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Vorwort - Retrodigitalisat (PDF)

|| S. 7 PDF || Die Durchführung des am 20. Oktober 1860 erlassenen kaiserlichen Diploms und der vielen Handschreiben, die es begleiteten, ist das zentrale Thema dieses dritten und letzten Bandes der Ministerkonferenzprotokolle des Kabinetts Rechberg. Die Umsetzung des Oktoberdiploms erwies sich als ein vielschichtiger, überaus komplizierter politischer Prozeß. Er ging weit über das hinaus, womit man das Oktoberdiplom gemeinhin assoziiert, nämlich daß es ein halbherziger und daher rasch gescheiterter Verfassungsversuch gewesen sei. Der politische Prozeß umfaßte die Änderung von Verwaltungsstrukturen, die Ernennung leitender Funktionäre, die Ausarbeitung weiterer Landesstatute und des Statutes für den zukünftigen Reichsrat, die Entscheidung, nach welchen Wahlordnungen die Landtage einzuberufen waren, die Klärung mehrerer Territorialfragen und die Vorbereitungen zur Einberufung der Landtage und des Reichsrates. Viele Entscheidungen, die damals getroffen wurden, haben lange oder sehr lange nachgewirkt. Der vielfältige Prozeß wurde noch kompliziert durch den Umstand, daß einige grundsätzliche Festlegungen des Diploms von zwei politischen Gruppierungen heftig kritisiert und abgelehnt wurden. Die Liberalen in den deutsch-slawischen Kronländern kritisierten die Bevorzugung Ungarns und die zu geringen Kompetenzen der cisleithanischen Landtage, die Liberalen in Ungarn lehnten die Errichtung der alten Hofämter ab und forderten ein verantwortliches ungarisches Ministerium nach den Gesetzartikeln von 1848. Außerdem verletzte das Diplom ihrer Ansicht nach die Integrität Ungarns. Um einem innenpolitischen Zweifrontenkrieg zu entgehen, und aus ökonomischer Not heraus, gab der Kaiser den Deutschliberalen nach, entließ im Dezember 1860 Graf Agenor Gołuchowski, der zugleich mit dem Diplom vom gesamtstaatlichen Innenminister zum nur für Cisleithanien zuständigen Staatsminister geworden war, und ernannte die liberale Galionsfigur Anton Ritter v. Schmerling zum Staatsminister. Schmerling gewann das Vertrauen des Kaisers und führte das Diplom – konkret die ausständigen Landesordnungen und das Reichsratsstatut – im Sinn seiner Partei durch. Ergebnis war das Februarpatent mit dem Grundgesetz über die Reichsvertretung und mit den neuen Landesordnungen, die weit über die vom Kaiser ursprünglich beabsichtigten Zugeständnisse hinausgingen. In Ungarn wurde trotz der heftigen Kritik aus dem Land die Politik fortgesetzt, und die ungarischen „Oktobermänner“ blieben fest im Sattel. Die ungarische Politik wurde erst ab dem Sommer 1861 geändert, und zwar nicht durch neue Zugeständnisse, sondern mit der Auflösung des ungarischen Landtags und mit der Einführung des Provisoriums in restriktivem Sinn. Diese Ereignisse fallen bereits nicht mehr in die Ministerpräsidentschaft Rechbergs, sondern in die Zeit des am 4. Februar 1861 ernannten Kabinettsvorsitzenden Erzherzog Rainer. Sie sind in den schon publizierten Bänden der 5. Abteilung, Ministerien Erzherzog Rainer und Mensdorff, dokumentiert.

Die Umsetzung des Oktoberdiploms führte zu z. T. erregten Diskussionen in der Minister­konferenz. Der vorliegende Band dokumentiert und erhellt eine kurze, aber politisch || S. 8 PDF || hochwichtige Etappe der Geschichte Österreichs auf dem Weg zum konstitutionellen Staat. Kurzfristig erwies sich das Diplom als wenig erfolgreich, doch wurden viele Detailmaßnahmen tatsächlich umgesetzt, und insgesamt ist die Politik den Wegen gefolgt, die es gewiesen hat: Rückkehr zu verfassungsmäßigen Zuständen, Teilnahme des Reichsrates und der Landtage an der Gesetzgebung und Zuweisung vieler Agenden an die Länder.

Der Band wurde selbstverständlich so wie alle bisherigen vor der Drucklegung den ungarischen Partnern der Edition mitgeteilt. Den ungarischen Kolleginnen und Kollegen sei an dieser Stelle für Rat und Hilfe, insbesondere auch bei der Benützung von Archivalien des Ungarischen Staatsarchivs herzlich gedankt.

In bezug auf die Organisation des Editionsunternehmens sind zwei Änderungen anzuzeigen. Am 31. Dezember 2006 hat das Österreichische Ost- und Südosteuropa-Institut – zum Bedauern nicht nur der Betroffenen, sondern auch der Scientific Community – seine Pforten geschlossen. Diesem im Jahre 1958 gegründeten außeruniversitären und interdisziplinären Forschungsinstitut hat das Bundesministerium für Unterricht am 13. Juni 1967 die Durchführung der Verwaltungsarbeiten der Edition übertragen, während die wissenschaftliche Leitung und die Herausgeberschaft der 1. Serie vom „Österreichischen Komitee für die Veröffentlichung der Ministerratsprotokolle“ wahrgenommen wurde (siehe das Vorwort zum Einleitungsband der Edition). 1993 hat das Institut auch die Herausgeberschaft der 1. Serie übernommen, als das österreichische und das ungarische Herausgeberkomitee in den gemeinsamen wissenschaftlichen Beirat umgewandelt wurden (siehe das Vorwort zum Band III/5). Nach der Schließung des Instituts mußte eine andere Lösung gefunden werden. 2008 hat das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung die Fortführung der Edition in die Hände der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gelegt, die somit die Herausgeberschaft übernimmt.

Zugleich hat der Österreichische Bundesverlag Schulbuch GmbH & Co. KG der Akademie der Wissenschaften angeboten, die Reihe in ihren Verlag zu übernehmen. Die ÖAW hat dieses Angebot angenommen. So sind nun sowohl die Herausgabe der noch ausstehenden Bände als auch der Vertrieb aller, auch der bisher im Verlag ÖBV erschienenen Bände in den Händen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Allen, die sich im Verlauf dieser organisatorischen Änderungen dafür eingesetzt haben, daß die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Arbeiten und für die baldige gute Beendigung der Edition, sowohl finanziell als auch logistisch, geschaffen werden, sei an dieser Stelle aufrichtig gedankt, insbesondere Sektionschef Dr. Peter Kowalski und seinem Stab im Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung sowie dem Präsidium der ÖAW und der Verwaltungsstelle der philosophisch-historischen Klasse. Es ging darum, die Edition, deren wissenschaftlicher Wert durch viele Rezensionen stets von neuem bestätigt wird, abzusichern. Alle Interessierten dürfen sicher sein, daß die Edition zu einem guten Ende gebracht werden wird.

Schließlich sei hier noch die erfreuliche Nachricht mitgeteilt, daß der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich, der die Edition dankenswerterweise stets unterstützt hat, ein Nachfolgeprojekt bewilligt hat, das die Edition der Protokolle des österreichisch-cisleithanischen Ministerrates (soweit sie erhalten sind – der Bestand gehört leider zu den Brandakten) zum Gegenstand hat.

Wien, im August 2008