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Nr. 10a Ansprache des Ministers für Kultus und Unterricht Graf Thun über das Rechtsstudium, Wien, 11. Mai 1852 (Beilage zu: MRP-1-3-01-0-18520513-P-0010.xml) - Retrodigitalisat (PDF)

  • Konzept in der Handschrift Thuns als Beilage zum Originalprotokoll v. 13. 5. 1852; zahlreiche, jedoch den Sinn nicht ändernde Korrekturen; zum sachlichen Zusammenhang siehe die Diskussion in der MK. v. 13. 5. 1852//, ebd. Literaturhimveise; siehe auch Walter , Nachlaß Kübeck 94 (Tagebucheintragung v. 15.5. 1852).

MRZ. – KZ. –

Mit wahrer Freude habe ich dem festlichen Akte beigewohnt, durch welchen Ihr mühevolles Streben, in die Zahl der Doktoren dieser altehrwürdigen Hochschule aufgenommen zu werden, belohnt worden ist. Ich habe ihm beigewohnt im Ah. Auftrage unseres Herrn und Kaisers und überreiche Ihnen als einen Beweis der Teilnahme Sr. Majestät an Ihren wissenschaftlichen Erfolgen und zum Andenken an Dieselbe dieses Zeichen der Ah. Gnade. Empfangen Sie zugleich meinen herzlichen Glückwunsch. Ich füge ihm den aufrichtigen Wunsch bei, daß ich bald Zeuge Ihrer weiteren Fortschritte auf der Bahn sein möge, in welche Sie hiermit eintreten.

Ich habe vernommen, daß Sie dem Dienste der Wissenschaft treu bleiben und nach einem Lehramte des bürgerlichen Rechtes streben wollen und freue mich herzlich dieses Entschlusses. Wir leben in einer Periode der österreichischen Geschichte, in welcher diese Aufgabe eine schönere und größere geworden ist, als sie seit langem gewesen. Das ABGB., dieses mit Recht berühmteste Rechtskompendium der neueren Zeit, ist gleichwohl wie jedes menschliche Werk nicht frei von Mängeln. Es ist hervorgewachsen aus dem Boden einer philosophischen Schule, die damals fast allgemein herrschte, über die aber seitdem die Wissenschaft hinweggeschritten ist; aus einer Schule, die das bürgerliche Recht nicht sowohl als die auf höhere sittliche Gesetze gegründete Ordnung geschichtlich gegebener tatsächlicher Verhältnisse, sondern vielmehr als das Produkt der Spekulation des menschlichen Verstandes betrachtete. Diese Auffassung hat die österreichische Jurisprudenz losgerissen von ihren historischen Grundlagen. Nicht nur hat das ABGB. selbst sich den Anschein gegeben, als ob es jede Rücksicht auf die Rechtsgeschichte beiseite setze, indem es sogar als Subsidiarquelle der richterlichen Entscheidung nicht jene Rechtssysteme anerkannt, aus denen der Inhalt seiner Paragraphe entnommen ist, sondern gleichzeitig ist auch das Rechtsstudium in Österreich nur auf die positiven Gesetze und auf das trügerische Nebelbild des sogenannten Naturrechtes beschränkt worden. Das römische Recht, diese unerschöpfliche Fundgrube juridischen Scharfsinnes, der die wichtigsten Begriffe des österreichischen Rechtes entlehnt sind, wurde in dem österreichischen Studienplane im kümmerlichsten Ausmaße nur einstweilen noch geduldet für so lange, als es noch bei Entscheidung älterer Prozesse faktische Geltung haben werde. Das germanische Recht, eine andere wichtige Grundlage der österreichischen Gesetzgebung, wurde gänzlich beseitigt. Von den einheimischen Elementen, die das ABGB. in sich aufnahm, wurde keine Spur bewahrt. Diese Mißgriffe konnten nicht ohne Nachteil für die Rechtswissenschaft in Österreich bleiben. || S. 66 PDF || Während in Deutschland durch den großen Rechtslehrer Savigny und andere eine mächtige Schule begründet und die Rechtsgelehrsamkeit wahrhaft gefördert wurde, während diese Schule auch in Frankreich eine tiefere Bearbeitung des dortigen Rechtes hervorrief, mußte die juristische Literatur Österreichs in bedauerlicher Weise zurückbleiben. Seit des berühmten Pratobevera Materialien erschienen sind1, hat sie fast nichts aufzuweisen als Handbücher für den praktischen Gebrauch. Wir sind aufgewachsen in blinder Anbetung des ABGB. Wir lernten es nicht betrachten als das, was es ist und allein sein konnte, ein vortreffliches Kompendium, ein sehr gelungener Anfang zu einer gemeinsamen österreichischen Rechtsentwicklung, sondern als ein juridisches Evangelium. Statt es kritisch zu beleuchten, seine Genesis und seine Wirkungen auf die heimischen Rechtszustände zu studieren und so das begonnene Werk österreichischer Gesetzgebung wissenschaftlich weiter zu fördern, haben wir uns vor dem ABGB. wie vor einem Götzen in stummer Verehrung niedergeworfen und eine Generation nach der anderen in ihrer juridischen Bildung beschränkt auf die 1500 Paragraphe und auf die "natürlichen Rechtsbegriffe", die der Verstand jedes einzelnen nach seinem Belieben gestaltet. Aus diesem Zustande des juridischen Schlafes hat uns das verhängnisvolle Jahr 1848 aufgerüttelt. Nachdem es mehr als einen Paragraph gewaltsam umgestoßen, nachdem es uns tatsächlich bewiesen hat, wie nahe die Gefahr liegt, durch die Berufung auf hohle Phrasen des sogenannten Naturrechtes zu den größten Ungerechtigkeiten verleitet zu werden, haben sich aus jener Zeit allgemeiner Verwirrung Ereignisse entwickelt, die auch unserer Jurisprudenz notwendig neue Richtungen geben müssen. Das religiöse Bewußtsein ist in Europa wieder lebendig geworden und fordert seinen Anteil an der Ordnung von Familienverhältnissen, die bei allen gesitteten Völkern auf religiöser Grundlage beruhten und nur auf ihr beruhen können. Dem Einflusse unserer Gesetze öffnen sich weite Länder, deren Zustände von den unserigen großenteils sehr verschieden sind. Ungarn, wo sich die Rechtsbegriffe nicht auf Grundlage des römischen Rechtes entwickelt haben, Siebenbürgen, wo die verschiedenartigsten Rechtssysteme nebeneinander Geltung haben, die südslawischen Länder, wo noch Generationen in patriarchalischer Gemeinschaft die Autorität eines Familienhauptes anerkennen. Der Lehrer des bürgerlichen Rechtes in Österreich wird künftig auch für alle diese Länder Richter, Advokaten und Rechtslehrer zu bilden haben. In der Tat eine Anregung, tiefer einzudringen in das Wesen der Rechtsinstitute und der Rechtsbegriffe, wie sie bisher nicht dagewesen ist. Und während so die Aufgabe des österreichischen Juristen in hohem Grade an Wichtigkeit und Interesse gewinnt, ist zugleich seine Stellung auf der Lehrkanzel und als Schriftsteller eine ungleich freiere und lohnendere geworden. Seiner Vorsehung und seiner Wirksamkeit sind nicht mehr enge Grenzen vorgezeichnet, sondern er ist berufen, die Wissenschaft zu pflegen, die ewig unerschöpfliche und unvollendete. Die Liebe zu ihr erfülle Ihre Seele und gebe Ihnen Mut und Ausdauer zu unermüdlicher Fortsetzung Ihrer Studien und Ihrer Leistungen auf der Bahn, die Sie ehrenvoll betreten haben.