Nr. 601 Ministerrat, Wien, 5. Oktober 1871 - (PDF)
RS.Reinschrift und bA.; P. Weber; VS.Vorsitz Hohenwart; BdE.Bestätigung der Einsicht und anw.anwesend (Hohenwart 5. 10.) Holzgethan 12. 10., Scholl 12. 10., Jireček 14. 10., Schäffle 16. 10., Grocholski 18. 10.; abw.abwesend Habietinek.
- I. Schluss der Landtagssession.
- II. Vertrauensadressen aus Böhmen.
- III. Schlesisches Realschulgesetz.
|| || Protokoll des zu Wien am 5. Oktober 1871 abgehaltenen Ministerrates unter dem Vorsitze Se. Exzellenz des Herrn Präsidenten des Ministerrates und Ministers des Innern Grafen Hohenwart.
I. Schluss der Landtagssession - (PDF)
I. ℹ️ Der Präsident des Ministerrates bringt die Festsetzung des Schlusstermins für die gegenwärtige Landtagssession zur Sprache1. Die Mehrzahl der Landtage || || sei in ihren Arbeiten so weit vorgeschritten, dass die Session ohne Schwierigkeit jeden Tag geschlossen werden könnte. In den meisten sei nur noch die Wahl der Abgeordneten in den Reichsrat ausständig; und wenn auch die Schlussfassung über die Landtagswahlordnungen noch nicht erfolgt ist, so befinden sich die Verhandlungen darüber doch in einem Stadium, dass sie dort, wo man auf die Regierungsvorlage überhaupt eingehen will, im Laufe dieser Woche zu Ende geführt werden können.
Er beabsichtige von Sr. apost. Majestät die Ah. Genehmigung zu erbitten, dass die Landtage spätestens mit 15. Oktober l. J. im Ah. Auftrage geschlossen werden dürfen. Gleichzeitig wolle er die Ah. Ermächtigung einholen, im Falle dies nach Anzeige der Statthalter in einzelnen Landtagen möglich sein sollte, auch einen frühern || || Termin aussprechen zu dürfen. So werde in einer gestern eingelangten Nachricht für Oberösterreich vom Statthalter im Einvernehmen mit dem Landeshauptmann die Schließung der Session für den 12. Oktober beantragt2. Von Istrien sei bereits vor längerer Zeit die Anfrage gestellt worden, ob ein Anstand obwalten würde, dass der Landeshauptmann nach Abwicklung der laufenden Geschäfte zur Schließung schreite, worauf erwidert wurde, dass dem Landeshauptmann nach der Landesordnung freistehe, die Session zu schließen, wenn die Geschäfte beendet sind3. Auch in anderen Landtagen dürfte ein früherer Termin möglich sein, vielleicht auch in jenem von Niederösterreich, der zwar noch nichts gearbeitet hat, aber auch nichts arbeiten will und sich einfach als ein Agitationskomitee geriert.
Minister Ritter von Grocholski stellt die Frage, ob nicht auch || || gleichzeitig die Ah. Ermächtigung erbeten wird, einzelnen Landtagen eine etwas längere Sessionsdauer zu gestatten.
Der Präsident des Ministerrates erwidert, dass diese Bitte in dem gegenwärtigen au. Vortrage wohl nicht ausgesprochen wird, wenn aber ein Landtag einen solchen Wunsch ausspräche und die dringende Notwendigkeit wirklich vorläge, von Sr. Majestät die Ermächtigung zur Verlängerung der Session auf einige Tage im kurzen Wege erbeten würde. Im Allgemeinen wäre aber von der Festsetzung des Schlusstermins vom 15. Oktober nicht abzugehen, weil daran gelegen ist, den Reichsrat noch in diesem Monate, und zwar am 28., spätestens 30. Oktober l. J. einzuberufen.
Die Konferenz erteilt einhellig ihre Zustimmung zu der vom Präsidenten des Ministerrates beabsichtigten au. || || Bitte um die Ah. Ermächtigung, die Session der Landtage am 15. Oktober, und wo es möglich ist, auch schon früher schließen zu dürfen4.
II. Vertrauensadressen aus Böhmen - (PDF)
II. ℹ️ Dem Präsidenten des Ministerrates ist eine von den Gemeindevorständen der deutschen Gemeinden des Bezirkes Neupaka (Gemeinde Stikau, Radkin, Groß Borowitz, Stupna, Widach und Böhmisch-Proschwitz) unterzeichnete Erklärung eingesendet worden, worin dem lebhaften Wunsche nach einem einträchtigen Zusammenleben beider Nationalitäten in Böhmen, dem vollen Vertrauen in die zur Erreichung dieses schönen Ziels von Sr. Majestät betretenen Wege und der Missbilligung des Austritts der deutschen Abgeordneten aus dem Landtage Ausdruck gegeben wird.
In einer ähnlichen Adresse wird seitens des Stadtverordnetenskollegiums in Klattau Sr. Majestät der au. || || Dank für die hochherzige Anerkennung der Rechte des Königreichs Böhmen und für die persönliche Einleitung der Ausgleichsverhandlungen ausgesprochen und beigefügt, dass nicht nur die böhmische Bevölkerung der Stadt und Umgebung den endlichen Abschluss des Ausgleichs willkommen heißt, sondern auch die deutsche Bevölkerung des Böhmerwaldes gegen jede Verhetzung sich sträubt, den Ausgleich herbeiwünscht und nur durch den Terrorismus der ausgleichsfeindlichen Partei verhindert wird, dieser Überzeugung auch öffentlich Raum zu geben. Eine weitere Eingabe zeigt den Beschluss der Bezirksvertretung des gemischten Bezirkes Starkenbach an, Sr. Majestät für das eine neue Ära des Friedens und der Eintracht anbahnende Ah. Reskript vom 12. September an den böhmischen Landtag den tiefsten Dank darzubringen. Der Präsident des Minister|| || rates teilt vorstehende drei Adressen der Konferenz mit und wird selbe dem Protokolle beischließena .
Weiter eröffnet der Präsident des Ministerrates, dass in einem Berichte des Statthalters in Böhmen der Vorstand der Gemeinde Pardubitz die Bitte gestellt hat, es möge der Ausdruck der tiefgefühlten Freude derselben über die Ag. Anerkennung der Rechte der böhmischen Krone, welche in der Ah. Botschaft an den böhmischen Landtag ausgesprochen wurde, zur Ah. Kenntnis gebracht werden, dass ferner laut Anzeige des Leitomischler Bezirkshauptmanns an den Statthalter aus Anlass der Wahl eines Landtagsabgeordneten für die Städte und Industrialbezirke Leitomischl und Polička von den versammelten Wählern eine Dankesovation für das Ah. Reskript vom 12. September 1871 dargebracht und dem Ministerium rücksichtlich der einge|| || schlagenen Ausgleichspolitik das vollste Vertrauen und Anerkennung mit der Bitte ausgesprochen wurde, der lf. Kommissär möge diese Loyalitätskundgebungen der Regierung zur Kenntnis bringen.
III. Schlesisches Realschulgesetz - (PDF)
III. ℹ️ Dem Minister für Kultus und Unterricht liegt ein aus der vorigen Landtagssession herrührender, vom schlesischen Landtage beschlossener Gesetzentwurf vor, welcher den Religionsunterricht in den Realschulen zum Gegenstande hat6.
Nach § 8 des schlesischen Realschulgesetzes hat die Religion und Sittenlehre einen Unterrichtsgegenstand zu bilden, und dürfen auf denselben in der Unterrealschule höchstens zwei, in der Oberrealschule höchstens eine Stunde wöchentlich verwendet werden7. In dem || || vor[liegenden] Gesetzentwurfe nun ist die für den Realunterricht in den Oberrealklassen vorbehaltene eine Stunde gestrichen beziehungsweise der § 8 dahin modifiziert, „dass für diesen Lehrgegenstand in der Unterrealschule höchstens zwei Stunden wöchentlich zu verwenden sind“. In der Motivierung wird diese Modifikation als eine Konsequenz der interkonfessionellen Gesetze hingestellt, die Frage aber, ob sie im Interesse der Schule liegt, nicht mit einem Worte berührt. Der Kultus- und Unterrichtsminister bemerkt, er könne diese Anschauung nicht als berechtigt ansehen, wornach man aus der Bestimmung der Staatsgrundgesetze, dass nach vollendetem 14. Lebensjahre der Übertritt von einem Religionsbekenntnisse zu einem anderen freisteht8, die Folgerung ziehen will, dass jeder im Alter von mehr als 14 Jahren gar keinen Religionsunterricht zu genießen []. Der Religionsunter|| || richt in der Oberrealschule sei ohnehin schon auf eine Stunde in der Woche beschränkt und beenge gewiss den übrigen Unterricht in keiner Weise. Bei den Gymnasien sei der Grundsatz, dass der Religionsunterricht durch alle Klassen zu dauern habe, immer festgehalten worden, die Religion bilde da sogar einen Gegenstand der Maturitätsprüfung; in den Realschulen sei aber dadurch, dass die Gesetzgebung in den Händen der Landtage liegt, bin mehreren Ländernb der Religionsunterricht aus obern Klassen entfernt worden9. Der schlesische Landtag wolle den andern Landesvertretungen an liberaler Anschauung nicht nachstehen. Er sehe aber keinen Grund, in Schlesien dasselbe zu tun, was in andern Ländern geschehen, und beabsichtige daher, da für die gedachte Änderung keine didaktischen und pädagogischen Rücksichten geltend gemacht worden sind, bei Sr. Majestät den au. Antrag auf || || Verweigerung der Sanktion für den obenerwähnten Gesetzentwurf zu stellen.
Der Finanzminister kann sich, so sehr er anerkennt, dass die Ausschließung des Religionsunterrichtes aus den obern Realschulklassen vom Übel ist, angesichts der bereits erfolgten Ah. Sanktionierung gleicher Bestimmungen in anderen Ländern nicht für die Verweigerung aussprechen. In der Sanktionierung gleicher Gesetze für andere Länder liege ein Präjudiz, welches von der Regierung ohne sich dem Vorwurf der Inkonsequenz auszusetzen nicht leicht bei Seite gesetzt werden kann.
Auf die Bemerkung des Kultus- und Unterrichtsministers, das Präjudiz rühre von der früheren Regierung her, erwidert der Finanzminister, dass auch die nachfolgende Regierung eine gewisse Kontinuität einhalten müsse.
|| || Der Präsident des Ministerrates bemerkt, dass auch er, wenngleich er mit dem Unterrichtsminister darin vollkommen übereinstimmt, dass es notwendig ist, den Religionsunterricht auch über das 14. Lebensjahr hinaus fortzusetzen, es gegenüber den schon vorhandenen mehreren Präzedenzfällen schwer finden würde, für ein Land die Ah. Sanktion zu verweigern.
Der Handelsminister würde, falls kein rechtliches Bedenken obwaltet, darin keine Inkonsequenz erblicken, dass, wenn die frühere Regierung nach ihren Anschauungen von der Sache auf die Sanktionierung einzuraten fand, das gegenwärtige Ministerium auf Grund seiner anderen Anschauungen über den Religionsunterricht die Nichtsanktionierung beantragt.
Der Kultus- und Unterrichtsminister ist der Ansicht, dass auch ein rechtliches Bedenken || || an der Nichtsanktionierung nicht obwalte. Nach dem Staatsgrundgesetze könne niemand zu einer kirchlichen Handlung gezwungen werden, soferne er nicht der nach dem Gesetze hiezu berechtigten Gewalt eines andern untersteht10. Wer aber in eine Schulanstalt eintritt, nehme das Programm derselben an und füge sich mittelst eines stillschweigenden Vertrages der höheren Gewalt.
Der Präsident des Ministerrates ist prinzipiell des Erachtens, dass das Gesetz überhaupt auf eine Feststellung der Lehrstunden, welche einzelnen Gegenständen zuzuweisen sind, gar nicht einzugehen hätte. Dies sei Sache des Lehrplanes, der nicht im legislativen Wege festgestellt werden kann. Diesen Standpunkt habe selbst das Ministerium Hasner ursprünglich vertreten. Die Ah. Sanktionierung des vorliegenden Gesetzentwurfes könnte daher mit Hinweisung auf den Um|| || stand, dass sich das Ministerium durch die vorhandenen Präzedenzfälle gebunden erachtet, wohl beantragt, zugleich aber beigefügt werden, dass das Ministerium mit einer allgemeinen Bestimmung in der Richtung hervorzutreten gedenke, dass die Festsetzung der Lehrstunden aus den Gesetzen eliminiert und dem Lehrplan zugewiesen werde. Der Präsident des Ministerrates bemerkt weiter, dass die vorliegende Frage vielleicht auch in der Art ihre Lösung finden könnte, dass die Verweigerung der Ah. Sanktion aus dem Grunde beantragt wird, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass die legislative Feststellung des Lehrplanes unpraktisch ist, weshalb das Ministerium sowohl dort, wo die Organisierung bereits erfolgt ist, auf die Ausscheidung von in den Lehrplan gehörigen Bestimmungen aus dem Gesetze als auch dort, wo sie noch nicht erfolgt ist, auf die || || Nichtaufnahme des Lehrplanes in das Gesetz dringen werde.
Der Kultus- und Unterrichtsminister teilt die Ansicht des Präsidenten des Ministerrates, dass der Lehrplan kein Gegenstand des Gesetzes sei, im vollen Maße und erklärt sich dafür, dass die Sanktion aus diesem Grunde zu verweigern wäre. Dabei würde er sich vorbehalten, die vom Präsidenten erwähnte legislative Bestimmung vorzubereiten.
Der Minister Ritter v. Grocholski spricht sich für die Erteilung der Ah. Sanktion aus. Es handle sich nicht um die Bestimmung, dass in den oberen Realklassen kein Religionsunterricht zu erteilen sei, sondern bloß um die Aufhebung der obligatorischen Bestimmung, dass der Religionsunterricht stattzufinden habe. Im ersteren Falle würde er allerdings nicht für die Sank|| || tionierung sprechen können. Ein Religionsunterricht von einer Stunde per Woche sei geradezu zwecklos, entweder müsse die Religion als Lehrgegenstand angesehen und wirklich gelernt, oder aber der Religionsunterricht fallen gelassen und sich auf die Religionsübung beschränkt werden, die ja nicht abgeschafft wird. Eine Stunde sei aber offenbar unzureichend, und er hätte nichts dagegen, diese Bestimmung als eine obligatorische wegzulassen. Da die Sanktionierung in anderen Fällen schon erteilt worden ist, so sehe er keinen hinlänglichen Grund, sie jetzt vorzuenthalten. Den Motiven der Regierung würde die Bevölkerung nicht zustimmen, sondern sich ihnen gegenüber auf einen feindlichen Standpunkt stellen.
Der Finanzminister ist einverstanden, dass die Feststellung des Lehrplanes aus der Gesetzgebung auszuschließen || || sei, findet es aber nicht passend, nur so nebenher eine Änderung in den leitenden Prinzipien eintreten zu lassen. Er stimmt für die Ah. Sanktion des vorliegenden Gesetzentwurfes. In gleicher Weise votiert der Landesverteidigungsminister.
Der Handelsminister stimmt für den vom Unterrichtsminister zuletzt ausgesprochenen Antrag, die Ah. Sanktion mit Rücksicht darauf zu verweigern, dass der Lehrplan kein Gegenstand der Gesetzgebung ist.
Der Präsident des Ministerrates konstatiert, dass sich die Majorität für die Erwirkung der Ah. Sanktion ausgesprochen hat. Der Unterrichtsminister hätte dann in Erwägung zu ziehen, in welcher Weise die Ausscheidung des || || Lehrplanes aus den Gesetzen anzubahnen sein wird11.
Wien, am 5. Oktober 1871. Hohenwart.
Ah. E.Allerhöchste Entschließung Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Wien, 26. Oktober [1871]. Franz Joseph.