macht darauf aufmerksam, daß das Dogma eine neue und mächtige Waf¬ fe in der Hand der antireligiösen Tendenzen sei. Deshalb sei es die Pflicht des Staates, vorbeugende Maßnahmen gegen die Folgen des Dogmas zu ergreifen. 118 Ah. Handschreiben v. 30. 7. 1870. Wiener Zeitung v. 10. 8. 1870. Die Protokolle der der Entscheidung vorausgehenden cisleithanischen Ministerratssitzungen sind nicht erhalten: KZ. 2851 v. 20. 7. 1870, MRZ. 91: Frage wegen der Massnahme aus Anlass der Annahme des Dogma der Infallibilität; KZ. 2852 v. 21. 7. 1870, MRZ. 92: Vorgehen der Regierung aus Anlass der Infallibilitätserklänmg; KZ. 2865 v. 30. 7. 1870, MRZ. 100/11: Modus procedendi in Beziehung auf das Concordat; KZ. 2866 v. 30. 7. 1870, MRZ. 102/111: Artikel für die Wie¬ ner Zeitung wegen der Schritte bezüglich der Aufhebung des Concordates. AVA, Minister¬ ratsprotokolle 1868--1870. Karton 40 (Kopie der Tagesordnungen). '19 Leisching, Die römisch-katholische Kirche in Cisleithanien 51-57. Über die Geschichte des I. Vatikanischen Konzils: Schatz, Vaticanum 1. 1869-1870, Bd. III: Unfehlbarkeitsdiskussion und Rezeption. 120 Siehe HHStA., Kab.Kanzlei ad 3008/1870. Publiziert: Adriänyi, Ungarn und das I. Vatica¬ num 476-489. || || Einleitung LIII Dieser Zweck könne nur durch das Festhalten an jenen Grundsätzen erreicht werden, die in Ungarn zwischen Kirche und Staat seit Jahrhunderten bestünden. Das Grundprinzip, auf dem das Verhältnis von Staat und Kirche aufbaue, sei das Jus Placetum regii. Das einzige Mittel, um die üblen Folgen des Konzils auf ein Mindestmaß zurückzudrängen, sei die Verweigerung des königlichen Plazets. Zwar sei vorauszusehen, daß das Auftreten des Staates in Glaubenssachen Anti¬ pathie auslösen werde. Zweifellos würde den Anfordemissen der Zeit die völlige Trennung von Staat und Kirche am besten entsprechen. Dies Verfahren sei in Ungarn jedoch nicht anwendbar. In Ungarn sei der König immer noch der höch¬ ste Patronatsherr der Kirche. Diese Kirche genieße in jeder Hinsicht bedeutende Privilegien. Eine Trennung der Kirche vom Staat sei also unmöglich. Ferner, wenn der Staat sein oberstes Aufsichtsrecht, das er durch das Plazet ausübt, auf¬ gebe, bestünde die Gefahr, daß „die Serben und Rumänen Ungarns, bei deren kirchlichen Kongressen im Sinne des GA. IX/1868 alle Beschlüsse nur mit Ein¬ willigung der Krone Giltigkeit erhalten, die Forderung nach einer gleichen Selbst¬ ständigkeit an den Staat stellen würden, welche ihnen auch in Folge des Prinzips der vollkommenen Gleichberechtigung aller Confessionen kaum verweigert wer¬ den könnte". Die Krone könne demnach nicht auf das Recht des Plazets verzich¬ ten. Täte sie es, würde dies nur zu weiteren Forderungen der päpstlichen Kurie führen... Durch das Plazet würde die Kurie nur gezwungen, ihre Beschlüsse in der Form aufzustellen, welche auch für den Staat annehmbar sei. Eötvös' Vorschlag sah kein förmliches Verbot der Publikation des Dogmas vor, sondern nur eine Mahnung an die Bischöfe mittels eines Zirkulares, daß von den Bischöfen erwartet werde, das Dogma nicht zu publizieren. Im gemeinsamen Ministerrat, an dem Eötvös nicht teilnahm (wahrscheinlich vertrat ihn Hofrat v. Päpay), faßte Ministerpräsident Andrässy den ungarischen Standpunkt zusammen: In einem Land, „wo der Klerus so reich und mächtig und auch in der Legislative so einflußreich vertreten sei", müsse für die Krone „ein angemessenes Gegengewicht gewahrt" werden.121 Der Herrscher erhob einen inhaltlichen Einwand gegen den ungarischen Stand¬ punkt: Man dürfe nicht gegen das Dogma protestieren, darauf habe die weltliche Macht keinen Einfluß, gegen das Dogma sei das Placetum nicht anwendbar, son¬ dern man könne nur die Verkündigung der aufgrund des Dogmas erlassenen Bul¬ le verbieten. - Päpay bemüht sich, seinen König zu beruhigen, daß der au. Vortrag des ungarischen Kultusministers gerade das enthalte. Und Andrässy stellt noch einmal fest: Die Infallibilitätserklärung habe große Erregung in beiden Hälften des Reiches ausgelöst; es sei nun einmal so, daß „die öffentliche Meinung, der man hier durch die Kündigung des Konkordats gerecht wurde, in Ungarn nur durch Wiedereinführung des Placetums befriedigt werden könne". Das Verfah¬ ren, das vorgeschlagen werde, sei behutsam. Es enthalte kein Verbot der Publika¬ tion des Dogmas, „sondern nur eine Mahnung an die Bischöfe mittels eines Zir- 121 GMR. v. 9. 8. 1870, RMRZ. 75. || || LIV Einleitung kulars", daß Seine Majestät „von dem Patriotismus der Bischöfe erwartet, daß sie die Publikation unterlassen werden". Und als der Außenminister fragt, was in dem Falle geschehe, daß die Bischöfe nicht gehorchen, macht Andrässy klar, daß es sich um eine Maßnahme handle, auf die sich die Regierung anläßlich parla¬ mentarischer Interpellationen berufen könne. -- Und im übrigen würden die Bi¬ schöfe sich nicht dem Verbot widersetzen. (Er bemüht sich also, der ganzen Sa¬ che eine symbolische Bedeutung zu geben.) Eine eigenartige Atmosphäre bekommt die Diskussion im Ministerrat durch den Umstand, daß während der ungarische Vorschlag ein altes Herrscherrecht wiederbelebt und der Krone gegenüber der Kirche „ein angemessenes Gegenge¬ wicht" sichern möchte, sich der Herrscher verletzt fühlt, schmollt, weil die Un¬ garn das Konkordat als ungesetzlich betrachten. Er sagt: „Der Grundsatz, daß alle während der sogenannten ungesetzlichen Zeit gebrachten Gesetze ungültig seien, werde eben nur gegenüber unbeliebten Gesetzen in Anwendung gebracht, wäh¬ rend man anderseits aus Utilitätsgründen doch auch Ausnahmen von diesem Grundsatz sich gefallen lasse." Franz Joseph hat Vorbehalte, wie auch aus der Diskussion im Ministerrat und noch viel mehr aus seinen Randbemerkungen zu Eötvös' Elaborat hervorgeht. Aber nach dem kaiserlichen Handschreiben über die Außerkraftsetzung des Konkordats ist die Bedeutung dieses gemeinsamen Mini¬ sterrates offensichtlich nur zweitrangig (wie auch das Gewicht der moralischen Vorbehalte des Herrschers nicht groß ist). Die Beratung schließt damit, daß Au¬ ßenminister Beust den Text des an die Bischöfe zu versendenden Zirkulares erbit¬ tet, über welches er den Heiligen Stuhl informieren will.122 Noch eine Schlußbemerkung zur Funktion des gemeinsamen Ministerrates als Institution. Die Beratungen in der zweiten Julihälfte über die Aufkündigung des Konkordats, eines wichtigen internationalen Vertrages, unter Vorsitz des Kaisers und mit Teilnahme von Ministem beider Landesregierungen sind nicht bei den gemeinsamen Ministerratsprotokollen registriert! Es ist also in hohem Maße un¬ sicher und zufällig, welche Gegenstände vor den gemeinsamen Ministerrat ge¬ bracht werden und was als in der Kompetenz der Landesministerien liegend be¬ trachtet wird. 5. Maßregeln gegen die Internationale Am 1. September 1871 fand eine Ministerkonferenz im Gebäude der Staats¬ kanzlei statt, vermutlich im Sitzungssaal des gemeinsamen Ministerrates, unter Vorsitz von Reichskanzler Beust.123 Das Protokoll führte wie üblich Sektionsrat Freiherr von Konradsheim, der damals schon über mehrjährige Erfahrung auf Über die weiteren kirchen- und diplomatiegeschichtlichen Zusammenhänge: Adriänyi, Un¬ garn und das I. Vaticanum 294-316. 123 GMR. v. /. 9. 1871, RMRZ. 118. || || Einleitung LV diesem Gebiet verfügte.124 Offensichtlich machte er keinen Fehler, wenn er die Septemberberatung einfach mit „Konferenz unter dem Vorsitz des Reichskanz¬ lers" überschrieb. Denn die Teilnehmer der Beratung waren nicht die gemeinsa¬ men Minister und die Ministerpräsidenten beider Länder, wie gewöhnlich bei den „gemeinsamen Ministerratssitzungen", sondern außer drei Beamten des Außen¬ ministeriums (Hoffat v. Teschenberg, Hoffat v. Wohlfarth, Sektionsrat Graf Re- vertera) leitende Beamte cisleithanischer Ministerien: Ministerialrat im Justizmi¬ nisterium Gross, Sektionschef im Ministerium des Innern Freiherr v. Wehli, Ministerialsekretär in demselben Ministerium Hoffinger und Sektionsrat im k. k. Handelsministerium Migerka. Die Beratung kann weder vom Gegenstand her, nämlich welche Maßnahmen in beiden Ländern zur Verhinderung der Auswir¬ kung der Pariser Kommune getroffen werden müssen, noch und vor allem nicht aufgrund ihrer Teilnehmer als gemeinsamer Ministerrat betrachtet werden. Als einige Wochen später der Sektionschef des Außenministers, Friedrich Leopold Hofinann, die Abschrift des Protokolls an Ministerpräsident Andrässy sendet (was an sich nicht üblich war), schreibt er darüber: Protokoll der hierorts abgehal¬ tenen „Komiteeberatung bezüglich der Arbeiterfrage". Also kein Wort von ge¬ meinsamem Ministerrat.125 Wenn das Protokoll dennoch bei den gemeinsamen Ministerratsprotokollen hinterlegt wurde, beruhte das offensichtlich nicht auf Unachtsamkeit des geübten und kenntnisreichen Protokollführers oder auf einem Irrtum. Für dieses doch recht unübliche Verfahren bieten sich mehrere Erklärun¬ gen an. Die naheliegende und einfachste ist, daß Beust den Schutz vor der Inter¬ nationale nicht als eine jener innenpolitischen Angelegenheiten beider Staaten betrachtete, mit der er als Reichskanzler nichts zu tun hatte. Eine Analyse des Protokolltextes und die Untersuchung, welche Rolle diese Konferenz bei der Herausbildung des Standpunktes der Monarchie gegenüber der Internationale hatte, gibt eine Erklärung dafür, warum diese Fachberatung auf cisleithanischer ministerialer Ebene unter die gemeinsamen Ministerratsprotokolle geraten ist. Was man aus dem Text des Protokolls erfahren kann, ist folgendes: Bismarck hatte sich mit dem Vorschlag an den Außenminister der Monarchie gewandt, daß Deutschland und die Monarchie eine gemeinsame Kommission zur Erarbeitung des gemeinsamen Auftretens gegen die Internationale aufstellen sollen.126 Mit dem deutschen Vorschlag war Beust im Grunde einverstanden und diese Septem- 124 Konradsheim ist ein tüchtiger Beamter in der Präsidialsektion des Außenministeriums, den diese von der Wiener Zeitung übernimmt und dessen Aufgabe neben der Protokollführung im gemeinsamen Ministerrat auch weiter die Kontakthaltung zu der offiziellen Zeitung war. HHStA., Administrative Registratur, Fach 4, Karton 170 (Personalia). 125 Hofmann an Andrässy v. 1. 10. 1871. Präs. SectionNr. 841. MOL. K-26. 1066/1871. Übri¬ gens fehlt am Ende des Protokolls die bei den gemeinsamen Ministerräten übliche (wenn auch nicht unerläßliche) „Ah. Kenntnisnahme". 126 Promemoria von Bismarck v. 17. 6. 1871 an Beust. Das Promemoria läßt Beust dem cislei- thanischen Ministerpräsidenten und dieser wiederum seinem ungarischen Kollegen zukom¬ men. 19. 7. 1871. MOL, Sektion K-26. 1066/1871. || || LVI Einleitung berkonferenz hatte er zur Ausarbeitung des Programms der Verhandlungen über die gemeinsame Kommission einberufen. - Hier wird sogleich deutlich, daß es nicht einfach um die Maßregeln gegen die Internationale ging, sondern um die Vorbereitung einer internationalen Konferenz in dieser Sache, die über ihre in¬ haltliche Bedeutung hinaus auch die Aufgabe hatte, das wohlwollende Entgegen¬ kommen der Monarchie in Richtung Bismarck zu demonstrieren. Wir erfahren auch, daß auf Weisung von Ministerpräsident Hohenwart die Ex¬ perten im cisleithanischen Innen-, Justiz- und Handelsministerium bereits vor dieser Konferenz ein Memorandum ausgearbeitet hatten, das jetzt, in dieser „Konferenz unter dem Vorsitz des Reichskanzlers", der rangälteste Beamte vor¬ trägt, der Sektionschef im Innenministerium Freiherr v. Wehli. Sie stimmen über¬ ein, daß ein aufeinander abgestimmtes Vorgehen der Regierungen „die Arbeiter wohl einschüchtem werde", meinen aber, daß eine Repression gegen die Interna¬ tionale dort angewendet werden müsse, wo deren Organe offen tätig seien, wie in London, Hamburg oder Leipzig. Wenn die Internationale auch in Österreich Beziehungen habe, was sehr wahrscheinlich sei, seien diese nicht beweisbar. Hier müsse man sich durch die strikte Einhaltung der Gesetze verteidigen: mit dem Strafgesetzbuch, dem Gesetz über Geheimgesellschaften und mit Polizeiverord¬ nungen gegen fremde Agitatoren. „Eine Restringierung des Gesetzes über Ver¬ eins- und Versammlungsrecht gegen die Arbeiter allein wird als unstatthaft ... bezeichnet." Das Memorandum hält die Unterstützung der Interessen der Arbeiterschaft für notwendig. Es sieht die Grundvoraussetzung der gesunden gesellschaftlichen Entwicklung in einer Erhöhung der Bildung der Arbeiterklasse und im Bau ent¬ sprechender Wohnungen, unterstützt die Schaffung von Spar- und Konsumgenos¬ senschaften. Aber es hält nicht für statthaft, daß der Staat Einfluß auf die Rege¬ lung von Arbeitszeit und Arbeitslohn ausübt, und weist die politische Forderung der Arbeiterschaft nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts zurück. Man muß wissen, daß SektionschefWehli ein liberaler Fachmann im Innenmi¬ nisterium Giskras war und nach dem Sturz der Regierung Hohenwart in der Re¬ gierung Holzgethan Innenminister wurde. Wahrscheinlich vertrat er auch bei der Ausarbeitung des Memorandums im Grunde liberale Ansichten. In der Beratung unter Beusts Vorsitz begann eine gründliche Diskussion über das Memorandum. Ministerialrat Groß betont, daß das Justizministerium zu ei¬ nem strengeren juristischen Auftreten und zur internationalen Zusammenarbeit in diesem Bereich neige. Die Initiative müsse jedoch von Preußen ausgehen. Der im Namen von Handelsminister Schäffle sprechende Migerka hält die repressiven Maßnahmen für nötig und es gebe auch die gesetzliche Basis für sie. Doch sei die Arbeiterfrage komplizierter, als daß man sie ausschließlich mit den Mitteln der Unterdrückung lösen könne. Aber auch hierbei müsse die Initiative von Preußen ausgehen. Beachtenswert ist, daß sich die Beamten der Präsidialsektion des Außenmini¬ steriums in inhaltlichen Fragen mit dem Standpunkt der cisleithanischen Kom- || || Einleitung LVII mission in eine Debatte einlassen. Wohlfarth etwa spricht davon, daß auch die Arbeiter am Untemehmerprofit beteiligt werden müßten. Teschenberg (der ur¬ sprünglich Journalist war und von dem Beust der Meinung war, er „vereint mit einer umfassenden höheren Bildung ein sehr richtiges politisches Verständnis und zugleich eine nicht gewöhnliche publizistische Gewandtheit"127) warnt davor, sich von vornherein den politischen Forderungen der Internationale zu verschlie¬ ßen, besonders der Ausdehnung des Wahlrechts. Die Konferenz schließt damit - die Zusammenfassung der Besprechung kommt charakteristischerweise nicht so sehr vom präsidierenden Beust als vielmehr von Wehli, der das Memorandum der cisleithanischen Expertenkommission vorgetragen hatte -, daß die cisleithani- sche Regierung bereit sei, am internationalen Auftreten gegen die Internationale teilzunehmen und zugleich Beust beauftrage, auf der Basis des ministeriellen Memorandums Verhandlungen mit Bismarck zu führen. Das Spezifikum der Be¬ ratung war, daß eine ministerielle Kommission weder prinzipiell noch der politi¬ schen Praxis nach dem Außenminister, dem Reichskanzler oder dem Vorsitzen¬ den des gemeinsamen Ministerrates eine derartige Vollmacht geben konnte. Wenn Beust dennoch der Meinung war, er benötige für die Verhandlungen mit Bis¬ marck eine derartige Grundlage, er müsse die interne Unterstützung seines Vor¬ gehens belegen, dann mußte diese Fachkonferenz aufgewertet werden. Vielleicht ist damit zu erklären, daß die Konferenz, deren ranghöchster Teilnehmer ein Sek¬ tionschef im cisleithanischen Innenministerium war, unter den gemeinsamen Mi¬ nisterratsprotokollen eingetragen wurde. Es ist nicht uninteressant zu prüfen, inwieweit das Memoire, das dann das Außenministerium in dieser Sache an Bismarck sendet, das widerspiegelt oder davon abweicht, was am 1. September gesagt wurde.128 Beust spricht am 1. September davon und ist auch sonst der Ansicht, daß gegen die Internationale nicht nur die Regierungen auftreten müßten, sondern die besit¬ zende Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, wir würden heute sagen, die Zivilge¬ sellschaft.129 Diese Ansicht nimmt auch in dem Memoire an Bismarck einen wich¬ tigen Platz ein. Im Zentrum dieses Textes steht unbestreitbar die Aussage, daß Österreich bereit ist, sich an der internationalen Zusammenarbeit gegen den Ein¬ fluß der Internationale zu beteiligen. „In diesem Sinne wird jede Initiative und jeder Vorschlag der kgl. preußischen Regierung, sei es im eigenen Namen, sei es in Ihrer Stellung als Mandatar und leitende Macht des deutschen Kaisers hier die eingehendste Würdigung und das bereitwilligste Entgegenkommen in beiden Reichshälften der Monarchie finden..." 127 Au. Vortrag von Beust v. 17. 9.1868. HHStA., Administrative Registratur Fach 4, Karton 348 (Personalia). 128 Hofmann sendetAndrässy die Abschrift des Memoiresfür Berlin. Hofmann an Andrdssy v. I. 10. 1871. Präs. SectionNr. 841. MOL, Sektion K-26. 1066/1871. 129 Beust, Aus drei Viertel-Jahrhxmderten, Bd. 2 488-489. || || LVIII Einleitung Das Memoire ist detaillierter als die Vorlage der Beamten in der Beratung vom 1. September und vor allem prinzipieller formuliert, es spiegelt eine gereifte po¬ litische Konzeption wider. Das trifft auf jene Erörterungen zu, die sich auf die geistige und materielle Erhebung des „Arbeiterstandes" beziehen: also auf die Sozialgesetzgebung und die Organisierung von Arbeiterbildungsvereinen. Es legt genau fest, welches die Bereiche sind, in denen der Staat eingreifen muß und auf welche er keinen Einfluß ausüben kann (vor allem Arbeitszeit- und Arbeitslohn¬ vereinbarungen). Noch deutlicher ist die prinzipielle Stellungsnahme in bezug auf die repressi¬ ven Maßnahmen. Vorstellbar ist eventuell eine Ergänzung des Strafgesetzbuches, die Verschärfung einzelner Strafen und die schärfere Bestrafung auch auf Grund der bestehenden Gesetze. „Was jedoch das Vereins- und Versammlungsrecht be¬ trifft, so wird bei den gegenwärtigen inneren Verhältnissen der Monarchie aller¬ dings nicht leicht eine Restriktion bereits gewährter Zugeständnisse und nament¬ lich nicht im Sinne von Ausnahme zum Nachteile einer bestimmten Klasse von Staatsangehörigen - der Arbeiterklasse für sich - im legislatorischen Wege zu erzielen sein. Die betreffenden Gesetze, als Staatsgrundgesetze der österreichi¬ schen Verfassung einverleibt, genießen des Schutzes einer außergewöhnlichen legislatorischen Befestigung, des Schutzes überdies der Richtungen der öffentli¬ chen Meinung" (Hervorhebung E. S.). Das Memoire betont einerseits, daß dem preußischen Beispiel zu folgen sei, nämlich der Internationale „mit voller Wucht und Schärfe der bestehenden Gesetze entgegenzutreten", hält andererseits jene Aufgaben für nicht weniger wichtig, welche mit der modernen Entwicklung der Arbeiterfrage an den Staat und die Gesellschaft herangetreten sind. Während es also anerkennt, es sei eine gemeinsame Pflicht der Staaten, sich mit dem Einfluß der Internationale zu beschäftigen, betont es immer wieder die „bestehenden Ge¬ setze" und daß die Monarchie (und nun nicht mehr nur Cisleithanien) zur Zusam¬ menarbeit bereit sei, „soweit die Lage der inneren Verhältnisse gestattet", und daß ihre Pflicht die Verteidigung der Verfassungsmäßigkeit sei. Und hier, an die¬ sem Punkt, hat man die Empfindung, daß der Reichskanzler im September 1871 die bestehenden Gesetze weiter interpretiert als die Fachpolitiker des k. k. Mini¬ steriums; der liberale Deutsche Beust denkt wahrscheinlich auch an die verfas¬ sungsmäßige Ordnung der Monarchie - deren Schutz dann die Tagesordnung der folgenden Ministerratssitzungen sein wird. || || Einleitung LIX 6. Der „tschechische Ausgleich" vor dem gemeinsamen Ministerrat „Rückwirkung der staatsrechtlichen Aktion für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder auf Stellung und Aufgaben des gemeinsamen Ministeriums" Der gemeinsame Ministerrat durfte - wie bekannt - nicht in die inneren Ange¬ legenheiten der die Doppelmonarchie bildenden beiden Staaten eingreifen und hat in den fast vier Jahren von der Verabschiedung der Dezemberverfassung von 1867 bis 1871 auch niemals einen solchen Versuch unternommen. In den Bera¬ tungen der gemeinsamen Minister tauchten innenpolitische Fragen und Verände¬ rungen nur andeutungsweise auf. Am 12. April 1870 entstand die erste cisleitha- nische Regierung, die nicht unbedingt auf der Grundlage des Ausgleichs und der Dezemberverfassung von 1867 stand: das Ministerium Potocki. Im gemeinsamen Ministerrat fiel jedoch weder über seine Existenz noch über seinen innenpoliti¬ schen Hintergrund ein Wort. Potocki erschien am 15. Juli erstmals in einer Kon¬ ferenz der gemeinsamen Minister.130 Sie begrüßten ihn nicht als neues Mitglied des gemeinsamen Ministerrates (das war natürlich auch kaum zu erwarten, weil am gemeinsamen Ministerrat teilnahm, wer dorthin eingeladen wurde, es gab keine „Mitglieder" wie in einer regulären Regierung).131 Potocki selbst sprach über laufende Angelegenheiten, über das Pferde- und Viktualienausfiihrverbot unter Berücksichtigung der Kriegsverhältnisse. Er verhielt sich in seiner Mini- sterpräsidentenrolle souverän. Nach Potockis Rücktritt im Laufe der sich hinzie¬ henden innenpolitischen Krise ernennt der Herrscher am 6. Februar 1871 Karl Siegmund Graf von Hohenwart zum Vorsitzenden des neuen Ministeriums. Am 14. Februar erscheint er erstmals im gemeinsamen Ministerrat, und auch da kommt nicht zur Sprache, daß seine Person das Symbol eines neuen innenpoli¬ tisch-staatsrechtlichen Experiments sein soll. Im Zusammenhang mit der Reichs¬ rats- und der Delegationswahl wurde indirekt von den cisleithanischen inneren Konflikten gesprochen. Die die Delegation betreffenden Angelegenheiten (Ein¬ berufung, Mitgliederwahl, deren Voraussetzungen) waren wiederkehrende The¬ men des gemeinsamen Ministerrates. Wenn der gemeinsame Ministerrat nämlich eine in der Verfassung festgesetzte Aufgabe hatte, dann war es die Zusammen¬ stellung des gemeinsamen Budgets bzw. dessen Durchbringung in den Delegatio¬ nen; dies war die eigentliche Funktion des gemeinsamen Ministerrates. Wie unsi¬ cher auch immer die Kompetenz der gemeinsamen Regierung war, dieser Aufgabe konnte sie sich keinesfalls entziehen. Seit Herbst 1870 wurde die cislei- thanische innere Krise als gegebene Tatsache, als Evidenz im Ministerrat behan- 130 GMR. v. 15. 7. 1870, RMRZ. 66. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates der öster- REICHISCH-UNGARISCHEN MONARCHIE 1/1 377-383. Nr. 66. 131 Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867-1906 110-111. || || LX Einleitung delt.132 Kanzler Beust bemüht sich, den darüber unzufriedenen ungarischen Mini¬ stem den Wind aus den Segeln zu nehmen: Die Angemessenheit verlange es, daß man in Ungarn mit den hiesigen verfassungsmäßigen Schwierigkeiten rechne, denn es könne geschehen, daß die Ungarn irgendwann auf ein ähnliches Ver¬ ständnis angewiesen sein werden.133 Mit den internen Geschehnissen selbst hat sich der gemeinsame Ministerrat nicht befaßt. Die Erklärung dafür liegt in dem eigenartigen Verhältnis von ge¬ meinsamer Regierung und Landesregierungen, darin, daß die „gemeinsame" Re¬ gierung kein Gremium über den beiden Landesregierungen war, welches die Richtung bei der Lösung der innenpolitischen Probleme angeben konnte - sie kann kaum mehr tun als die inneren Nöte zu konstatieren. Aber auch unabhängig von der Kompetenz der gemeinsamen Regierung hat in Cisleithanien der Herr¬ scher das unbeschränkte Recht, den Ministerpräsidenten und die Regierungsmit¬ glieder zu ernennen. Bei seinen Entschließungen mußte er die Parlamentsmehr¬ heit nicht in Betracht ziehen und die Regierungen konnten sich auch gegen den Willen des Parlaments halten.134 Dieses Spezifikum der österreichischen Verfas¬ sung (ihre Beschränktheit) spielte ebenfalls eine Rolle dabei, daß die Landesre¬ gierung in gewissem Sinne von der gemeinsamen Regierung unabhängig war. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Beust, der Reichskanzler, als „Rat und Diener Euerer Majestät" in den vorausgegangenen vier Jahren nichts mit der praktischen Durchsetzung des Dualismussystems in Österreich zu tun gehabt hätte, bei des¬ sen Geburt er 1867 eine so wichtige Rolle gespielt hat.135 Entscheidenden Einfluß hatte er bei der Ernennung der ersten auf dem Boden des Dualismus stehenden cisleithanischen Regierung, des Ministeriums Carlos Fürst von Auersperg. Als er einige Monate später wegen des parlamentarischen Boykotts der Tschechen mit Ministerpräsident Carlos Auersperg in Konflikt gerät, betraut der Kaiser ihn, den Kanzler, etwas zu unternehmen, um die Tschechen zu gewinnen. „Auf dieses Thema einzugehen, stand freilich dem Reichskanzler nicht zu, aber die Herren, welche hier die Kompetenzlinie so streng zu ziehen beliebten, bedachten nicht, daß der Mann, dem der Kaiser damals sein volles Vertrauen schenkte oder wel- 132 Der böhmische Landtag ist nicht bereit, Abgeordnete in die Delegation zu senden. Deshalb muß wahrscheinlich eine direkte Reichsratswahl ausgeschrieben werden. Die Probleme im Zusammenhang mit der Einberufung der Delegation: GMR. v. 14. 11. 1870, RMRZ. 91; GMR. v. 1. 12. 1870, RMRZ. 92, dann im Jahr darauf: GMR. v. 11. 3. 1871, RMRZ. 105; GMR. v. 14. 3. 1871, RMRZ. 106. 133 GMR. v. 28. 9. 1870, RMRZ. 85. Die Konflikte der Verfassungsmäßigkeit sind im System der gemeinsamen Angelegenheiten kodiert - sagt Kanzler Beust tatsächlich. 134 Über die Eigenheiten des cisleithanischen Parlamentarismus bzw. der Ministerverantwor¬ tung: Malfer, Der Konstitutionalismus in der Habsburgermonarchie - siebzig Jahre Verfas¬ sungsdiskussion in „Cisleithanien" 21-27. 133 Über die Rolle Reichskanzler Beusts bei der Gestaltung der österreichischen Innenpolitik ausführlicher: Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monar¬ chie 1867-1906 55-61. || || Einleitung LXI eher doch der eigentliche Schöpfer der neuen Ordnung der Dinge war, sich in seinen Gesprächen mit dem Monarchen nicht für eine Kategorie von Fragen ein Schloß vor den Mund legen konnte."136 Im Sommer 1868 begann er, ohne zuvor den cisleithanischen Ministerpräsidenten davon zu informieren, Verhandlungen mit zwei Führern der tschechischen Nationalbewegung, Palacky und Riegen Auersperg fühlte sich mit Recht durch Beusts Handeln verletzt und reichte des¬ halb sofort seinen Rücktritt ein. Ob der cisleithanische Ministerpräsident Verfas¬ sungsbedenken gegen das Vorgehen des Reichskanzlers hatte, ob er seine Lage wegen dessen Eingreifens in die inneren Angelegenheiten für unhaltbar hielt oder aus verletzter Eitelkeit -- das ist offensichtlich auch eine Frage der Interpretation. Zweifellos spielte der Reichskanzler aber auch bei der Bildung der nachfolgen¬ den österreichischen Regierung eine entscheidende Rolle und versuchte Adolf Auersperg als Ministerpräsidenten zu installieren. Dieser Versuch schlug aller¬ dings fehl.137 Ende 1869 braut sich in Cisleithanien erneut eine Regierungskrise zusammen. Gegen die deutsche zentralistische Mehrheit bildet sich eine föderali¬ stische Minderheit aus deutschen und slawischen Ministem heraus, die sich um die Aussöhnung mit den Slawen bemüht. Sie stehen auf dem Standpunkt, man könne die jeden Kompromiß ablehnende Haltung der Verfassungspartei gegen die gesamte nationale Opposition nicht auffechterhalten. Sie wollen ein neues Vertretungssystem in Österreich schaffen, „nicht in einer der deutschen Richtung feindlichen Absicht, sondern so, daß die Deutschen aus der Stellung einer Über¬ macht in die einer Führerschaft kommen".138 In dieser Frage, die das Grundpro¬ blem der österreichischen inneren Einrichtung tangiert, nimmt Beust - betonend, daß er dies nicht als Minister tut - wieder Stellung, und es gelingt ihm, der deut¬ schen zentralistischen Mehrheit zum Sieg zu verhelfen.139 Die foderalistisch-au- tonomistische Minderheit, Berger, Taaffe und Potocki, scheiden aus der Regie- rung aus und der Herrscher ernennt Hasner, der den Mehrheitsantrag formuliert hatte, zum Ministerpräsidenten. Hasner gerät nach einigen Monaten ebenso in Konflikt mit dem Reichskanzler wie seinerzeit Carlos Auersperg. Beust sucht wiedemm hinter dem Rücken des Ministerpräsidenten, diesmal dem von Hasner, eine Vereinbarung mit dem galizischen Landtag. Zu dieser Aktion konnte ihm der Zentralist Hasner keine Hilfe bieten. 140 136 Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten Bd. 2 191. 137 Interessanterweise empfahl Carlos Auersperg Beust seinen Bruder. Beust an Carlos Auer¬ sperg (Konzept) v. 18. 10. 1868. HHStA., PA. I, Karton 558. Calos Auersperg an Beust (Privatbrief) v. 15. 10. 1868. Ebd. Beust verhandelte über die Ernennung AdolfAuerspergs zum Ministerpräsidenten unter vier Augen mitführenden deutschösterreichischen liberalen Politikern und auch im österreichischen Ministerrat. Hasner, Denkwürdigkeiten 99 ff.; Przi- bram, Erinnerungen eines alten Österreichers Bd. 1 214 f. 138 Przibram, Erinnerungen eines alten Österreichers Bd. 1 257-258. 139 Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten Bd. 2 217. 140 Leopold Ritter Hasner von Artha war vom 1. Februar bis 4. April 1870 österreichischer Ministerpräsident. Sein Konflikt mit Beust: Hasner, Denkwürdigkeiten 104--105. || || LXII Einleitung Beust hatte also in den vorausgegangenen Jahren in der österreichischen In¬ nenpolitik sogar eine sehr aktive Rolle gespielt, hatte die deutschen liberal-zen¬ tralistischen Kräfte zum Kompromiß ermahnt, hatte zu erreichen versucht, daß die slawischen Länder Abgeordnete in den Reichsrat entsandten, an diesem und an der Arbeit der Delegation teilnahmen, er war also bemüht gewesen, die Funk¬ tion der dualistisch-konstitutionellen Struktur zu garantieren. Aber von seinen Bestrebungen gab es in den gemeinsamen Ministerratssitzungen keine Spur, dort wurden keine innenpolitischen Fragen im engen Sinne behandelt. Im gemeinsamen Ministerrat am 16. Oktober 1871 berichtet Beust beleidigt über die Entstehung der Regierung Hohenwart und darüber, daß er dabei zu er¬ zwungener Passivität verurteilt gewesen ist.141 Das kaiserliche Reskript vom 12. September hat er aus den Zeitungen kennengelemt.142 In diesem Reskript hat der Herrscher - wie bekannt - die Verpflichtung übernommen, daß er die Rechte Böhmens anerkennt und bereit ist, „diese Anerkennung mit Unserem Krönungs¬ eide" zu bestätigen. Das Reskript beruft sich zwar auf das Oktoberdiplom, das Februarpatent, die Dezemberverfassung von 1867 und den „Unserem Königrei¬ che Ungarn geleisteten Krönungseid" (also den ungarischen Ausgleich), aber in Wirklichkeit wird das Recht des böhmischen Königreichs darauf anerkannt, seine Ansprüche „mit den Forderungen der Machtstellung des Reiches und mit den berechtigten Ansprüchen der anderen Königreiche und Länder" in Einklang zu bringen, also die genannten Gesetze nachträglich und als selbständiger Partner einer Revision zu unterziehen. Beust hat - wie sein Ministerratsexpose beweist - dieses Verfahren als Verletzung der Verfassung betrachtet. Daraufmachte er auch den Ministervorsitzenden Hohenwart aufinerksam, der ihn damit zu beruhigen versuchte, daß er die Anerkennung des böhmischen Staatsrechtes von der Billi¬ gung des Reichsrates abhängig mache. Darauf folgte jedoch die böhmische Adresse (die sogenannten Fundamentalartikel)143, die Beust nicht als Spontanak¬ tion des böhmischen Landtages betrachtete, sondern die ganz sicher in Überein¬ stimmung und unter Mitwisserschaft der Regierung entstanden waren. „In der Absicht der Regierung, die Proposition des böhmischen Landtages dem Reichs¬ rate vorzulegen, liege allerdings der Gedanke der Aneignung dieser Propositio¬ nen." Wir wissen, daß Beust nicht auf Vermutungen angewiesen war - wie aus 141 GMR. v. 16. 10. 1871, RMRZ. 119. 142 Kaiserliches Reskript an den böhmischen Landtag vom 12. September 1871. In: Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 1091-1092. Auch das andere „österreichische" Mitglied der gemeinsamen Regierung, Kriegsminister Kuhn, erhielt nur zufällig Kenntnis von dem Reskript, also nicht auf amtlichem Wege, und schrieb in sein Tagebuch (am 17. September): „Mir scheint, man will... mit Fleiss alles untereinanderbringen, um sodann über Alle herfallen und das absolute Regime wieder einführen zu können!" Dies ist Kuhns Grund¬ auffassung von der Hohenwart-Aktion, die er in seinem Tagebuch wiederholt ausfiihrt. KA. Nachlaß Kuhn-Kuhnenfeld B. u. C. 670, Tagebuch. 143 Die Fundamentalartikel nimmt der böhmische Landtag am 10. Oktober an. In: Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 1097-1108. || || Einleitung LXIII dem Ministerratsprotokoll hervorgeht. Selbst wenn er nicht alle Details des Vor¬ gehens von Regierung und böhmischer staatsrechtlichen Opposition kannte, wußte er doch, daß zwischen ihnen Verhandlungen liefen und Hohenwart am 25. April einen Gesetzesvorschlag über die Ausweitung der Landtagskompetenzen unterbreitet hatte.144 Beust sagt im gemeinsamen Ministerrat, er habe, verursacht durch die Adresse des böhmischen Landtags, seine erzwungene Zurückhaltung aufgegeben: Am 13. Oktober habe er ein Memorandum verfaßt, mit dem Ziel zu beweisen, daß die slawenffeundliche Innenpolitik (Hohenwarts innere Reformpläne) und die vom Kaiser früher gutgeheißene Außenpolitik deutscher Orientierung (die der Außen¬ minister vertritt und die auf der gegebenen Form des Dualismus, auf der deutsch¬ ungarischen Hegemonie beruht) in Wirklichkeit unvereinbar miteinander sind.145 Beust erörtert in seinem Elaborat, daß es auch in der seit 1867 bestehenden kon¬ stitutionell-dualistischen Struktur schwer war, eine einheitliche und feste Außen¬ politik zu verfolgen. Die Verfassungsreform im föderalistischen Geist, mit Hof- kanzlem und Landesministem - die die böhmische Landtagsadresse, die Fundamentalartikel verlangen -, macht die einheitliche Führung unmöglich. Die deutschösterreichische Verfassungspartei wandele sich mit erschreckender Schnelligkeit zur deutsch-nationalistischen Partei, „täglich fester schlingen sich die Fäden, die diese Partei durch das Gefühl nationaler, sprachlicher und ge¬ schichtlicher Gemeinsamkeit mit Deutschland-Preußen verbinden". Die böhmi¬ schen Fundamentalartikel werden auf Galizien wirken, die galizischen Polen werden das verlangen, was die Tschechen jetzt tun, die Einheit der drei polni¬ schen Gebiete. Das wiedemm werde zu einem undurchschaubaren Konflikt mit 144 Die Geschichte der Vereinbarung zwischen Regierung und böhmischer staatsrechtlicher Opposition stellt ausflihrlich (außer der breitgefächerten Memoireliteratur und des Presse¬ materials wird auch Hohenwarts handschriftlicher Nachlass benützt) in seiner leider nur als Manuskript vorhandenen Dissertation von 1984 dar: KleteCka, Der Ausgleichsversuch des Ministeriums Hohenwart-Schäffle mit Böhmen im Jahre 1871 112-137; des weiteren Urban, Die tschechische Gesellschaft 1848 bis 1918 362-375. 145 Au. Vortrag von Beust v. 13. 10. 1871. HHSxA., Kabinettsarchiv, Denkschriften, Karton 13. Mitgeteilt von: Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten Bd. 2 501-510; Wertheimer, Graf Ju¬ lius Andrässy Bd. 1 580-581; Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches 460. Beusts Memorandum vom 13. Oktober war nicht ohne Vorgeschichte. Denn in seinem Memoire vom 18. Mai (siehe XXHI-XXV.), in der Ausführung, die das grundsätzliche Dokument der neuen deutschfreundlichen Politik der Monarchie darstellt, hat er aufseine Weise bereits davon gesprochen, daß die neue internationale Politik unvereinbar mit Hohen¬ warts „Ausgleichs "-Aktion sei, daß man nicht gleichzeitig eineprodeutsche Außen- und eine antideutsche Innenpolitikfuhren könne. Schon in diesem Memoire spricht er von dem dro¬ henden deutschen Nationalismus, der, wenn er von Österreich ausginge, sich sehnsüchtig nach dem deutschen Reich wandte, wenn er von Deutschland käme, das Gefüge der Habsbur¬ germonarchie zu sprengen drohte. Text ediert von Lutz, Zur Wende der österreichisch-unga¬ rischen Außenpolitik 1871 169 ff. || || LXIV Einleitung Rußland führen und Preußen werde dann gewiß in der galizischen Frage mit Ru߬ land gegen die Monarchie Zusammenarbeiten. Beust hatte sich seit 1867 stets dazu bekannt, daß die Existenz der Monarchie das auf der deutsch-ungarischen Hegemonie beruhende dualistische System ver¬ langt, und diese seine Überzeugung war durch die seither eingetretenen interna¬ tionalen Veränderungen - daß an Böhmens Grenze nicht mehr Preußen, sondern das einheitliche und starke Deutsche Kaiserreich stand, das seit dem Frankfurter Frieden bestrebt war, ein freundschaftliches Bündnisverhältnis zur Monarchie auszubauen - weiter bestärkt worden. Am Tage nach dem Memorandum, am 14. Oktober, kehrte der Kaiser aus sei¬ nem Ischler Sommerhaus nach Wien zurück und lud den Kanzler zum Essen beim Hof ein. Danach empfing er ihn zu einer langen Audienz, in der Beust of¬ fensichtlich auch mündlich vortrug, was er im Memoire niedergelegt hatte. Der Kaiser war aufinerksam und freundlich - wie üblich, vielleicht aber nicht ganz so sehr, wie Przibram146 vermuten läßt - und wies den Kanzler an, seine Besorgnisse mit den gemeinsamen Ministem zu besprechen. So viel zur Vorgeschichte der Beratung vom 16. Oktober. Am 16. Oktober tagte ein eigenartiger Ministerrat im Konferenzsaal am Ball¬ hausplatz, wenn man so will, die Regierung Beust: Unter dem Vorsitz des Kanz¬ lers nahmen zwei seiner Sektionschefs an der Besprechung teil: der ungarische Sektionschef Bela Orczy und der „deutsche" Hofinann, außer ihnen die beiden gemeinsamen Minister, von denen Lönyay auf nicht mißzuverstehende Weise nicht nur die Rolle des gemeinsamen Finanzministers einnahm, sondern zugleich als ungarisches Mitglied des gemeinsamen Ministeriums aufitrat. Das Protokoll führte Beusts persönlicher Mitarbeiter, Ministerialrat Teschenberg, von dem wir wissen, daß er auch das Memorandum vom 13. Oktober teilweise verfaßt hatte.147 Die Zusammensetzung des Ministerrates ist also ungewöhnlich, besonders des¬ halb, weil jeder genau seiner Stellung in der Regierungsstruktur entsprechend Stellung in Sachen der staatsrechtlichen Reformpläne der Regierung Hohenwart bezog. Eine Reichsregierung tagt am 16. Oktober in Wien über ihre ureigenste Sache, nicht über das gemeinsame Budget, das vor den Delegationen zu haltende außenpolitische Expose - wie bei anderen Gelegenheiten -, sondern über die „Rückwirkung der staatsrechtlichen Aktion für die im Reichsrate vertretenen Kö¬ nigreiche und Länder auf Stellung und Aufgaben des gemeinsamen Ministeri¬ ums" - wie Teschenberg formuliert. Wir können kaum eine Besprechung finden, die so sehr eine Beratung der gemeinsamen Regierung gewesen war wie gerade diese. Hier und damals tritt die gemeinsame Regierung als selbständiges Gremi- 146 Przibram, Erinnerungen eines alten Österreichers Bd. 2 296 ff. 147 Wertheimer, Graf Julius Andrässy Bd. 1581. Teschenberg gehört zum Lager der begeister¬ ten Anhänger Andrässys, ist außerordentlich gut informiert, weiß vieles, über das die Akten nicht informieren - so erinnert sich Läszlö Szögyeny-Marich: Friedjung, Geschichte in Ge¬ sprächen Bd. 1 165. || || Einleitung LXV um auf, das getrennt von den Landesregierungen besteht bzw. im gegebenen Mo¬ ment definitiv gegen sie (bzw. eine von ihnen) steht. Kriegsminister Kuhn analysiert den schädlichen Einfluß der tschechischen Forderungen auf die Militärgesetzgebung. Es werde dann unmöglich sein, Geset¬ ze mit militärischem Bezug in drei Vertretungsgremien durchzuboxen, wo sich die Schwierigkeiten auch im Rahmen des Dualismus gezeigt hätten. Außerdem: die „Einheit der Armee sei allerdings prinzipiell unangetastet, allein der geistige einheitliche Verband ohne Zweifel gelockert und in Frage gestellt". Finanzmini¬ ster Lönyay betrachtet es als gefährlich für die Kreditwürdigkeit des Staates, wenn die finanzielle Einheit Cisleithaniens aufhöre. Beust spricht über die hohe Politik, über die Wichtigkeit, die Sympathie der Deutschen zu bewahren, da „ne¬ ben drei Millionen der für die Propositionen des böhmischen Landtages Einge¬ nommenen auch zwei Millionen vorhanden seien, die sich diesen Vorschlägen gegenüber in entschiedener Ablehnung verhielten". Lonyay, das ungarische Mit¬ glied der gemeinsamen Regierung, Hofmann, der Deutsche, und Orczy, der unga¬ rische Sektionschef des Außenministeriums (deren Amtspflicht die Auffechter¬ haltung von Kontakten mit der cisleithanischen bzw. ungarischen Regierung ist)148 fürchten durch die tschechischen Forderungen für den Ausgleich, d. h. die 67er Gesetze, und betonen, das System der gemeinsamen Angelegenheiten könne nur so geändert werden, wie es entstanden ist: durch das Einvernehmen der beidersei¬ tigen Landesministerien und des gemeinsamen Ministeriums, durch die gesetzli¬ che Intervention und die Übereinstimmung des ungarischen Reichstages und des cisleithanischen Reichsrates, endlich durch die Sanktion der Krone. Die gemeinsamen Minister empfehlen am 16. Oktober dem Kaiser, daß - wenn er überhaupt ein Reskript an den böhmischen Landtag richtet - dieses dann sol¬ chen Inhalts und Geistes sein möge, daß es die Deutschen zur Aufgabe ihres passiven Widerstandes und zur Teilnahme an der Verfassungsrevision zwinge. Der Ministerratsbeschluß scheint in dieser Formulierung ganz klar zu sein, er ist es aber bei weitem nicht. Denn darin ist nichts weniger als der Wunsch enthalten, daß der Herrscher von sämtlichen durch Hohenwart und die Tschechen seit 1871 ausgearbeiteten Vorschlägen Abstand nehme, bei deren Zustandekommen er selbst eine unüblich große persönliche Rolle gespielt hat, und wieder zu dem Zustand vor seinem Manifest vom 12. September zurückkehren möge.149 Dieser in ihrer Art einzigartigen Konferenz folgt am 19. Oktober ein weiterer gemeinsamer Ministerrat, zu dem Beust auch Andrässy und Hohenwart einbe- ruft.150 Der ungarische Ministerpräsident sucht Ausflüchte: Es stehe mit dem Geist des Dualismus im Widerspruch, wenn er sich in die Dinge der österreichischen 148 Über die Funktion des ungarischen Sektionschefs siehe Somogyi, Im Dienst der Monarchie oder der Nation? 595-600. 149 Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches 460 ff. Über die persön¬ liche Teilnahme des Herrschers an der Gestaltung der Ereignisse: KleteCka, Der Aus¬ gleichsversuch des Ministeriums Hohenwart-Schäffle mit Böhmen im Jahre 1871 203-232. 150 GMR. v. 19. 10. 1871, RMRZ. 120. || || LXVI Einleitung Regierung einmische. Doch handele es sichjetzt um eine Umgestaltung, die weit¬ gehende Auswirkung auf Ungarn haben könne, weshalb er sich berechtigt fühle, sich zu äußern. Er hält das Wesen des böhmischen Landtagsvorschlages für unan¬ nehmbar. Der Ausgleich von 1867 kenne nämlich keinen selbständigen tschechi¬ schen Standpunkt, Böhmen sei gegenüber Ungarn kein selbständiger Faktor. Der Auffassung des Ausgleichs von 1867 nach bilden die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder eine Einheit und stehen so als gleichrangige Partner den Ländern der ungarischen Krone gegenüber. „An dieser Demarkationslinie zwi¬ schen Dualismus und Föderalismus müsse streng festgehalten werden." Nach dem Ministerrat berichtet Andrässy seiner Ehefrau von den Geschehnis¬ sen und schreibt: „Morgen wird der erste und ich hoffe, der letzte 'Plenarmini- sterrat' stattfinden, an dem endlich auch Seine Majestät teilnimmt."151 Die Ge¬ schichtsliteratur betrachtet diesen „Kronrat" vom 20. Oktober, wahrscheinlich seit Wertheimers Andrässy-Monographie, als gemeinsamen Ministerrat, was er aber nicht gewesen ist. Am 20. Oktober versammelten sich unter dem Vorsitz des Kaisers die gemeinsamen Minister, die gesamte cisleithanische Regierung sowie der ungarische Ministerpräsident und der ungarische Minister am Allerhöchsten Hoflager. Ein Reinschriftexemplar des Protokolls befindet sich zwar unter den gemeinsamen Ministerratsprotokollen, betitelt „Protokoll des Ministerrates unter Ah. Vorsitze". Aber nicht Beust, der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates, unterzeichnet das Protokoll (wie üblich bei gemeinsamen Ministerratssitzungen), sondern Hohenwart, der Chef der cisleithanischen Regierung. Und Protokollfüh¬ rer ist nicht der Beamte der Reichskanzlei Konradsheim oder Teschenberg wie bei anderen Gelegenheiten, sondern Artus, ein Beamter des österreichischen Mi¬ nisterratspräsidiums. Das Originalexemplar des Protokolls liegt im Verwaltungs¬ archiv bei den Akten des österreichischen Ministerrates.152 Die Vermutung, daß die Sitzung vom 20. Oktober ein gemeinsamer Minister¬ rat gewesen ist, ist völlig verständlich. Wenn überhaupt, mußte die Umgestaltung der Struktur der Monarchie mit besonderem Augenmerk auf die daraus resultie¬ rende außenpolitische Wirkung im gemeinsamen Ministerrat beschlossen wer¬ den. Aber das war nicht der Fall. Am 20, Oktober berief der Kaiser die gemeinsa- men und die ungarischen Minister zum österreichischen Ministerrat ein.153 Vielleicht zeigt auch diese Geste, was ebenso aus dem Text des ProtokölTs hervor¬ geht, daß der Kaiser Hohenwart gefällig sein wollte, noch nicht seinen Glauben an das Gelingen des Ausgleichsprojektes verloren hatte, noch die Möglichkeit eines mit der cisleithanischen Regierung zu schließenden Kompromisses für durchführbar hielt. Er bemühte sich, aus dem von der gemeinsamen Regierung 151 Wertheimer, Graf Julius Andrässy Bd. 1 591 152 Über das Problem der Eintragung des Ministerrates siehe Nr. I. Ministerrat, Wien, 20. Okto¬ ber 1871. Anm. 1. 153 Im Ministerrat weist Andrässy ausdrücklich daraufhin, daß ihn der Herrscher zur Beratung einberufen habe. || || Einleitung LXVII erstellten Entwurf des Reskripts an den böhmischen Landtag jeden Passus auszu¬ merzen, der gegenüber den Tschechen unfreundlich klang. Beust aber trug wieder vor, wie auch in seinem Memorandum vom 13. Okto¬ ber, daß die tschechischen staatsrechtlichen Forderungen die einheitliche Füh¬ rung der Außenpolitik unmöglich machen würden und die Opposition der Deutschösterreicher gefährlicher für die Monarchie wäre als die der Tschechen. Die deutsche Regierung werde nicht tatenlos dem Widerstand der Deutschöster¬ reicher zuschauen, wogegen die Tschechen nicht auf Hilfe von außen rechnen können. - Seine Erörterung war offensichtlich die Antwort auf Hohenwarts wie¬ der und wieder vorgebrachte Frage, wie wichtig denn die Einigung mit den Tsche¬ chen für das Reich wäre. Der ungarische Ministerpräsident und der cisleithanische Finanzminister Holz- gethan - der sich jederzeit konsequent von seiner eigenen Regierung distanzierte und betonte, beim Zustandekommen der Landtagsadresse keine Rolle gespielt zu haben - stellten sich auf den Standpunkt der gemeinsamen Regierung. Und als letzterer davon sprach, daß die „Fundamentalartikel" einem Staatsbankrott gleich¬ kämen, brach Franz Joseph ohne jede Erklärung überraschend die Regierungssit¬ zung ab.154 Der Kaiser hätte sich offensichtlich gern mit den Tschechen geeinigt. Er war es bereits seit einem Jahr überdrüssig, daß die Slawen, besonders die Tschechen, in Opposition zur dualistischen Einrichtung standen, ihre Abgeordneten dem Reichs¬ rat fern blieben und sie somit auch keine Vertreter in die Delegation entsandten. Die österreichischen nationalen Zwistigkeiten beunruhigten ihn. Denn er betrach¬ tete sich nicht als Kaiser der Deutschösterreicher, sondern als Herrscher sämtli¬ cher „VölkerStämme" seines Reiches. Besondere Sorge bereitete ihm, daß die tschechische bürgerlich-liberale nationale Bewegung mit der Aristokratie des Landes zusammenarbeitete. An der Spitze der Landesbewegung standen Famili¬ en - Schwarzenberg, Thun, Clam-Martinic -, die seit Jahrhunderten Stützen der Dynastie gewesen waren. Er wollte sich mit ihnen einigen. Das konnte er jedoch nur gegen die deutschen Liberalen tun, die in Österreich die Hegemonie hatten. Das hätte natürlich auch seiner Neigung nicht widersprochen. Er wäre gern die sprühenden, stets diskussionsbereiten Intellektuellen, die mit ihren Prinzipien und ihrer Bildung prahlenden Professoren losgeworden, die zu allem Überfluß hilflos vor den lauten Forderungen der Landtage standen. Offensichtlich zog es ihn zu dem anderen Lager hin: zu den Klerikalen und Konservativen. Er sagte dem preußischen Gesandten, man müßte die Zügel straffer ziehen. Die Liberalen mißbrauchten ihre Möglichkeiten, keine Nation dürfte die andere unterdrücken, 154 Über den Ministerrat hält der gemeinsame Finanzminister Lönyay viele interessante Einzel¬ heiten in seinem Tagebuchfest. Von ihm wissen wir, daß die Konferenzfünfeinhalb Stunden dauerte undsomit das Protokoll nicht alle Einzelheiten des dort Gesagten wiedergibt. Cieger, Lönyay Menyhert 1822-1884 284; Schäffle, Aus meinem Leben Bd. 2 192 ff. || || LXVIII Einleitung von jetzt an würde man „auf echt österreichische Weise" regieren.155 Aus dieser Überlegung heraus hatte er am 6. Februar 1871 die Regierung Hohenwart er¬ nannt, die aus konservativen Deutschen und slawischen Politikern verschiedener Richtungen bestand und der er die Aufgabe übertragen hatte, die Nationen Öster¬ reichs, vor allem die Tschechen zu befrieden.156 Es ging nicht darum, daß Franz Joseph den Dualismus aufgegeben hätte, doch bestand kein Zweifel daran, daß er den Kanzler, der das System geschaffen und in Österreich durchgesetzt hatte, von den Geschehnissen femhielt. Und er meinte, es wäre ein gangbarer Weg, daß die slawenfreundliche Innenpolitik und die deutschorientierte Außenpolitik, die Beust selbstverständlich mit Billigung des Herrschers betrieb, nebeneinander be¬ stehen konnten. Die eigentliche Aufgabe der im Oktober aufeinanderfolgenden Ministerbera¬ tungen war es, eine Antwort auf die Adresse des böhmischen Landtags zu formu¬ lieren. Die Konferenzen unterschiedlicher Zusammensetzung und verschiedenen Charakters hätten einen Kompromiß zwischen dem Vorschlag der cisleithani- schen Regierung (Hohenwart) und dem der gemeinsamen Regierung (Beust) fin¬ den sollen.157 Der den Konferenzen Vorsitzende Herrscher betont immer wieder 155 Wertheimer, Graf Julius Andrässy Bd. 1 558-559. 156 Urban, Die tschechische Gesellschaft 1848 bis 1918 361-363; Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867-1906 217-225. 157 Es handelt sich umfolgende Ministerratssizungen: 1: Protokoll des zu Wien am 16. Oktober 1871 abgehaltenen Ministerrates für gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Reichskanzlers Grafen Beust. Gegenstand: Rückwirkung der staats¬ rechtlichen Aktion für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder auf Stellung und Aufgaben des gemeinsamen Ministeriums. 2: Protokoll des zu Wien am 19. Oktober 1871 abgehaltenen Ministerrates für gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze Sr. Exzellenz des Herrn Reichskanzlers Grafen Beust. Gegenstand: Ah. Reskript an den böhmi¬ schen Landtag. (Diese sind reguläre gemeinsame Ministerratssitzungen, eingetragen bei den gemeinsamen Ministerratsprotokollen.) 3: Protokoll I des zu Wien am 20. Oktober 1871 ab¬ gehaltenen Ministerrates unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers. Gegenstand: Re¬ skript an den böhmischen Landtag. 4: Protokoll II des zu Wien am 20. Oktober 1871 abge¬ haltenen Ministerrates unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers. Gegenstand: Reskript an den böhmischen Landtag (Fortsetzung), im Zusammenhang damit böhmische Fundamen¬ talartikel. (Diese sind in Wirklichkeit cisleithanische Ministerratssitzungen, sie sind dort ein¬ getragen. Aber eins der Exemplarefindet sich auch unter den gemeinsamen Ministerratspro¬ tokollen.) 5: Protokoll des zu Wien am 21. Oktober 1871 abgehaltenen Ministerrates unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers. Gegenstand: Entwurf des Ah. Reskriptes an den böhmischen Landtag. 6: Protokoll des zu Wien am 22. Oktober 1871 abgehaltenen Minister¬ rates unter dem Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers. Gegenstand: Abänderungen in den böhmischen Fundamental-Artikeln. 7: Protokoll des zu Wien am 25. Oktober 1871 abgehal¬ tenen Ministerrates unter dem Vorsitze S. E. des Herrn Präsidenten des Ministerrates Grafen Hohenwart. Gegenstand: Au. Demissionsgesuch des Ministeriums. (Die Protokolle der drei letztgenannten cisleithanischen Ministerratssitzungen befinden sich nur unter den cisleitha- nischen Ministerratsprotokollen.) Als Beilage zu Protokoll I vom 20. Oktober befinden sich || || Einleitung LXIX die Wichtigkeit, daß man sich einigen müsse und keine voreilige Entscheidung fallen dürfe und könne und daß, wenn er zu einem oder dem anderen Punkt des Entwurfs eine Bemerkung mache, „dies keineswegs schon als eine Entscheidung anzusehen sei".158 Wenn wir versuchen, das Wesen der weitverzweigten Debatten zusammenzufassen, lassen sich drei Fragenkomplexe feststellen, um die es ging: 1. Die Tschechen und der österreichisch-ungarische Ausgleich des Jahres 1867,2. Neuinterpretation der inneren Verhältnisse Cisleithaniens und 3. Schutz der Reichseinheit in Bezug auf die außenpolitisch-militärische und wirtschaftliche Gemeinschaft. 1. Die Tschechen akzeptierten zwar den Ausgleich von 1867 (die Gesetze über gemeinsame Angelegenheiten und die aufihnen beruhende Dezemberverfassung) als Ausgangspunkt, beanspruchten aber, nachträglich ihre Zustimmung dazu zu geben oder ihn zu ändern. Die gemeinsame Regierung dagegen betrachtete den Ausgleich als unantastbare Rechtsgrundlage. Im ersten, bei weitem nicht konzili¬ anten Ministerratsbeschluß heißt es, daß „eine nachträgliche Ratihabierung von Seite des böhmischen Landtags ... in keiner Weise bedürftig bezeichnet werden müsse".159 Der Ausgleich sei nur auf die Weise zu ändern, wie er zustande gekom¬ men sei, mit Einwilligung des cisleithanischen Reichsrates und des un¬ garischen Reichstages und schließlich der Sanktionierung des Herrschers. In der Interpretation der gemeinsamen Regierung (oder wenn man so will, der dualisti¬ schen Auffassung nach) steht Ungarn die Gesamtheit der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder gegenüber,160 der böhmische Landtag kann nicht als selbständiger Faktor auftreten. 161 2. Der böhmische Landtag beansprucht die Umgestaltung des cisleithanischen Vertretungssystems. Er wünscht das Unterhaus des Reichsrates als Delegierten- Kongreß (der Königreiche und Länder) und bestreitet dementsprechend, daß das Gremium des Reichsrates die Delegationsmitglieder wählen müsse, dieses Recht behält er den Ländern vor. Dieser Auffassung widersprichtjedoch eine Reihe von Paragraphen des ungarischen Ausgleichsgesetzes (vor allem § 46: „In dem Falle, als Seine Majestät einen von den Reichstagen auflösen sollten, hört auch die De¬ legation des aufgelösten Reichstages auf, und der neue Reichstag wählt einen neuen Ausschuß (Delegation)"162). Der dualistischen Auffassung gemäß wählen die beiden Reichshälften die Delegationsmitglieder auf gleiche Weise. Eine Ge- die beiden Reskriptentwürfe. Hohenwart hat danach den seinen mehrfach überarbeitet. Eine solche Variante befindet sich als Beilage des Ministerrates vom 21. Oktober. 158 So MR. v. 21. 10. 1871, MRZ. 113. 159 GMR. v. 16. 10. 1870, RMRZ. 119. 160 In Andrässys Formulierung: „es standen die Reichsratsländer zusammen den Ländern der ungarischen Krone zusammen gegenüber". GMR. v. 19. 10. 1871, RMRZ. 120. 161 In Andrässys Formulierung: „könne ... unmöglich den Ausgangspunkt akzeptieren, als ob es sich um ein abgesondertes Verhältnis Böhmens zu Ungarn handle". GMR. v. 19. 10. 1871, RMRZ. 120. 162 Der § 26 der Dezemberverfassung ist mit § 46 des GA. XII identisch. || || LXX Einleitung setzesänderung kann die cisleithanische Reichshälfte nicht allein, sondern nur mit dem Einverständnis Ungarns beschließen. Der ungarische Ministerpräsident macht besonders darauf aufmerksam, daß das Delegationsgesetz seinerzeit das umstrittenste Element des Ausgleichs gewesen ist, und da es ungeachtet der Vor¬ behalte der vereinbarenden Partner sich in der Praxis schließlich bewährt habe, dürfe nichts daran geändert werden.163 3. Natürlich furchten die dualistisch-zentralistischen Mitglieder des Minister¬ rates am meisten für die einheitliche Führung der gemeinsamen Angelegenheiten durch die Fundamentalartikel des böhmischen Landtages. Die Ausgestaltung und Veränderung des Verteidigungssystems ist die Aufgabe der beiden Legisla¬ tiven „nach gleichartigen Prinzipien" - sagt der Kriegsminister -, darauf können die Landesvertretungen keinen Einfluß haben. Der gemeinsame Finanzminister meint, wenn Böhmen ein ebensolches Recht wie Ungarn bekomme, den Anteil seines Beitrages zu den gemeinsamen Ausgaben (Quote) und zur Staatsschuld zu bestimmen, würde dadurch die Position der Monarchie auf dem internationalen Finanzmarkt katastrophal werden. Der Außenminister erörtert seit seinem Memo¬ randum vom 13. Oktober wiederholt, die in den Fundamentalartikeln vorgesehene böhmische Hofkanzlei werde für sich dann ebensolchen außenpolitischen Einfluß vindizieren wie die beiden Ministerpräsidenten. Aber die außenpolitische Aspira¬ tion der vielen Nationen mache eine wirksame Außenpolitik der Monarchie un¬ möglich, und die Opposition der Deutschen verhindere, die außenpolitische Rich¬ tung aufrechtzuerhalten, welche die Monarchie mit Billigung des Herrschers und der Delegationen in der vergangenen Periode mit Erfolg betrieben habe.164 163 MR. v. 20. 10. 1871. MRZ. 111. „Das Zustandekommen dieses Institutes sei keine leichte Sache gewesen. Nun, da es angenommen, habe man damit doch jedenfalls befriedigende Erfolge erzielt, und vielleicht würde sich die Monarchie ohne dasselbe nicht in einer so guten Lage befinden. Die Frage erscheine daher als wohlberechtigt, ob man Veränderungen machen dürfe oder solle, die nicht absolut notwendig seien. Der richtige Standpunkt der Monarchie sei nach seiner Überzeugung der, nur das zu verändern, was absolut nicht haltbar sei." 164 Die Richtung der auswärtigen Politik, welche eingeschlagen werde, habe erst vor kurzem einen neuen präzisen Ausdruck gefimden, die Delegationen haben ihr zugestimmt, und sie habe im Auslande ohne Unterschied den freundlichsten Wiederhall gefimden, ja nicht eine entgegengesetzte Stimme habe sich gegen diese Politik erhoben, welche für die Sicherheit und friedliche Entwicklung Bürgschaft biete. Es verstehe sich von selbst, daß die Gestaltung der inneren Zustände nicht ohne Rückwir¬ kung bleiben könnte. (Beiist, Protokoll II. 20. 10. 1871 und er setztfort:) Es seien zwar alle Garantien gegeben, daß die preußische Regierung sich von Einmischungen in innere Fragen ferne halten werde, allein es könnten Umstände eintreten, deren Macht stärker wäre als der beste Wille. Wenn auf die Eventualität eines fortdauernden Widerstandes des tschechischen Elementes und auf die Eventualität einer gleichen Resistenz der Deutschen hingeblickt wird, so schiene es in dem letzteren Falle wohl fraglich, ob, wenn es sehr weit käme, die deutsche Regierung ruhig würde Zusehen können, während der tschechische Widerstand auf materielle Hilfe von außen nicht rechnen könnte. || || Einleitung LXXI In den Ministerkonferenzen vom Oktober 1871 ging der Streit - das war den Teilnehmern bewußt -- um die Frage von Dualismus oder Föderalismus, wie Andrässy es formulierte, um die „Demarkationslinie zwischen Dualismus und Föderalismus". Bei weitem nicht so eindeutig war das Programm des „Schutzes der Verfassung". Im damaligen politischen Argumentationssystem spielte die Verfassungsmäßigkeit eine wichtige Rolle. 1867 ist es - wie es in der Präambel des ungarischen Ausgleichsgesetzes heißt - zu einer Neuordnung der gemeinsa¬ men Angelegenheiten deshalb gekommen, weil „Seine Majestät... Ihren übrigen Ländern konstitutionelle Rechte zu verleihen geruhten". Der Konstitutionalismus ist im Herbst 1871 ein politischer, oder wenn man so will, ein moralischer Grund¬ wert, ein bestimmender Begriff des politischen Diskurses, beide Seiten berufen sich mit Vorliebe auf ihn. Auch der hochkonservative Hohenwart tut das, für den die Befriedigung der böhmischen Opposition nur ein Mittel ist, das liberale Ele¬ ment zurückzudrängen und die alte Achtung vor Kaiser und Staat wieder herzu¬ stellen.165 In Hohenwarts Rede gab es natürlich eine ziemliche Portion Sophistik; nicht wir, sondern eben die deutsche Verfassungspartei und ihre Regierungsan¬ hänger bringen die „Verfassung" in Gefahr. Beust und Andrässy boten zweifels¬ ohne gewisse Möglichkeiten zur Beschuldigung des Inkonstitutionalismus, denn im Laufe der Debatte traten sie wiederholt nicht als (den Delegationen oder dem Reichstag gegenüber) verantwortliche Minister auf, sondern als Ratgeber der Krone (was natürlich zumindest ebensoviel sprachliche Formel wie echter Inhalt ist). Aber Beust verteidigte wirklich den Konstitutionalismus gegen die böhmi¬ schen staatsrechtlichen Forderungen. Er war sich sicher - und die Geschehnisse der letzten Monate bestärkten ihn in seiner Auffassung -, daß die gegebene kon¬ stitutionelle Struktur der Monarchie (der auf der deutsch-ungarischen Hegemonie beruhende verfassungsmäßige Dualismus) die Grundlage der neuen deutsch¬ freundlichen Außenpolitik war, und erwog gleichzeitig auch, welches Gewicht in dieser Struktur die konstitutionellen und welches die absolutistischen Elemente, die persönliche Macht des Herrschers, besaßen - was in der Oktoberkrise deut¬ lich spürbar war. Das Auffallendste an dieser ansonsten unproduktiven, oft formalen und nicht unbedingt aufrichtigen Polemik war der unterschiedliche Begriffsgebrauch der beiden Lager (wenn wir der Einfachheit halber Andrässys Ausdrücke benutzen: Dualisten und Föderalisten). Es handelte sich nicht nur darum, daß die Dualisten gegenüber den „Fundamentalartikeln" der Tschechen die Gesetze von 1867 als Fundamentalgesetz des Staates über die gemeinsamen Angelegenheiten betrach¬ teten und gerade deshalb auch den Gebrauch des Ausdrucks „Fundamentalarti¬ kel" für unrechtmäßig hielten.166 „Ausgleichfreundlich" bedeutete einerseits Sym- 165 KleteCka, Der Ausgleichsversuch des Ministeriums Hohenwart-Schäffle mit Böhmen im Jahre 1871 128. 166 Endlich wendete sich Redner [Andrässy] gegen die Aufnahme des die Zukunft antizipieren¬ den Wortes „Fundamentalartikel" in das Reskript und wünschte dasselbe durch den Ausdruck || || LXXII Einleitung pathie für den Ausgleich von 1867, andererseits das Betreiben der Übereinkunft mit den Tschechen. Die Tschechen erhoben das Manifest des Herrschers vom 12. September, das das böhmische historische Staatsrecht anerkannt hatte, zu einem nationalen Symbol und vertrieben es in einer Prachtausgabe als Nationalreli¬ quie.167 Dasselbe Schreiben qualifizierten die gemeinsame und die ungarische Re¬ gierung als ein übereiltes, ungenau formuliertes, mißlungenes Reskript (wenn man so will, einen administrativen Fehlschuß). Hohenwart und Andrässy standen sich nicht einfach in ihrer politischen Konzeption gegenüber, das Begriffssystem, die Worte und Symbole beider Lager waren unvereinbar. Franz Joseph verzichtet dennoch nicht auf die Vermittlung. Am 21. Oktober verhandelt er erneut mit der cisleithanischen Regierung, wozu er die gemeinsa¬ men Minister nicht mehr einlädt.168 Tags daraufhält er eine informelle Konferenz mit Beust, Lönyay und Andrässy ab, von der kein Protokoll angefertigt wird und über die wir nur aus Lönyays Tagebuch wissen. Dort werden keine neuen inhalt¬ lichen Argumente vorgebracht, sondern „nur", daß im Falle der Annahme des Hohenwartschen Programms keiner von ihnen die Regierungsverantwortung übernimmt. Franz Joseph unterbricht die Besprechung und eilt in die Sitzung der cisleithanischen Regierung,169 um dann dort, in der cisleithanischen Regierungs¬ sitzung und nicht im gemeinsamen Ministerrat mitzuteilen, er habe nicht deren, sondern den Reskriptsentwurf der gemeinsamen Regierung akzeptiert.170 Am 25. trifft sich Ministerpräsident Hohenwart mit den führenden Politikern im böhmischen Landtag, mit Graf Clam-Martinic, dem Führer des böhmischen historischen Adels, Dr. Rieger und Dr. Prazäk, den Führern der alttschechischen Partei, und da diese auf der Basis des Reskripts der gemeinsamen Regierung zu keinerlei Zusammenarbeit bereit sind, reicht das Ministerium Hohenwart noch am gleichen Tag seinen Rücktritt ein.171 Nach den fachlich-politisch-juristischen und, nicht nur einmal, auch philologi¬ schen Debatten der vergangenen Tage geben die Regierungsmitglieder jetzt so etwas wie eine auch für die Nachwelt gedachte feierliche Prinzipienerklärung ab. Finanzminister Holzgethan, der deutschliberale interne Opponent der Regierung, betont erneut, daß nur das Festhalten an dieser Verfassung (d. h. der Dezember¬ verfassung von 1867 und dem österreichisch-ungarischen Ausgleich) wirklich noch als ein Reif erscheint, welcher die Monarchie zusammenhält. Daran soll man nicht rütteln, wie es beim Föderalismus doch der Fall wäre. Grocholski, der „Wünsche oder Vorschläge", der seinerzeit auch in den ungarischen Reskripten zur Anwen¬ dung gelangte, zu substituieren. GMR. v. 19. 10. 1871, RMRZ. 120. 167 Velek, Böhmisches Staatsrecht auf „weichem Papier" 106-110. 168 MR. v. 21. 10. 1871, MRZ. 113. Ministerratsprotokolle, Karton 41. Abschriften der Brandak¬ ten. 169 Cieger, Lönyay Menyhert 1822-1884 285. 170 MR. v. 22. 10. 1871, MRZ. 114. Ministerratsprotokolle, Karton 41. Abschriften der Brandak¬ ten. 171 MR. v. 25. 10. 1871, MRZ. 116. Ebd. || || Einleitung LXX1II erfahrene polnische Politiker, der früher versucht hat, die galizischen Polen für die Politik der Regierung zu gewinnen, ist genau entgegengesetzter Ansicht:172 Wenn etwas dieses Reich zusammenhält, ist das nicht die Verfassung, sondern einzig und allein das dynastische Gefühl, und wenn etwas zersetzt, dann ist es die Verfassung. Und damit kein Zweifel darüber bestehen kann, was er von der gege¬ benen dualistisch-konstitutionellen Einrichtung der Monarchie denkt, fügt er noch hinzu: Heute bedeutet die Verfassung eine weniger zusammenhaltende Kraft als 1861; mit anderen Worten, die dualistische Verfassung ist unannehmbarer als die Schmerlingsche Verfassung der Gesamtmonarchie von 1861. Die Regierung Hohenwart dankt also mit der Erklärung ab, sie weise das konstitutionelle System zurück, das von 1861 an auf der deutschen, dann mit der dualistischen Umgestal¬ tung auf der deutsch-ungarischen Hegemonie beruht hat. Kriegsminister Kuhn hatte nie mit Hohenwarts Bestrebung sympathisiert und formulierte in seiner ge¬ wohnt zugespitzten Weise: Die wahre Absicht der Regierung war, alles unterein¬ anderbringen, um sodann über die Völker herzufallen und sie zu vereinigen im absolutistischen Sinne.173 Doch Kuhn irrte sich. Der Kaiser beabsichtigte dies nicht. Am 22. Oktober entschied er sich für die dualistische Verfassung. Am 4. November wird das von der gemeinsamen Regierung formulierte Reskript dem böhmischen Landtag mit der Unterschrift Holzgethans vorgelegt, den der Herrscher vorübergehend mit der Führung der Regierung betraut hat. „Die staatsrechtliche Aktion" des konservati¬ ven Ministeriums war damit beendet. Doch es geschah mehr als das. Die große Veränderung war abgeschlossen, die wir die dualistische Umgestaltung der Habs¬ burgermonarchie nennen. Die Sanktionierung der Gesetze von 1867 war in Wirk¬ lichkeit nur der erste Schritt der Umgestaltung. Die äußeren und inneren Bedin¬ gungen stabilisierten sich 1871, als die Monarchie efhe heue deutsche Politik begann und sich dementsprechend den die deutsche Hegemonie gefährdenden föderalistischen Bestrebungen widersetzte. Damals kristallisierte sich der Wir¬ kungsmechanismus des dualistischen Staates heraus. Die Regierungen der beiden Staaten und die Reichsbehörden fanden damals ihren Platz. Die Institution des gemeinsamen Ministerrates gewann damals ihre wahre Form. Im Herbst 1871 hatte er sich noch in innere Angelegenheiten eingemischt (was letztlich Gyula Andrässy in der ungarischen Delegation vor den ihn kritisierenden Unabhängig- 172 Casimir Ritter von Grocholski ernannte der Herrscher am 11. April zum Minister ohne Portefeuille ausgesprochen zu dem Zweck, konkrete Verhandlungen mit den Polen zu begin¬ nen. 173 KA. Nachlaß Kuhn-Kuhnenfeld B. u. C. 670, Tagebuch 29. 10. 1871. Dieser Gedanke taucht in Kuhns Tagebuch immer wieder auf. Das Ziel der Regierung Hohenwart sei, „alles unter¬ einander zu bringen und sodann wieder wie 1851-59 den absolutistischen Zentralismus her¬ zustellen". 28-29. August 1871. Ebd. || || LXXIV Einleitung keitspolitikem auch nicht leugnete).174 Nach 1871 beschränkte sich seine Kompe¬ tenz auf die klassischen „gemeinsamen Angelegenheiten". Der gemeinsame Mi¬ nisterrat brauchte sich in den folgenden Jahrzehnten mit strukturellen Problemen der Monarchie nicht mehr zu beschäftigen.175 174 Die Vertreter der Unabhängigkeitspartei Ignäc Helffy und Kaiman Ttsza interpellieren den Ministerpräsidenten, er habe sich in Österreichs innere Angelegenheiten eingemischt. Da¬ mals verteidigt sich Andrässy damit: „Beide Regierungen Seiner Majestät regieren je geson¬ dert und unabhängig voneinander, und eine Beratung zwischen den beiden Ministerien ist nur dann notwendig, wenn es um eine Modifizierung der Grundrechte geht." Az 1869-dik evi äprilis 20-dkära hirdetett orszäggyüles kepviselöhAzanak naplöja XVII. 28. 10. 1871. Der Text der Interpellationen: 170-173, Andrässys Antwort: 198-202. Es hätte kaum Sinn, darüber zu meditieren, ob Andrässy aufdie Ministerratssitungen vom 16., 19. oder 20. Okto¬ ber verwies. Jenes Staatsrecht, das er am ehesten kannte und vertrat, kannte sicher die „In¬ stitution " einer gemeinsamen Beratung der beiden Regierungen nicht. 175 Somogyi, Die Delegationen als Verbindungsinstitution zwischen Cis- und Transleithanien 1159-1162. || ||