Vorwort - Retrodigitalisat (PDF)
Das Scheitern des österreichischen Bundesreformprojektes am Frankfurter Fürstentag (17. August 1863) war mehr als nur eine Niederlage in der deutschen Politik: Unmittelbar die Zollvereinsfrage, dann aber auch die österreichische Finanzpolitik und mit ihr im Zusammenhang die Verfassungsfrage mit ihren konstitutionellen und föderativen Aspekten wurden tangiert von diesem Mißerfolg.
Sehr unbestimmt, aber doch realistisch illustrieren die Ministerratsprotokolle des vorliegenden Bandes (15. Oktober 1863 bis 23. Mai 1864) diese starke Abhängigkeit der österreichischen Gesamtpolitik von der „deutschen Frage“. Es ging dabei nicht um den vielberufenen „Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland“ im Sinne der Sicherung oder Wiedergewinnung der österreichischen Prädominanz im Deutschen Bund. Nur der Leiter der deutschen Agenden im Außenministerium Ludwig von Biegeleben und einige im Reichsrat interpellierende deutsche Abgeordnete haben das Problem in diesem engen nationalen Sinn gesehen. Für den Außenminister Rechberg und die Ministerkonferenz waren allerdings die Zusammenhänge und Konsequenzen kein unmittelbar anstehendes Problem. Als der Kaiser es „für nötig“ fand, „die Haltung der kaiserlichen Regierung in der hochwichtigen und dringenden holsteinischen Angelegenheit einer Konferenzberatung zu unterziehen“ (MR. 23. November 1863), da brachten sowohl Franz Joseph wie Rechberg nur bundesrechtliche und diplomatische Argumente vor: Verpflichtung auf den Londoner Vertrag, Berücksichtigung Englands, Vorteil Preußens im Falle einer Abtretung Holsteins von Dänemark. Staatsminister Schmerling hat dagegen schärfer gesehen und auf das grundsätzliche Dilemma hingewiesen: Wer für eine deutschnationale Politik in Schleswig-Holstein war, der brachte auch Österreich in Gefahr. Denn nach derselben Logik einer „deutschen Einheit“ konnte man die Zerschlagung Österreichs fordern. So hat es Schmerling zwar nicht im Ministerrat gesagt, aber im „Botschafter“, der ihm nahestehenden Wiener Zeitung, verkünden lassen. Er und nicht Rechberg war damit der eigentliche geistige Nachfahre Metternichs und Schwarzenbergs.
Daß sich mit dem schleswig-holsteinischen Engagement Österreichs der Anfang vom Ende der österreichischen Deutschlandpolitik abzuzeichnen begann, diese Erkenntnis dämmerte den österreichischen Ministern nicht einmal andeutungsweise. Ob dabei Österreich wirklich den großen Versuch machte, mit Zielrichtung auf ein Tauschgeschäft mit Preußen (Schleswig-Holstein für Schlesien und Unterstützung bei der Wiedereroberung der Lombardei) seine verlorene historische Großmachtstellung wiederzugewinnen, wie Srbik meinte, oder ob Österreich dabei nur defensiv agierte, worauf Fritz Fellner hinwies, ist aus den Ministerratsprotokollen nicht zu beantworten. Sie bestätigen eher, was Ludwig von Přibram in seinen Erinnerungen schrieb: Man war sich „überhaupt nicht klar darüber, was man eigentlich wollte“ (Erinnerungen eines alten Österreichers, 1910, S. 131). Daß Rechberg und Biegeleben die Gefahr sahen, die das Bündnis mit Bismarck in sich barg, dafür enthalten die Protokolle auch keine Hinweise. Tatsächlich war aber die Alternative dazu, nämlich das Zusammengehen mit den deutschen K1ein-und MitteIstaaten und der Nationalbewegung und in deren Sinn die Vertreibung Dänemarks aus Schleswig-Holstein, für Österreich die größere Gefahr: Ein solches Bündnis hätte die europäischen Garantiemächte mobilisiert, Österreich hätte alle seine auswärtigen Alliierten verloren, Frankreich aber hätte „den willkommenen Anlaß“ erhalten, „Deutschland und Österreich zu bekriegen“ und „in Italien, Ungarn und Galizien die Revolution anzustacheln: Die Existenz des Kaiserstaates geriete somit in Gefahr“ (MR. 10. Jänner 1864). Die Erhaltung der Ruhe in Venetien und Galizien war allerdings ohnedies nur mehr mit militärischen Ausnahmebestimmungen zu sichern, und die Lage in Ungarn blieb gespannt. Die finanzielle Deckung nicht nur des normalen Staatserfordernisses, sondern der zusätzlichen militärischen Auslagen schaffte Finanzminister Plener durch Anleihen in London und Paris. Das war aber auch nur so lange sicher, als es gelang, die Garantiemächte über die wahren, für Preußen längst feststehenden Annexionsabsichten in Schleswig-Holstein zu täuschen. Auch wenn die wirklichen Komplikationen mit Preußen erst später einsetzten und deren Rückwirkungen auf die innere Lage in Österreich noch nicht wirksam waren, war die Ruhe und Sicherheit, mit der der österreichische Ministerrat agierte, doch eher erstaunlich.
Seit dem Erscheinen des letzten Bandes der Protokolle des österreichischen Ministerrates (Bd. V/5, 1990, nach Bd. V/6 1989) ist wirkI. Hofrat Dr. Gerhard Rill als Direktor des Haus-, Hof-und Staatsarchives in den Ruhestand getreten. Ihm gilt für die Großzügigkeit in Fragen der Archivbenützung ein besonderer Dank. Als Nachfolger im Amt des Direktors am Minoritenplatz gehört nun Hofrat DDr. Gottfried Mraz dem Komitee als Mitglied an. 1991 erschien der von Éva Somogyi/Budapest unter Mitarbeit von Inge Sieghart/Wien bearbeitete Band V der „Protokolle des Gemeinsamen Ministerrates der österreichisch-ungarischen Monarchie“ (1896 -1907). Das österreichische Komitee freut sich über diesen Erfolg sowie über den fruchtbaren Gedankenaustausch bei der Zusammenarbeit zwischen dem ungarischen und dem österreichischen Komitee.
Die Begutachtung des vorliegenden Bandes V/7 seitens des ungarischen Komitees hat dankenswerterweise Dániel Szabó vorgenommen, der die vorzügliche Forschung und die ausgezeichnete Analysemethode hervorhebt. Neben bibliographischen Berichtigungen und Ergänzungen hat der Gutachter auf ein doch wichtiges terminologisches Problem hingewiesen. Die österreichischen Bearbeiter, vermutlich nicht nur im vorliegenden Band, verwenden den Ausdruck „Österreich“ in verschiedener Bedeutung: teils für die Erbländer als Teile des Deutschen Bundes, teils aber auch für die gesamte Donaumonarchie. Der begründeten ungarischen Anregung, diese Begriffe genauer zu unterscheiden, wird sicher Rechnung getragen werden.
Den Institutionen, die das Unternehmen Ministerratsprotokolle unterstützten, sei im Namen der österreichischen und ungarischen Herausgeber auch diesmal gedankt: dem österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, dem Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und der Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien.
Klagenfurt, im September 1992