Nr. 287 Ministerrat, Wien, 17. November 1869 – Protokoll I - (PDF)
RS.Reinschrift fehlt; Abschrift Ava., Ministerratsprotokolle . Teilnehmer und Tagesordnung: Ava., Ministerratsprotokolle, Tagesordnungen; Wortlaut und Datum der Ah. Entschließung: Hhsta., Kab. Kanzlei, Protokoll 1869.
P. Artus; VS.Vorsitz Taaffe; anw.anwesend Hasner, Potocki, Giskra, Herbst, Brestel, Berger; abw.abwesend Plener.
I. Artikel im „Neuen Fremdenblatte“ in der Wahlreformfrage und in der Presse - (PDF)
[I.] ℹ️ Der Minister des Innern leitet die Aufmerksamkeit der Konferenz auf den in der beiliegenden Nummer des „Neuen Fremdenblattes“ vom heutigen Tage enthaltenen Leitartikel: „Zur Frage der Reform“. Derselbe polemisiere anknüpfend an die von einigen Blättern gebrachte Notiz von einem innerhalb des Ministerrates in dieser Frage bestehenden Dissense gegen die unmittelbaren Wahlen unter unwürdigster Verunglimpfung jener Mitglieder der Regierung, welchen die Vorschläge in dieser Richtung zugeschrieben werden1. Es müsse höchlichst befremden, wie eine derartige, in der an[]sigsten Weise gehaltene Polemik gegen definitiv noch zu fassende Entschlüsse der Regierung von einem Journale gebracht werden könne, welches, wie das „Neue Fremdenblatt“, wie immer die faktischen Verhältnisse liegen mögen, in der Öffentlichkeit als offiziös und zwar als dem unmittelbaren Einflusse der Pressleitung zugänglich gelte. Er erlaube sich daher, zunächst die Frage zu stellen, ob der erwähnte Artikel lediglich als eine Elaboration irgendeines Journalisten über diese Frage anzusehen sei, oder ob derselbe auf Weisungen, Instruktionen oder Inspirationen der Pressleitung als solcher oder irgendeines Organes derselben beruhe. Nach Maßgabe der hierauf zu gewärtigenden Eröffnungen behalte er sich vor, weitere Anträge zu stellen2.
Der Ministerpräsident bemerkt nach Vorlesung des ihm bisher nicht bekannt gewesenen Artikels, dass er keinen Anstand nehme, die gewünschten Auskünfte zu geben, nachdem Dr. Berger von den gestellten Fragen nicht unmittelbar Kenntnis genommen haben konnte. Er schicke voraus, dass die Frage, welche Haltung die regierungsfreundlichen Blätter in der Angelegenheit der Wahlreform einzunehmen hätten, in der Presskonferenz allerdings zur Sprache gekommen sei, nachdem von Seite mehrerer Redaktionen an die Pressleitung das Ansinnen um Andeutungen über die Intentionen der Regierung herangetreten wäre3. Es sei hierüber in der Presskonferenz konferiert worden, man sei aber zu der Ansicht gelangt, dass die Pressleitung derzeit nicht in der Lage sei, Instruktionen in der Sache zu geben, weil im Ministerium selbst keine Einigung in der Frage erzielt worden. Sobald eine der verschiedenen Ansichten, welche sich bisher geltend machten, von einer Majorität des Ministerrates definitiv akzeptiert sein und sonach ein Programm für das Vorgehen der Regierung feststehen werde, werde es selbstverständliche Pflicht der Pressleitung sein, im Sinne dieses Programmes mit dem vollen ihr zu Gebote stehenden Einflusse zu wirken. Solange dieses aber nicht geschehen sei, könne auch von positiven Instruktionen oder von einem Wirken der Pressleitung in der Frage nicht die Rede sein. Die Folge davon sei, dass bei dem Mangel jedweder Andeutungen von Seite der Pressleitung die Blätter eben den eigenen Eingebungen folgen, was nicht hintangehalten werden könne, nachdem diese Frage überhaupt und insbesondere die Frage, ob die Wahlreform unter Mitwirkung der Landtage oder durch den Reichsrat allein durchzuführen sei, wenn einmal das öffentliche Interesse so weit rege gemacht hat, dass sie von der Tagespresse kaum mehr gänzlich ignoriert werden könne.
Der Minister Hasner kann nicht umhin zu gestehen, dass nach seiner Auffassung die Aufgabe der Pressleitung eine andere sein sollte. Namentlich müsste ihr obliegen, der Gesamtregierung unter allen Umständen den möglichsten Schutz zu sichern. Dass innerhalb des Ministeriums, insbesondere bei Fragen so tief eingreifender und heikler Natur Differenzen vorkommen, sei natürlich und schon öfter dagewesen. In einem solchen Falle aber sei es seiner Ansicht nach Pflicht der Pressleitung dafür zu sorgen, dass sich die Blätter in der für die Regierung noch offenen Frage vor innerhalb der Regierung erzielter Einigung überhaupt nicht engagieren. Durch ein solches vorzeitiges Engagieren werde die öffentliche Meinung präokkupiert, ja auf das Votum der Minister gewissermaßen eine Pression geübt, der Regierung die Stellung somit nicht nur nicht erleichtert, sondern wesentlich erschwert, ja geradezu entgegen gearbeitet. Das falle der Pressleitung jedenfalls zur Last, nachdem es ihre Sache gewesen wäre, in dem angedeuteten Sinne eine negative Instruktion an die befreundeten Blätter hinauszugeben.
Der Ministerpräsident bemerkt, dass allerdings versucht worden sei, die Blätter zu vermögen, die Angelegenheit vorläufig nicht zu diskutieren. Allein, die Blätter fügen sich nicht, und man hat keine Mittel, sie zum Schweigen zu bringen. Das einzige Mittel würde darin liegen, in der Sache selbst schlüssig zu werden, dann erst könnte in einer bestimmten Richtung auf die Blätter gewirket werden.
Der Minister Giskra meint, dass diese Argumentation gegenüber einem Blatte wie das „Neue Fremdenblatt“ keine Geltung haben könne, dessen Existenz notorisch durch den Dispositionsfonds allein ermöglicht wird4. Unter dem Eindrucke dieses notorischen Verhältnisses müsse es geradezu als ein Skandal bezeichnet werden, wenn Auslassungen gegen die Regierung von der Art wie der in Rede stehenden in ein solches Blatt Eingang finden. In der Tat müsste man sich dann die bei anderem Anlasse von Sr. Majestät Allerhöchstselbst angedeutete Frage stellen, wofür die Journale gezahlt würden, wenn die Regierung eben in solchen gezahlten Journalen angegriffen wird.
Dr. Berger erörtert die Stellung zu den offiziösen Blättern, die neuerdings so geartet sei, dass dieselben als zur vollen Dienstleistung für die Regierung erkauft betrachtet werden können. Wolle man das haben, so müsse aber ein Regierungsorgan gegründet werden. Offiziösen Blättern könne eine gewisse Freiheit der Bewegung nicht verwehrt werden, um ihnen im Zwecke der mehreren Wirksamkeit in entscheidenden Momenten den Schein der Unabhängigkeit zu wahren. Was speziell das „Neue Fremdenblatt“ betreffe, so berühre ihn die Sache persönlich gar nicht, da er sich seit mehr als einem halben Jahre von jedem Einflusse auf dieses Blatt fern gehalten habe. In der Sache selbst könne er sich der Erwägung nicht verschließen, dass es nichts nützen würde, wenn die Regierung in den ihr näher stehenden Journalen den Dissens in der Frage verkleistern wollte, welcher zunächst in dem offenbar von ministerieller Inspiration ausgegangenen Kommuniqué der „Neuen Freien Presse“ an die Öffentlichkeit gebracht worden sei5. Und wenn von Skandal gesprochen werde, so scheine ihm diese Bezeichnung zunächst für den Vorgang in Bezug auf dieses Kommuniqué passend.
Minister Giskra nimmt aus dieser Bemerkung Anlass, mit aller Bestimmtheit zu erklären, dass, wie er im Hinblick auf die leidigen Erfahrungen aus dem Jahr 1868 für seine Person sich überhaupt von jeder Verbindung mit Zeitungen fernhalte, er das erwähnte Kommuniqué in der „Neuen Freien Presse“ weder veranlasst habe, noch in irgend einer Weise daran beteiligt sei.
Der Justizminister weiset darauf hin, dass die Fassung einzelner Stellen des Artikels unzweifelhaft entnehmen lasse, gegen wen eigentlich die Angriffe gerichtet sind und wer namentlich unter denen gemeint sei, von welchen gesagt werde: „Hinweg mit denen etc.“, oder welchen zugemutet werde, die Wahlreform nach gefolgter Gesetzeskraft nötigenfalls mit Kanonen, wie dies soeben in Dalmatien geschieht durchzuführen. Wenn solche Angriffe auf Mitglieder der Regierung von nie da gewesener Frechheit von einem subventionierten Blatte gebracht werden können, so sei es die Regierung vom Standpunkte der Selbstachtung sich selbst schuldig, sofort dafür zu sorgen, dass einem solchen Blatte die Subvention bis auf den letzten Kreuzer entzogen werde.
Der Minister des Inneren tritt dieser Ansicht des Justizministers unbedingt bei. Derselbe sei einem von ihm beabsichtigten Antrage zuvorgekommen, welchen er dahin formuliere, dass dem „Neuen Fremdenblatte“ die bisher aus dem Dispositionsfonds genossene Subvention zur vollen Gänze zu entziehen sei, sobald dieses nach Lage der ihm nicht bekannten Vertragsverhältnisse nur immer zulässig erscheine.
Dr. Herbst meint, dass die Einstellung der Subvention ohne Rücksicht auf etwa bestehende Vertragsverhältnisse sogleich zu erfolgen hätte, da, wie immer diese Vertragsverhältnisse geartet seien, der Vertrag durch eine so flagrante Verletzung der übernommenen Verpflichtung auf Seite des subventionierten Blattes vom Rechtsstandpunkte ipso facto als hinfällig angesehen werden müsse.
Graf Taaffe bemerkt, dass die Entziehung der Subvention sofort eingeleitet werden könne, wenn dies gewünscht wird. Damit sei aber nicht geholfen, da das Blatt voraussichtlich versuchen werde, sich auf anderm Wege seine Existenz zu sichern und zu diesem Zwecke zunächst wahrscheinlich Opposition machen dürfte. Das Beste wäre nach seiner Meinung, wenn man, wie gesagt, in die Lage käme, einen definitiven Beschluss in der Sache selbst zu fassen, um auf Grund desselben positive Instruktionen für die Beeinflussung der Presse geben zu können.
Brestel erinnert, dass die ursprünglichen Intentionen der Regierung dahin gingen, in der Frage der Wahlreform zunächst die Landtage für sich auftreten zu lassen und vorerst nicht selbst in die Aktion zu treten, daher sich auch einer positiven Einflussnahme zu enthalten6. Insoferne sonach von Blättern, welche mit der Regierung in Verbindung stehen, versucht worden sei, auf die öffentliche Meinung in einer bestimmten Richtung zu wirken, sei dieses allerdings gegen die Intention der Regierung geschehen. Überhaupt komme er bei diesem Anlasse auf seine schon öfters ausgesprochene Ansicht zurück, dass alle für Subventionen derartiger Blätter aufgewendeten Summen als rein verschleudert zu betrachten seien, da man mit diesen Blättern in letzter Auflösung nur Verlegenheit habe, wie eine solche durch eine vorzeitige Besprechung einer im Ministerrate noch pendenten Frage jetzt vorliege.
Herbst macht bei diesem Anlasse aufmerksam, dass die ersten der wirklichen Sachlage in einer sehr auffälligen Weise entsprechenden Andeutungen über die im Ministerrate in dieser Frage bestehenden Meinungsdivergenzen in dem Leitartikel der (alten) „Presse“ vom heutigen Tage an die Öffentlichkeit gebracht worden seien. Derselbe gebe in der bündigsten Weise eine Analyse seiner und der Anträge des Ministers des Inneren über die Wahlreform, welche zum Ausgangspunkte von Ausführungen in der bekannten Tendenz dieses Blattes dienen. Wenn nun auch die Auslassungen des Artikels über das Meritum der Frage an und für sich eine besondere Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen würde, so könne er doch nicht umhin, die Tatsache als eine in solchem Grade auffallende zu konstatieren, dass dem Blatte über die Vorgänge im Schoße des Ministerrates ein so vorzügliches Material zu Gebote stand. Dieses könnte keinem andern Blatte entnommen sein, da über die von ihm wie von Dr. Giskra sorgfältigst geheim gehaltenen Vorschläge bisher kein Blatt auch nur im entferntesten gesprochen hätte7, es könnte aber bei der Genauigkeit der Mitteilungen sich nicht aus Kombination erhaschter allgemeiner Andeutungen hervorgegangen sein, woraus sich mit Notwendigkeit der Schluss ergibt, dass die fraglichen Mitteilungen nur von einer Seite in das Blatt gelangen konnten, wo eine genaue Kenntnis der Vorgänge vorhanden ist. Es möge dieser Modus der bequemste sein, Anträge, welche nicht innerhalb der Linie der eigenen Anschauungen gelegen sind, entgegen zu wirken, indem man sie als Quacksalbereien, wie der Artikel sagt, in die Öffentlichkeit schleudert, immerhin aber müsse ein solcher Vorgang, namentlich bei den Eingeweihten, im hohen Grade Staunen erregen.
Taaffe wünscht, um solchen Fällen vorzubeugen, die Anwesenheit eines oder des anderen Ministers bei den Presskonferenzen.
Herbst und Hasner meinen dagegen, dass die bisherige Beteiligung an der Pressleitung von Seite dieses Ministeriums wenig genutzt, [] nur geschadet habe.
Taaffe meint in Anbetracht der Wahlreform eine Instruktion für die Pressleitung auszuarbeiten, vor allem setze er aber eine Einigung im Meritum der Sache voraus, die umso wichtiger ist, als auch hievon der Entwurf der Ah. Thronrede abhänge. Was das Fremdenblatt betrifft, werde in Gemäßheit der gefassten Beschlüsse vorgegangen werden.
II. Wahlreform - (PDF)
[II.] ℹ️ Giskra wünscht, dass über sein ursprüngliches Projekt förmlich abgestimmt werde, welches eine Verdopplung der Zahl der Abgeordneten, und zwar zur Hälfte durch die Wahl aus den Landtagen, zur Hälfte durch unmittelbare Wahlen aus den Gruppen bezielte. Werde dieser Vorschlag nicht akzeptiert, so werde er mit einem andern Vorschlage hervortreten.
Taaffe meint, dass nach den Ergebnissen der bisherigen Besprechungen der Hauptpunkt, um welchen es sich bei der Wahlreform handle, die Frage bilde, ob die Wahlreform von der Reichsgesetzgebung allein oder durch die Landtage beschlossen werden solle. Das scheine ihm die eigentliche Vorfrage, über welche prinzipiell entschieden werden müsse.
Herbst möchte die Vorfrage noch anders, und zwar dahin formulieren: wie weit gehe die Berechtigung der Reichsvertretung in der Frage der Wahlreform? Ein Teil dieser Frage sei schon im verflossenen Jahre mehrfach im Ministerrate erörtert worden, als es sich um die Vermehrung der Zahl der Abgeordneten handelte8. Damals gelangte die Ansicht zur Geltung, dass die Bestimmung der Zahl der Abgeordneten zweifellos der Reichsvertretung zukomme. In diesem Sinne habe auch der Verfassungsausschuss die Vermehrung empfohlen9. Eine weitere Frage sei aber die Art der Entscheidung der Abgeordneten. Diese falle mit der Frage zusammen, ob das Recht der Landtage, die von der Reichsvertretung bestimmte Zahl der Abgeordneten in den Reichsrat zu entsenden, ein landesordnungsmäßiges Recht der Landtage bilde, oder ob dasselbe als ein sich aus der Reichsgesetzgebung als Korollar ergebende Verpflichtung zu betrachten sei. Wenn ein landesordnungsmäßiges Recht der Landtage im Mittel liege, dann könnte dieses Recht nicht einseitig durch die Reichsvertretung aufgehoben werden. Über diese Vorfrage müsse daher zunächst entschieden werden, da hievon jedes weitere Vorgehen abhänge, wenn man sich nicht für etwas entschließen wolle, was das Recht der Landtage nicht unberührt lasse.
Dr. Giskra meint, dass es schwer halte, diese Frage an der Hand der Paragrafe der Grundgesetze zu entscheiden. Der Wortlaut der Landesordnungen sage: Der Landtag hat die durch das Grundgesetz über die Reichsvertretung festgesetzte Zahl von Mitgliedern in den Reichsrat zu entsenden, und würde er glauben, dass aus der so gefassten Bestimmung der Landesvertretung ein Recht der Landtage nicht leicht abgeleitet werden könnte10. Er verkenne aber keineswegs, dass die Anschauung, es liege ein Recht der Landtage vor, eine weit verbreitete gewesen sei11. Dem gegenüber aber komme die Tatsache in Betracht, dass die überwiegende Mehrzahl jener Landtage, die sich für unmittelbare Gruppenwahlen ausgesprochen haben, das Recht der Landtage beziehungsweise den Verzicht derselben auf dieses Recht ausdrücklich betont haben. Nur die Landtage von Kärnten und Oberösterreich hatten dieses getan12.
Bei dieser Sachlage scheine es sich zu empfehlen, sich den Umständen zu akkommodieren, wie dieses auch auf Seiten der Landtage geschehen sei. Man müsse also auf die Frage zurückgreifen, worin der Zweck der Wahlreform bestehe. Dieser gehe nun unzweifelhaft dahin, einen Reichsvertretungskörper zu schaffen, welcher von dem Belieben der einzelnen Landtage unabhängig war, um ungehindert von singularen Gegenbestrebungen den wichtigen Funktionen obliegen zu können, welche ihm in Bezug auf das Budget und in sonstigen die vitalsten Bedingungen des Staatslebens betraf, sondern [sic!]Angelegenheiten zugewiesen sind, deren regelmäßiger Gang unmöglich von dem guten oder üblen Willen einzelner Landtage abhängig bleiben könne. Werde das in das Auge gefasst, so käme man zu direkten Reichsratswahlen als dem einzig zum Zwecke führenden Mittel. Hier angelangt handle es sich nur darum, jene Auslegung der bestehenden Gesetzgebung zu finden, dass sich der Reichsrat das Recht vindiziere, über die Wahlreform zu beschließen. Das Wie sei eine andere Frage, und werden jedenfalls die geeigneten Maßnahmen gegenüber dissentierenden Landtagen in weiterer Linie zu erwägen sein, sowohl in Absicht auf die Modalitäten der Durchführung, in Bezug auf welche sich vielleicht das möglichste rasche Schaffen eines fait accompli empfehlen dürfte, als in Hinsicht auf die möglichsten Konzessionen für die Autonomie, deren Erweiterung bei gleichzeitiger scharfer Abgrenzung der nach den bisherigen Erfahrungen sehr unzweckmäßig geteilten Befugnisse der Reichs- und der Landesgesetzgebung sich an die Wahlreform anschließen könnte. Es könne immerhin vorausgesetzt werden, dass, wenn namentlich in der letzten Richtung nur der Wirksamkeit der Landtage würde beschwichtigen lassen können, insofern bei denselben der Reichsgedanke überhaupt noch lebendig sei. Insoferne dieses nicht der Fall wäre, würde es sich auf Seite des Reiches ohnehin um einen Akt der Notwehr handeln und es wäre dann Pflicht für die Regierung, diesen Kampf aufzunehmen und durchzuführen. Der Minister des Inneren würde auf seinem Antrage nicht unbedingt beharren und sich einem eventuellen Majoritätsbeschlusse in anderer Richtung akkommodieren. Er möchte aber vor jeder Maßregel warnen, deren Erfolg im Vorhinein fraglich wäre, da die Regierung sich dann auch noch dem Gespötte derjenigen preisgegeben sehen werden müsste, an deren Widerstreben ihre Vorschläge scheitern würden, wobei er die Eventualität im Auge habe, wenn etwa zur entscheidenden Mitwirkung zu den betreffenden Beschlüssen die Landtage herangezogen werden wollten.
Graf Potocki kann nur auf das lebhafteste bedauern, dass diese Frage so brennend geworden sei, wie es jetzt der Fall, wo die Regierung ehrenhalber mit irgend etwas jedenfalls hervortreten müsse. Die Notwendigkeit hiezu liege jetzt ebenso so klar da, als die Schwierigkeit bezüglich dessen, was die Regierung in Vorlage zu bringen hätte, da das Ministerium, wenn es Vorlagen macht, doch die Möglichkeit voraussetzen müsse, dieselben durchzubringen. Nun glaube er, dass jeder Antrag der Regierung in bezug auf die Wahlreform bei dem Abgeordnetenhause in den ersten Wochen großen Schwierigkeiten begegnen werde. Im Merito der Sache glaube er, dass bei der fraglichen Vorlage von dem obersten Faktor der Gesetzgebung nicht abstrahiert werden könne, wie ihm dies bei den auf unmittelbare Wahlen gerichteten Anträgen in gewisser Beziehung der Fall zu sein scheine. Er könne sich nämlich nicht denken, dass die Krone sich leicht entschließen könnte, in die Schaffung eines aus unmittelbaren Wahlen hervorgehenden Abgeordnetenhauses zu willigen, weil das System der unmittelbaren Wahlen, das in der weiteren Entwicklung von den vorerst beibehaltenen Interessenwahlen voraussichtlich zu Wahlen nach der Kopfzahl führen würde, unzweifelhaft jene Ponderation zwischen den Vertretungskörpern des Reiches und der Länder alteriert, welchen die Krone auf dem Boden der gegenwärtigen Verfassungsgesetze eine Garantie bietet, deren Wichtigkeit nicht unterschätzt werden kann und darf. Von diesem Gesichtspunkte aufgefaßt, scheine ihm jeder Regierungsvorschlag die größten Schwierigkeiten darzubieten, welcher sich nicht so weit nur immer möglich wenigstens dem Geiste nach an die bestehende Verfassung hält. Daher sei auch die Frage über das Recht der Landtage die Hauptfrage, weil insoferne mit einer Verletzung dieses Rechtes vorgegangen werden wollte, sich die Krone mit den Landtagen in dem Widerstreite gegen einen solchen Vorgang begegnen müßte. Er habe hiebei nicht nur Galizien, sondern auch die andern dissentierenden Landtage im Auge, welche einer ihre Rechte ignorierenden Wahlreform kaum zu bewältigende Hindernisse in den Weg legen würden. Seines Erachtens müsse man sich an das halten, was unter den gegebenen Verhältnissen möglich sei und von den Grundsätzen, auf welchen die gegenwärtige Verfassung beruht, nicht abweichen. Er müsse sich daher gegen den vom Minister des Inneren eben gestellten Antrag erklären.
Brestel hat in bezug auf die Rechtsfrage keinen Zweifel darüber, dass der Reichsrat berechtigt sei, über die Art und Weise der Zusammensetzung der Reichsvertretung einzig und allein zu beschließen. Die Bestimmungen der Landesordnungen seien eben nur tatsächliche Anführungen der diesfälligen im Grundgesetze über die Reichsvertretung enthaltenen Bestimmungen. Dem Reichsrate sei die Abänderung der bisherigen einschlägigen Bestimmungen ausdrücklich gewahrt, es könne daher keine Interpretation derselben statthaben, welche eine solche Änderung unmöglich machen würde, wie es der Fall wäre, wenn solche Änderung von der Zustimmung aller Landtage abhängig gemacht werden wollten. Wolle man zu direkten Wahlen in der Gesamtheit gelangen, so gebe es allerdings nur den Weg der Reichsgesetzgebung. Praktisch genommen sieht Brestel keinen Ausweg aus der Sache und kann nur bedauern, dass nicht an dem ursprünglichen Standpunkte, die Landtage und die Öffentlichkeit herankommen zu lassen, festgehalten worden sei. Er halte es für nicht möglich, mit irgendeinem Projekte durchzudringen. Nicht mit dem Herbsts, weil derselbe von den großen Landtagen nicht würde akzeptiert werden, nicht mit dem ursprünglichen Projekte Giskras. Aber auch für die direkten Wahlen aus den Gruppen der Gesamtheit werde man die Zweidrittelmajorität im Abgeordnetenhause nicht haben und nicht haben können. Was man sonach tun werde, werde auf einen gelinden Fiasko hinauslaufen. Das Klügste schiene ihm unbestritten, wenn in der Thronrede ein Passus aufgenommen würde, dahingehend, dass die Regierung die Frage der Wahlreform auf Grund der eingeholten Voten der Landtage in Erwägung ziehen werde und wenn vorerst überhaupt keine Vorlage gemacht würde, um Zeit zu gewinnen, sich im Abgeordnetenhause zu orientieren.
Hasner findet es mißlich, in der elften Stunde in einer Sache ein Votum abzugeben, in welcher eigentlich niemand in der Lage ist, Vorschläge zu machen, von welchen mit einiger Bestimmtheit vorausgesehen werden könne, dass sie zum Ziele führen. Wenn es möglich wäre, sich ganz zurückzuziehen, so würde er angesichts der großen Schwierigkeiten dem den Vorzug geben. Es stehe dem jedoch der Umstand entgegen, dass die öffentliche Meinung schon bearbeitet worden sei. Wäre es nicht möglich, sich herauszuziehen, so käme in Betracht, dass die Wahlreform nur dann einen Sinn hätte, wenn damit die Reichsvertretung von den Landtagen unabhängig gemacht würde. Allein dies sei rechtlich ohne Bedenken, namentlich wenn die Beschlussfassung über die Wahlreform lediglich in die Hände der Reichsvertretung gelegt werden wollte. Unter diesen Umständen bliebe wohl nichts übrig, als den ursprünglichen Vorschlag Giskras als dasjenige zu akzeptieren, welches das relativ geringste Bedenken gegen sich hätte, nämlich das Vorhandensein von aus verschiedenen Wahlen hervorgegangenen Abgeordneten. Wenn es aber nicht möglich wäre, aus der Sache mit Anstand herauszukommen, wäre er in erster Linie dafür, in welchem Falle dann allerdings die gegen die Wahlreform gerichteten Artikel einiger Blätter den Instruktionen der Regierung unberührt vorgearbeitet hätten.
Herbst betont, dass seine Ansicht nur dahin gegangen sei, dass die Beschlussfassung über die Art und Weise der Beschickung des Reichsrates ein Recht der Länder bilde. Diese Ansicht könnte, wie er zugeben wolle, allerdings nicht die richtige sein. Zweifelhaft sei die Frage aber jedenfalls. Denn wenn auch gesagt werde, dass die diesfalls in den Landesordnungen enthaltenen Bestimmungen einfach als tatsächliche Aufführungen der einschlägigen Anordnungen des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretung anzusehen seien, so könne doch, wenn auf die Entschließung des Februarpatentes aus den in dem Kundmachungspatente auch ausdrücklich berufenen Oktoberdiplom zurückgeblickt werde, nicht verkannt werden, dass diese in den Landesordnungen enthaltenen Bestimmungen doch wesentlich in einem andern Lichte erscheinen13. Wenn auf die Voten der der Wahlreform zustimmenden Landtage Rücksicht genommen werde, so zeige sich, dass insoferne der Rechtspunkt nicht ausdrücklich gewahrt würde, doch keine Enunziation im entgegengesetzten Sinne vorliege, dass vielmehr das Bestreben vorgeherrscht zu haben scheine, die Rechtsfrage möglichst unberührt zu lassen. In gleicher Tendenz habe auch der Verfassungsausschuss des Abgeordnetenhauses die Rechtsfrage nicht erwähnt. Alles dies tue dar, dass die Rechtsfrage selbst innerhalb der verfassungstreuen Partei zweifelhaft sei, ganz abgesehen von den Gegnern, welche jedenfalls an dem Rechte der Landtage festhalten und in einem gegenteiligen Vorgange eine unzweifelhafte Rechtsverletzung erblicken würden. Nun könne aber nach seiner Meinung die Regierung nicht mit einer Maßregel hervortreten, deren Erfolg überhaupt zweifelhaft sei, wenn sie sich nicht klar bewusst sei, mit der Maßregel nicht auch bestehende Rechte zu verletzen. Denn wenn es schon misslich sei, mit einer innerhalb des unzweifellosen eigenen Rechtes gelegenen Maßregel nicht durchzudringen, so würde es der Würde der Regierung noch viel weniger entsprechen, nur auf die Situation im hohen Grade bedenklich zurückwirken, wenn sie mit einer Proposition deswegen scheitern würde, weil damit ein Recht verletzt würde. Er würde daher jedem Antrage zustimmen, wodurch über diese Schwierigkeit in Beziehung auf den Rechtspunkt hinausgekommen würde.
Dr. Berger glaubt seine in der Sache schon früher wiederholt abgegebene Meinungsäußerung nicht abermals weitläufig erörtern zu sollen, zumal er in dem, was im Laufe der Diskussion zur Sprache gebracht worden, keine Veranlassung finde, seine Meinung zu modifizieren. Er sei heute wie jederzeit überzeugt, dass eine Wahlreform außer Zusammenhang mit Schritten zur Verständigung mit den noch außerhalb der Verfassung stehenden Parteien nicht sowohl zu einer Stärkung als zu einer Schwächung der Verfassung führen müsste, indem hiedurch die deutsche Partei isoliert, die Opposition gekräftigt und der Zweifel der verfassungstreuen Partei verbreitet werden würde. Die angestrebte Wahlreform sei nur dann möglich, wenn dieselbe vom Reichsrate imperativ durchgeführt werde, was aber jedenfalls einen Verfassungsbruch involviere, welcher zuvor durch einen Pakt mit den oppositionellen Elementen auf Grundlage des Grundsatzes do ut des saniert werden müsste. Insofern man sich hiezu nicht entschließen könnte und die Wahlreform als eine isolierte Maßregel aufzufassen willens wäre, sei er der Ansicht, dass dann der Weg der Landesgesetzgebung betreten werden müsste, da bei den unzweifellose im Mittel gelegenen Rechten der Landtage eine Änderung der gegenwärtigen Zusammensetzung der Reichsvertretung in eine Richtung, welche den verfassungsmäßigen Charakter derselben wesentlich alterieren würde, von der Reichsvertretung allein ohne flagrante Verletzung der in den Verfassungsgesetzen gelegenen Rechte der Landtage nicht beschlossen werden könnte.
Graf Taaffe hat bereits bei der frühern Beratung auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Rechte der Landtage nicht außer Betracht zu lassen. Das Recht der Landtage, über die Art und Weise der Beschickung des Reichsrates Bestimmungen zu treffen, finde er entschieden in dem Oktoberdiplome beziehungsweise in dem Februarpatente und in dem Grundgesetze über die Reichsvertretung vom 21. Dezember 1867 begründet, welch letztere beide in dieser Beziehung auf dem Oktoberdiplome basieren. Würde man die Einführung unmittelbarer Wahlen von der Reichsvertretung ohne Rücksicht auf die Landtage dekretieren, so würde in der Beseitigung eines den Ländern verfassungsmäßig zukommenden Rechtes eine entschiedene Schädigung der Länder gelegen sein. Hiezu könnte er umso weniger die Hand bieten, als eine auf unmittelbare Wahlen abzielende Vorlage insofern nicht einmal die Opportunität für sich hätte, als im bessern Falle auf eine größere als die einfache Majorität im Abgeordnetenhause nicht gezählt werden könnte. Unter den günstigen Voraussetzungen würde also ein nichts weniger als glänzendes Resultat erzielt, dem Rechte aber jedenfalls Gewalt angetan werden. Übrigens würde auch von allen Stimmführern, welche dem heute gestellten Antrage des Ministers des Inneren nicht zustimmten, mit Ausnahme des aus praktischen Gründen dissentierenden Finanzministers, betont, dass das von dem Minister des Inneren der Reichsvertretung vindizierte, von ihm selbst nicht als zweifellos hingestellte Recht zur ausschließlichen Beschlußfassung über die Wahlreform kein über jeden Zweifel stehendes sei, dass somit in bezug auf eine Verletzung der Rechte der Landtage Bedenken vorliegen. Taaffe macht weiters darauf aufmerksam, dass wenn Sr. Majestät ein Antrag im Sinne des heutigen Vorschlages Giskras beziehungsweise eine hienach formulierte Stelle der Ah. Thronrede unterbreitet werden würde, dem Ministerrat obliegen würde, Sr. Majestät über die Durchführung der proponierten Wahlreform in allen Phasen, welche dieselbe voraussichtlich durchzumachen haben würde, bestimmte Propositionen zu machen, da Se. Majestät, abgesehen von jenen Rücksichten, welche Potocki angedeutet und deren Gewicht er vollkommen würdige, sicher nicht zuzustimmen geruhen würden, in der Thronrede eine konkrete Maßregel bezüglich der Wahlreform in Aussicht zu stellen, solange deren Durchführung nicht sicher gestellt erscheine. Hiezu sei aber der Moment keineswegs gekommen, die Sache sei noch nicht gereift, und könne namentlich über den voraussichtlichen Erfolg irgendwelcher Vorlage ohne eingehende Besprechungen mit den einflußreichen Persönlichkeiten des Abgeordnetenhauses mit einiger Sicherheit nicht gesprochen werden. Er würde sich daher jenen Stimmen anschließen, welche sich auf eine Vertagung der Beschlußfassung über die Vorlage wegen der Wahlreform hingewiesen haben.
Herbst schließt sich dieser Ansicht an, nach eingehender Erörterung der Stadien, die in der Angelegenheit vom Beginn an, wo eben nur die Vermehrung der Zahl der Abgeordneten in Frage war, bis heute unterschieden werden müsse, wo die Frage der direkten Wahlen und zwar im Zwecke der gänzlichen Unabhängigmachung der Reichsvertretung von den Landtagen in Verhandlung stehe. Nach umfassender Beleuchtung der dem Ministerrate bisher vorgelegenen zwei Vorschlage Giskras und seines, glaubt Herbst bei dem Umstande, als es der Regierung vor allem darum zu tun sein müsse, in der Angelegenheit der Wahlreform mit keinem Vorschlage vor den Reichsrat zu treten, welcher in gegründeter Weise aus dem Gesichtspunkte einer Verletzung der Rechte der Landtage angefochten werden könnte, in der Erwägung, dass keiner der vorliegenden Vorschläge in dieser Richtung sich zur unbedingten Annahme empfehle, und in der Erwägung, dass die Landtage in der Beziehung auf die Rechtsfrage sich mit Bestimmtheit nicht ausgesprochen haben sowie in der weiteren Erwägung, dass es angezeigt erscheine, über die Frage der Wahlreform überhaupt und speziell hinsichtlich der Rechtsfrage zuvor in ein näheres vertrauliches Einvernehmen mit den hervorragenden Mitgliedern des Abgeordnetenhauses zu treten, von der Einbringung einer diesbezüglichen Vorlage im Reichsrate noch abzusehen wäre, demgemäß auch die Ah. Thronrede nur einen allgemeinen Passus in dem Sinne zu enthalten hätte, dass die Frage der Wahlreform auf Grund der diesfälligen Voten der Landtage noch einen Gegenstand der Erwägung der Regierung bilde. Hiemit wäre die Angelegenheit insofern vertagt, als die Regierung nicht bemüßigt wäre, mit einer fertigen Vorlage sogleich vor das Haus zu treten, die indessen auf Grund des vorliegenden und in der angedeuteten Weise eventuell zu vervollständigenden Materiales vorbereitet werden könnte. Zwischenzeitig würde die Presse die Aufgabe haben, die Frage der Wahlreform nach allen Richtungen objektiv zu diskutieren. Nach einer weiteren Diskussion vereinigen sich die Minister mit der Ansicht des Justizministers.
Taaffe wird sonach den Entwurf der Ah. Thronrede gleich morgen zur Beratung bringen, nachdem über den wesentlichsten Punkt derselben die prinzipielle Einigung im Ministerrate nunmehr erzielt sei14. In Absicht auf die Instruktionen für die Pressleitung ersucht er Giskra und Herbst bei der Presskonferenz übermorgen zu intervenieren15.
Wien, 17. November 1869. Taaffe.
Ah. E.Allerhöchste Entschließung Ich habe den Inhalt dieses Protokolls zur Kenntnis genommen. Wien, 27. Dezember 1869. [Franz Joseph].