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Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)

EINLEITUNG

          1. Die Selbstdefinition des gemeinsamen Ministerrates1

   Am 21. Dezember 1867 sanktionierte der Herrscher die österreichischen
Verfassungsgesetze, am 23. enthob er Freiherr Friedrich Ferdinand Beust
seines Amtes als Ministerpräsident für die im Reichsrat vertretenen König¬
reiche und Länder, und am 24. Dezember ordnete er an, daß „die Ministe¬
rien des Äußern, des Krieges und der Finanzen als Reichsministerien in ver¬
fassungsmäßige Wirksamkeit treten".2 Gleichzeitig damit ernennt er den
bisherigen österreichischen Finanzminister Franz Freiherr von Becke zum
Reichsfinanzminister und fordert Reichskanzler Beust und Feldmar-
schalleutnant Franz Freiherr von John auf, „die ihnen beiden bisher anver¬
trauten Ministerien als Reichsminister fortzuführen".3 Am 31. Dezember
1867 trat das Reichsministerium zu seiner ersten Sitzung zusammen.

   Daß damit tatsächlich eine neue Epoche in der Geschichte der Habsbur¬
germonarchie begonnen hat, wird aus den Ministerratsprotokollen kaum er¬
sichtlich. Der erste gemeinsame Ministerrat behandelt das Militärbudget
des folgenden Jahres, und daß in der obersten Führung des Reiches etwas
Neues begonnen hat, ist höchstens daran zu erkennen, daß man die Mini¬
sterratsprotokolle neu zu zählen beginnt.4

1 Zu dieser Frage gibt es eine reiche Literatur. Als erster schrieb darüber Miklös
       KomjAthy in seiner Studie Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine
       Tätigkeit während des Weltkrieges, danach Goldinger, Die Zentralverwaltung in
       Cisleithanien - Die zivile gemeinsame Verwaltung; Somogyi, A közös minisztertandcs
       müködese 1896-1907; Rumpler, Die rechtlich-organisatorischen und sozialen Rahmen¬
       bedingungen für die Außenpolitik der Habsburgermonarchie 1848-1918; Diöszegi, Die
       Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates 1883-1895; Somogyi, Der gemeinsame
       Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867-1906.

2 RGBl. Nr. 141/1867. § 5, bzw. GA. XII/1867. § 27.
3 HHStA., AR, F 4, Karton 399. Organisation der Präsidialsektion. Kab.Archiv, Geheim¬

       akten Karton 40 Bill c/202/1867 v. 24. 12. 1867.
4 Der Wortgebrauch gemeinsames oder Reichsministerium war sehr unsicher. Die ge--

       meinsamen Minister ernennt die Ah. Entschließung v. 24. 12. 1867 als Reichsminister,
       die erste gemeinsame Ministerberatung wird Sitzung des Reichsministeriums genannt.
       Das im Protokoll des GMR. v. 26. 1. 1868, RMRZ. 8 erstmals zu lesende und auch in den
       späteren Jahren übliche Ministerrat für gemeinsame Angelegenheiten ist in Wahrheit
       eine etwas euphemistische Benennung. Damit konnte nämlich das Problem des gemein-
|| || XII Einleitung

   Der Wirkungskreis der neuen gemeinsamen Ministerien wird genau fest¬
gelegt, über den Ministerrat selbst kommt es aber zu keinerlei Beschluß.
Die Praxis gestaltet die inhaltlichen Bezüge und Formen seiner Tätigkeit,
aber überhaupt nicht seine formalen, äußerlichen Belange, z. B. wer zum
gemeinsamen Ministerrat hinzugebeten wird. Und da die Tätigkeitsbe¬
dingungen häufig auch Gegenstand der Ministerratsdebatten selbst sind,
haben diese frühen Ministerratsdebatten auch bestimmende Bedeutung für
die Geschichte der Institution.

                                         a) Die Anwesenden

   Wie bekannt, war zu jener Zeit, also im Laufe der Jahrzehnte des Dualis¬
mus, auch umstritten, wer die Mitglieder des gemeinsamen Ministerrats sei¬
en, und auch in der Historiographie sind die Standpunkte in dieser Frage
geteilt.5 Ich habe mich anderenorts zu beweisen bemüht, daß die Rolle der
Ministerpräsidenten der beiden Staaten im gemeinsamen Ministerrat be¬
stimmende Bedeutung für den Charakter des dualistischen Staates gehabt
hat, teils in der Hinsicht, ob die Regierungen der beiden Staatsgebiete die
Möglichkeit bekamen, die eigenen, eventuell von denen des Reiches ab¬
weichenden Interessen ihrer Länder im gemeinsamen Ministerrat zur Gel¬
tung zu bringen. Denn daß die Landesminister notwendigerweise zu Ver¬
teidigern gewisser partikularer Interessen würden, war von Anfang an
selbstverständlich; dies haben die gemeinsamen Minister im Ministerrat
auch bestätigt.6 Anderenteils hat die Teilnahme der Minister der beiden
Staaten am gemeinsamen Ministerrat auch für die verfassungsmäßige Be¬
handlung der gemeinsamen Angelegenheiten große Bedeutung. Bekannter¬
maßen kam die parlamentarische Verantwortung der gemeinsamen Minister
infolge der eingeschränkten Kompetenz der Delegation nur wenig zur Gel¬
tung. Die parlamentarische Kontrolle praktizierten auch in gemeinsamen
Angelegenheiten der österreichische Reichsrat und der ungarische Reichs¬

        samen oder Reichsministeriums umgangen werden. Den Ministerratsprotokollen wer¬
        den aber auch weiterhin die Ministerratszahl (MRZ.) oder die Reichsministerratszahl
        (RMRZ.) gegeben.
        Der gemeinsame Außenminister Goluchowski hielt 1895 die Landesminister (also die
        Ministerpräsidenten beider Staaten) nicht für eigentliche Mitglieder des gemeinsamen
        Ministerrates. Der Sektionschef im gemeinsamen Finanzministerium Lafos Thallöczy
        hielt es 1904fiir selbstverständlich, daß die Ministerpräsidenten beider Staaten Mitglie¬
        der des gemeinsamen Ministerrates seien. In dieser Frage sind auch die Ansichten der
        modernen Dualismusforscher geteilt. Siehe Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der
        österreichisch-ungarischen Monarchie 1867-1906 110-125.
        Beust in der Sitzung des Ministerrates v. 10. 1. 1869, RMRZ. 12.
|| || Einleitung                                              XIII

tag, und zwar über die am gemeinsamen Ministerrat teilnehmenden Landes¬

minister. Ihre Teilnahme am gemeinsamen Ministerrat wurde zur einen,

nicht gesetzlich niedergelegten, sondern in der Praxis entstandenen- kon¬

stitutionellen Kontrolle der Behandlung der gemeinsamen Angelegen¬

heiten:7       '.  '

1868 war natürlicherweise das Jahr der Unsicherheit, der Ausgestaltung

der Verhältnisse. Unabhängig davon, wer am Ministerrat teilnahm, verse¬

hen bis Ende 1868 nur die drei gemeinsamen Minister auf dem Einsichts¬

bogen das Protokoll mit ihrer Signatur - sie also sind offizielle Mitglieder

des Ministerrates.8 Im folgenden Jahr ändert sich dann die Lage, auch die

Landesminister vidimieren die Protokolle, und auf der Liste der Anwesen¬

den stehen die Ministerpräsidenten beider Staaten vor den gemeinsamen

Kriegs- und Finanzministem, während die Reihenfolge früher gerade um¬

gekehrt war.9                                           '.

Bei sieben der 26 Ministerratssitzungen des Jahres 1868 sind nur die ge¬

meinsamen Minister zugegen. Ein Spezifikum der frühen Periode (später

kommt solches nicht vor) ist, daß zu einer Reihe von Konferenzen nur die

Minister des einen oder des anderen „Reichsteiles" eingeladen werden.

Diese sind direkte Fortsetzungen des kaiserlichen Ministerrates vor 1867.

Die Vertreter des einen oder anderen Reichsgebietes werden sozusagen zur

Ministerkonferenz vorgeladen, wie dies auch vor dem Dezember 1867 ge¬

schah.

So laden die gemeinsamen Minister vor der ersten Delegationssession

den ungarischen Ministerpräsidenten Graf Gyula Andrässy ein, damit er der

gemeinsamen Regierung in der neuen, damals noch einer ungewissen Zu¬

kunft entgegensehenden Vertretungskörperschaft, der Delegation, Hilfe lei¬

sten könne, und dasselbe geschieht vor der Herbstsession der Delegation,

anläßlich der Behandlung des Budgets vom Jahre 1869.10

Und 1868 finden eine Reihe von Ministerratssitzungen statt, zu denen ein

einziges Mitglied der cisleithanischen Regierung, Ministerpräsidentenstell¬

vertreter und Landesverteidigungsminister Graf Eduard Taaffe, eingeladen

wird. Diese sind auch inhaltlich Nachfolger der Konferenzen vor dem Aus¬

gleich. Damals muß die österreichische Regierung für den Schlußakt des

7 Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867-
       1906 IHM2$..

8 GMR. TT/. 11. 1868, RMRZ. 25 ist der erste Anlaß, an dem auch die im Ministerrat

       erscheinenden beiden ungarischen Minister den Einsichtsbogen signieren. Vgl.
       KomjAthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während
       des Weltkrieges 32.
9 GMRProt. v. 26. 5. 1869, RMRZ. 48. Anm. 1.
10 GMR. v. 10. 1. 1868, RMRZ. 2; GMR. v. 17. 11. 1868, RMRZ. 25; GMR. v. 25. 11. 1868,
       RMRZ. 27.
|| || XIV Einleitung

Ausgleichswerkes, für das Wehrgesetz, gewonnen und es erreicht werden,
daß sie ihre Zustimmung zur letzten „Konzession" an die Ungarn, zur Auf¬
stellung der Honved (ungarischen Landwehr) gibt.11

   Besonders auffällig wird die Kontinuität mit dem kaiserlichen Minister¬
rat dadurch demonstriert, daß am Ministerrat nicht nur die der Delegation
oder dem Parlament verantwortlichen gemeinsamen bzw. Landesminister
teilnehmen, sondern überraschend oft auch leitende Beamte aus den ge¬
meinsamen Ministerien: der Sektionschef des Kriegsministeriums Früh so¬
gar bei sieben Gelegenheiten, und in einem Ministerrat im Oktober der
Sektionschef des Außenministeriums Hofmann und die Sektionschefs des
Finanzministeriums Lackenbacher und Weninger.12 Da ist der Ministerrat
tatsächlich eine Sitzung der gemeinsamen Ministerien, wie auch der Name
besagt.

   Zu einem gemeinsamen Ministerrat im engen Sinne des Wortes, an dem
bloß die drei gemeinsamen Minister teilnehmen, kommt es in der Anfangs¬
phase und auch später am häufigsten dann, wenn die gemeinsamen Minister
untereinander über irgendeine Frage sozusagen ein Vorgespräch führen, be¬
vor sie auch die Mitglieder der Landesregierungen hinzubitten. 1869 be¬
schließt die Militärführung, den überflüssig gewordenen Paradeplatz in der
Wiener Josefstadt zu verkaufen und dadurch Geld für Zwecke zu erhalten,
denen die Delegation eventuell die Unterstützung verweigert. Der österrei¬
chische Finanzminister erklärt jedoch nach Konsultation seines ungari¬
schen Kollegen, die Immobilien in Verwaltung des Militärärars seien nicht
„gemeinsam", sondertTbilden das Eigentum des Staates, auf dessen Gebiet
sieTiegen^Im vorliegenden Fall komme also die aus der Immobilie einge¬
gangene Summe dem österreichischen Finanzministerium zu. Über die ein
Präzedenz darstellende Frage (ging es doch um die Verteilung der materiel-
le"n Guter des früher einheitlichen Reiches) beraten zuerst die gemeinsamen
Minister und laden erst danach die Landesminister zu der langen Ver¬
handlungsserie ein.13

11 GMR. v. 9. 2. 1868, RMRZ. 12; GMR. v. 5. 3. 1868, RMRZ. 15; GMR. v. 25. 11. 1868,
        RMRZ. 27.

12 GMR. v. 13. 1. 1868, RMRZ. 4; GMR. v. 14. 1. 1868, RMRZ. 6; GMR. v. 30. 6. 1868,
        RMRZ. 18; GMR. v. 11. 7. 1868, RMRZ. 19; GMR. v. 29. 10. 1868, RMRZ. 22; GMR. v.
        3. 11. 1868, RMRZ. 23; GMR. v. 25. 11. 1868, RMRZ. 27. Früh vertritt bei zwei Gele¬
        genheiten den Kriegsminister bloß, da dieser am 6. 1. 1868 sein Gesuch um Enthebung
        von seiner Stelle einreichte, aber der neue Kriegsminister erst am 18. 1. 1868 ernannt
        wurde. Am GMR. v. 21. 10. 1868, RMRZ. 21 nahmen die drei Sektionschefs teil.

13 GMR. v. 23. 5. 1869, RMRZ. 44; GMR. v. 25. 5. 1869, RMRZ. 45; GMR. v. 25. 5. 1869,
        RMRZ. 46 usw.
|| || Einleitung                                                      XV

            b) Die Verantwortlichkeit der gemeinsamen Minister

   Die Tätigkeitsbedingungen des gemeinsamen Ministerrates waren von
den Gesetzen des Jahres 1867 sehr knapp festgelegt worden, und die Inter¬
pretation der Paragraphen war umstritten. Die Unsicherheit steigerte noch,
daß man diesseits und jenseits der Leitha das Wesen des durch den Aus¬
gleich entstandenen dualistischen Staates unterschiedlich verstand, was
auch im Text der Gesetze zum Ausdruck kam,14. Der Minsterrat versuchte
die RechtsvorscEfilfen zu interpretieren und in die Praxis umzusetzen; vor
allem, worin die Rolle der Landesminister (der beiderseitigen Ministerien)
im gemeinsamen Ministerrat bestehe. Der ungarische Ministerpräsident
stellt fest, die gemeinsame Regierung müsse mit den Landesministem Zu¬
sammenwirken. „Zwischen Reichs- und Landesminister müßte Solidarität
existieren."15 Das schreibt ihnen das Gesetz auch vor, zumindest das unga¬
rische.16 Aber die Zusammenarbeit bedeutete bei weitem nicht, daß die
Landesminister mit den Reichsministem absolute Gemeinschaft pflegen
müßten; sie müssen der gemeinsamen Regiemng helfen, bestimmen aber
selbst, in welcher Form das geschieht. Für die gemeinsamen Ange¬
legenheiten sind die gemeinsamen Minister selbst verantwortlich.17 Und im
Ministerrat legen sie wiederholt fest, was im ungarischen Ausgleichsgesetz
ohnehin steht, daß die gemeinsamen Minister - wie bei einer gewöhnli¬

chen Regiemng selbstverständlich - gemeinsam die Verantwortung tra-

14 Die Frage ist gut bekannt. In Österreich bedeuteten die gemeinsame Angelegenheit und

die gemeinsamen Ministerien die Einheit, die Tatsache, daß infolge des Ausgleichs die

Reichseinheit aufdiese Bereiche zurückgedrängt worden ist. In Ungarn dagegen stellte

man sich zwei selbständige Staaten vor, die durch die gemeinsamen Angelegenheiten

verbunden sTnd. Vgl. Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 451-452. Die

Verschiedenheit der (österreichischen) Reichsrats- und der (ungarischen) Reichstags¬

gesetze von 1867 analysierte am ausführlichsten Zolger, Der staatsrechtliche Ausgleich

zwischen Österreich und Ungarn.     "

13 GMR. v. 26. 1. 1868, RMRZ. 8.

16 Nach GA. XII/1867 § 8 leitet der gemeinsame Minister die Außenpolitik im Einver¬

ständnisse mit den Ministerien beider Teile und unter deren Zustimmung; § 40 besagt,

das Budget wird das gemeinsame Ministerium mit Einflußnahme der beiden besonderen

verantwortlichen Ministerien anfertigen. Keiner dieser ungarischen Paragraphen hat

eine österreichische Entsprechung.

17 GMR. v. 26. 1. 1868, RMRZ. 8. Späterfinden sich jedoch auch davon abweichende Stel¬

lungnahmen: Wenn die Landesminister ihr Veto gegen einen Reichsanspruch einlegen

wollten, beriefen sie sich üblicherweise auf ihre Verantwortung auch für gemeinsame

Angelegenheiten. Vgl. Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungari¬

schen Monarchie 1867-1906 121.
|| || XVI Einleitung

gen.18 Die gemeinsame Verantwortung bezieht sich vor allem auf das Bud¬
get, aber nicht nur darauf, sondern auch auf die politische Tätigkeit der ge¬
meinsamen Regierung.19

          2. Der Ausbau des Dualismus

                           a) Die Delegationen20

Im Ministerrat wurden häufig die Grundfragen im Zusammenhang mit

dem Ausbau des Dualismus, mit der Interpretation der 67er Gesetze disku¬

tiert, von denen die vielleicht wichtigsten sich auf die Institution der Dele¬

gation bezogen. Bekanntermaßen hatte der Ausgleich zur parlamenta¬

rischen Behandlung der gemeinsamen Angelegenheiten und zur Kontrolle

der gemeinsamen Regierung eine eigene Körperschaft geschaffen: die vom

Wiener Reichsrat und vom ungarischen Reichstag gewählten Kom¬

missionen für gemeinsame Angelegenheiten mit je 60 Mitgliedern, die De¬

legationen. Diese Institution war das umstrittenste und unsicherste Element

des Ausgleichswerkes, an ihrer Brauchbarkeit zweifelten auch jene, die sie

ins Leben gerufen hatten.

Im Zusammenhang mit der Delegationsinstitution zeigte sich die Unter-

schiedlichkeit der österreichischeh' und ungarischen Reichsauffassung am

schärfsten. Diese bestand'dann, daß die Österreicher'ein Reich und ein Par-

Tämeht des Gesamtreiches wollten, die Ungarn dagegen zwei selbständige

Staaten, welche zwar die gemeinsamen Angelegenheiten verbinden, ohne

daß, wie sie meinten, die Existenz gemeinsamer Angelegenheiten eine

Reichsgemeinschaft schafft. Die Österreicher betrachteten die Delegatio¬

nen als Ausgangspunkt, von dem aus sich im Laufe der Zeit ein Reichs-

parlamdnt entwickeln kann, während die Ungarn dies' gerade verKmdem

wollten^                   ' ' --" "

Der gemeinsame Ministerrat bekam zur Aufgabe, die Ausgleichsgesetze

zu interpretieren und ihnen in der Praxis Geltung zu verschaffen. Die Un-

GMR. v. 21. 10. 1868, RMRZ. 21 bestimmt, daß die drei gemeinsamen Ministerien zu¬
sammen das Budget der gemeinsamen Regierung und nicht das der drei gemeinsamen
Ministerien den Delegationen vorlegen. Vgl. GA. XII/1867 § 27: Verantwortlich wird
jedes Mitglied des Ministeriums hinsichtlich alles dessen sein, was in seine Kreise ge¬
hört, auch das ganze Ministerium wird zusammen verantwortlich sein hinsichtlich sol¬
cher seiner amtlichen Verfügungen, die es zusammen getroffen hat.
Im GMR. v. 9. 2. 1869, RMRZ. 34 geht es z. B. darum, daß die Regierung fiir politisch
belangvolle Entscheidungen, wie den Verkaufder Waldungen der Militärgrenze und die
Verwendung der eingegangenen Gelder für den Ausbau der Infrastruktur der Gegend,
gemeinsam verantwortlich ist.
Vgl. Somogyi, A delegäciö.
|| || Einleitung                             XVII

garn waren bestrebt, daß beide Delegationen ihre Selbständigkeit be¬

wahrten, wie es ihnen auch das Gesetz vorschrieb. Bekanntlich verbot

GA. XII/1867, daß beide Delegationen gemeinsam berieten. Die Meinungs¬

unterschiede mußten beide Delegationen durch schriftliche Nachrichten

ausgleichen. „Wenn aber dreimaliger Nuntienwechsel erfolglos geblieben

ist, hat jeder Teil das Recht, den anderen Teil aufzufordern, daß die Frage

durch gemeinsame Abstimmungen entschieden werde."21 Andrässy hatte

auch gegen die gemeinsame Abstimmung Bedenken und macKteschon bei

der Vorbereitung des Gesetzes auf deren Gefahren aufmerksam; er meinte,

die gemeinsame Sitzungen abhaltenden Delegationen könnten zum Reichs¬

parlament werden, und befürchtete, daß in der gemeinsam beratenden Dele¬

gation „sich unsere Nationalitäten mit den übrigen Fremden verbünden",

„und wenn vierzig Deutsche Zusammenhalten, braucht es nur noch einen

von den Ungarn dazu, daß wir in die Minderheit geraten"^ Andrässys Be-

fürchtungeiThaben damals nicht emmaT seine Gesinnungsgenossen geteilt.

So blieb im Gesetzestext die Möglichkeit gemeinsamer Abstimmung ent¬

halten. Zwei Jahre später widersprach Andrässy wiederum der gemeinsa¬

men Abstimmung, „aus prinzipiellen Gründen": er sagte, die gemeinsame

Abstimmung gefährde das dualistische System selbst. Andrässy ist es oft

gelungen, im Ministerrat seine Kollegen zu überzeugen, seinen Willen

durchzusetzen, fallweise dadurch, daß er den Herrscher auf seine Seite zog.

Bei dieser Gelegenheit aber weisen die gemeinsamen Minister die Argu¬

mente des ungarischen Grafen zurück. Beust stellt mit Nachdruck fest, die

Regierung dürfe sich nicht „eines großen Vorteils [d. h. einer gemeinsamen

Institution], welchen ihr die Verfassung darbiete, wieder berauben".23 Die

gemeinsamen Minister betonten, die beiden Delegationen gehörten zusam¬

men, und man müsse aufpassen, daß dieses Grundprinzip nicht verletzt

wird,24 daß der Herrscher die Beschlüsse der beiden Delegationen mit ei¬

nem einzigen juristischen Akt sanktioniere, der für beide Delegationen von

gleich verbindlicher Kraft.sei.25  '.

Ein jährlicFTwiederkehrendes Problem war, wann die Delegationen ta¬

gen, fiir wann sie einberufen werden sollten. Die Ungarn hielten nicht nur

deshalb für wichtig, sie noch in der ersten Jahreshälfte (für die üblicher¬

weise einige Wochen dauernde Sitzungsperiode) einzuberufen, damit die

21 GA. XII/1867 § 36.
22 Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bd. 3 730.
23 GMR. v. 25. 11. 1868, RMRZ. 27.
24 Die Argumentation von Sektionschef Hofmann aus dem Außenministerium GMR. v.

       21. 10. 1868, RMRZ. 21.
25 GMR. v. 21. 2. 1868, RMRZ. 14. Die zweckmäßigste Form jedenfalls die sein würde,

       wenn die Ah. Genehmigung der Beschlüsse beider Delegationen nur durch einen einzi¬
       gen Reichsakt zu erfolgen hätte.
|| || XVIII  Einleitung

Abgeordneten das Budget gründlich prüfen konnten. Diese Forderung war
auch aus der Sicht der ungarischen Verfassungstraditionen von großer
Wichtigkeit. Ein fundamentaler Punkt der 48er Gesetze war,26 daß der
Reichstag vor Votierung des nächsten Budgets nicht aufgelöst werden kön¬
ne. Dieses Gesetz trat mit dem Ausgleich wieder in Kraft, man mußte auf
ihm bestehen. Gleichzeitig bestand immer die Möglichkeit, daß „bei einer
etwaigen Auflösung des Reichstages und infolge der zeitraubenden Vor¬
arbeiten für die Neuwahlen dem noch im selben Jahr einzuberufenden
Landtag und den zu wählenden Delegationen nicht immer die nötige Zeit
gelassen wäre, das einschlägige Budget in meritorische Behandlung zu neh¬
men".27 Die gemeinsamen Minister wurden jedoch durch andere Ge¬
sichtpunkte geleitet. Kriegsminister Kuhn konnte mit seinem Budget¬
entwurf erst zum Herbst fertig werden, wenn nämlich die begonnenen Re¬
formen im Heer im ganzen Umfang durchgeführt waren und er in Kenntnis
der Ernteergebnisse und der Preise genau kalkulieren konnte.28 Beust
brauchte Zeit, um seine gehätschelte verfassungsmäßige Erfindung, das

ausgewählte diplomatische Akten enthaltende Rötbuch, zusammenstellen
zu können.29

   In den Diskussionen des Ministerrates über die Einberufung der Dele¬
gationen mischten sich die inhaltlichen Argumente wie üblich mit Prestige¬
gesichtspunkten. Ministerpräsidentenstellvertreter Taaffe empfiehlt den
September für die Delegationssession. Bis dahin beenden die Landtage ihre
Arbeit, Reichsrat und Delegationen können auch gleichzeitig tagen. Und im
übrigen erlauben die verfassungsmäßigen Vorschriften nach Ansicht des
cisleithanischen Regierungschefs, daß die cisleithanische Regierung gegen¬
über den Ungarn auf ihrem Standpunkt besteht. Der ungarische Minister am
Ah. Hoflager, Graf Festetics, argumentiert ungeschickt, provokativ: Die
ungarische Regierung leiten „hochwichtige staatspolitische Rücksichten",
die cisleithanische nur „Zwekmäßigkeitsgründe". Er wünscht, daß die De¬
legation für August einberufen wird, da dann „die Ernte- und Badesaison
bereits vorüber sei und auch die Fabriken mehr feiern als im September, wo
von den Industriellen bereits Vorarbeiten für die Winterkampagne getroffen
werden, und jene Delegierte, welche den Jagdsport treiben, sich bereits dem
Landaufenthalte zuwenden." Der gemeinsame Finanzminister Becke weist
den „um die Person des Königs ruhenden ungarischen Minister"30 sehr be¬
rechtigt zurecht, man müsse politische Gesichtspunkte berücksichtigen, ne-

26 GA. IV/1848 § 6.
27 GMR. v. 26. 3. 1869, RMRZ. 39.
28 RKM. an Beust v. 20. 4. 1869 HHStA., PA. I, Karton 563, Nr. 332/RK.
29 GMR. v. 25. 1. 1869, RMRZ. 32; GMR. v. 31. 1. 1869, RMRZ. 33.
30 Das ist Lajos Thallöczys Definition der Funktion des Ministers am Ah. Hoflager.

       Thallöczys Tagebuch, 1887-1900. OSZK. K6zirattär, Quart. Hung. 2459.
|| || Einleitung                                             XIX

bensächliche Bedenken kämen nicht in Betracht.31 Schließlich gelingt es im

Mai den Partnern, also den drei Regierungen, sich zu einigen, daß die Dele¬

gationen für 1869 zum 4. Juli einberufen werden.32

Der gemeinsame Ministerrat behandelte eingehend die Formalitäten im

Zusammenhang mit der Einberufung der Delegation. Dies waren keine for¬

malen Fragen, denn schließlich mußte das Ansehen der viel kritisierten und

angegriffenen Institution auch durch Äußerlichkeiten garantiert werden.

Deshalb legt man später so großes Gewicht darauf, daß die Reichsratsde¬

legation in Pest ihr eigenes Palais errichte,33 daß den Delegationen sich all¬

gemeiner Achtung erfreuende Mitglieder angehören34 und Hofempfänge

das Prestige der Institution erhöhen sollen.35 Das Obersthofmeisteramt gibt

jährlich bekannt: die Audienzordnung in der Burg, die Kleidungsvorschrif¬

ten, die anzulegenden Auszeichnungen und wo die gemeinsamen Minister,

der Regierungschef und die Delegationsabgeordneten beim Empfang ihre

Plätze haben. Der gemeinsame Ministerrat verhandelt darüber, in welcher

Reihenfolge die Ministerpräsidenten Seiner kaiserlichen und königlichen

Majestät die Delegationsmitglieder vorstellen. Die Delegationssitzung ist

ein Festakt, auch infolge des Hofempfangs, vor allemübef, weil man sie

dazu machen will.                                   '

Das Verhältnis der gemeinsamen Minister zu den Delegationen war eine

Sorge, die die ganze dualistische Epoche begleitete. Die gemeinsamen Mi¬

nister nahmen es auf ihre Weise ernst, was ihnen das Gesetz vorschrieb, daß

sie den Delegationen verantwortlich seien. In den ersten Jahren war aber die

Existenz der Institution selbst ungewiß, es mußte die „konstitutionelle

Lebensfähigkeit der Institution" bewiesen werden.36 Und der Vorsitzende

des gemeinsamen Ministerrates, Außenminister Beust, meldete dem Kaiser

mit einer Genugtuung, die mit gewisser Überraschung gemischt war, daß

die Delegation das Budget des laufenden Jahres angenommen und ihre Ar¬

beit beendet habe: „Die Lebensfähigkeit, ja das wahrhaft Ersprießliche die¬

ser so vielfach angefeindeten Institution hat sich dadurch in einer Weise

bewährt, an welche sich auch für die Zukunft die erfreulichsten Erwartun-

31 GMR. V. 26. 3. 1869, RMRZ. 39.
32 Die Akten über die komplizierte Einigung hinsichtlich der Einberufung der Delegatio¬

       nen: HHStA., PA. I, Karton 559, Nr. 278. Vgl. weiter au. Vortrag v. Beust v. 25. 5. 1869

       ebd. PA. I, Karton 563, Nr. 408/RK.
33 Somogyi, A delegäciö 484-485.
34 Zwar beschließt die cisleithanische Regierung, daß die Minister auf ihr Delegations¬

       mandat verzichten sollen, doch bittet Beust Ministerpräsident Auersperg, mit dem Mini¬
       ster ohne Portefeuille Berger eine Ausnahme zu machen, weil seine Autorität bei der
       Arbeit der Delegation nötig sei. Beust an Auersperg v. 20. 1. 1868, PA. I, Karton 563,

       Nr. 125/RK.
35 Über die Frage berät GMR. v. 10. 1. 1868, RMRZ. 2; GMR. v. 4. 7. 1869, RMRZ. 54.
36 Andrässy an Beust v. 7. 3. 1869, HHStA., PA. I, Karton 563, Nr. 406.
|| || XX Einleitung

gen knüpfen lassen."37 Fraglich blieb aber, wie die mit den inneren Verhält¬
nissen der beiden Staaten kaum vertrauten gemeinsamen Minister vor den
Delegationen bestehen können, besonders in der ungarischen Kommission
für gemeinsame Angelegenheiten, wenn ihnen sogar deren Verhandlungs¬
sprache fremd war. Deshalb bat Beust im gemeinsamen Ministerrat darum,
daß Ministerpräsident Andrässy die Außenpolitik der gemeinsamen Regie¬
rung vor der ungarischen Delegation vertreten möge. Andrässy aber wies
den Einfall Beusts mit Befremden ab. Den Ausgleichsgesetzen gemäß -
sagte er - müsse die Außenpolitik im Einverständnis der Regierungen der
beiden Staaten gelenkt werden, und das habe er immer so verstanden, daß er
den gemeinsamen Minister unterstützen müsse; aber er sei ein ungarischer
Minister und könne in der ungarischen Delegation nicht den Standpunkt des
gemeinsamen Ministers vertreten. Er wolle lieber gestatten, daß der ge¬
meinsame Minister in den Delegationsausschüssen deutsch spreche und
sich in den Plenarsitzungen von jemandem vertreten lasse.38 Daher wird,
auf die Zurückweisung Andrässys hin, Baron Bela Orczy zum Sektionschef
im Außenministerium ernannt39 und werden im Außenministerium zwei
Sektionschefposten zur Kontaktierung mit beiden Delegationen, beiden
Ländern geschaffen. Später stellt sich die Praxis ein, daß jeden der gemein¬
samen Minister das Ungarische beherrschende und die ungarischen Verhält¬
nisse kennende Beamte in der Reichstagsdelegation40 und mit den cisleitha-
nischen Verhältnissen vertraute Sektionschefs in der Reichsratsdelegation
vertreten.41

     Der Ministerrat hat sich offensichtlich ernsthaft auf die Delega¬
tionssitzungen vorbereitet. Es wurde die in der Delegation zu verfolgende
Taktik behandelt, es wurden die Rollen der Regierungsmitglieder in den
Delegationsdebatten verteilt. Es wurde erwogen, wer die tonangebenden
Delegationsmitglieder seien, die schon vorher für den Standpunkt der Re¬
gierung gewonnen werden müßten.42 Der Ministerrat bemühte sich, die Zu¬
sammensetzung der Delegationsausschüsse zu beeinflussen, und berück¬
sichtigte, wer jene seien, auf deren „willfähriges Entgegenkommen man

37 Au. Vortrag v. Beust v. 22. 3. 1868, HHStA., PA. I, Karton 563, Nr. 390/RK.
38 GMR. v. 26. 1. 1868, RMRZ. 8.
39 Au. Vortrag v. Beust v. 12. 3. 1868, HHStA., Kab.Kanzlei, KZ. 887/1868.

       Beust teilt dem Präsidenten der ungarischen Delegation mit, daß den Außenminister
       Sektionschef Baron Bela Orczy, den Finanzminister Sektionschef Vince Weninger und
       den Kriegsminister Sändor Benedek in der ungarischen Delegation vertreten werden.
       Beust an den Präsidenten der ungarischen Delegation v. 16. 11. 1868, ebd. PA. I, Kar¬
       ton 563, Nr. 1337/RK.
       Diese Beauftragung wird später ständig. Siehe Somogyi, A delegäciö 486--487.
42 GMR. v. 23. 5. 1869, RMRZ. 44.
|| || Einleitung                                                       XXI

rechnen könne", die „als Vermittlungsorgan zwischen der Regierung und
den Delegierten" zu verwenden seien. Der Sektionschef des Außen¬
ministeriums Hofmann erklärte im die Delegationssession vorbereitenden
gemeinsamen Ministerrat, man müsse mit den regierungstreuen Abge¬
ordneten verhandeln und die Delegationsausschüsse so gestalten, daß in
diese zwar auch Oppositionelle gewählt würden, aber dafür gesorgt wäre,
daß die Opposition in keiner einzigen die Mehrheit bekäme.43 Die Ge¬
schäftsordnung verfügte nur allgemein über die Delegationsausschüsse.44
Daß ihre Rolle gewachsen und das Schwergewicht der Debatten sich in die
Ausschüsse verlegt hatte, mochte damit Zusammenhängen, daß es der ge¬
meinsamen Regierung gelungen war, wirklichen Einfluß auf die Dele¬
gationsausschüsse, deren Zusammensetzung und die Wahl der Delega¬
tionspräsidenten auszuüben.45

                    b) Die Eigentumsverhältnisse der Militärobjekte

   Der Ausbau des Dualismus bedeutete in erster Linie die Neugestaltung
des Institutionensystems. Als 1867 die großen politisch-prinzipiellen Ver¬
einbarungen entstanden, war jedermann mit ihnen beschäftigt, und in der
zweiten Jahreshälfte 1867 mit den grundsätzlichen Wirtschaftsfragen: wel¬
chen Anteil Ungarn an den gemeinsamen Lasten übernehmen solle. Daß die
Zweiteilung des früheren einheitlichen Staates weitere Streitfragen aufwer¬
fen werde, wie das Problem der Aufteilung des als einheitlich (gemeinsam)
geltenden Eigentums, wurde erst in der Regierungspraxis bewußt.

   Die gemeinsame Regierung, aber vor allem der Kriegsminister fand, daß
ihm im neuen konstitutionellen System die Hände übermäßig gebunden sei¬
en; für jede Militärausgabe mußte er die Einwilligung der Delegationen er¬
bitten. Deshalb versuchte er Quellen zu finden (in Ärarverwaltung liegende
Güter), über die er ohne parlamentarische Kontrolle frei verfugen konnte.
Dieser Bestrebung dienten die umstrittenste Aktion der Regierung, der
Waldverkauf in der Militärgrenze, sowie der in seinen Ausmaßen vielleicht
weniger umfangreiche, prinzipiell aber ähnlich bedeutsame Plan des Ver¬
kaufes der ungenutzten Militärobjekte. Eine Reihe von Militärgebäuden
war überflüssig geworden und stand den großen Stadt- oder Straßenaus¬
bauplänen im Wege. Die Militärverwaltung war der Meinung, das Äxar kön-
ne diese an den Staat oder die Stadt verkaufen, auf dessen oder deren Gebiet
das Objekt liegt, und aus den eingegangenen Summen könnte mit solchen
Investitionen begonnen werden, deren Kostendeckung die Delegationen nur

43 GMR. v. 4. 7. 1869, RMRZ. 54; GMR. v. 10. 7. 1869, RMRZ. 55.
44 Geschäftsordnung der Delegationen HHStA., VI/6, Karton 85.
45 GMR. v. 4. 7. 1869, RMRZ. 54; GMR. v. 10. 7. 1869, RMRZ. 55.
|| || XXII  Einleitung

schwer beschließen würden. Als die Idee auftauchte, dachte niemand an die
rechtlichen Stolpersteine der Angelegenheit. Zumindest schien es Franz Jo¬
seph selbstverständlich zu sein, daß über die eingegangene Summe der
Reichsfinanzminister verfüge.46 So war es auch früher gewesen (vor dem
Ausgleich), und sollte in dieser Hinsicht nun eine Änderung eintreten und
die überflüssig oder entbehrlich gewordenen Immobilien ohne Gegenlei¬
stung ins Eigentum der Reichshälfte kommen, in dem sie liegen, dann hätte
der Kriegsminister kein Interesse daran, auf irgendein Ärareigentum zu ver¬
zichten. Damit aber würde jede rationale Entwicklung unmöglich.

   Nur waren eben die beiderseitigen Regierungen anderer Meinung: sie
verlangten die Immobilien füFsich.47 Der ungarische Finanzminister stellte
fest, im Sinne'(Ies~AusgiFichs sei nur das Heer gemeinsam, nicht aber die
von ihm genutzten Immobilien, da diese doch immer aus den Mitteln des
Territoriums, auf welchem sie sich befinden, erbaut worden seien. Aber
selbst wenn sie gemeinsam wären, dürfte die Kriegsverwaltung nicht frei,
unter Umgehung der Delegationen, über sie verfügen.48 Es kommt zu dem
ganz und gar unüblichen Fall, daß der cisleithanische Finanzminister
Brestei sich vorbehaltlos die Ansichten des ungarischen Finanzministers zu
eigen macht.49

   Der gemeinsame Finanzminister aber hielt es für seine Pflicht, „den
Standpunkt der Gemeinsamkeit zu wahren und gegen eine Auffassung zu
sprechen, welche in ihren Konsequenzen den Ausgleich und das Band der
Gemeinsamkeit noch weiter lockern müßte".50 Seiner Meinung nach exi¬
stiert ein gemeinsames Eigentum, das Militär besitze grundbuchmäßig
belegbare eigene Immobilien und Waffenfabriken, auch im Ausland. Die
Immobilien geringeren Wertes - sollten diese entbehrlich werden - könne
die Militärführung tatsächlich dem Land übergeben, auf dessen Gebiet sie
liegen, über das Schicksal derer größeren Wertes allerdings müsse sie von
Fall zu Fall verhandeln. Im Laufe der sich lange hinziehenden Diskussion -
über diese Angelegenheit werden zwischen Februar und Mai 1869 sieben
gemeinsame Ministerratssitzungen abgehalten - gibt Becke seinen früheren
Standpunkt auf, der streng auf der Existenz gemeinsamen Eigentums beruh¬
te, und macht folgenden Lösungsvorschlag: 1. Jede Liegenschaft, die sich
am 1. Januar 1868 im Besitz der Militärverwaltung befand und auch weiter¬
hin für militärische Zwecke genutzt wird, bleibt im Besitz der Militärver-

46 GMR. v. 18. 2. 1869, RMRZ. 36.
47 GMR. v. 30. 4. 1869, RMRZ. 42.
48 GMR. v. 23. 5. 1869, RMRZ. 44. Ein ähnliches Problem war schon 1868 aufgetaucht, als

       die Ungarn das in die Militärgestüte investierte Kapital als ungarisches und die Reichs¬
       minister es als gemeinsames Vermögen betrachteten. GMR. v. 21. 10. 1868, RMRZ. 21.
49 GMR. v. 23. 5. 1869, RMRZ. 44.
so Ebd.
|| || Einleitung                                                         XXIII

waltung, und ihre Herkunft muß nicht untersucht werden. 2. Wenn die
Militärverwaltung die Liegenschaft nicht mehr benötigt, übergibt sie sie an
 den Staat, auf deren Gebiet die Immobilie liegt. 3. Wenn das Objekt für
'Verteidigungszw'ecke brauchbar ist, aber" der Staat, auf dessen Gebiet es

 liegt, es für Verkehr-, Bau- oder andere Zwecke beansprucht, muß er der
 Militärverwaltung eine gleichwertige Entschädigung anbieten. Die so
 entstandene Summe ist bei den Militjreinnahmen einzustellen. 4. Im Falle

 des Verkaufs von Objekten, die seit dem 1. Januar 1868 aus dem gemeinsa-
 men Budget geschaffen wurden, muß der Verkaufspreis zwischen beiden

 Ländern entsprechend der Quote aufgeteilt werden?
    Eine Unsicherheit ergab sich offensichtlich nur im Zusammenhang mit

 vor 1868 entstandenen Immobilien, und Becke bemühte sich zu erreichen,
 daß der Verkauf der entbehrlichen Liegenschaften im Interesse der Militär¬
 führung liege, erkannte aber an, daß der Erlös aus eventuellen Verkäufen
 stets gewissenhaft in das Budget eingestellt werden müsse.

    Lönyay dagegen hat auch dieses Angebot Beckes zurückgewiesen. Er be¬
 stand darauf, daß dem Kriegsministerium nur das Nutznießungsrecht der
 Militärobjekte, das Eigentumsrecht aber dem Staat bzw. dessen Finanzärar
 zukomme, auf welchem das öbjekt gelegen sei. Schließlich akzeptierte die
 Militärführung in einem Ministerrat unter Vorsitz des Kaisers „den tiefein¬
 gewurzelten Rechtsbegriff vom Eigentum der ungaris,qhen Krone"32 und
 beschloß, daß diF^ibsolut entbeErncEenTOBjekte an die'Fmähzvefwältung
 des betreffenden Territoriums zurückfallen, während die Sache der „be¬
 dingt entbehrlichen Immobilien" von Fall zu Fall den Delegationen zu über¬
 lassen sei, „wo allein möglich sei, die Wahrung des gemeinsamen Stand¬
 punktes mit der Berücksichtigung territorialer Interessen zu vereinen ,53
 Damals hatte es den Anschein, es sei den Parteien gelungen, sich zu eini¬
 gen. Doch vergehen nach dem Ministerratsbeschluß noch Monate, in denen
  es nicht nur in der konkreten Frage zu keiner Vereinbarung kommt,54 son¬
  dern auch neue prinzipielle Zweifel auftauchen. Finanzminister Lönyay hat
  Vorbehalte hinsichtlich des Ausgangspunktes der Regelung, nämlich daß
  der Kriegsminister allein darüber entscheiden müsse, ob eine Immobilie

51 GMR. v. 24. 5. 1869, RMRZ. 45.
52 Beusts Formulierung GMR. v. 26. 5. 1869, RMRZ. 48.

53 Ebd. '   `'  --

54 Die konkrete Frage: Die Wiener Stadtverwaltung möchte das Gebiet des Paradeplatzes

in der Josefstadtßr Zwecke des Städtebaus erwerben, und das Kriegsministerium zeigt

sich geneigt, einen neuen Exerzierplatz auf weniger wertvollem Gelände zu errichten,
und ist ursprünglich des Glaubens, das aus dem Verkaufder Immobilie stammende Ver¬

mögen ßr solche Investitionen verwenden zu können, deren Deckung es aus anderen

Quellen nur schwer beschaffen könnte. Die Akten im Zusammenhang mit dem

Josefstädter Paradeplatz HHStA., PA. I, Karton 560, Militaria 13.
|| || XXIV                                                       Einleitung

     absolut oder bedingt entbehrlich sei. Nach Lönyays Meinung werde der

     Kriegsminister niemals die absolute Entbehrlichkeit einer Liegenschaft an¬
     erkennen, und so werde dieselbe niemals ohne Kompensation ins Eigentum
     des betreffenden Territoriums zurückgelangen.55 Brestei war hinsichtlich
     der Delegationskompetenz bzw. dessen unsicher, wie die Delegationen ihre
     Kontrolle bei solchen Geschäften durchsetzen können.56 Und in Wirklich¬
     keit waren die Finanzminister der beiden Staaten unsicher, ob der Minister¬
     rat im Mai unter Vorsitz des Kaisers tatsächlich einen Beschluß gefaßt oder
     bloß die Richtung der Verfahren festgelegt habe.57

        Ein Jahr lang war es nicht gelungen, die konkrete Angelegenheit, den
     Verkauf des Josefstädter Paradeplatzes, abzuschließen. In derartigen Streit¬
     fällen zeigte sich offensicRtTfcli der Gegensatz der beiden Staaten zum
     Reich; die Veränderungen im Wert der Immobilien (den Spekulationswert)
     wollte jede der Parteien für sich ausnutzen. Der Fall bietet aber auch weiter¬
     gehende Lehren -- deshalb war es sinnvoll, sich mit ihm ausführlicher zu
 / /befassen. Er zeigt, daß die Grundbegriffe des neugestalteten Systems unter-
/ / schiedlich interpretierfwerdeh können: daß unsicTüHst,'ob nur die Armee
j I oder auch das Eigentum der Armee gemeinsam isf, we weit die Kompetenz
/ der Delegationen reicht, öb derMinisleMt üriter Vorsitz des Herrschers ei¬
     nen Beschluß gefaßt habe und für wen die Ministerratsentscheidung ver¬
     bindlich sei. Die Begriffe waren unsicher, und in Wirklichkeit nahmen die
     Parteien auch nicht das Odium ihrer Klarstellung auf sich.58

                         c) Der gemeinsame oberste Rechnungshof

   Die außerordentlich lehrreiche Diskussion, die es im gemeinsamen Mi¬
nisterrat über die Besetzung des Präsidentenpostens des gemeinsamen ober¬
sten Rechnungshofes gab, resulierte ebenfalls aus der Unsicherheit der In¬
stitution selbst. GA. XII/1867 besagte nichts über die Kontrolle des ge¬
meinsamen Rechnungsabschlusses. Die Aufstellung des gemeinsamen
obersten Rechnungshofes erwähnte ein Gesetz eigentlich nur nebenbei, im
Zusammenhang mit den gemeinsamen Pensionen, bei der Verfügung, daß

55 Lönyay an Beust v. 17. 2. 1870 HHStA., PA. I, Karton 560, Nr. 54.
56 Au. Vortrag v. Beust v. 11. 2. 1870 ebd. Nr. 46/1870. Brestei meinte, daß eine nähere

Auseinandersetzung unter den beiden Finanzministern so lange nicht tunlich erscheine,

bis nicht ein Beschluß der Delegationen vorliege, ob sie sich zum Eingehen auf eine

        solche Vorlage ... als kompetent erklären.
57 Siehe Anm. 52.
58 Es ist sehr charakteristisch, daß anläßlich eines staatsrechtlichen Streites der Herr- !/

scher selbst konstatiert: Die Ausgleichsgesetze erlauben es leider, daß in wichtigen Fra¬

gen zwei so entgegengesetzte Ansichten sich bilden konnten, welche sich beide auf die J

Staatsgrundgesetze stützen. GMR. v. 4. 1. 1869, RMRZ. 29.                                  iJ
|| || Einleitung  XXV

künftig nur die Pensionen des Personals der gemeinsamen Ministerien und
des ihnen beigeordneten, unabhängig von ihnen aufzustellenden verant¬
wortlichen und gemeinsamen obersten Rechnungshofes aus dem gemein¬
samen Budget gedeckt werden müssen.59 Mit anderen Worten, es sagte also
nur, daß außer den drei gemeinsamen Ministerien noch ein gemeinsames
Organ existiere. In der Praxis stand der oberste Rechnungshof (wie auch die
obersten Rechnungshöfe der beiden Staaten) zwischen Regierung und den
Vertretungskörperschaften, seine Aufgabe war, letzteren die Kontrolle des
Finanzgebahrens der Regierung zu ermöglichen. Aus der Unsicherheit sei¬
nes Status ergab sich, daß auch der gemeinsame Ministerrat darüber stritt,
ob der Präsident des obersten Rechnungshofes ein Mann der Exekutive sei,
also das Amt von einem hochrangigen Staatsbeamten besetzt werden solle,'
oder ein Mann der Legislative und deshalb ein Delegationsabgeordneter.
Mit Ah. Entschließung vom 22. 2. 1870 wurde zwar der gemeinsame ober¬
ste Rechnungshof organisiert, die im Ministerrat diskutierte Prinzipienfrage
jedoch nicht entschieden.60

                             3. Staatsrechtliche Probleme

                            a) Reichs- oder gemeinsame Minister?

   Es ist wohlbekannt, daß in Österreich (in den im Reichsrat vertretenen Kö¬
nigreichen und Ländern, in Cisleithanien) und in Ungarn der Begriff der ge¬
meinsamen Angelegenheiten unterschiedlich interpretiert wurde. In Öster¬
reich waren die gemeinsamen Angelegenheiten, die gemeinsamen Ministe¬
rien und die gemeinsame Armee Ausdruck der Einheit, sie bedeuteten, daß
das einheitliche Reich nach 1867 auf diese Bereiche beschränkt war. In Un¬
garn dachte man in zwei selbständigen Staaten, die zwar durch gemeinsame
Angelegenheiten miteinander verbunden waren, wobei aber die Existenz
der gemeinsamen Angelegenheiten keine Reichsgemeinschaft schaffte.

   Am 24. Dezember 1867 verfügte*der Herrscher als Schlußakt des Aus¬
gleichswerkes, daß Kriegsminister John und Außenminister Beust ihre frü¬
here Funktion als Reichsminister weiterführten, und ernannte Freiherm von
Becke zum Reichfinanzminister. Zugleich forderte er Reichskanzler Beust
auf, Maßnahmen zu ergreifen, daß das Reichsministerium sobald als mög¬
lich mit seiner Tätigkeit beginne.61 Auch einige Tage später, anläßlich des

       Über die Besetzung des Präsidentenpostens des gemeinsamen obersten Rechnungs¬
       hofes: GMR. v. 25. 1. 1869. RMRZ. 32; GMR. v. 31. 1. 1869, RMRZ. 33. Das betreffende
       Gesetz: GA. XLVII/1868 § 4.

       Vgl. Df.rnatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 713.
61 Vgl. Beust an John v. 26. 12. 1867, KA., KM., Präs. 44-17/1867.
|| || XXVI                             Einleitung

Empfanges der ungarischen Delegation, spricht der Herrscher von Beust als

„Reichskanzler".

Die Benennung erweckte Befremden im ungarischen Abgeordnetenhaus.

Kalman Ghyczy und Genossen "inferpellierten iffi Namen der oppo¬

sitionellen Partei der linken Mitte bei den das Budget einbringenden Mi¬

nistem, unter anderem deswegen, daß das Budget der ungarischen Delegati¬

on als Budget des gemeinsamen Ministeriums, das der Reichsratsdelegation

aber als das des Reichsministeriums vorgestellt wurde. Sie brachten vor, der

Titel Reichsminister sei unseren Gesetzen fremd, und eine mit unserer Selb¬

ständigkeit unvereinbare Benennung verwende auch der Herrscher in meh¬

reren offiziellen Äußerungen und Schreiben.62 Mit der Interpellation be¬

schäftigten sich zwei Ministerratssitzungen Ende Januar,63, Die „Reichs"-

Minister antworteten darauf, sie' verstünden dein Protest von Ghyczy und

Genossen einfach nicht. Ihrer Meinung nach würden die beanstandeten

Ausdrücke schon mindestens ein Jahr lang verwendet, auch die Ungarn hät¬

ten sie gehört und keine Bemerkung dagegen gemacht. Die Benennung

Reichsministerium sei keine Erfindung der Regierung und nur „eine Aus-

drucksweise für das, was man gemeinsam nennt". Der gemeinsame Finanz¬

minister Becke knüpfte auch eine etymologische Erklärung an den omi¬

nösen Ausdruck. „Reich bedeute eben: so weit das Zepter Seiner Majestät

reiche." «--       --- '  v~  "

"Aber bei dieser Gelegenheit gelang es Becke nicht, den ungarischen Mi¬

nisterpräsidenten zu überzeugen. Andrässy bemühte sich dämm und er er¬

reichte auch, daß von Abgeordneten der Regierungspartei auch eine

konziliantere Interpellation in der ungarischen Delegation vorgebracht wur¬

de;64 er bestand aber darauf, daß „der Ausdruck Reich kein gesetzlicher

sei". Und wie sehr er auch betonte, daß die Landes- und die Reichsminister

solidarisch miteinander sein sollten, und diese Solidarität im allgemeinen

auch übte, warnte er davor, in der auf die Interpellation zu gebenden Ant¬

wort anzuerkennen, daß der Text der 67er Gesetze in den im Reichsrat ver¬

tretenen Königreichen und Ländern bzw. in Ungarn in den umstrittenen Fra¬

gen voneinander abweiche.65 Würden die ungarischen Minister den Aus-

62 Über die Frage bzw. die sie betreffende Ministerratsdiskussion: KomjAthy, Die Entste¬
       hung des gemeinsamen Ministerrates und seine Tätigkeit während des Weltkrieges 25-

       26.
« GMR. v. 30. 1. 1868, RMRZ. 9; GMR. v. 31. 1. 1868, RMRZ. 10.
64 Beilage zum GMRProt. v. 30. 1. 1868, RMRZ. 9 (Interpellation Kerkapoly und Genos¬

       sen).
65 ln Beckes Antwortentwurf auf die Interpellation steht, daß die Minister auch in dem

       hierländigen Gesetze Anhaltspunkte für den Titel Reichsminister gefunden hätten. Ge¬
       gen diese Formulierung protestiert Andrässy. Hier ist aber die Bemerkung angebracht,
       daß auch RGBl. Nr. 146/1867 von gemeinsames Ministerium spricht (§ 5, § 14, § 16
        usw.), allerdings die Ausdrücke Reichsteile, Reichshälfte benutzt.
|| || Einleitung                  XXVII

druck „Reich" akzeptieren, wären sie ständigen Angriffen von seiten der

Opposition wie der Regierungspartei ausgesetzt. Deshalb schlägt er vor, in

Ungarn die Ausdrücke Reichsminister und Reichsministerium nicht zu ver¬
wenden.

War der ungarische Protest gegen das „Reichsministerium" bloß staats¬

rechtliche Nörgelei, leere Prestigesache? - Das auch, und er sollte die un¬

eingestandene Wahrheit verdecken, daß der Ausgleich ein Kompromiß war.

Die andere Seite beharrte aus denen der Ungarn ähnlichen Prestigegründen

auf dem Ausdruck „Reich". Es sei nicht schön - sagte Fürst Auersperg, der

österreichische Ministerpräsident -, daß man in Ungarn „jedes Wort im

Gesetze zum Gesetz selbst mache ..." Man tue genau das, was man der an¬

deren Seite übelnehme, lasse die österreichischen Gesetze unberück¬

sichtigt, nenne Österreich „übrige Länder" und wundere sich, daß das für

Österreicher erniedrigend und beleidigend sein sollte.66 Schließlich nahm

der Ministerrat Andrässys Vorschlag an. Und von da an ist für Jahrzehnte

die Praxis üblich, daß die Reskripte des Monarchen und Akten der gemein¬

samen Ministerien, wenn sie an die ungarischen Behörden expediert wer¬

den, den Ausdruck „gemeinsam", und wenn an die österreichischen oder

gemeinsamen Behörden gerichtet, dann „Reichs-" enthalten. Der Herrscher

ernannte noch 1895 den Außenminister und bis 1906 den Kriegsminister als

„Reichsminister".67 __  '

                                             b) Titelfrage

   Der Herrscher erkannte in seinem Handschreiben vom 14. 11. 1868 an,
daß die neuen Verfassungsverhältnisse, also die dualistische Umgestaltung
des Reiches, auch in den verschiedenen Titeln zum Ausdruck kommen
mußte, weshalb er befahl, daß in Verträgen mit dem Ausland, „wo meine
Person als vertragschließender Teil und als Vollmachtgeber anzuführen ist,
künftig mein Titel in folgender Fassung zur Anwendung komme: »Kaiser
von Österreich, König von Böhmen usw. und apostolischer König von Un¬
garn«; wonach im weiteren Kontext des Vertrages eine der diplomatischen
Übung anzupassende abgekürzte Form gebraucht werden möge, namentlich
der Titel: »Kaiser von Österreich und apostolischer König von Ungarn«;
dann die Bezeichnung: »Seine Majestät der Kaiser und König« oder »Seine
k. und k. apostolische Majestät«.

   Ferner haben zur Bezeichnung der Gesamtheit aller unter meinem Zepter
verfassungsmäßig vereinigten Königreiche und Länder die Ausdrücke:

66 GMR. v. 31. 1. 1868, RMRZ. 10.
67 Rumpler, Die rechtlich-organisatorischen und sozialen Rahmenbedingungen für die Au¬

       ßenpolitik der Habsburgermonarchie 1848-1918 36.
|| || XXVIII  Einleitung

»Österreichisch-Ungarische Monarchie« und »Österreichisch-Ungarisches
Reich« alternativ gebraucht zu werden."68 In einer Reihe weiterer Detail¬
fragen mußte aber der gemeinsame Ministerrat im Geiste der Ah. Ent¬
schließung vom 14. November Stellung nehmen: Welcher neue gekürzte
Titel Seiner Majestät bei den Staatsverträgen mit auswärtigen Mächten an¬
zuwenden sein werde, in welcher Weise der in den Adelsdiplomen bisher
gebrauchte Titel Seiner Majestät zu modifizieren sei, wie die ausländischen
Konsulate zu nennen sind usw.69

                          c) Entmilitarisierung der Militärgrenze

   Seit der Türkenzeit wurde die süd-südöstliche Grenze des Staates von
einem unter Militärverwaltung stehenden Grenzstreifen eingefaßt, der seine
strategische Bedeutung längst eingebüßt hatte und in sozialer Hinsicht
feudale Verhältnisse konservierte.70 Nach der Auflösung der siebenbür-
gischen Grenztruppen (1851) konnte die Aufrechterhaltung des Militär¬
systems im Banat und in Kroatien noch mit politischen Argumenten be¬
gründet werden, aber nach dem Ausgleich war das System endgültig ana¬
chronistisch geworden. Der Ausgleich selbst enthielt keine Verfügungen
über die Militärgrenze, aber weil GA. V/1848 sie als Teil Ungarns aner¬
kannte, trat 1867 automatisch das Gesetz von 1848 in Kraft. Im kroatisch¬
ungarischen Ausgleich von 1868 übernahm Ungarn die deklarierte Ver¬
pflichtung, die legislative und administrative Vereinigung der Militärgrenze
mit Kroatien zu betreiben.71 Zusätzliche Aktualität erhielt die Militärgrenze
noch dadurch, daß die Militärverwaltung in der Militärgrenze mit großan¬
gelegten Waldverkäufen begonnen hatte, um aus deren Einnahmen ihr
Budgetdefizit zu decken. Diese Transaktion weckte schlimme Befürch¬
tungen, denn es war umstritten, ob das Kriegsministerium in eigener Befug¬
nis Geschäfte solchen Umfanges tätigen dürfe, und der auf 20 Jahre geplan¬
te Holzeinschlag drohte die Entmilitarisierung für die ganze Periode zu ver¬
hindern.

   Im Februar 1869 trug Ministerpräsident Andrässy unmittelbar dem Herr¬
scher seine Besorgnisse in bezug auf die geplante Unternehmung vor,72 und

68 Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 52.
69 GMR. v. 22. LJ869, RMRZ.31; GMR. v. 3. 4. 1869, RMRZJß.
70 Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministefiums, Bd. 2 110 ff.; ders., Die

        k. (u.) k. Armee - Gliederung und Aufgabenstellung 415 ff.; Rothenberg, The Struggle
        over the Dissolution of the Croatian Military Border 1850-1871; ders., The Military
        Border in Croatia 1740-1881; Mollinary, Sechsundvierzig Jahre im österreichisch-un¬
        garischen Heere 1833-1879, Bd. 2 204 ff.
71 GA. XXX/1868.
72 Au. Vortrag v. Andrässy v. 23. 2. 1869 HHStA., Kab.Kanzlei, KZ. 684/1869.
|| || Einleitung                                                       XXIX

 dieser forderte die gemeinsamen Minister auf, zum Vortrag Andrässys Stel¬
 lung zu nehmen.73 Die gemeinsamen Minister bestanden darauf, daß Ein¬
nahmen aus der Militärgrenze dem Kriegsministerium zukämen, da dieses
durch den Ausgleich die Oberhoheit über dieses Gebiet innehabe. Das kön¬
ne erst geändert werden, wenn der zwischen beiden Staaten bestehende
Quotenvertrag auslaufe, und das sei in zehn Jahren. Deshalb seien sie dage¬
gen, daß sich die ungarische Regierung unmittelbar in die Waldgeschäfte
einmische, andererseits aber sähen sie es als notwendig an, ihre ungarischen
Kollegen davon zu informieren und diese für das Unternehmen zu gewin¬
nen.

    Ein Jahr lang standen die Waldverkäufe auf der Tagesordnung des
Ministerrates, als man endlich auch die ungarischen Minister zu ihm ein¬
lud.74 Allerdings könnte man auch sagen - und das entspräche dem Tonfall
der Einladung eher -, daß man die ungarischen Minister vor die Reichs¬
regierung zitierte. Es lag ganz bei Andrässy, die ihm zugedachte Rolle nicht
zu übernehmen. Er war nicht bereit, aufgrund der Instruktion des gemeinsa¬

men Ministerrates nichtssagende Antworten auf die Interpellationen im
Parlament zu formulieren, sondern stellte fest, das Militärgrenzsystem lasse
sich nicht mehr beibehalten, weil es unvereinbar mit dem Dualismus, mit
der konstitutionellen Einrichtung der beiden Staaten sei. Andrässys Elo¬
quenz, die Leidenschaftlichkeit seiner Argumente scheint sogar durch das
Aktengrau der Ministerratsprotokolle hindurch. Aber nicht seine glänzende
Argumentation und nicht einmal die staatsrechtliche Brillanz seiner Be¬
weisführung waren seine wirkliche Waffe, sondern daß er den Gang der
Entscheidungsfindung kannte und selbst mitgestaltete.

   Bei der Lektüre der aufeinander folgenden Ministerratsprotokolle wird
erkennbar, daß im August eine Wende in der Angelegenheit der Militär¬
grenze eingetreten sein muß. Andrässy äußerte, „Seine Majestät der Kaiser
habe ... vor Allerhöchstseiner Abreise ins Brücker Lager zu befehlen ge¬
ruht, daß bis zu der morgen erfolgenden Rückkehr von den Räten der Krone
ein Beschluß gefaßt werde."75 Schon diese Berufung auf den Kaiser läßt
ahnen, daß der ungarische Graf unter Umgehung des Ministerrates Ergeb¬
nisse beim Herrscher erzielt hatte. Es gibt einen weiteren - wenn man so
will - formalen Beweis dafür, daß schon vor der Ministerberatung und ohne
den Ministerrat der prinzipielle Beschluß über die Entmilitarisierung der
Militärgrenze gefallen war. Für den 13. August wurden auch die cisleitha-
nischen Minister zur Beratung eingeladen,76 und wenn dies der Fall war,
dann plante man gar nicht mehr - wie bisher - einen Gedankenaustausch

73 GMR. v. 27. 2. 1869, RMRZ. 37.
74 GMR. v. 26. 5. 1869, RMRZ. 49; GMR. v. 1. 7. 1869, RMRZ. 53.
75 GMR. v. 11. 8. 1869, RMRZ. 58.
76 GMR. v. 13. 8. 1869, RMRZ. 59.
|| || XXX  Einleitung

über die Entmilitarisierung oder die Beibehaltung des früheren Systems
(bei der die österreichischen Minister überhaupt keine Mitsprache hatten),
sondern über die praktische Durchführung der Entmilitarisierung. Wir sind
aber gar nicht allein auf die Protokolle und aus ihnen resultierende Vermu¬
tungen und Schlußfolgerungen angewiesen, wenn wir den Weg der Ent¬
scheidungsfindung verfolgen wollen. Der ungarische Ministerpräsident be¬
richtete seiner Frau: „Am vergangenen Donnerstag (12. August) sprach ich
zweieinhalb Stunden lang mit Seiner Majestät über die Angelegenheit. ...
Anderntags berief mich Seine Majestät wieder zu sich. Ich blieb bei meiner
Meinung. ... Noch am gleichen Tag war ein Ministerrat mit den hiesigen
Ministem, der meine ganze Geduld auf die Probe stellte. Aber ich war ganz
ruhig und guter Laune und siegte sur toute ligne. Das Ergebnis ist, daß
zwei Regimenter sofort aufgelöst werden, zwei Städte werden zu königli¬
chen Freistädten, und das weitere wird selbstverständlich dann von selbst

folgen ..."77
   Am 12. und 13. August gewann Andrässy den Kaiser also für die Ent¬

militarisierung der Militärgrenze und erzwang anschließend, mit Bemfung
auf das Versprechen des Kaisers, zumindest aber dieses andeutend und
durchklingen lassend, den positiven Beschluß im Ministerrat selbst. Bis zu
diesem Zeitpunkt hatte der ungarische Ministerpräsident mit den gemeinsa¬
men Ministem gerungen. Nach dem 13. August, als der Kaiser und dem¬
entsprechend die gemeinsamen Minister in die Entmilitarisierung eingewil¬
ligt hatten, gestaltete sich der gemeinsame Ministerrat um. Von da an ähnel¬
te er auch in seinem Inhalt und in seiner Form eher den wirtschaftlichen
Ausgleichsverhandlungen zwischen den beiden Staaten.78 Denn nun war

darüber die Rede, daß sich nach der Inkorporierung der Militärgrenze das
Verhältnis des Beitrages zu den gemeinsamen Kosten (die Quote) zwischen
den beiden Staaten ändere. Entsprechend des Inhaltes des Ministerrates än¬
derte sich auch die Rollenverteilung. Nicht mehr die gemeinsamen Minister
standen als Gremium den ungarischen Regierungsmitgliedem gegenüber
(wie bisher, als es um die prinzipiellen und staatsrechtlichen Bezüge der
Frage ging), sondern die Regierungen der beiden Staaten diskutierten mit¬
einander, und Beust als außenstehender Dritter spielte die formelle Rolle

des Debattenleiters, wie dies bei den wirtschaftlichen Ausgleichsver¬
handlungen üblich war.79

     Lederer, Grof Andrässy Gyula beszedei, Bd. 2 113.
     Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-ungarischen Monarchie 1867-

     1906 229-232.
     Im übrigen wurde im Ministerrat beschlossen, die Deputation des Reichsrates bzw.
     Reichstages solle nicht jedesmal neu über die Änderung des Quotenverhältnisses feil¬
     schen, wenn wieder ein Regiment unter die Oberhoheit Ungarns bzw. Kroatiens gelangt,
     sondern die Regierungen der beiden Staaten einigen sich aufkurzem Wege im Laufe der
|| || Einleitung                              XXXI

4. Die Durchsetzung der Prinzipien der bürgerlichen Verfassung

            a) Das Wehrgesetz von 1868

   Das Wehrgesetz von 186880 war nicht bloß ein auf das Militär bezüg¬
liches Gesetz, sondern ein bestimmendes Element der dualistischen Um¬
gestaltung - wenn diese Umgestaltung in der einzig möglichen Weise inter¬
pretiert wird, daß nämlich ihre gemeinsamen und unteilbaren organischen
Bestandteile die Parität der beiden Länder und die Schaffung bürgerlicher
Rechtsverhältnisse waren. Es sei das wohl wichtigste Gesetz zur Sta¬
bilisierung der Verhältnisse, äußerte der ungarische Kultusminister Baron
Eötvös,81 das Wehrgesetz sei „der Schlußstein zur Organisation der Monar¬
chie",82 meinte Andrässy. Und im wesentlichen ähnlich erklärte der Vor¬
stand der Militärkanzlei v. Beck, das Wehrgesetz „besiegelt den Aus¬
gleich".83

   Im Krieg von 1866 hatten die Preußen mit einer auf der allgemeinen
Wehrpflicht beruhenden Massenarmee die Soldaten Benedeks geschlagen.
So war die Lehre aus Königgrätz, daß man die Armee modernisieren und
die allgemeine Wehrpflicht ohne Stellvertretung und Loskauf einfuhren
müsse. Im Wiener Kriegsministerium lag bereits Ende 1866 der Entwurf
des neuen Wehrgesetzes vor und wurde im Dezember 1866 auch auf dem

       acht Jahre, in denen die vollständige Entmilitarisierung vor sich geht. Bis dahin laufe
       die 1867 auf zehn Jahre geschlossene Quotenvereinbarung aus, und eine neue müsse
       geschlossen werden. Diese Vereinbarung enthält ein Reskript des Herrschers vom
       19. August 1868. Im übrigen verfügte das Reskript die endgültige Auflösung der Militär¬
       grenze, die schrittweise vor sich gehen solle. Während dieser Zeit bleibe das Gebiet
       unverändert unter Oberhoheit des Kriegsministeriums.
80 Die Entstehung und den Inhalt des Wehrgesetzes behandelt eine reichhaltige Literatur:
       Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministeriums, Bd. 2 41-50; ders., Die k. (u.) k.
       Armee - Gliederung und Aufgabenstellung 585-591; Schweizer, Das österreichisch-un¬
       garische Wehrgesetz der Jahre 1868-69; Rothenberg, The Army of Francis Joseph 77-
       81; Allmayer-Beck, Der Ausgleich von 1867 und die k. u. k. bewaffnete Macht 115-
        119; Wertheimer, Graf Julius Andrässy, Bd. 1 323-368; Papp, Die königliche ungari¬
       sche Landwehr (Honväd) 1868 bis 1914 634-644; Zachar, Az oszträk-nämet liberalis
       alkotmänypärt äs a politikai hatalom 1861-1881 72-82.
81 MR. v. 18. 6. 1868, MRZ. 72. Siehe Anm. 100-101.
82 GMR. v. 11. 1. 1868, RMRZ. 3.
83 Das Zustandekommen dieses Gesetzes ist aber eine der wichtigsten und brennendsten
       Fragen in Österreich, erst durch dasselbe wird jene politische Festigkeit, jener Kitt in der
       Gesamtmonarchie wieder hergestellt, welcher ihre Kraftentwicklung nach Außen gestat¬
       tet - erst durch diese Einigung ist der Ausgleich besiegelt und die Ruhe in den aufgereg¬
       ten Gemütern aller Volksstämme wieder hergestellt, die für die ruhige innere Entwick¬
       lung so unumgänglich nötig [ist]. Zur Lösung der ungarischen Militärfrage (v. Beck) v.
       28. 11. 1867 KA„ MKSM. Sep.Fasc. 76, Nr. 36.
|| || XXXII  Einleitung

Verordnungswege in Kraft gesetzt. In Ungarn jedoch, wo die Rekruten¬
bewilligung das vielhundertjährige Recht der Stände war, löste diese
Oktroyierung gerade während der angelaufenen Ausgleichsverhandlungen
derartige Empörung aus, daß sich der Herrscher gezwungen sah, die Ver¬
ordnung zurückzuziehen und die verfassungsmäßige Vorbereitung des Ge¬
setzes einzuleiten.

   Die allgemeine Wehrpflicht war eine moderne Erfindung, sie beruhte auf
der bürgerlichen Rechtsgleichheit und der gleichen Verpflichtung der
Staatsbürger gegenüber dem Staat.84 Die „Nation" sollte der Garant der
Verteidigung sein, und der Schutz der Heimat verlangte eine „nationale"Ar¬
mee. Die Schwierigkeit in diesem Falle war aber, daß das eben entstandene
Ausgleichssystem, wie bekannt, eine supra- bzw. pränationale Armee
schaffen oder bewahren wollte; sie gründete sich auf „die Verteidigung ...
der gemeinsamen Sicherheit mit vereinten Kräften" der beiden Staaten, die
gemeinsame und einheitliche Armee war die Macht- und wenn man so will,
auch die ideologische Basis des dualistischen Reiches. Und das Wehrgesetz
sollte nun gerade diesen im Wesen der Dinge liegenden Gegensatz über¬
brücken: also die gemeinsame und einheitliche Armee unberührt erhalten
und in irgendeiner Form dennoch die nationalen Bestrebungen berücksich¬
tigen. Für die von ungarischer Seite erhobenen Forderungen bot das Aus¬
gleichsgesetz bis zu einem gewissen Grade einen Rechtsgrund. Im GA. XII/
1867 § 11 stand nämlich: „das ungarische Heer" „als ein ergänzender Teil
der Gesamtarmee";85 was dies aber wirklich bedeute, konnte jedermann

nach eigenem Geschmack interpretieren.
    Im November 1867 verfertigte Beck, der Vorstand der Militärkanzlei und

persönliche Mitarbeiter Seiner Majestät, eine Denkschrift „Gegen Zwei¬
teilung des Heeres", in der er davor warnte, wenn man den Wünschen der
Ungarn entspreche, werden binnen kurzem auch andere Nationen solche
Ansprüche stellen, die Armee werde in nationale Elemente zerfallen, und
die Nationalheere könnten sich, unterstützt von ihren Rassenverwandten
jenseits der Grenzen, gegen das Reich wenden.86 Auf Befehl des Kaisers
gab Beck seine Denkschrift auch an Andrässy weiter und führte mit diesem

Gespräche über dieses Thema.

84 Der Armeebefehl anläßlich der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht betonte nach¬
       drücklich: ... dem Rufe des Gesetzes folgend ohne Unterschied des Standes ... Den
       Armeebefehl veröffentlicht Wagner, Geschichte des k. kTKnegsmirilsteriums, Bd. 2 50.

85 Infolge der verfassungsmäßigen Herrscherrechte Seiner Majestät in betreff des Kriegs¬
       wesens wird all das, was auf die einheitliche Führung, Befehligung und innere Organisa¬
       tion der gesamten Armee, und somit auch des ungarischen Heeres, als eines ergänzenden
       Teiles der Gesamtarmee, Bezug hat, als der Verfügung Seiner Majestät zustehend aner¬

       kannt.
86 Siehe Anm. 83.
|| || Einleitung  XXXIII

   Mehr oder weniger unabhängig von dieser Aktion der Militärkanzlei be¬
auftragte das Kriegsministerium eine Generalskommission damit, für den
Herrscher und das Ministerium den Gesetzesvorschlag auszuarbeiten. Die
Generalskommission tagte zwischen dem 29. Januar und Mitte März unter
dem Vorsitz Kuhns und mußte Vorschläge zu den Fragen ausarbeiten, wie
groß der Stand der Armee sein und welche innere Gliederung sie haben
solle (Linientruppen, Reserve, Landwehr, Marine), ob die allgemeine

Wehrpflicht gewisse Befreiungen enthalten dürfe, wie viele Jahre die Prä¬
senz- und die Reservedienstzeit betragen sollen, wie das Rekrutenbe¬
willigungsrecht des Reichstages bzw. des Reichsrates zu interpretieren sei,
usw.87

   Die Kommission war noch mit ihren Beratungen beschäftigt, als Grivi-
cic, eine Stütze der Generalskommission, der den Kriegsminister in der un¬
garischen Delegation vertrat, dort scharfe Ausfälle im Interesse der Einheit
der Armee unternahm und dabei die ungarischen Rechte beleidigende Aus¬
drücke verwendete, was einen derartigen Skandal in der erstmals in Wien
tagenden ungarischen Delegation verursachte, daß Grivicic schleunigst ab¬
berufen werden mußte. Der Zwischenfall hatte aber den positiven Neben¬
effekt, daß Andrässy den Kriegsminister um Informationen über den von
den Militärs erstellten Entwurf bitten konnte88 und auch der Herrscher die
Zeit gekommen sah, die Generalskonferenzen zu beenden.89

   Im wesentlichen auf der Grundlage des Vorschlages der Generalskom¬
mission begann am 18. April in Buda eine Ministerkonferenz (kein ge¬
meinsamer Ministerrat!) unter Vorsitz des Kaisers ihre Arbeit. In ihren acht
Sitzungen vom 18.-29. April nahmen die gemeinsamen Minister, der unga¬
rische Ministerpräsident und Landesverteidigungsminister Andrässy,
Festetics, der Minister am Ah. Hoflager, und bei einigen Gelegenheiten
auch der österreichische Ministerpräsident und Landesverteidigungs¬
minister teil.90

   Zusammenfassend kann man sagen, ohne die sachlichen Fragen der
Wehrgesetzdebatte zu berühren, daß das Wehrgesetz in folgenden Schritten
geschaffen wurde: 1. November - Dezember 1867: Becks Denkschrift und
seine Gespräche mit Andrässy; 2. 29. Januar-März 1868 Generals¬
konferenzen; 3. 18.-29. April 1868: Ministerkonferenz in Buda.

87 Fragepunkte für die Kommission über Heeres-Organisation v. 23. 12. 1867 KA.,
       MKSM. 85-5/1/1867.

88 Andrässy an Kuhn v. 9. 4. 1868 KA., KM., Präs. 29-4/2/1868; Wertheimer, Graf Julius
       Andrässy, Bd. 1 347-351.

89 Beust an Kuhn v. 10. 4. 1868 KA., KM., Präs. 29-4/2/1868.
90 Konferenz-Protokolle über das Wehrgesetz KA., MKSM. Sep.Fasc. 29/a. In erster Linie

       die aufdie Honved bezüglichen Teile der Verhandlungsserie behandelt Papp, Die könig¬
       lich ungarische Landwehr (Honväd) 1868 bis 1914 640-643.
|| || XXXIV  Einleitung

   1. Im Dezember 1867 - also in der ersten Phase - trat der ungarische
Honvedminister mit der Forderung auf und konnte diese in Vorverhand¬
lungen auch durchsetzen, daß im Tausch für die Annahme der allgemeinen
Wehrpflicht in Ungarn eine „reine Nationalgarde" unter dem Befehl des
Honvedministers aufgestellt werden solle.91 Über die tatsächlichen mili¬
tärischen Aufgaben hinaus solle diese Streitmacht auch gegen innere Bewe¬
gungen eingesetzt werden. Unbestimmt blieb, wer für die Nationalgarde
rekrutiert werde (Andrässy schien die ausgediente Mannschaft ab dem
30. Lebensjahr akzeptiert zu haben).

   Beck meldete seinem kaiserlichen Herrn, daß seine Vereinbarung mit
Andrässy als Grundkonzeption eines Wehrgesetzes betrachtet werden kön¬
ne. Und er fügte hinzu, wenn man die Stimmung in Ungarn, die Agitation,
die die extreme Linke zur Aufteilung der „Hauptarmee" und dafür führe,
daß eine ungarische Nationalarmee mit ungarischer Fahne und Kommando¬
sprache geschaffen werde, mit Aufmerksamkeit verfolge, könne Andrässys
Mut gar nicht hoch genug geschätzt werden: er riskiere seine Popularität
und Ministerstellung damit, daß er mit solch einem maßvollen Programm
vor das Abgeordnetenhaus trete.92

   2. Die Generalskonferenz - die zweite Etappe - beschäftigte sich mit
sämtlichen Belangen des Wehrgesetzes, also nicht nur mit den Fragen der
Landwehr. Sie war ein ausgesprochenes Fachgremium und begründete ih¬
ren Standpunkt mit fachlichen Gesichtspunkten. Dem Honvedminister ge¬
dachte sie minimale Befugnisse zu geben, im wesentlichen die Aufgaben
der Verpflegung und Dislokation, so daß letztlich die Honved unter der
Oberhoheit des Kriegsministers stehen würde.93

   3. Die Budaer Ministerkonferenz (welche die dritte Phase der Vorbe¬
reitung darstellte) diente der gemeinsamen Regierung dazu, die Landes¬
minister für den ausgearbeiteten Gesetzesvorschlag zu gewinnen.

   Welche Rolle spielte nach all dem der gemeinsame Ministerrat bei der

Schaffung des Wehrgesetzes? 1868 behandelte der gemeinsame Ministerrat
die Sache des Wehrgesetzes in sechs Sitzungen.94 Im Januar 1868 beschloß

       Die Ernennung Andrässys zum Honvedminister im Februar 1867 bedeutete nicht, daß
       der Herrscher im vorhinein die Aufstellung der Honved akzeptiert hatte. Es ging allein
       darum, daß die Zusammensetzung der verantwortlichen Regierung gemäß GA. III/1848
       festgelegt wurde. Das Honvedministerium wurde 1867 aus zwei mit Militäran¬
       gelegenheiten befaßten Abteilungen der Statthalterei mit unverändertem Personal¬
       bestand und Aufgabenbereich geschaffen. Berkö, A magyar kirälyi honvedseg törtenete

       39.
       Zur Lösung der ungarischen Militärfrage s. Anm. 83.
       Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministeriums, Bd. 2 43 ff.
94 GMR. v. 11. 1. 1868, RMRZ. 3; GMR. v. 26. 1. 1868, RMRZ. 8; GMR. v. 9. 2. 1868,
       RMRZ. 12; GMR. v. 5. 3. 1868, RMRZ. 15; GMR. v. 8. 3. 1868, RMRZ. 16; MR. v.
       18. 6. 1868.
|| || Einleitung                                                       XXXV

ein gemeinsamer Ministerrat die Einberufung der Generalskonferenz. Zwar
hatte Andrässy Bedenken dagegen, daß die Generale eine offizielle Kom¬
mission bildeten, die einen regelrechten Gesetzesvorschlag ausarbeitete; er
hätte der Generalskonferenz lieber einen „Enquete"-Charakter verliehen,
eine Konsultativfunktion, weil ein in Wien von Generalen formulierter
Gesetzesvorschlag in Budapest nur Mißfallen erregen konnte. Diese Argu¬
mente hatten ebensowenig Wirkung wie seine prinzipiellen Erwägungen: Er
wollte hinsichtlich der Honved keine weitgehenden Forderungen erheben,
doch „sei der Nationalität Rechnung zu tragen, und auch in der Armee kön¬
ne jede Spur davon nicht ausgelöscht werden". Beust wies den ungarischen
Minister zurück: Gewisse Dinge müsse man als Konsequenz des Dualismus
akzeptieren, die Anerkennung der Einheit der Armee war die Grundbe¬
dingung des Ausgleichs.95

   Im Februar 1868, als folglich die Generalskonferenz bereits arbeitete,
wurde ein gemeinsamer Ministerrat abgehalten, in dem man den Entwurf
eines Schreibens des Kriegsministers in Sachen der Honved an Andrässy
debattierte.96 Dabei war, parallel zur fachlichen Generalsberatung, von der
politischen Konzeption die Rede: „Neben der Armee möge nach Verschie¬
denheit der Teile der Monarchie eine Volkswehr platzgreifen." Es solle also
nicht speziell den Ungarn ein Zugeständnis gemacht werden, sondern die

Armee im Reichsganzen eine traditionsverbundene zweite, nationale Linie
bekommen. Hierbei führte Kuhn aus, daß er sich eine 800 000-Mann-Ar-
mee (für Linientruppen und Reserve) und eine 200 000-Mann-Landwehr
wünsche. Er habe nichts dagegen, wenn - was Andrässy für so wichtig halte
- unter dessen Oberhoheit eine gewisse Wehrkraft stehe, doch solle die
Honved nicht aus jungen Leuten, sondern aus der Reserve, also aus beson¬

nenen Leuten, gebildet und ihre Verwendung an die Einwilligung des
Kriegsministers geknüpft werden.

    Im März 1868 beriet der gemeinsame Ministerrat zweimal mit dem Ziel,
den Standpunkt des Reiches zu formulieren.97 Zur Absprache mit den
Landesregierungen über die Landesinteressen kam es nicht im gemein¬
samen Ministerrat, sondern bei einer Ad-hoc-Konferenzserie im April 1868
in Buda.

   Kuhn traf von Zweifeln erfüllt in der ungarischen Hauptstadt ein. Laut
seinem Tagebuch befürchtete er, die Ungarn würden wieder - wie seiner
Meinung nach auch 1867 - restlos ihren Willen durchsetzen.98 Aus allen
Äußerungen der Minister und des Kaisers klang heraus, daß sich die wich¬
tigsten Punkte des Wehrgesetzes hier in Buda entscheiden würden; es müß-

95 GMR. v. 11. 1. 1868, RMRZ. 3.
96 GMR. v. 9. 2. 1868, RMRZ. 12.
97 GMR. v. 5. 3. 1868, RMRZ. 15; GMR. v. 8. 3. 1868, RMRZ. 16.
98 Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministeriums, Bd. 2 48 f.
|| || XXXVI  Einleitung

ten Vereinbarungen getroffen werden, deren Tragweite nur den 67er Geset¬
zen vergleichbar sei. Nach Ansicht des Herrschers hatte in seinem Reich
und dessen Armee niemals starre Zentralisierung geherrscht (wie dies ein¬
zelne fälschlich meinten). „Gewisse historische Rechte" müßten den zeitge¬
mäßen Forderungen entsprechend berücksichtigt werden. „Darüber muß
man sich [aber] klar werden, daß es nur eine österreichische Armee geben
darf, und diese muß die Hauptsache bleiben, und wenn auch bei Aufrechter¬
haltung dieses Grundsatzes ein großer Teil der Bevölkerung unbefriedigt
bleibt."

   Hier brachten die im übrigen nur gelegentlich erscheinenden öster¬
reichischen Minister, Taaffe und Ministerpräsident Fürst Auersperg, ihre
Besorgnisse über die allgemeine Wehrpflicht ohne Loskauf zum Ausdruck.
Sie lehnten es ab, das Rekrutenkontingent für zehn Jahre im voraus zu be¬
stimmen, hielten die zehnjährige Wehrpflicht und vor allem die Ausgaben
für zu hoch, welche eine solche Armee verursache; und die ganze Land¬
wehrinstitution betrachteten sie als überflüssig.

   Kaiser und Reichsregierung kämpften jedoch vor allem mit der unga¬
rischen Regierung, bis zu Absprachen in den wesentlichsten Fragen: Der

Herrscher willigte in die Aufstellung einer Honved ein, bestehend aus 82
Bataillonen Infanterie und 32 Eskadronen Kavallerie mit ungarischer Kom¬
mandosprache; er akzeptierte, daß die Landwehr die Hälfte des Über¬

schusses des zur Armee abzustellenden Rekrutenkontingentes bekomme.
Andererseits wurde die Kompetenz des Honvedministers sehr eng gefaßt,
im wesentlichen erhielt er administrative Aufgaben. Militärisch unterstand
die Honved einem vom König bezeichneten Feldherr, und was das wesent¬
liche war, sie erhielt keine Artillerie und technische Truppen. Das Wehrge¬
setz erhielt bei dieser Budaer Konferenz (also nicht im gemeinsamen
Ministerrat!) seine endgültige Form."

   Als im Juni nach langer Pause wieder ein Ministerrat stattfand,100 fiel
ihm nur die Aufgabe zu, in einigen Teilfragen die Standpunkte der Regie¬
rungen beider Staaten miteinander abzustimmen.

   Ungewohnterweise nahmen fast die gesamten Regierungen beider Staa¬
ten an dem Gespräch teil.101 Sie verhandelten über zwei Paragraphen: über
§12, der vorschrieb, daß die Landwehr aus Infanteriebataillonen und
Kavallerieeskadronen bestehen solle. In dieser Formulierung war das Ge-

99 Ebd.
100 MR. v. 18. 6. 1868, MRZ. 72.
101 Formal war die Konferenz ein österreichischer Ministerrat, sie trägt dessen Akten¬

       nummer, und das Protokoll unterschrieb der österreichische Ministerpräsident, während
       dies im Falle eines gemeinsamen Ministerrates der Außenminister tat. Dennoch ist es
       kaum ein Zufall, daß das Protokoll - aus inhaltlichen Gründen -- zu denen des gemeinsa¬
       men Ministerrates kam. HHStA., PA. XL, K. 283.
|| || Einleitung  XXXVII

setz zwar unmißverständlich, doch wünschte die cisleithanische Regierung,
daß es expressis verbis „nur aus Infanterie und Kavallerie" bestehen solle,
was Andrässy - mit Rücksicht auf das ungarische Parlament - vermeiden
wollte. Der andere umstrittene Paragraph (§ 49) bezog sich auf die Kompe¬
tenz des Landesverteidigungsministers und besagte, daß die Landwehr in
militärischer Hinsicht auch in Friedenszeiten dem Landwehrkomman¬
danten unterstehe. In ihrer in unangenehmem Ton gehaltenen Polemik be¬
schuldigten die österreichischen Minister ihre ungarischen Kollegen, sie
hätten die Einheit der Armee gefährdet, sie wollten, indem sie das Wehr¬
gesetz in ihrem eigenen Parlament durchsetzen, die Österreicher in eine
Zwangslage bringen, vor ein fait accompli stellen und der Möglichkeit be¬
rauben, auf die Gestaltung der Dinge Einfluß zu nehmen.102 Die Klagen
waren nicht neu. Aus demselben Minderwertigkeitsgefühl resultierende
Anklagen hatten auch die 67er Verhandlungen durchzogen.103 Und wie da¬
mals konnte Andrässy auch diesmal die Vorwürfe erwidern: Ein großer Teil
der Deutschösterreicher seien deutsche Nationalisten und liebäugelten mit
Deutschland. Die Streitparteien beschuldigten sich gegenseitig zweier
Hauptsünden oder eher der einen, daß sie dem Reich nicht restlos treue
Untertanen seien.

   Schließlich gelang es dem Grafen Andrässy aufgrund des Druckes der
ungarischen Opposition, in den Gesetzestext einzufügen, daß die Honved
„vorerst" aus Kavallerie und Infanterie bestehe, doch vermochte er § 49
nicht zu ändern.104

   Um nun die Genese des Wehrgesetzes kurz zusammenzufassen: In einem
regelrechten gemeinsamen Ministerrat einigten sich die gemeinsamen Mi¬
nister untereinander über die prinzipiellen Fragen, sie haben nicht disku¬
tiert, sondern Grundprinzipien fixiert; im Juni 1868 diente eine gemeinsa¬
me Ministerberatung, aber kein gemeinsamer Ministerrat der Vereinbarung

mit den beiderseitigen Regierungen. Die fachliche Vorbereitung des Wehr¬
gesetzes geschah in der Generalskonferenz und die politische in der Budaer
Ministerkonferenz - von ihrer Zusammensetzung her hätte letztere eben-

102 Vgl. Reichskriegsminister an Seine Majestät v. 11. 5. 1868 KA., KM., Präs. 29-4/2/
       1868.

103 Die Vereinbarungen der Ungarn mit dem Herrscher brachten die cisleithanischen Abge¬
       ordneten „in eine Zwangslage", stellten sie vor ein „fait accompli" - das war die häufig¬
       ste Beschwerde bei den Ausgleichsverhandlungen im Sommer 1867; sie seien in eine
       ungute Lage geraten, weil die ungarische Regierung ihren Willen im ungarischen Parla¬
       ment durchsetzen könne, während die Stellung der österreichischen Regierung im natio¬
       nal und politisch viel stärker divergierenden österreichischen Parlament ungewiß sei.
       Somogyi, Vom Zentralismus zum Dualismus 94-97.

104 Die Honv6d ... ist in Friedenzeiten in Verwaltungshinsicht dem Honv6dminister, aber in
       militärischen Angelegenheiten dem Oberkommandanten der Honved untergeordnet.
|| || XXXVIII  Einleitung

falls ein gemeinsamer Ministerrat sein können, war es aber dennoch nicht.
Diese Genese des Gesetzes kann in Kenntnis der Praxis späterer Jahre ty¬
pisch genannt werden und symptomatisch auch hinsichtlich ihres politi¬
schen Inhaltes. Die Regierungen mußten nationale Errungenschaften vor¬
weisen. Eine solche ungarische Errungenschaft war das Wörtchen „vorerst"
im Wehrgesetz, und eine österreichische war, daß die Landwehr letztlich
doch eine zweitrangige Formation blieb (zumindest bis ans Ende des Jahr¬
hunderts). Und bezeichnend ist der Kompromißcharakter des Gesetzes, den
Kuhn so formulierte: „Die Landwehr beider Reichshälften müsse einen na¬
tionalen Anstrich bekommen, die Hauptarmee jedoch einheitlich sein."105

                         b) Strafverfahren bei den Militärgerichten

   Der bürgerliche Konstitutionalismus verlangte, daß über die Staatsbürger
aufgrund von Verfassungsgesetzen geurteilt werde. Das Justizportefeuille
wurde in beiden Staaten von liberalen Politikern verwaltet, Eduard Herbst
und Boldizsär Horvät hielten es beide für wichtig, daß die Verfassungs¬
prinzipien in allen Bereichen zur Geltung kämen. In der Militärstrafjustiz
war aber ein kaiserliches Patent aus absolutistischer Zeit in Kraft, nach dem
die Militärgerichtsbarkeit sich nicht nur auf Strafsachen erstreckte, sondern
auch auf alle Zivilsachen der Militärpersonen und auf allerlei mit dem Hee¬
re in Verbindung stehende Personen, die nicht Militärpersonen waren.106
Nach dem 1866er Krieg, als die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Ar¬
mee völlig offensichtlich geworden war, erarbeitete Kriegsminster John die
Grundzüge einer Militärstrafprozeßordnung. Johns Grundprinzipien akzep¬
tierte der Kaiser zwar, aber infolge der Einführung der allgemeinen Wehr¬
pflicht und der völligen staatsrechtlich-konstitutionellen Umgestaltung der
Monarchie von 1867 wurde eine grundsätzliche Reform des Militärjustiz¬
wesens erforderlich.107 Inhaltlich sprachen die 1867er Gesetze von der
Militärgerichtsbarkeit nicht. Zwar hieß es in GA. XII/1867 § 14: „Über alle
jene ungarischen bürgerlichen Verhältnisse, Rechte und Verpflichtungen
der einzelnen Mitglieder des ungarischen Kriegsheeres, welche sich nicht
auf den Militärdienst beziehen, wird die ungarische Legislative bzw. die
ungarische Regierung verfugen." Für diesen Paragraphen (wie nicht selten
in den sog. Ausgleichsgesetzen) gab es im österreichischen Gesetzestext

105 Kuhns Aufzeichnung zitiert Wagner, Geschichte des k. k. Kriegsministeriums, Bd. 2 47.
106 Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 699-701.
107 Wagner, Die k. u. k. Armee - Gliederung und Aufgabenstellung 539-541; Malf£r, Die

       Abschaffung der Prügelstrafe in Österreich unter besonderer Berücksichtigung der
       Militärgrenze 229 ff.
|| || Einleitung  XXXIX

keine Entsprechung.108 In den österreichischen Staatsgrundgesetzen ist nur
an einer Stelle von der Militärgerichtsbarkeit die Rede: Dort wird aber nur
gesagt, daß die Feststellung der Zuständigkeit der Militärgerichte besonde¬
ren Gesetzen Vorbehalten ist.109 Das 1868er Wehrgesetz fiihrt gewisse zeit¬
gemäße Reformen ein: so die Aufhebung der körperlichen Züchtigung und
der Kettenstrafe, sowie daß auch die aktiven Militärpersonen in ihren bür¬
gerlichen Verhältnissen den zivilen Gesetzen und Behörden unterstehen.
Doch verlangt die Durchsetzung letzterer Bestimmung ein gesondertes Ge¬
setz.

   Ende 1868 tauchte die Frage in beiden Abgeordnetenhäusern auf. Am
29. November legte im ungarischen Abgeordnetenhaus Boldizsär Horvät
einen Gesetzesvorschlag über die Befugnis der Militärgerichte vor. Gegen
diesen Gesetzesvorschlag wurden aber so viele Bedenken erhoben, daß das
Abgeordnetenhaus am 7. Dezember seine Behandlung aussetzte.110 Im
österreichischen Abgeordnetenhaus interpellierten am 10. Dezember Skene
und Genossen beim Justizminister, wann er beabsichtige, das Militär¬
gerichtsbarkeitsgesetz dem Parlament zu unterbreiten. Am 4. Dezember
forderte die Delegation den Kriegsminister auf, „dafür Sorge zu tragen, daß
die in Aussicht gestellte zeitgemäße völlige Reform des Militärgerichts¬
wesens mit dem Wehrgesetze zugleich ins Leben trete".111

   Da die Militärgerichtsbarkeit auf keinen Fall eine rein innere Angelegen¬
heit beider Staaten war, kam die Frage vor den gemeinsamen Ministerrat.
Im Januar 1869 wurde die Militärstrafprozeßordnung in einer Sitzung des
gemeinsamen Ministerrates bzw. eher der Reichsregierung verhandelt, zu
der auch zwei Mitglieder der cisleithanischen Regierung, Ministerprä¬
sidentenstellvertreter Taaffe und Justizminister Herbst, eingeladen wur¬
den.112 Hier einigte man sich über die Grundprinzipien, nämlich daß die
Militärstrafprozeßordnung nur auf verfassungsmäßigem Wege zustande
kommen könne, unter Mitwirkung beider Parlamente, und daß die tatsächli¬
chen Militärverbrechen nicht in die Kompetenz der beiderseitigen Ver¬
tretungskörper gehören, sondern vom Kaiser, dem obersten Kriegsherrn,
festzulegen sind. Auch beim Verfahren hinsichtlich der gemeinen Verbre¬
chen werde man sich in beiden Reichshälften um einheitliche Prinzipien
bemühen. Bis zum Entstehen der neuen Militärstrafgesetzordnung beab¬
sichtige man nur Teilreformen und setze sich nicht zum Ziel, ein umfassen¬
des Gesetz zu erarbeiten; und man werde sich bemühen, mit der ungari¬

schen Regierung zu einer Einigung zu kommen.

108 Vgl. Zolger, Der staatsrechtliche Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn 316.
109 Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 700; RGBl. Nr. 144/1867. Art. 3.
110 Könyi, Deak Ferenc beszedei, Bd. 6 122-134.
111 Stenographische Sitzungs-Protokolle der Delegation des Reichsrathes 387.

112 GMR. v. 3. 1. 1869, RMRZ. 28.
|| || XL Einleitung

    Anderntags fand ein gemeinsamer Ministerrat unter Vorsitz des Kaisers
statt,113 bei dem außer den gemeinsamen Ministem auch die Regierungs¬
chefs beider Staaten erschienen. Der Kaiser, wie üblich bei solchen Fällen,
war empfindlich auf seine Rechte bedacht. Er sah den Unterschied des
Standpunktes der Militärs und der liberal-konstitutionell eingestellten Mi¬
nister genau: „Die eine betrachte die Regelung des Strafrechtes und Straf¬
prozesses bei der stehenden Armee als einen Ausfluß der Rechte des ober¬
sten Kriegsherrn, welcher hierüber selbständig verordnen könne, und wolle
der Legislative nur bezüglich der bürgerlichen Rechtsverhältnisse des Mili¬
tärs eine Ingerenz einräumen, während die andere auch die strafrechtlichen
Bestimmungen sowohl in materieller als formeller Beziehung der Mitwir¬
kung der verfassungsmäßigen Vertretungskörper Vorbehalten wissen wol¬
le." Der Herrscher akzeptierte nicht, daß zwischen eigentlichen Militär-
und gemeinen Verbrechen ein Unterschied gemacht werden könne. Er war
der Auffassung, daß man der Verfassungsmäßigkeit, dem Einfluß beider
Parlamente auf die Gestaltung des Militärstrafrechtes in Wirklichkeit des¬
halb nicht mehr Platz einräumen könne, weil dies nicht nur die Rechte des
obersten Kriegsherrn, sondern auch die Einheit der Armee gefährde. (Beide
Länder werden unterschiedliche Gesetze beschließen, und somit müsse spä¬
ter über die Soldaten des einheitlichen Heeres aufgrund unterschiedlicher
Rechtsprinzipien gerichtet werden, was unzulässig sei.)

   Andrässy schlug im Ministerrat einen ausgesprochen versöhnlichen Ton
an. Er betonte, man dürfe aus den 67er Gesetzen keine strengen Folge¬
rungen in dieser Frage ableiten. Ganz nach dem Geschmack des Königs
sprach er von Besorgnis über den Unterschied von „Militärdelikten" und
„gemeinen" Delikten. Er empfahl kein umfassendes Gesetz, „dies alles sage
er aber nur in der Voraussetzung, daß die Meinung über die Notwendigkeit
der legislativen Mitwirkung zum Durchbruch gelangen könnte". Beust be¬
tonte in der Debatte die verfassungsmäßigen Bedingungen. Der cisleitha-
nische Regierungschef, Ministerpräsidentenstellvertreter Taaffe, machte je¬
doch den Vorschlag, vom Entwurf des Kriegsministers auszugehen. Der
Kriegsminister solle mit beiden Justizministem verhandeln, dann mit bei¬
den Regierungen, und schließlich diese mit ihren eigenen Vertretungs-
körpem. Sollte wider Erwarten dennoch kein Einvernehmen erzielt werden,
dann solle sich gar nichts ändern und die bestehende Lage bleiben, doch
müsse die Schaffung eines kurzen, Grundprinzipien festlegenden Gesetzes
mit gleichem Inhalt in beiden Staaten angestrebt werden, und er glaube an
dessen Erfolg. Die beratenden Minister akzeptierten Taaffes Vorschlag.

   Aufgrund dieses Ministerratsbeschlusses wurde in Österreich das Gesetz
betreffend den Wirkungskreis der Militärgerichte geschaffen,114 welches

113 GMR. v. 4. 1. 1869, RMRZ. 29.
114 Gesetz v. 20. 5. 1869 RGBl. Nr. 78/1869.
|| || Einleitung  XLI

verfügte, daß unter die Militärjurisdiktion die aktiven Militärpersonen ge¬
hören, und zwar bei gemeinen und militärischen Straftaten, und im Falle der
Reserveoffiziere bei Militärverbrechen.115 Das entsprechende ungarische
Gesetz konnte dagegen noch jahrelang nicht verabschiedet werden.116

                      5. Über die Protokolle anderer Provenienz

                            a) Die Ministerratsprotokolle von 1867

    Als vor einem Vierteljahrhundert Horst Brettner-Messler die Protokolle
des Ministerrates der Regierung Belcredi herausgab, wies er schon auf das
Problem hin, das aus dem Übergangscharakter des Jahres 1867 folgte.117
Am 17. Februar 1867 trat die verantwortliche ungarische Regierung ihr
Amt an, zur Ernennung der cisleithanischen Regierung aber kam es erst am
Jahresende, nach der Sanktionierung der Gesetze „betreffend die allen Län¬
dern der österreichischen Monarchie gemeinsamen Angelegenheiten und
die Art ihrer Behandlung". Der gemeinsame Ministerrat hielt seine erste
Sitzung am 31. Dezember 1867, der cisleithanische Ministerrat am 1. Janu¬
ar 1868. Juristisch-politisch verhält es sich so, daß in Ungarn der Dualismus
im Febnwr_1^6Zin,Kraft trat, in den im Reichsrat vertretenen Königreichen
undLandern aber erst nach der parlamentarischen Annahme der Aus¬
gleichsgesetze, im Dezember 1867- Bis dahin übte die österreichische Re-
gierung eine Doppelfunktion aus: sie war die Regierung des Reiches und
auch Cisleithaniens. Diese Situation verursachte zahlreiche rechtliche und
politische ProbTeme; verwiesen sei nur auf Finanzminister Beckes Besorg¬
nisse, daß die Funktion des Reichs- und des cisleithanischen Finanzmini¬
sters kaum vereinbar seien,118 und auf den deutschen liberalen Parteiführer
Eduard Herbst, der eben mit Berufung auf seine rechtlich ungeklärte Lage
das ihm angebotene Portefeuille im Sommer 1867 zurückweist.119

   Aber nicht nur den politischen Akteuren der damaligen Periode, sondern
auch der Historikernachwelt bereitet es Probleme, ob die Ministerberatun¬
gen der Periode zwischen Februar und Dezember 1867 als Sitzungen der
österreichischen (im Sinne vor Februar 1867), der gemeinsamen odex der
cisleithanischeh Regierung zu betrachten sind, d. h. in Verbindung mit den

1,5 Siehe GMRProt. v. 4. 1. 1869, RMRZ. 29. Anm. 8.
116 Vgl. Pap, A katonai büntetö 6s fegyelmi fenyitöjog k6zikönyve; weiter GA. V/1878.
117 Brettner-Messler, Probleme der Edition, ÖMR. VI/2, LXXVI.

       Vgl. au. Vortrag des Ministers des kaiserlichen Hauses und des Äußern v. 7. 3. 1867
       HHStA., Kab.Kanzlei, KZ. 1021/1867 wegen Regulierung der Stellung des Leiters des
       Finanzministeriums Freiherr v. Becke.
U9 Eduard Herbst an Beust v. 5. 6. 1867 ebd., PA. I, Karton 558.
|| || XLII  Einleitung

 österreichischen, den gemeinsamen oder den cisleithanischen Ministerrats¬
 protokollen publiziert werden sollen.120 Ich bin der Meinung, die Frage
 kann nicht aufgrund der selbstverständlich bestreitbaren formalen Merkma¬
 le, sondern muß entsprechend dem Gegenstand und Inhalt der Ministerrats¬
 sitzungen entschieden werden. Die Mehrheit der Sitzungen dieser Periode
 sind als Nachfolger des österreichischen Ministerrates vor dem Februar
 1867 zu betrachten. Es kam aber zu fünf Konferenzen, an denen auch die
 designierten und dann ernannten Mitglieder der ungarischen Regierung teil-
 nahmen und die ausgesprochen gemeinsame Angelegenheiten behandelten:
 die Durchführungsprobleme des Ausgleichswerkes zwischen beiden
 Reichshälften. Ich meine, daß diese Verhandlungen als Vorläufer der späte-
 ren gemeinsamen Ministerratssitzungen zu betrachten sind. Vermutlich¬
 dachte man auch damals so über sie, denn die Protokolle aus der Periode
 zwischen Februar und Dezember liegen zum Teil als Abschriften im AVA
 (diese Abschriften wurden vor der VemicGtimg cler Originale beim Justiz¬
 palastbrand 1927 für Josef Redlich angefertigt; die Originale befanden sich
 offensichtlich in der Reihe der cisleithanischen Ministerratsprotokolle),
 zum Teil im HHStA., PÄ7XL,' Karton 283 (gemeinsame Ministerrats¬
 protokolle). Und gerade die oben erwähnten fünf Protokolle finden sich
 unter den Akten des gemeinsamen Ministerrates. Aller Wahrscheinlichkeit
 nach wunJendie Protokolle einst aufgrund inhaltlicher Überlegung im Poli¬
 tischen Archiv abgelegt (wie es in Ausnahmefällen auch später mit Proto¬
 kollen des österreichischen Ministerrates geschah, z. B. mit diesem vom
 20. Oktober 1871),121 und so habe auch ich entschieden, daß ich sie, auch
; wenn sie aktenkundlich Fortsetzungen der österreichischen Ministerrats-
; Protokolle sind und deren Aktennummem weiterführen, dennoch in diesem

\ Band als Ministerratsprotokolle „anderer Provenienz" veröffentliche.

                            b) Vor der endgültigen Vereinbarung

   Der Ministerrat vom 14. Februar 1867 ist als erster quasi gemeinsamer
Ministerrat anzusehen. Sein Ziel war, die letztgültige Übereinkunft zu
schließen.

   Bekanntlich bildete die Sache der Armee eines der größten Hindernisse
auf dem Weg der Vereinbarung. Als am 20. Dezember 1866 Außenminister
Beust in Begleitung von Hofkanzler Mailäth seinen ersten Besuch in Pest
machte, um die Ansichten der führenden ungarischen Politiker kennenzu-

120 Vgl. Anm. 117. Brettner-Messler nimmt in dieser Frage keine Stellung.
121 Protokoll des zu Wien am 20. 10. 1871 abgehaltenen Ministerrates HHStA., PA. XL,

       Karton 286.
|| || Einleitung  XLIII

lernen (er verhandelte mit Andrässy, Eötvös und Lönyay und besuchte dann
den anerkannten Führer der ungarischen Parlamentsmehrheit, Deäk), äußer¬
te er noch die Überzeugung, daß das Rekrutenbewilligungsrecht des ungari¬
schen Reichstages sowie die Praxis, daß die Heeresergänzung und das
Wehrsystem vom Reichstag selbständig geregelt werden, nicht zulässig sei¬
en, weil sie sich nicht mit der Einheit der Armee vertrügen. Die besagten
parlamentarischen Rechte bezüglich der Armee waren nun aber die Angel¬
punkte der ungarischen Forderungen. Deäk stellte nachdrücklich fest, daß
auf die Bestimmung des Verteidigungssystems keine einzige konstitutio¬
nelle Nation verzichten könne.122

   Es verschlimmerte die Lage, daß währenddessen in Wien entscheidende
Schritte getan wurden. Am 28. Dezember erschien ein kaiserliches Patent,
das über das Heeresergänzungssystem verfugte, allerdings mit der beige¬
fügten Zusage, daß es zur „definitiven Regelung der Heeresergänzung im
verfassungsmäßigen Wege" kommen werde. Und es gelang Andrässy nicht
zu erreichen, daß das Patent (im Hinblick auf die Übergangsverhältnisse) in
Ungarn nicht verkündet werde. Während also noch die Verhandlungen zwi¬
schen der Wiener Regierung und den führenden Politikern des ungarischen
Abgeordnetenhauses andauerten, begann eine Pressekampagne gegen die
Oktroyierung des Wehrgesetzes, und das Parlament protestierte in einer
Adresse, daß „ein so wichtiges, das Interesse und Wohl der Familien so sehr
beeinflussendes Gesetz auf absolutem Wege eingeführt werde".123

   Am 9. Januar 1867 begannen die inhaltlichen Verhandlungen zwischen
der Delegation des ungarischen Parlaments und der Wiener Regierung, und
die Auspizien - bezüglich des Wehrgesetzes - waren nicht besonders gün¬
stig. An der Beratung unter Beusts Vorsitz nahmen Staatsminister Belcredi,
Hofkanzler Mailäth und Sennyey, bzw. Andrässy, Eötvös und Lonyay teil.
Den Ungarn gelang es auf Lonyays Initiative hin zu erreichen - wohl auch
deshalb, weil die österreichischen Minister bei weitem nicht in allem einer
Meinung waren -, daß als Verhandlungsgrundlage nicht der Vorschlag der
Wiener Regierung, sondern des ungarischen Reichstages diene. Damit war
es eher möglich, einige Elemente der ungarischen Konzeption zu bewahren,
als wenn man von dem österreichischen Entwurf ausgegangen wäre. So
blieb im Vorschlag der Ausdruck ungarisches Heer erhalten, den der
Regierungsentwurf selbstverständlich nicht verwendete. Wohl erhielt die

122 Von Beusts Fester Verhandlungen vom 20. Dezember 1866 wurden mehrere Aufzeich¬
       nungen angefertigt. Die Notizen von Antal Csengery und Bela Orczy sowie Andrässys
       Brief über die Verhandlung publizierte Könyi, Deäk Ferenc beszädei, Bd. 4 144-156;
       Beust, Aus drei Viertel-Jahrhunderten, Bd. 2 83 ff. Vgl. Somogyi, A birodalmi
       centralizäciötöl a dualizmusig 173-174.

123 Den Adreßvorschlag des Abgeordnetenhauses veröffentlicht Könyi, Deäk Ferenc
       beszedei, Bd. 4 185-188. Der Artikel des Pesti Naplö ebd. 183.
|| || XLIV  Einleitung

ungarisches Heer ein neues interpretierendes Attribut: „als ergänzender
Teil der Gesamtarmee". Die weiteren Veränderungen bezweckten, daß das
Recht des Herrschers als obersten Kriegsherrn als Evidenz im Text des Ge¬
setzentwurfs stehen solle: Kommando, Führung und innere Organisation
der Armee „fallen nicht unter gemeinsame Maßnahmen" (wie andere ge¬
meinsame Angelegenheiten), sondern werden als „von Seiner Majestät zu
bestimmen anerkannt". Dem Herrscher garantiert „sein verfassungsmäßi¬
ges hoheitliches Recht" die absolute Führung der Militärangelegen¬
heiten.124 Auch der modifizierte Entwurf erkannte die Heeresergänzung,
die Rekrutenbewilligung und die Festlegung der Dienstzeit (Punkt 12)
durch das ungarische Parlament an, aber bei der Festlegung und Umge¬

staltung des Verteidigungssystems bestimmte es die Notwendigkeit ge¬
meinsamer Grundsätze (Punkt 13).125

   Die 67er Kommission des ungarischen Parlaments begann am 28. Januar
das Elaborat des 15 er Unterausschusses in merito zu beraten und akzeptier¬
te die auf das Militärwesen bezügliche Punktation (11, 12 und 13) ohne
wesentliche Veränderungen. Mit der Ermächtigung des Parlamentsaus¬
schusses reisten die nun bereits designierten ungarischen Minister erneut
nach Wien. Am 10. Februar 1867 fuhren Andrässy, Eötvös und Lönyay zu¬
sammen mit dem Frühzug, und Wenckheim, Horvät und Miko folgten ih¬
nen am Abend. Man bereitete sich auf die Regierungsbildung vor und reiste
in die Reichshauptstadt, um die letzten Hindernisse zu beseitigen. „And¬
rässy war auf der ganzen Reise guter Laune und sprach vertraulich mit uns,
Pepi war sorgenvoll und ich gleichmütig."126 Am 11. Februar verhandelt
Andrässy zwei Stunden lang mit dem Kaiser. „Am 12. verging fast der gan¬
ze Tag mit der Überprüfung der Punktation, die man uns hinsichtlich der
Revision der 1848er Gesetze in die Hand gab. Die schwerste Frage bezog
sich auf das Militärwesen. Graf Festetics127 war besonders skrupulös und
wollte alles bestimmt ausgedrückt sehen. Andrässy ging bei Beust, beim
Kaiser und Mailäth aus und ein, um schließlich zu erfahren, daß am 13.
John ihn über Militärangelegenheiten und Becke mich über Finanzan¬
gelegenheiten kontaktieren werde, beide bei Beust."128 „Am 13. Februar
verging der ganze Vormittag mit der Verhandlung des Reskriptes, in dem

124 Sarlös, Das Rechtswesen in Ungarn 515-522.
125 Ebd.
126 Menyhert Lönyays Tagebuch, Wien 1867, 10. Februar. Könyi, Deäk Ferenc beszedei,

       Bd. 4 315. „Pepi" war der Kosename von Baron Jözsef Eötvös. Eötvös wird in der zu
       bildenden Andrässy-Regierung Ministerfür Kultus und Unterricht, Lönyay Finanzmini¬
       ster, Baron Bela Wenckheim Innenminister, Boldizsär Horvät Justiz-, Graf Imre Miko
       Arbeits- und Verkehrs-, Istvän Gorove Industrie- und Handelsminister.
127 Graf György Festetics wird Minister am Ah. Hoflager in der zu bildenden Regierung.
128 Könyi, Deäk Ferenc beszädei, Bd. 4 315-316.
|| || Einleitung  XLV

 seine Majestät die Wiederherstellung der gesetzlichen Zustände erklärt und
Andrässy zum Ministerpräsidenten ernennt. Im allgemeinen ein langes
Konzept, aber etwas daran zu ändern, wäre schwierig gewesen. Wir
wünschten die Einfügung einiger Ausdrücke, besonders jener, die die
Wiederherstellung der Verfassung nachdrücklicher ausdrücken; des weite¬
ren stellten wir das Prinzip der Indemnität ein.

    Um 11 Uhr vormittags ging Andrässy zu Beust, um mit General und
Kriegsminister John die das Militärwesen betreffenden Angelegenheiten zu
besprechen. Ich war zu um 2 Uhr dorthin bestellt; die Besprechung war
noch im Gange, als ich dort eintraf. Beust kam heraus und sprach eine Weile
mit mir und berührte die Schwierigkeiten, mit denen er bei den Deutschen
zu kämpfen habe. Um halb Zwei war die Besprechung mit John zuende; ich
sprach bis dahin mit Becke. Ein tatsächlich intelligenter Mann; vieles, wor¬
über in der Konferenz ausführlicher hätte geredet werden müssen, erledig¬
ten schon wir gemeinsam. Seine auf den Übergang bezüglichen Besorgnisse
zerstreute ich. An der Beratung unter Beusts Vorsitz nahmen teil: Andrässy
und ich von ungarischer Seite, Beust und Becke von deutscher Seite.

   Becke las eine Punktation vor, die sofort damit begann, daß der un¬
garische Finanzminister seine Tätigkeit nicht beginnen könne, solange die
Steuern vom Reichstag nicht votiert sind. Darauf äußerte ich mit Nach¬
druck, daß ich unter dieser Bedingung das Portefeuille nicht übernehmen
könne, aber kaum glaube, daß es ein anderer übernähme. Ich gab aber mei¬
ner Hoffnung und Überzeugung Ausdruck, daß das Parlament in kurzer
Zeit, wahrscheinlich binnen 14 Tagen von der Ernennung des Ministeriums
an gerechnet, die Steuern bewilligen werde, bis dahin werde die Erledigung
der schwebenden Dinge und die Trennung der Angelegenheiten ohnehin
kaum beendet werden können; man wird das gleiche Ziel also auch so errei¬
chen. Auch wenn sich jemand unter der gestellten Bedingung entschlösse,
das Portefeuille zu übernehmen, würde er Schwierigkeiten mit dem Haus
bekommen, weil es dies als Pression verstehen würde. Beust ging darauf
ein, und die Vorlage ist demgemäß zu modifizieren."129

   „Beust ging ein und aus, beriet mit dem einen und anderen deutschen
Reichsrat. Wir haben bei Mailäth gegessen, und bis zum späten Abend, bis
Mitternacht dauerte es, bis wir das Reskript durchbehandelt hatten."130

   „Morgens kam die Benachrichtigung, daß heute, also am 14., die beiden
Ministerien nur über die Gegenstände von gemeinsamem Interesse, wie Mi¬
litärwesen, Finanzwesen, die Restitution131 verhandeln werden, und über
das Reskript betreffend Andrässys Ernennung.

129 Ebd. 316-317.
130 Ebd. 317-318.
131 Die Restitution bedeutet die Wiederherstellung der 1848er Gesetze, die von ungarischer

       Seite die Grundvoraussetzung der Vereinbarung war.
|| || XLVI                                             Einleitung

   Wir waren alle acht zu halb zwei Uhr in die Burg bestellt, und zwar
mußen wir die Treppe gegenüber dem Burgtortheater hinaufsteigen, die so¬
genannte Batthyäny-Treppe. Über die Flure im ersten Stock öffnet sich eine
Tür in ein kleines, niedriges, sehr einfach möbliertes Vorzimmer, wo sich
einige Diener aufhielten; von dort geht es in ein schon größeres und etwas
schmuckreicheres Zimmer, wo sich der diensttuende Adjutant aufhält. An
diesem Tag war ein dicker Artilleriemajor im Dienst. Von dort öffnet sich
ein mittelgroßer Warteraum, an den Wänden viele Aquarelle, schöne Ge¬
mälde von Rubens, Rembrandt, Tizian usw., in der Mitte des Teppichs ein
zweiköpfiger Adler.

   Zuerst empfing uns Seine Majestät einzeln. Als ich bei ihm eintrat, be¬
gann er: »Es freut mich, Sie wiederzusehen, und ich danke Ihnen, daß Sie
das schwierige Amt eines Finanzministers angenommen haben.« Daraufhin
sagte ich, daß ich dies zu tun als Pflicht betrachte, auch wenn ich die
Schwierigkeiten der Stellung sehe, die so groß sind, daß sie zu überwinden
nur in dem Fall gelingen kann, wenn ich mit dem Vertrauen und der Unter¬
stützung Seiner Majestät rechnen kann und wenn der Finanzminister in
Wien jemand ist, der den Ausgleich auf Grundlage der Billigkeit mit ebenso
viel gutem Willen vorantreiben wird wie ich. Danach ging es noch um die
beantragte Ausgleichsvorlage der 67er Kommission.

   Um zwei Uhr begann die Beratung, Seine Majestät trat ein und stellte
sich an den Lehnstuhl an der Spitze des Tisches; einzeln kamen die deut¬
schen Minister herein, danach wir; sie nahmen ihren Stuhl am üblichen
Platz oben, wir den unseren unten. Beust saß rechts und Mailäth links neben
dem Kaiser. Rechts neben Beust saß Korners, der in der Bach-Zeit recht
lange in Pest als Obergerichtspräsident gewohnt hat. Neben ihm Becke, ne¬
ben diesem Andrässy, ich, Eötvös und Gorove, von links neben Mailäth
John, Wüllerstorf, Festetics, Wenckheim, Miko, Horvät und dem Kaiser
gegenüber Hofrat Meyer, der fleißig schrieb und mit großer Aufmerksam¬

keit das Protokoll führte."132
   Von wenigen Beratungen können wir uns ein so plastisches Bild machen.

Dabei haben hier auch die Äußerlichkeiten Aussagekraft und Bedeutung,
und dieser Ministerrat ist nicht nur hinsichtlich seines Gegenstandes, son¬
dern auch seiner Funktion als Vorläufer der späteren gemeinsamen Mi¬
nisterratssitzungen zu betrachten: Wir haben gesehen, daß ihm eine lange
Verhandlungsserie vorausging, wie auch den späteren Kronräten. Und der
Ministerrat ist nicht nur der Anlaß der endgültigen Vereinbarung, sondern
auch das Forum - die Rechts- und Berufungsbasis - der feierlichen Dekla¬
ration der Standpunkte, ebenso wie auch die späteren gemeinsamen Mi¬
nisterratssitzungen.

132 Könyi, Deak Ferenc besz6dei, Bd. 4 318-319.
|| || Einleitung                                           XLVII

    Im wesentlichen bestand die Beratung daraus, daß Kriegsminister John
 die die Armee betreffende Punktation vorlas und Andrässy „als der von Sei¬
ner Majestät bestimmte Präsident des künftigen ungarischen Ministeriums"
namens aller seiner Kollegen in der Mehrzahl der Fälle sein Einverständnis
im Einklang mit den früheren Vereinbarungen erklärte. Die ganze Beratung
diente augenscheinlich dazu, daß die vereinbarenden Parteien noch einmal

ihre Standpunkte formulieren und fixieren. In einigen prinzipiell-staats¬
rechtlichen Fragen zeigten sich aber sogar jetzt noch, in der Beratung un¬
mittelbar vor der Ernennung der ungarischen Regierung, wesentliche An¬
sichtsunterschiede.

    Bekanntlich behält GA. III/1848 § 8 „die Ernennung in militärische Äm¬
ter" dem Kaiser vor (reservata), allerdings bei Gegenzeichnung des Mini¬
sters am Ah. Hoflager. Das 1848er Gesetz gibt dem Minister, der im
dualistischen System minimalen Einfluß haben sollte, eine weitgehende
Kompetenz. 1848 ist dieser Minister „in allen Verhältnissen, die das Vater¬
land und die Erbländer gemeinsam interessieren", der verantwortliche Ver¬
treter Ungarns. Andrässy nahm 1867 zur Kenntnis, daß der Minister am
Ah. Hoflager unter den neuen Verhältnissen eine derartige Funktion nicht
haben werde, aber er wollte provisorisch und prinzipiell im Interesse der
Legalität und Rechtskontinuität das Recht der ungarischen Regierung zur
Gegenzeichnung der Offiziersemennungen aufrechterhalten. Freiherr von
John aber „sprach sich entschieden gegen das Recht der Kontrasignatur bei
Offiziersernennungen aus". Denn eine Kontrasignatur durch das ungari¬
sche Ministerium wäre eine Beschränkung der Machtvollkommenheit des
Herrschers als oberster Befehlshaber der Armee und würde die Einheit der
Armee gefährden. Der Herrscher - da dieser heikle Gegenstand in dem
Elaborat der 67er Kommission nicht erwähnt war - gab den Rat, die Sache
stillschweigend zu übergehen.

   Im ungarischen Ministerrat am nächsten Tag, in der ersten Sitzung der
neuen ungarischen Regierung,133 wiederholt Andrässy, daß vorläufig, bis zu
ihrer Modifizierung, die 1848er Gesetze in Kraft seien, man also auf der
Gegenzeichnung der Regierung bestehen müsse, aber dazu käme es nur
dort, „wo eine Mitwirkung der Zivilbehörde notwendig sei. Hofkanzler v.
Mailäth erachtete aber, daß die in dieser Gesetzbestimmung enthaltene Idee
jedenfalls klargestellt oder eigentlich aufgrund des 67er Kommissions-
operates ganz abrogiert werden müsse". Der Kaiser unterstützt selbst¬
verständlich Mailäths Standpunkt.

   Während die Gegenzeichnung der Offiziersemennungen auf jeden Fall
nur Übergangs- und prinzipielle Bedeutung gehabt und die Bewahrung der
Rechtskontinuität bis zur Annahme der Ausgleichsgesetze demonstriert

133 Ung. MR. v. 15. 2. 1867, OL., K-27, Nr. 1/1867.
|| || XLVIII  Einleitung

hätte, verhielt es sich mit dem Ausdruck „ungarisches Heer", der im Vor¬
schlag der 67er Kommission stand und sich auf die Zukunft bezog, anders.
Der Kaiser und auch John erklärten, daß „der Armee gegenüber von einem
ungarischen Heer nicht gesprochen werden dürfe". Andrässy erkannte zwar
an, daß ein ungarisches Heer nicht existierte und sie eben deshalb im 67er
Elaborat den Ausdruck „als ergänzender Teil der Gesamtarmee" benutzten.
Auf diesem Ausdruck (nämlich „ungarisches Heer"), der am Jahrhundert¬
ende dann zu so vielen staatsrechtlichen Streitigkeiten führen sollte, be¬
stand die ungarische Regierung und konnte durchsetzen, daß er auch in die
§§ 11, 12 und 14 des GA. XII/1867 hineinkam.

   Ein gesondertes Diskussionsthema war die Ernennung eines eigenen un¬
garischen Landesverteidigungsministers, den die Ungarn nicht nur aus
Gründen der Rechtskontinuität - daß nämlich auch GA. III/1848 unter
den Mitgliedern der verantwortlichen Regierung den Honvedminister er¬
wähnt -, sondern auch aus praktischer Notwendigkeit verlangten und sag¬
ten, das neue Wehrgesetz werde dann die Aufgaben des Honvedministers
genau festlegen und garantieren, daß die Existenz und Tätigkeit des Hon¬
vedministers die Einheit der Armee nicht gefährde.134

   Es mag nicht uninteressant sein, hier Lonyays Tagebuchnotiz über die
Militärdebatte einzufügen, die er noch am selben Tag, am 14. Februar, zu

Papier brachte: „John verlas seine Punkte, überall dort seiner Stimme Nach¬
druck verleihend, wo von den Rechten Seiner Majestät als Kriegsherrn die
Rede war. Auf jeden einzelnen Punkt antwortete Andrässy. Der Kern der
Sache war, daß die aktive Armee, die Festungen, das Kriegsmaterial usw.
direkt dem Kriegsministerium unterstehen; daß in Zukunft aufgrund des
Wehrsystems die Reserven dem Landesverteidigungsminister unterstehen
werden, was als großer Gewinn zu nehmen ist. Die Zahl der in diesem Jahr
zu stellenden Rekruten beträgt für Ungarn 40 000 und für Siebenbürgen

8000. Wenn es irgend geht, erbitte ich von Andrässy Johns Punkte und füge
sie hier ein. Die Debatte mit John dauerte recht lange. Bei zwei Gelegenhei¬
ten wurde John rot, als Andrässy sagte: Sie scheinen es nicht zu verstehen,
mein Herr, Sie wissen es nicht; der Ton war auch so, wie man es in solchen
Beratungen eigentlich nicht gewohnt ist.

    Danach referierte Becke. Er schickte voraus, ich hätte in der Bespre¬
chung mit mir mit Bestimmtheit geäußert, daß wenn Ungarn das Finanz¬
wesen erst dann übergeben werde, nachdem die ungarische Gesetzgebung
die derzeitigen Steuern bereits votiert habe, dies das ungarische Abgeord¬
netenhaus als Pression betrachte und niemand von uns das Portefeuille
übernehmen werde, aufgrund wessen er gezwungen gewesen sei, die ur¬
sprüngliche Konstruktion zu verändern. Daraus geht hervor, daß die Kon-

134 Über die Ministerratsdebatte: Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem,
        Bd. 2 568-569.
|| || Einleitung  XLIX

struktion, die er mir gestern mitteilte, eine Verabredung des Ministerrates
war.

   Er hielt an jedem Punkt inne, und ich rektifizierte und erklärte den Sinn,
den wir dem Text zu geben wünschen; wie unsere Freunde sagen, habe ich
korrekt und immerfort gut auf die einzelnen Punkte geantwortet. Auch der
Kaiser selbst hat mehrfach zu den Fragen das Wort ergriffen, und zwar im¬
mer sehr gründlich. Mich überraschte die schöne Art, in der er den Vorsitz
führte, seine Ruhe und der gründliche Sachverstand, den er bezeugte."135

   Handelsminister Wüllerstorf war gezwungen einzugestehen, daß es „bei
Regelung der Durchführungsmaßregel in betreff des Handels und Verkehrs"
noch nicht gelungen sei, sich mit dem ungarischen Kollegen zu verein¬
baren. Lonyay erinnert sich daran so: „Danach sprach Wüllerstorf, der ein

Gentleman mit angenehmem Äußeren ist, über die Handelsangelegenheiten
als solchen, zu denen eine gewisse Vereinbarung nötig sei; doch konnte er
nichts positiv formulieren, so wenig, daß schließlich ich mich zu Wort mel¬
dete und die Notwendigkeit dessen erörterte, daß wir seine Bemerkungen in
Punkte gegliedert sehen müssen; bis dahin können wir nichts anderes sagen,
als was im Elaborat der 67er Kommission enthalten ist. Dieses Elaborat
hatte er, wie es scheint, gar nicht richtig verstanden; er sprach dort von
Delegation, wo er Deputation hätte sagen sollen; und von Deputation dort,
wo von den Besprechungen beider Ministerien die Rede ist. Der Kaiser hat
ihm immer richtig den Weg gewiesen."

   Am Ende der Beratung entwickelte sich noch eine sehr bemerkenswerte
Debatte über einen einzigen Satz des an den ungarischen Landtag zu erlas¬
senden Reskriptes. Korners, Wüllerstorf und John hatten Bedenken hin¬
sichtlich der Formulierung „Wiederherstellung der Verfassung". Die Mini¬
ster hätten vorgezogen, wenn im Reskript statt von Wiederherstellung der
Verfassung nur Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Zustände

gesprochen würde. Das Protokoll enthält nur Andrässys gegen die deut¬
schen Minister vorgebrachtes Argument, daß „nur durch eine solche in ei¬
nem königlichen Reskript niedergelegte Erklärung der Herstellung der
Verfassung dem Land die volle Beruhigung gewährt werden könne". Nach
Lönyay allerdings „hat auch Mailäth hervorgehoben, daß wir hier »Ver¬
fassung« wünschen; Seine Majestät bejahte dies, und so hob er gut den Un¬
terschied zwischen beidem hervor. Da die Zeit so weit vorgeschritten war,
daß wir kaum mehr etwas sahen, stellte man zwei wundervolle silberne
Kandelaber auf den Tisch. Es war halb sechs, als wir vom Tische auf¬
standen. Jeder sprach sitzend, doch war das Sitzungsgebaren ziemlich
steif*.136

135 Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bd. 4 319-320.
136 Ebd. Vgl. Reskript an den ungarischen Landtag v. 17. 2. 1867 Beilage Nr. 1b zum

       MRProt. v. 14. 2. 1867, MRZ. 127.
|| || L Einleitung

            c) Wirtschaftliche Ausgleichsverhandlungen

Die Niederlage von 1866-67 hatte sich so tief in das österreichische Ge¬

schichtsbewußtsein eingegraben, daß lange Zeit das Bedürfnis nach einem

Neudurchdenken und einer Neuinterpretation der Probleme in der Ge¬

schichtsliteratur gar nicht aufkam: 1867 waren die Deutschösterreicher in

einer Zwangslage, in der sie zur Kenntnis nehmen mußten, daß sie vor ein

fait accompli gestellt worden waren: Der Hof, die Regierung und Beust, der

aus der Fremde stammende Minister, hatten sich hinter ihrem Rücken, ohne

zu fragen mit den Ungarn geeinigt.

In einer früheren Studie habe ich versucht, den eigenartigen Charakter

und Inhalt der „Zwangslage" zu beleuchten: Die Deutschösterreicher ver¬

zichteten 1867 zwar auf die parlamentarische Behandlung der dualistischen

Umgestaltung und erlebten dies als Niederlage. Aber sie brachten nur dies

eine Opfer. Sie gaben nicht ihre frühere Machtstellung auf, nicht

ScKmerlings Reichsverfassung wurde durch das System der gemeinsamen

Angelegenheiten ausgetauscht - das wäre ihnen gewiß noch schwerer gefal¬

len -, sondern die Unsicherheit der „Sistierung" durch die dualistische

Konsolidation. Und dieseFPualismus garantierte ihnen nicht nur eine Ver¬

fassung statt der Sistierung der Verfassung, sondern eine deutsche Zen¬

tralisation (im Gebiet des engeren Österreich) gegenüber dem als im¬

minente, reale Möglichkeit vorhandenen Länder- oder Nationsfödera¬

lismus.137 Deshalb konnte Beust begründet damit rechnen, daß der Reichs¬

rat letztlich seine Einwilligung zu den definitiven Ausgleichsgesetzen ge¬

ben werde.  ."

Das Definitivum bezog sich auf die pragmatisch gemeinsamen Angele¬

genheiten, auf Außenpolitik und Militär und ihr Behandlungssystem. Die

wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern aber, deren Ge¬

meinschaft - wie das Gesetz besagt - „zwar nicht aus der Pragmatischen

Sanktion folgt", aber „zweckmäßiger mittels gemeinsamer Vereinbarung

erledigt werden können", wurden nicht auf diese Weise geregelt.138

1 Dennoch ist es für die Historiographie eine keinen Beweis benötigende

Evidenz, daß 1867 die Ungarn den Deutschösterreichem ihren Willen auf-

gezwungen haben. In derTAualysen wird meist übergangen7 daß der Aus-

'glelchTin zwei klar_yoneinander abgrenzbaren Bereichen geschlossen wur¬

de: im Bereich des Staatsrechtes und dem derjlegelung der Wirtschafts¬

beziehungen, und difese Heiden Bereiche des Ausgleiches lassen sich auch

in ihrer Genese gut voneinander unterscheiden. Anders als die pragma¬

tischen staatsrechtlichen gemeinsamen Angelegenheiten entstand die Re-

137 Somogyi, Vom Zentralismus zum Dualismus 77-93.
138 GA. XII/1867 § 52.
|| || Einleitung  LI

 gelung der als paktiert gemeinsam bezeichneten Angelegenheiten (die
 „zwar nicht gemeinsam verwaltet, jedoch nach gleichen, von Zeit zu Zeit zu
 vereinbarenden Grundsätzen behandelt werden") nicht auf ungarisches
 Diktat hin, hier kam es zu einem langen Feilschen zwischen den beiden
 Finanzministem, den beiden Regierungen und parallel dazu zwischen den
 Deputationen beider Parlamente, zu einer gemeinsamen „Kapazitation",
 und der so zustande gekommene Kompromiß wirkte auch auf die staats¬
 rechtliche Vereinbarung zurück.

     Seltsamerweise äußert sich auch Sutter, der als erster und im Grunde ein¬
 ziger die Geschichte des wirtschaftlichen Ausgleiches,.aufgearbeitet hat,
 nur allgemein über dessen Zustandekommen und schreibt, man habe bei
 ihm die Österreicher übergangen.139 Bei der staatsrechtlichen Regelung
 fragte man sie tatsächlich nicht, aber bei den Wirtschaftsverhandlungen war
. dies nicht der Fall.140
^ Im März f8677Tinmitte1bar nach der Ernennung der ungarischen Re¬
 gierung, begannen die Verhandlungen zwischen dem ungarischen und dem
 österreichischen Finanzminister, Lönyay und Becke.141 Eigentlich mußten
 sie sich über zwei Grundfragen einigen: In welchem Maße beteiligt sich
 Ungarn an den gemeinsamen Ausgaben und welchen Anteil übernimmt es
 beim Abtragen der angehäuften schweren Staatsschuldenlasten. Die prin¬

 zipielle Grundlage der Fragen war gesetzlich festgelegt: „so muß durch eine
 wechselseitige Verhandlung im Vorhinein die Proportion bestimmt werden,
 nach welcher die Länder der ungarischen Krone die Lasten und Kosten der
 gemäß der pragmatischen Sanktion als gemeinsam anerkannten Angelegen¬
 heiten tragen werden". Die Vereinbarung geschieht so, daß die Vertretungs¬
 körperschaften beider Parteien eine Deputation mit identischer Mitglieder¬
 zahl wählen, die aufgrund der von der Regierung zu ihrer Verfügung ge¬
 stellten Angaben einen Vorschlag über die Proportion der Beteiligung an
 den gemeinsamen Lasten erstellt. Den Vorschlag behandelt das Parlament,
 teilt dies dann auf dem Wege über die Regierung dem Parlament des ande¬
 ren Partners mit, und ihre gemeinsame Vereinbarung wird vom Herrscher
 sanktioniert. Sollte den beiden Parlamenten eine Einigung nicht gelingen,

139 Sutter, Die Ausgleichsverhandlungen zwischen Österreich und Ungarn 1867-1918.
",0 Siehe die hier veröffentlichten MRProtokolle. Über die Deputationsverhandlungen siehe

       Finanzminister Lönyays Tagebuchaufzeichnungen (Könyi, Deäk Ferenc beszedei,
       Bd. 5). Detaillierter und weniger voreingenommen als dieser Csengery, HAtrahagyott
       iratai 6s feljegyz6sei. Csengery ist Deäks naher Mitarbeiter und Vertrauter, Berichter¬
       statter der ungarischen Deputation, d. h., er verfertigt den Bericht an das ungarische
       Parlament. Die Verhandlungsakten der österreichischen Deputation im Band: Die Neue

        Gesetzgebung Österreichs.
141 Becke war praktisch gemeinsamer und cisleithanischer Finanzminister zugleich, wenn

       seine Stellungjuristisch auch ungeklärt blieb.
|| || LII Einleitung

dann wird diese Frage Seine Majestät aufgrund der unterbreiteten Angaben
entscheiden.142

   In dieser Hinsicht gab es zwischen beiden Partnern und den Gesetzen
beider Staaten keinen grundsätzlichen Unterschied.143 Ganz anders war die
Lage bei der Staatsschuld. Die ungarischen Gesetze bestimmten höchst
nachdrücklich - und diese prinzipielle Stellungnahme war eine wesentliche
Voraussetzung des staatsrechtlichen Ausgleichs daß zur Zeit des Abso¬
lutismus, also ohne parlamentarische Zustimmung aufgenommene Kredite
das Land rechtlich nicht belasten. Das bedeutete freilich nicht, daß es nicht
„auf Grundlage der Billigkeit, aus politischer Rücksicht" einen Teil der
Staatsschuldenlast übernehmen würde, „damit unter jenen schweren La¬
sten, welche das Verfahren des absoluten Systems angehäuft, die Wohlfahrt
der übrigen Länder Seiner Majestät und mit diesen auch jene Ungarns nicht
zusammenbreche ..."144

   Aus dem prinzipiellen Vorbehalt hinsichtlich der Staatsschuld folgte, daß
Ungarn den Beitrag für die laufenden gemeinsamen Angelegenheiten und
die Staatsschuld voneinander trennte und gesonderte Regelungen wünschte.

   Die beiden Finanzminister erstatteten über die Ergebnisse ihrer fort¬
laufenden Verhandlungen Ende Juli erstmals Bericht in einem Ministerrat
unter Vorsitz des Herrschers. Sie betonten, sich bloß über den den Depu¬
tationen zu unterbreitenden Vorschlag geeinigt zu haben, „in keinem Fall ist
zwischen den beiden Finanzministem eine förmliche Einigung über die Sa¬
chen zustande gekommen", und am allerwenigsten handele es sich darum,
daß sie „eine Zustimmung der Ministerkonferenz zu einer solchen Eini¬
gung" erbitten würden.145 Bis Ende August waren die ministeriellen Ver¬
handlungen dahin gelangt, daß der Ministerkonferenz eine umfassende
Konzeption unterbreitet werden konnte.146 Lonyay schlug - wie schon frü¬
her - eine 28 %ige und Becke eine 30 %ige ungarische Quote vor. Zur Auf¬
teilung der Staatsschuldenlasten arbeiteten die Minister eine grundlegend
neue Lösung aus. Da ein Teil der Staatsschuldenlasten nicht von Kriegs¬
ausgaben, also nicht von den Kosten der „gemeinsamen Verteidigung", her¬
rührte, sondern von Ausgaben, die nur die deutsch-slawischen Länder bela¬
steten (Investitionen im Gebiet Cisleithaniens, Verwaltungskosten, von de¬
nen Österreich einen größeren Teil als Ungarn übernehmen mußte, weil
diese Ausgaben dort pro Kopf wesentlich höher waren), beantragte zuerst

142 GA. XII/1867 § 18.

143 Dennoch besagt das österreichische Gesetz: Sollte zwischen beiden Vertretungen kein

Übereinkommen erzielt werden, so bestimmt der Kaiser dieses Verhältnis, jedoch nur für

die Dauer eines Jahres. RGBl. Nr. 146/1867 § 3.  --

144 _GX. XIlTmTj 54-55. `         '-»

145 MR. v. 31. 7. 1867, MRZ. 168.

146 MR. v. 30. 8. 1867, MRZ. 173.
|| || Einleitung  LIII

Andrässy - und später machen sich auch die übrigen seine Konzeption zu
eigen daß man von der Staatsschuld eine vorher festgelegte fixe Summe
abziehen solle, die Österreich allein bezahlen müsse („Andrässy nennt die¬
se Idee Präzipuum, die Deutschen sagen: von vorne weg abstreichen"),147
und nur über die Aufteilung des Restes verhandeln. Der Ministerrat vom
30. August akzeptierte das Prinzip des sogenannten Präzipuums und hörte
sich Beckes Berechnungen über die Quote und die Zinslasten der Staats¬
schuld an, faßte aber keinen Beschluß über konkrete Zahlen, das überließ er
den Deputationen.

   Zu der Zeit berieten die Deputationen bereits seit Wochen, zwar in Wien,
aber aufgrund des stets eifersüchtig beachteten Prinzips derParität auf un¬
garischem Hoheitsgebiet, im Gebäude der einstigen ungarischen Hof-
kanzlei. In dem Bärockpalais in der Bankgässe wirkte damals das Ministe- _
num am Ah. Hoflager. Üas an den Traditionen festhaltende Wiener Volk
konnte aber mit dieser Institution nichts anfangen und nannte es der Ein¬
fachheit halber „Hofkanzleiministerium".148 In der ungarischen Deputation
wurde die Regierung vom Finanz- und vom Handelsminister vertreten, in
der österreichischen von Finanzminister Becke und Innenminister Taaffe.
In den gemeinsamen Sitzungen der Deputationen erschienen auch die Mini¬
sterpräsidenten. Am 8. August stellten sich die beiden Deputationen einan¬
der vor, am 10. hielten sie ihre erste gemeinsame Besprechung ab.149 Die
Ungarn schlugen - mit langwieriger Begründung - als Basis für die Quoten¬
berechnung den Anteil vor, mit dem die Länder der ungarischen Krone sich
zwischen 1860 und 1865 an den von der Zentrale gedeckten staatlichen
Ausgaben tatsächlich beteiligt hatten (dies waren 25 % gewesen), erlaubten
aber in einer später übermittelten Botschaft auch eine davon abweichende
Berechnungsart. Nach Zeugnis von Lönyays Privataufzeichnungen hätte er
28,5 % für gerecht gehalten.150

   Daß man nicht die veranlagte, sondern die tatsächlich gezahlte Steuer¬
summe der Quotenberechnung zugrunde legte, wie die Ungarn anfangs ge¬
wünscht hatten, hielt die Reichsratsdeputation für unannehmbar. Es sei ja
bekannt, daß Anfang der 1860er Jahre außerordentlich wenig Steuern von
Ungarn eingegangen seien. Da die ungarische Deputation die Möglichkeit
einer andersartigen Quotenberechnung angeboten hatte, machte die Reichs¬
ratsdeputation Mitte September einen Vermittluhgsvorschlag: Man solle die

 PL    CSENGERY, HATRAHAGYOTT IRATAI £S FELJEGYZfiSEI 138.
       Könyi, Deäk Ferenc besz6dei, Bd. 5 223-224.
Cüe)   Die Neue Gesetzgebung Österreichs 719-729.
       CSENGERY, HATRAHAGYOTT IRATAI £S FEUEGYZfiSEI 95-138, DlE NEUE GESETZGEBUNG
  149  Österreichs 721-723. Lönyays Aufzeichnung: MTAK. Ms. 5303/22. Im Ministerrat
       vom 31. Juli hielt auch Becke die 28 %ige ungarische Quote für akzeptabel: MR. v.
  150  31. 7. 1867, MRZ. 168.
|| || UV Einleitung

direkten und indirekten Steuern der Periode 1860-65 berücksichtigen, aber
nicht diejenigen indirekten Steuern mitrechnen, die die beiden Partner in
sehr verschiedener Weise belasten.151 Demnach hätte sich Ungarn mit 31 %
an den gemeinsamen Ausgaben beteiligen müssen. Während sich bei der
Beteiligung an den gemeinsamen Lasten Meinungsunterschiede zwischen
den beiden Partnern ergaben, stimmten sie von vornherein darin überein,
daß die Vereinbarung für zehn Jahre geschlossen werden und eine frühere
Modifikation nur im Falle einer Änderung der Gebietsausdehnung erfolgen
solle. (Die territoriale Zugehörigkeit der Militärgrenze und Dalmatiens war
nämlich noch nicht geklärt.)

   Weit schwieriger schien eine Vereinbarung der Deputationen in Sachen
der Staatsschulden zu sein. Die Reichsratsdeputation würde sich in Sachen
des Beitrages zu den laufenden gemeinsamen Kosten und den Staats¬
schulden für „gleichzeitig und vereinbart" entscheiden und hielt „für alle in
Frage kommenden Aufgaben nur ein und dasselbe Beitragsverhältnis" für
akzeptabel.152 Die Ungarn trennten aus den obengenannten prinzipiellen
Gründen die laufenden Ausgaben von den Staatsschulden und äußerten, zu
den letzten nicht mit einer von Zeit zu Zeit wechselnden Quote, sondern
„mit einem für allemal zu bestimmenden unveränderlichen Betrage" beitra¬
gen zu wollen.153

   Im übrigen kam es im Laufe des Sommers nicht nur zum Austausch von
Botschaften, sondern auch zum wiederholten freien Gedankenaustausch der
beiden Deputationen.154

   Bis Mitte September war die Vereinbarung der Regierungen bezüglich
des finanziellen Ausgleichs fertiggestellt, und der Ministerrat behandelte
den Text der Note, die die Finanzminister den beiden Deputationen zukom¬
men lassen sollten.155 Die Note beruhte auf der Vöslauer Vereinbarung der
beiden Regierungen, also auf folgenden Grundprinzipien: 1. die beiden
Reichsteile tragen zu den gemeinsamen Angelegenheiten mit 70 bzw. 30 %
bei, 2. zur Bedeckung der jährlichen Erfordernisse der Staatsschuld werden
die Reichsratsländer eine Vorbelastung von jährlich 25 Millionen Gulden
übernehmen, und 3. der Rest zwischen den beiden Teilen wird im Verhältnis
der Quote verteilt werden.

151 Vorschlag vom 14. September: Die Neue Gesetzgebung Österreichs 743-744.
152 Botschaft der Reichsratsdeputation vom 19. August, ebd. 723-727.
153 15. September, ebd. 727 ff.
154 24., 26. August, ebd. 727; 25. September, ebd. 748-751.
155 12. September: Vöslauer Vereinbarung zwischen den beiden Finanzministem FA., Pr./

        1869 (Fase. 7.1/1) Nr. 4145. Nachträglich Unterzeichneten die Vereinbarung auch der
        ungarische und der cisleithanische Ministerpräsident, Andrässy und Beust. Diese Ver¬
        einbarung verhandelte MR. v. 15. 9. 1867, MRZ. 175.
|| || Einleitung  LV

   Darüber hinaus vereinbarten sich die beiden Finanzminister in Vöslau
auch darüber, daß bis zum 1. Mai 1868 beide Vertretungen eine „Vorlage
einbringen, deren Zweck die Umwandlung der bisherigen verschiedenen
Schuldtitel in eine einheitliche Rentenschuld mit Zugrundelegung des bis¬
herigen Zinsengenusses" sein solle. - Die beiden Regierungen beschließen
also die Unifizierung der Staatsschulden, weisen aber die von Lonyay
mehrmals und in verschiedenen Foren vorgeschlagene radikale Lösung der
Schuldenbehandlung zurück.

   Lonyay war nämlich der Meinung, daß das Gleichgewicht im Staats¬
haushalt nur durch Zinsenreduktion zu erreichen sei. Anfangs sympa¬
thisierte Becke mit Lönyays Überlegungen, führte auch Berechnungen über
die zu erwartenden Wirkungen einer Zinsenreduzierung durch, schrak aber
vermutlich vor den wahrscheinlichen Folgen zurück und formulierte im
August bereits ein großes Memorandum „Zinsenreduktion oder Wort¬
halten", dessen Kern war, daß die Zinsenreduzierung gleichbedeutend mit
der Ankündigung des Staatsbankrotts sei und nichts das Reich zwinge, sich

zu einem solchen Schritt zu entschließen.156
   Die Vöslauer Vereinbarung vom 12. September war ein Kompromiß,

nicht nur zwischen zwei Finanzkonzeptionen (d. h. in der Hinsicht, was
man mit den gewaltigen Staatsschulden machen solle), sondern auch ein
politischer Kompromiß. Die Minister einigten sich auf das Quotenver¬
hältnis, auf ein Präzipuum von 25 Millionen, im Tausch dafür, daß die
Ungarn 30 % der Schuldenzinslasten übernehmen und vor allem, daß die
Vereinbarungen ein geschlossenes Ganzes bilden und in der Art untrennbar
sind, daß die Zurückweisung eines Punktes durch die eine oder andere Par¬
tei das ganze Übereinkommen fällig machen würde.

   In der ungarischen Deputation stieß die Vöslauer Vereinbarung aber auf
derart großen Widerstand, daß Lonyay dort in der Deputationssitzung zu
versprechen gezwungen war, die Vereinbarung zu modifizieren: den von
den Staatsschulden zu übernehmenden Teil dem Wunsch der Deputation ge¬

mäß in einer fixen Summe festzulegen.

156 Die Regierung widersetzt sich auf das Entschiedenste jeder Idee eines offenen oder ver¬
       schleppt auftretenden Staatsbankrottes. Ordnung in den Finanzen mit gewissenhafter
       Erfüllung der Staatsverbindlichkeiten ist ihre Devise. Becke an Beust v. 3. 8. 1867
       HHStA., PA. XL, Karton 126. Rogge meint, Beckes einzige Ambition sei gewesen, sich
       der Intention des Hofes entsprechend mit den Ungarn zu einigen. Rogge, Österreich von
       Vilägos bis zur Gegenwart, Bd. 3 42 ff. - dies war offensichtlich die allgemeine Ansicht
       der deutschen liberalen Presse. Auch Beust erinnert sich in seiner Denkschrift vom
       31. August daran, wie viele Angriffe gegen Becke erfolgt seien. Denkschrift v. Beust v.

       31. 8. 1867 HHStA., Kab.Archiv, Geheimakten Karton 17.
|| || LVI Einleitung

   Es läßt sich darüber streiten, ob der Beitrag mit einer fixen Summe zu
den Schuldenlasten für Ungarn finanziell günstiger war.157 Nur ging es hier
nicht um Geldsummen, die Ungarn bestanden nicht auf finanziellen Vortei¬
len, sondern auf dem Prinzip, einem der Grundprinzipien des Ausgleichs,
daß sie nur aus Billigkeit, freiwillig einen Teil der Schuldenlasten überneh¬
men, den sie dann nach ihren eigenen Überlegungen tilgen. Man wollte so
die möglichst vollständige Absonderung des ungarischen Staatshaushaltes,
die Schaffung des Dualismus im Bereich der Finanzverwaltung, ermögli¬
chen. Man könnte auch sagen, daß in der Diskussion über die Aufteilung
der Staatsschuldenlasten die unterschiedliche Dualismus-Interpretation der
beiden Partner zum Ausdruck kam: Die Reichsratsdeputation verhandelte
Reichsangelegenheiten, zu denen die laufenden gemeinsamen Ausgaben
und die Staatsschulden gleicherweise gehörten, die ungarische Deputation
die gemeinsamen Angelegenheiten der beiden Staaten und bemühte sich,
den Kreis dieser Angelegenheiten möglichst eng zu halten.

   So geschah es also, daß die bereits geschlossene und sogar dem Herr¬
scher unterbreitete Vereinbarung unter dem Druck der Deputationen von
den Ministern erneut verhandelt und dann entsprechend der ungarischen
Forderung modifiziert wurde.158

   Der die Ausgleichsdebatten abschließende Abschnitt fand in den Parla¬
menten statt. Dort wiesen die Experten des Reichsrates - „unsere Finanz-

157 Deshalb diskutierte man um diesen Punkt: Vom Jahre 1868 angefangen leisten die Län¬
       der der ungarischen Krone zur Bedeckung der Zinsen für die bisherige allgemeine
       Staatsschuld einen dauernden, einer weiteren Änderung nicht unterliegenden Jahres¬
       beitrag von 29 105 000 Gulden. Diese Klausel wurde deshalb in die Vereinbarung auf¬
       genommen, daß Ungarn deklarierte, keine Solidarität in Sachen der Staatsschulden zu
       üben, aber sie konntefür Ungarn infolge einer eventuellen Zinsenverringerung nachtei¬
       lig werden. Darauf machte mich György Köver aufmerksam {vgl. Köv£r, A londoni
       tözsde 6s Ausztria-Magyarorszäg hitele 1868-1871). Mit dieser Möglichkeit rechnete
       man übrigens auch damals mehr oder weniger, dennoch wurde die Klausel verlangt.
        Vgl. Csengery, HAtrahagyott iratai £s feuegyz£sei passim. Der Finanzausschußbe¬
       richt des Reichsrates besagte: Nach dem Übereinkommen wird der jährliche Beitrag
       Ungarns zu den Zinsen der Staatsschuld um 7,5 Millionen Gulden geringer sein, als er
       sein müßte, wenn die Zinsenlast in dem gleichen Verhältnisse wie die Auslagen für die
       gemeinsamen Angelegenheiten geteilt würde. Redlich, Bd. 2 667.

158 Vereinbarung bezüglich der Staatsschuld v. 23. 9. 1867 FA., 2545 Pr./1867 (Fase. 11/8)
       Nr. 4914; Vereinbarung v. 25. 9. 1867 ebd. Nr. 5083. Ausgabe der Vereinbarung vom
       25. September: Die Neue Gesetzgebung Österreichs 751-753. Die neue Vereinbarung
       behandelte auch der Ministerrat: Protokoll des zu Wien am 28. 9. 1867 abgehaltenen
       Ministerrates unter dem Vorsitz v. Reust (Anwesend: Taaffe, Lönyay, Becke und Sek¬
       tionschef des Finanzministeriums v. Lackenbacher) FA., 2545 Pr./1867 (Fase. 11/8) Nr.
       4975. Den Ministerratsbeschluß unterbreitete Becke dem Herrscher: au. Vortrag v.
       Becke v. 28. 9. 1867 ebd.
|| || Einleitung  LVII

künstler", wie Becke sie nannte - im letzten Moment nach, daß in den
Berechnungen des ungarischen Beitrages zu den Staatsschulden ein Fehler
unterlaufen sei. Ungarn müsse in Wirklichkeit nicht 29,1, sondern 29,9 Mil¬
lionen zahlen. Becke wandte sich verzweifelt an Lonyay, in einem offi¬
ziellen, aber in persönlichem Ton gehaltenen Brief, er möge diese Modi¬
fizierung durch das ungarische Parlament bewilligen lassen, andernfalls
„kann alles in Frage gestellt werden". „Ich schreibe Ihnen, verehrtester
Kollege,... als bester Freund und Förderer des großen Werkes, für das ich in
den letzten sechs Monaten mit meinen besten Geisteskräften eingestanden
bin."159

   Uber die Parlamentsberatungen informierten sich dann die beiden Fi¬
nanzminister täglich,160 und in den Tagen vor Weihnachten konnten sie sich
gegenseitig zum Erfolg des großen Werkes gratulieren.

   Der wirtschaftliche Ausgleich war ein Kompromiß. Beide Finanzmi¬
nister suchten zu einer Einigung zu kommen. Beide waren sich über die
wirtschaftliche und politische Bedeutung der Konsolidierung des Staats¬
haushaltes der zur Verfassungsmäßigkeit übergegangenen dualistischen
Monarchie und darüber im klaren, daß sie einverständlich zu einer Verein¬
barung kommen müßten. „Wir haben miteinander gewetteifert, der eine wie
der andere, seinen eigenen Standpunkt durchzusetzen, ohne daß wir das
wirkliche gemeinsame Interesse der Monarchie aus den Augen verloren
hätten."161 Für Becke ergaben sich gewiß auch Konflikte mit den zentra¬
listisch eingestellten österreichischen Bürokraten. Aber er ertrug die Ankla¬
gen gegen seine Politik.162 Und immer wieder machte er sich in den heißen
Augusttagen von neuem an die Arbeit, mit seinem ungarischen Kollegen zu
einem gemeinsamen Standpunkt zu kommen.

   Auch auf ungarischer Seite dominierten die konzilianten Töne. „All¬
gemein war die Neigung und Bestrebung groß, sich aufjeden Fall darüber
zu vereinbaren, was unmöglich zu verhindern war" - stellt Ghyczy etwas

159 Becke an Lönyay v. 29. 11. 1867 VA., 2545 Pr./1867 (Fase. 11/8) Nr. 59\1. Lönyays Ant¬
       wort v. 1. 12. 1867 ebd. Nr. 5968, Lönyays erneuter Brief v. 6. 12. 1867 ebd. Nr. 6032:
       Vermutlich werde es gelingen, die größere Summe durch das ungarische Parlament be¬
       willigen zu lassen.

160 Das erbat Lönyay von Becke, Brief v. 6. 12. ebd. ad Nr. 5917. Vgl. die Telegramme des
       ungarischen Finanzministers nach Wien über die Ausgleichsberatungen des ungari¬
       schen Parlaments: Lönyay an Andrässy v. 21. 12. 1867 HHStA., PA. XL, Karton 126.

161 Lönyay, A bankügy 173.
162 Über Beckes Auffassung: Somogyi, Der gemeinsame Ministerrat der österreichisch-un¬

       garischen Monarchie 1867-1906 68 ff. Über die Anklagen gegen Becke: Lönyay, A
       bankügy 173-175. Auffällig war, daß zu dem Festessen, das Becke zu Ehren der beiden
       Deputationen gab, Ignaz Plener, der ehemalige Finanzminister, Mitglied der
       Reichsratsdeputation, nicht erschien. Das schrieb jedermann seiner prinzipiellen
       Meinungsdifferenz mit Becke zu. Csengery, HAtrahagyott iratai 6s feljegyz£sei 103.
|| || LVIII                                                         Einleitung

bitter fest.163 Kultusminister Eötvös beurteilte wie gewöhnlich die mit dem

Ausgleich verbundenen Verpflichtungen gefuhlsfrei. Bei Beginn der

Deputationsverhandlungen schrieb er an Lonyay: wenn wir so sehr

überzeugt sind, daß das Bestehen des Reiches zugleich die Voraussetzung

unseres eigenen Bestehens ist, dann sehe ich wahrhaftig nicht ein, warum

ein kluger Mann sich seinen Kopf über etwas anderes zerbricht als die Fra¬

ge: wieviel ist es, was wir opfern müssen, damit Österreich bestehen kann,

und wieviel ertragen wir, um nicht Österreich, sondern uns selbst zu ret¬

ten".164 Auch Deäk unterstützte mit seiner ganzen moralischen Autorität

das Vorgehen von Lonyay und Andrässy, er war sich sicher, daß es, wenn

auch unter Opfern, gelinge, die materiellen Fragen auszugleichen, dies für

das Land von großem Nutzen sein werde.165

Die Kompromißbereitschaft der Partner beweist am besten, daß sich kei¬

ner in staatsrechtlichen Gefechtsstellungen verschanzte. Die Ungarn be-

harrten nicht darauf, daß vor der Annahme der Delegationsgesetze durch

den Reichsrat keine Vereinbarung über Wirtschaftsfragen, vor allem nicht

über die Ungarn rechtlich nicht belastende Sache der Staatsschuld stattfin¬

den konnte. Und der Reichsrat akzeptierte de facto die Parität und die Insti¬

tution der Delegationen damit, daß er Ende Juni die Verhandlungsdepu¬

tation über Wirtschaftsfragen entsandte. In dem historischen Moment von

1867 suchten beide Partner aus Eigeninteresse den Kompromiß und führten

die Vereinbarung zum Erfolg.
   Was für einen gefühlsmäßigen Hintergrund jedoch dieser Kompromiß

hatte, wie unsicher und halbherzig die Partner die Vereinbarung auf sich

nahmen, das charakterisiert gut Csengerys Aufzeichnung über die feierliche

Schlußsitzung der beiden Deputationen vom 25. September: „Ein kurzer

Privatabschied, gegenseitige Grußworte folgten. Auf Wiedersehen in der

Delegation - sagte Lonyay zu Dr. Herbst. Der sich nun schon nach Deutsch-

land sehnende ZentraHst Herbst sagte mit verdrossener Miene nur: Viel¬

leicht wäre die reine Personalunion besser gewesen. - Beantragen Sie die¬

se! - warf ich ein,"166  ~

163 Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bd. 5 200-201.               ..

164 Eötvös ' Brief vom 14. August 1867 Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bdv5 166-167.

165 Könyi, Deäk Ferenc beszedei, Bd. 5 204, 229.  "     '  "

166 Csengery, HAtrahagyott iratai £s feljegyzEsei 175.
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