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Vorwort - Retrodigitalisat (PDF)

Zwischen der dramatischen Wende zum Konstitutionalismus 1861 einerseits und der 1863 mit dem Frankfurter Fürstentag einsetzenden großen außenpolitischen Krise andererseits lag für Österreich eine Periode der Konsolidierung. Die Jahreswende 1862/1863, wie sie im vorliegenden Band dokumentiert ist, markiert in diesem Sinn sicher einen Höhepunkt. Dem Bandbearbeiter, Dr. Stefan Malfèr, ist beizupflichten, wenn er als Gesamturteil formuliert: „Gewiß hätte im Dezember 1862 niemand begründet prophezeien können, daß die Monarchie gerade den halben Weg zwischen zwei Kriegen und zwei Niederlagen und eine ähnliche Wegstrecke zwischen der Gewährung der Verfassung und ihrer Sistierung zurückgelegt hatte.“ Sieht man etwas näher hin, und die Ministerratsprotokolle ermöglichen dies, sind allerdings durchaus die Gefahrenzonen erkennbar, die das Konsolidierungswerk von 1861 als begrenzte Leistung erkennen lassen: Der Ausbau der Februarverfassung, wie er von der Öffentlichkeit erwartet und von den liberalen Mitgliedern der Regierung angestrebt wurde, stieß deutlich auf den Widerstand des Kaisers, der von den konservativen Ministern Rechberg, Esterházy und Forgách gegen die Mehrheit des Ministerrates um Schmerling und Plener unterstützt wurde. Der Reichsrat, dessen erste Session im Dezember 1862 zu Ende ging, blieb infolge des Fernbleibens der Ungarn, Kroaten und Italiener und des teilweisen Auszuges der Tschechen und Polen in seiner Kompetenz begrenzt. Die bedeutendste 1862/63 zu einem Abschluß gebrachte Materie, das Übereinkommen zwischen Staat und Nationalbank (Bankakte, 14. Jänner 1863) war unter diesem Gesichtspunkt nur ein Provisorium. Und in den seit 1848 nachwirkenden Nationalitätenfragen konnte kein Fortschritt erzielt werden, weil die meisten von ihnen Rechte der Krone Ungarns tangierten und weil mit der nationalungarischen Opposition trotz eines bedeutenden Verhandlungsangebotes noch kein Kompromiß gefunden werden konnte. Trotz dieser Krisenmomente berechtigten die allgemeine Lage und die erbrachten Leistungen zu vorsichtig optimistischen Zukunftshoffnungen. Der Staatshaushalt war geordnet. Das Angebot der Ungarn enthielt im Prinzip bereits die Ausgleichslösung von 1867. Die Polen begannen, sich angesichts der Erfahrung aus dem Aufstand in Rußland einer konstruktiven Zusammenarbeit mit Wien zuzuwenden. Die zunächst noch einmal festgehaltene und vom Kaiser sanktionierte Schmerlingsche Reichsidee war zwar nicht durchsetzbar, das war schon klar abzusehen. Aber sie bildete doch den notwendigen Fixpunkt für Kompromisse, in deren Rahmen die Reichseinheit prinzipiell erhalten werden konnte.

Wie üblich lag auch der vorliegende Band dem ungarischen Komitee zur Begutachtung vor. Gábor Erdody hat dankenswerterweise eine Stellungnahme verlaßt. Er findet besonders hervorhebenswert, daß in der behandelten Periode die Verhältnisse in Österreich „durch politische Stabilisierung, Gesetzgebung, wirtschaftliche Konsolidierung und allgemeinen Fortschritt“ bestimmt waren, während „die Prozesse in Ungarn“ und die ungarische Frage allgemein „weiterhin von Stagnation und Machtkämpfen“ geprägt waren. Als Beleg für den großen Grad an Übereinstimmung zwischen der heutigen ungarischen und österreichischen Geschichtswissenschaft in den früher heftig umstrittenen Fragen des Verhältnisses zwischen österreichischer Reichspolitik und ungarischer Nationalpolitik darf der Satz gelten: „Die Erläuterungen und Feststellungen berühren die ungarische nationale Empfindlichkeit absolut nicht negativ, mit ihrem Ideengehalt und Inhalt können wir uns ohne Probleme einverstanden erklären.“

Der vorliegende Band V/5 wurde parallel zum Folgeband V/6 bearbeitet und herausgegeben. Zusammen mit den noch geplanten und zum Teil schon bearbeiteten Bänden 7 bis 9 wird nach der Abteilung VI (Ministerium Belcredi 1865-1867) eine zweite Abteilung (die Ministerien Rainer und Mensdorff 1861-1865) zu einem Abschluß gebracht werden. Auch die zweite Serie, die Reihe der von den ungarischen Kolleginnen und Kollegen unter Mitarbeit des österreichischen Komitees bearbeiteten Protokolle des gemeinsamen Ministerrates 1867-1918, ist um einen bedeutenden Schritt weitergekommen. Nach dem bereits in Druck befindlichen Band von Éva Somogyi über die Jahre 1896 bis 1907 liegt nun auch das Manuskript von István Diószegi über die Jahre 1883 bis 1895 vor. Jenen Institutionen, die wie bisher das Unternehmen Ministerratsprotokolle unterstützen, ist im allgemeinen sowie für die Subventionierung der Drucklegung dieses Bandes im Namen des österreichischen und des ungarischen Herausgeberkomitees und der Mitarbeiter zu danken – dem österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, dem Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und der Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien.

Klagenfurt, im Mai 1990