Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)
DIE ENTSTEHUNG DES GEMEINSAMEN MINISTERRATES UND SEINE TÄTIGKEIT WÄHREND DES WELTKRIEGES I Von 1867 bis 1918 war der gemeinsame Ministerrat das höchste Regierungsorgan der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Seine Sitzungsprotokolle aus der Zeit des ersten Weltkriegs sind ein wichtiges Quellenmaterial nichtnur für die Geschichte der Völker innerhalb der Doppelmonarchie, sondern wegen des weit um sich greifenden Krieges auch für die Geschichte Europas, in gewissem Sinne sogar für die der ganzen Welt. Da dieses äußerst vielfältige Material vom obersten Regierungsorgan einer Großmacht stammt, in dessen Rahmen nicht selten Welt¬ probleme zur Sprache kamen, kann es unter den verschiedensten Gesichtspunkten ausgewertet werden. Bei Kriegsausbruch waren die Tage der Monarchie bereits gezählt. Mit der schnellen Aufeinanderfolge der Ereignisse verlor das Reich zunehmend an Bedeutung und Gewicht und brach schließlich auseinander. Die erhaltenen Schrift¬ stücke eines untergehenden, entkräfteten Staates sind für die Geschichtsschreibung auch wegen der Lehren wertvoll, die sich aus der Beobachtung der immer mehr stockenden Tätigkeit des kranken Staatsorganismus einer ungesunden Gesell¬ schaft ergeben. Darüber hinaus sind die Protokolle des gemeinsamen Minister¬ rates der Monarchie auch deshalb von großer Bedeutung, weil auf den Trümmern der Donaumonarchie neue Staaten entstanden, deren Probleme zeitweilig schon in den Debatten der Ministerkonferenzen während des Weltkrieges aufleuchteten. In dieser Einleitung möchte ich die Benutzung und das Verständnis der Proto¬ kolle erleichtern, indem ich auf Entstehung und Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates näher eingehe. Dabei werde ich mir stets vor Augen halten, daß der gemeinsame Ministerrat der Monarchie nicht nur das Produkt eines geschicht- lichen Prozesses war, sondern im Verlaufe der Ereignisse, in stets wandelnder Form, selbst zu einem geschichtsgestaltenden Faktor wurde. Meine Aufgabe ist daher im wesentlichen die Lösung eines amtsgeschichtlichen Problems, in engem Zusammenhang mit der Quellenkritik der Schriften des gemeinsamen Minister¬ rats, der von ihm angefertigten Protokolle. Ich muß mich daher mit diesem beson¬ deren Produkt der Schriftlichkeit befassen, das als Dokument schicksalhafter Entscheidung oft nicht nur eine Quelle für die Geschichtsschreibung bildet, sondern als Produkt der höchsten Sachwaltung in die Ereignisse irgendwie ein¬ greifend und den Gang der Geschichte - wenn auch kaum merkbar - beein¬ flussend, auch an und für sich auf das Interesse der Nachwelt Anspruch erheben kann. Ich muß daher die äußeren und inneren Merkmale der Protokolle des i || || gemeinsamen Ministerrates als Geschichtsquellen untersuchen und auf dieser Grundlage die dort enthaltenen Daten mit denen anderer Quellen vergleichend, über ihren Wert und ihre Benutzbarkeit sprechen und feststellen, inwiefern sie getreu das wiedergeben, was festzuhalten ihre Aufgabe war. Der Zusammenhang zwischen einer Institution und ihren Schriften ist vielleicht nirgends so eng wie im vorliegenden Fall. Die komplexe Untersuchung der Protokolle ist sowohl vom Gesichtspunkt der Geschichte des gemeinsamen Ministerrates wie auch der Quellenkritik seiner Protokolle fruchtbringend.1 Welche der so auftauchenden Fragen wir auch betrachten, das Gebiet, aut dem die Antworten zu suchen sind, ist in jedem Falle das Arbeitsgebiet der historischen Hilfswissenschaften. Die Einleitung zu einer Quellenausgabe, wie auch diese, wird meines Erachtens ihrer Aufgabe dann gerecht, wenn sie die modernen Methoden der historischen Hilfswissenschaften anwendet. Das heißt, wenn sie zu erfassen und aufzuzeigen sucht, daß die Ausstellung der Urkunden und Schriften, die Amtsführung im allgemeinen, die Tätigkeit der Büros, organisa¬ torische Veränderungen usw. ebenso Folgen der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse sind wie z. B. die Änderungen in den großen Linien der Weltpolitik. II Der gemeinsame Ministerrat der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wurde nach der allgemein in Historikerkreisen herrschenden Auffassung durch den Ausgleich vom Jahre 1867 geschaffen. In Wirklichkeit wurde der Rahmen der Tätigkeit dieser neuen Institution durch die Organisationsformen, den Geschäfts¬ gang, die Registrierung der Verhandlungsprotokolle, d. h. durch unzählige wesent¬ liche oder belanglose Äußerlichkeiten ihres formalen Rechtsvorgängers, des Österreichischen Kaiserlichen Ministerrates schon im voraus bestimmt. Hierauf werde ich bei der Untersuchung der Funktion, des Aufgabenbereichs des Mmister- rates und der äußeren Merkmale seiner Protokolle noch zurückkommen. Dieser Rahmen und diese Formen gingen nicht planmäßig auf den gemeinsamen Minister¬ rat über, haben aber mit der Kraft der Gewohnheit auch den Inhalt determinie¬ rende Formen herausgebildet. Die Benutzung bestehender, »gut bewährter« Amtsmethoden, ihr bloßes Fortleben machten jede neue Geschäftsordnung entbehrlich, erweckten zumindest in den zuständigen Personen den Glauben, eine detaillierte Regelung des Wirkungsbereichs und der Geschäftsordnung des gemeinsamen Ministerrates erübrige sich. Außer den Grundgesetzen vom Jahre 1867 über die neue Struktur der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, den Dualismus und den ergänzenden und teilweise abändernden Gesetzen,3 die diese Fragen nur allgemein behandeln, wurde die Tätigkeit des gemeinsamen Minister¬ rates nie prinzipiell geregelt. . Der Ausgleich vom Jahre 1867 war das Ergebnis eines Kompromisses. Die Entwicklung der europäischen Verhältnisse, hauptsächlich die Katastrophe von Königgrätz brachten den Monarchen und die herrschende Amts- und Militär¬ bürokratie zu der Einsicht, daß »die Kräfte des absolutistischen Zentralismus zur 2 || || Erhaltung der einheitlichen Monarchie nicht ausreichen«.4 Der österreichischen Großbourgeoisie und der Klasse der ungarischen liberalen Mittel- und Gro߬ grundbesitzer als den stärksten pohtischen Faktoren der Monarchie, mußten in ihren verfassungsmäßigen Bestrebungen Konzessionen gemacht werden. Aus dem Kompromiß zwischen der fast zwei Jahrzehnte anhaltenden absolutistischen Regierungsweise auf der einen Seite und der deutschösterreichischen Gro߬ bourgeoisie und der ungarischen besitzenden Klassen auf der anderen Seite, ent¬ stand diese pohtisch-administrative Einrichtung Österreich-Ungarns im letzten halben Jahrhundert. Ein bestimmter Moment der innen- und außenpolitischen Lage ermöglichte den Kompromiß zwischen den damals stärksten Faktoren der Monarchie. Der nicht zu versäumende Moment forderte gebieterisch eine rasche Lösung der Pro¬ bleme, und zwar so, wie es den Interessen der Parteien am besten entsprach, die den Ausgleich miteinander schlossen. Die nach der blutigen Niderschlagung der Revolution des Jahres 1848 offen gebhebenen Probleme wurden von »oben« gelöst. Eine schnelle Lösung war geboten, da eine Verschiebung der Kräftever¬ hältnisse eintreten und damit der Ausgleich illusorisch werden konnte. Die be¬ sonderen politischen und sozialen Voraussetzungen des Ausgleichs, der Umstand, daß die großen Probleme (so die soziale und die Nationalitätenfrage) ungelöst blieben, brachte es mit sich, daß der Ausgleich schwerwiegende Widersprüche in sich barg, die später zu vielen Schwierigkeiten und schließlich zum Auseinander¬ fall der Monarchie führten. Die Eile war jedoch selbst vom Gesichtspunkt der den Kompromiß abschheßenden Parteien übertrieben, wodurch die immanenten Übel und Schwierigkeiten des Ausgleichs nur noch erhöht wurden.5 Der Ausgleich bestimmte auf ein halbes Jahrhundert die innere Entwicklung und die internationale Position einer bedeutenden europäischen Macht an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Eben die Bedeutung des Momentes -- es handelt sich natürlich um einen Moment der Geschichte, d. h. um Jahre -- erfor¬ dert, daß ich mich mit dem Zustandekommen des Ausgleichs, hauptsächlich mit jenen Elementen seines Zustandekommens eingehender befasse, welche die grund¬ legenden Fakten der Amtsführung auf höchster Ebene bestimmten. III Die Thronrede, mit der der König am 14. Dezember 1865 in Buda das Parlament eröffnete, war die Einleitung zum letzten Abschnitt der Ausgleichsverhandlungen. Der Herrscher bezeichnete die Pragmatische Sanktion als die gemeinsame Grund¬ lage, auf der sich die Parteien, die sich zum Prinzip der Rechtsverwirkung oder der Rechtskontinuität bekennen, treffen können. »Rechtsverlust auf der einen Seite, starre Rechtskontinuität auf der anderen, können zu keinem Ausgleich führen« -- sagte der Herrscher. Schon dieses grundlegende Dokument bezeichnete klar die beiden Erfordernisse, ohne deren Berücksichtigung die neue politische Ein¬ richtung nicht Zustandekommen konnte, denen aber die Pragmatische Sanktion -- nach der Thronrede -- zu ihrer Zeit noch Genüge geleistet hatte. Die Prag- 3 || || matische Sanktion hat nämlich einerseits »die staatsrechtliche und innenpolitische Selbständigkeit Ungarns und der angeghederten Landesteile gesichert«, anderer¬ seits aber, indem sie das »unteilbare und unzertrennliche Zusammenbleiben« der unter der Regierung des Herrscherhauses stehenden Länder und Provinzen er¬ klärte, die »Großmachtstellung ihrer Gesamtheit« gesichert. Diese Berufung der Thronrede auf die Pragmatische Sanktion würde eine eingehendere Analyse verdienen. Nicht wenige, heute noch unklare Züge der späteren Entwicklung würden durch die Beantwortung folgender Frage beleuchtet werden: Was mag der Grund dafür gewesen sein, daß beide Parteien im Verlaufe der Ausgleichsverhandlungen wiederholt und bewußt auf dieses, anderthalb Jahrhunderte zurückliegende Grundgesetz zurückgriffen? Im Rahmen der vor¬ liegenden Arbeit kann ich lediglich ein in engerer Beziehung zu unserem Thema stehendes Element dieses eigenartigen Zusammenhanges berühren. Auch dem barocken Text des Gesetzes vom Jahre 1723® ist klar zu entnehmen, daß die enge Verbindung Ungarns mit den österreichischen Provinzen des Deutschen Reiches, ihre »Union« - wie das Gesetz besagt -, damals nicht, wie nach anderthalb Jahrhunderten beim Ausgleich, ein Postulat der Großmachtstellung der Habs¬ burgermonarchie, sondern der Wunsch der ungarischen Stände war. Das, was im Jahre 1867 nur mehr eine Erinnerung, dabei keine überaus bedrückende Erin¬ nerung war: die Türkenherrschaft, war zur Zeit, als die Pragmatische Sanktion inartikuhert wurde, noch beunruhigende Wirklichkeit. Die aus dem Süden drohende Gefahr, gegen die Ungarn seit der Zeit der Hunyadis in einem engen Bündnis mit dem Westen Schutz suchte, bewog auch im Jahre 1723 die mit dem König verhandelnden Magnaten, die organische Verbindung ihres Landes mit den unter der Herrschaft der Habsburger stehenden westlichen Ländern zu sichern. Daß diese Verbindung, diese »Union« für das damalige Ungarn einen Vorteil darstellte, wird hauptsächlich dadurch bezeugt, daß die ungarischen Stände die »Union« als Gegenleistung für die Erbfolge der weiblichen Linie wünschten. Etwas übertrieben könnte der Gegensatz zwischen 1723 und 1867 folgendermaßen ausgedrückt werden: im Jahre 1867 war die Vorbedingung der Großmachtstellung der Habsburgermonarchie die organische Einfügung des pazifizierten Ungarns in das Reich, während im Jahre 1723 die Sicherheit, das Bestehen Ungarns gleichsam in erster Linie von einer engeren Verbindung mit den österreichischen Erblanden abhängig gewesen wäre.7 Aus dem unteilbaren Besitz folgte, daß es Angelegenheiten gibt, die allen unter der Regierung der Habsburger stehenden Ländern gemeinsam sind. Erste Aufgabe des Parlaments ist, die Art der Verhandlung und der Behandlung dieser gemein¬ samen Angelegenheiten zu bestimmen. »Das Bestehen dieser gemeinsamen Angelegenheiten findet wohl bereits in der Pragmatischen Sanktion ihre Grund¬ lage, jedoch erfordert die Art ihrer Behandlung infolge der wesentlich veränderten Umstände eine wesentliche Änderung.« Das ist ein eigenartig formuherter Teil der Thronrede. Positiv besagt er lediglich, daß die Gemeinsamkeit gewisser Ange¬ legenheiten auch von der Pragmatischen Sanktion anerkannt wurde; darüber jedoch, wie dieses wichtige Grundgesetz für die Verwaltung dieser gemeinsamen Angelegenheiten sorgte, wurde in der Thromrede nur in negativem Sinne gespro- 4 || || chen, daß nämlich infolge wesentlicher Änderung der Umstände auch in der Geschäftsführung wesentliche Änderungen eintreten müßten. Das Wesen der Änderung und der Grund für die sich als notwendig erweisenden Abänderungen wurden aber vom Monarchen in seiner staatsrechtlich bedeutenden Erklärung schon konkreter, fast modern konzipiert. Durch die inzwischen eingetretene »pohtische, volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung«, heißt es in der Thronre¬ de, »ist es unerläßlich, daß der Herrscher auch seinen übrigen Ländern und Pro¬ vinzen verfassungsmäßige Rechte gewähre .. . ebendeshalb kann ihr verfas¬ sungsmäßiger Einfluß bei der Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten nun nicht mehr übergangen werden«. In der Thronrede ist dann von jenen unmittelbaren geschichtlichen Antezeden- zien die Rede, die dazu dienten, die Verwaltung des Reiches dieser staatsrechtlich¬ politischen Erkenntnis anzupassen. Nach den Worten des Herrschers war diese Erkenntnis die Grundlage für das Diplom vom 20. Oktober 1860 und das Patent vom 26. Februar 1861. Das Oktoberdiplom wollte die gemeinsame, verfassungs¬ mäßige Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten mit dem unabweisbaren Erfordernis der Einheit und der Großmachtstellung des Reiches in Einklang bringen. Das Februarpatent erweckte Besorgnis, weil es, von der ideellen Grund¬ lage der Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten ausgehend, nur auf die Großmachtstellung des Reiches bedacht war und den Anschein erweckte, statt die Angelegenheiten der Verfassung entsprechend zu handhaben, materiellen und morahschen Zwang anzuwenden. Deshalb hob der Herrscher mit seiner Erklärung vom 20. September 1861 die Wirksamkeit des Patents vorübergehend auf. Aufgabe des nunmehr zusammentretenden Parlaments war, die auf den alther¬ gebrachten Institutionen des Landes fußende innere Struktur mit »den Voraus¬ setzungen für die Existenz des Reiches« d. h. -- wie dies in der Einleitung der Thronrede bei Interpretation der Pragmatischen Sanktion klar gesagt wurde -- mit der Großmachtstellung der Habsburgmonarchie in Einklang zu bringen.8 In der Thronrede waren in nuce alle jene Probleme enthalten, die das Parlament lösen sollte und die sich bei den Verhandlungen im Parlament und in den Kom¬ missionen ergaben. Anderthalb Jahre zogen sich die Parlamentsdebatten hin, die die konkreten sozialen und pohtischen Verhältnisse und deren tiefgehende Wider¬ sprüche getreu widerspiegelten. Im Laufe dieser Debatten hat sich die politische und Verwaltungsstruktur für das letzte halbe Jahrhundert der Österreichisch- Ungarischen Monarchie herausgebildet. Der Apparat wurde mit der Zeit sehr kompliziert, wie ja auch die Verhältnisse, unter denen er entstanden war, sehr kompliziert waren. Im Verlaufe der Debatten wurde nur selten der Gedanke aufgeworfen, daß die Generation, die den Ausgleich schloß und die Grundlagen für die neue Ordnung legte, den Ansprüchen jener Generationen, die später in dieser Ordnung leben würden, eigentlich nicht Rechnung tragen konnte. Dieser Gedanke wurde zu Beginn der Debatte über eine der entscheidendsten Fragen am klarsten von Ferenc Deäk formuliert. »Er halte es für möglich, ja für wahr- scheinlich, daß die Generation, die nach der jetzt lebenden Pohtik und Gesetz¬ gebung entscheidend beeinflußt, in dieser Beziehung von anderen Gesichtspunkten ausgehen werde, er könne aber unter den obwaltenden Umständen nur eine 5 || || Politik vertreten, die sich auf die bisherigen Gesetze gründe und mit deren Be¬ griffen in Einklang stehe.«9 In Deäks Feststellung kommt der gemeinsame, grundlegende, schicksalhafte Zug der unzähligen Widersprüche des gesamten Ausgleichs zum Ausdruck. Nämlich, daß die Parteien inmitten aktueller politischer Kämpfe für Parteiinteres¬ sen eintraten, die sie für Interessen des Landes hielten, dabei -- gewöhnlich zum Schaden der höchsten, gemeinsamen Interessen - gegenseitig kleinere oder größere Konzessionen machten und die Elemente eines politischen Baues zusammen¬ fügten, der längere Zeit bestehen sollte.10 IV Deäks Adreßentwurf kam auf die Teile der Thronrede, die sich auf den Zusam¬ menhang zwischen ungarischer Unabhängigkeit und Großmachtstellung des Reiches beziehen - die Selbständigkeit Ungarns formell verteidigend - mit auch inhaltlich wesentlich milderen Ausdrücken zurück: statt Großmachtstellung wird dort einfach von der Sicherheit des Reiches gesprochen. Es ist kein Zufall, sondern eine sehr bezeichnende und für das weitere Schicksal des Ausgleichs¬ werkes entscheidende Tatsache, daß sich Gyula Andrässy gerade in diesem Punkte der Formel Deäks am schärfsten widersetzte. Darin ist bereits die Pohtikdes späteren Ministers des Äußern, des Vorsitzenden des gemeinsamen Ministerrates, des führenden Pohtikers eines der bedeutendsten europäischen Mächte de.s vorigen Jahrhunderts enthalten. Jener Pohtik, deren letzter aktiver Vertreter der ungari¬ sche Ministerpräsident im Weltkriege, Istvän Tisza war, und deren vollkommen inhaltlos gewordene Phraseologie in den letzten Sitzungen des durch den Aus¬ gleich geschaffenen gemeinsamen Ministerrates von dem alternden Sändor Wekerle zum letztenmal benutzt wurde. Gyula Andrässy betonte in der Beratung am 28. Januar 1866, an der Deäk und Kälmän Tisza mit einigen ihrer wichtigsten Parteianhänger teilnahmen, daß auf die Thronrede, die die Großmachtstellung unterstrich, nicht mit einfacher Berufung auf die Sicherheit des Reiches geantwortet werden könne. Andrässy erklärte eindeutig: »Der Fürst will verhandeln, um die Machtstellung der Monar¬ chie zu sichern.« Das war -- womit Andrässy zweifellos recht hatte -- der Zweck des Oktoberdiploms, deshalb war das Februarpatent zustandegekommen, ja auch der Reichsrat.11 Die Versuche des Herrschers blieben erfolglos. Darauf berief er das ungarische Parlament ein. »Der Preis für den Ausgleich ist die Siche¬ rung der GroßmachtStellung.« Für Andrässys Ansicht erklärten sich Lönyay und Gorove, Tisza und seine Anhänger dagegen hielten es für unangebracht, die Frage zu diesem Zeitpunkt aufzuwerfen. Deäk widersetzte sich entschieden. Er berief sich darauf, daß in der Pragmatischen Sanktion nur von Sicherheit die Rede sei, worin ledighch die Idee der gemeinsamen Verteidigung zum Ausdruck komme.12 Die Proklamierung der Großmachtstellung sei von größerer Tragweite. Was er unter größerer Tragweite verstand, geht ebenfalls aus Deäks Worten hervor: die Betonung der Großmachtstellung verweise über die Sicherheit, die Verteidigung hinaus auf Angriff. Damit hatte Ferenc Deäk in Gyula Andrässys 6 || || Formel den wesentlichsten Zug der imperialistischen Politik aufgezeigt. Hier verwies er darauf, daß die nächste Generation bereits von anderen Gesichtspunkten ausgehen werde als er. Der um beinahe eine Generation jüngere Andrässy war schon ein Vertreter dieser Generation. Ich will damit bei weitem nicht behaupten, daß die Frage des Imperialismus der Monarchie das Problem der Generationen ist. Es handelt sich nur darum, daß sich im politischen Denken Deäks die gesell¬ schaftlich-politischen Verhältnisse einer untergehenden Welt widerspiegelten. Jenes Ungarns, das in den Munizipien ruhig Selbstverwaltung spielte und mit dem sich der absolute Herrscher, wenn sein Reich bedroht war, über größere militärische und finanzielle Hilfe einigte. Als Andrässy sah, daß seine Ansicht gegenüber dem großen Ansehen Deäks in der Minderheit blieb, verzichtete er auf eine Debatte. Wobei er mit Sicherheit überzeugt war, daß die Großmachtstellung des Reiches ohnehin nicht von der Phraseologie eines Absatzes des bevorstehenden Ausgleichs abhängt. Die Debatte um den Ausgleich zeigte also gleich zu Beginn die Schwierigkeiten, die unlösbaren inneren Widersprüche der Aufgabe, der sich Deäk und die übrigen Politiker gegenüber sahen. Wenn Andrässy auch davon Abstand nahm, daß seine klare Erkenntnis, die Notwendigkeit der Sicherung der Großmachtstellung der Monar¬ chie, in dem in Vorbereitung befindlichen Gesetz eindeutig und adäquat formuhert wurde, so lebte dieses Problem doch die ganze Zeit hindurch im Bewußtsein der verhandelnden Parteien fort. Andrässy beharrte - worauf ich bei der Besprechung der Verhandlungen noch zurückkommen werde -- bis zum Schluß bei seiner ursprünglichen pohtischen Auffassung und hat damit letztlich dahin gewirkt, daß die neue politische und Verwaltungseinrichtung der Monarchie trotz der -- zweifellos schwachen -- bremsenden Wirkung der Kräfte der ungarischen Unabhängigkeit im Geiste der Reichs- und Großmachtpohtik entstand und die zur Führung dieser Großmachtpolitik notwendigen Elemente enthielt.13 Im wesentlichen handelte es sich darum, daß Ungarn durch die Niederschlagung der Revolution in den Rahmen der absolutistischen Habsburgermonarchie zurückgeführt worden war und jetzt jene regierungspolitischen Formen aus¬ gearbeitet werden mußten, in deren Rahmen bei Berücksichtigung der in den anderthalb Jahrzehnten seit der Revolution eingetretenen äußeren und inneren Veränderungen es möglich war, zu leben. Schon die Antwortadresse auf die Thronrede war in dieser eigenartigen Phraseo¬ logie konzipiert, bestrebt, die grundlegende Tatsache, die Negierung der juristi¬ schen Anerkennung des Umstandes, daß Ungarn organischer Bestandteil eines Reiches wurde, und der damit zusammenhängenden schweren Folgen »annehm¬ bar« abzufassen. Die Antwortadresse dankte vor allem dafür, daß die Thronrede die Pragmatische Sanktion als von beiden Seiten anerkannte Rechtsgrundlage zum Ausgangspunkt gewählt hatte.14 Das um so mehr als dieses Grundgesetz die staatsrechtliche und innenpolitische Selbständigkeit Ungarns sicherte. »Und die gesetzliche und ver¬ nunftgemäße Beschränkung dieser Selbständigkeit«, heißt es weiter in der Ant¬ wortadresse, »sehen Ew. Majestät allein darin, daß dieselbe Pragmatische Sank¬ tion das unteilbare und unzertrennliche Zusammenbleiben der unter der Regierung 7 || || der Dynastie Ew. Majestät stehenden Länder und dadurch die Großmachtstellung15 ihrer Gesamtheit ständig feststellte.« Das der Thronrede entnommene Zitat, das von der Großmachtstellung der Gesamtheit der unter der Regierung der Habsburger stehenden Länder sprach, wurde von der Antwortadresse in der Idee der gemeinsamen Sicherheit aufgelöst, dahin gedeutet, daß der Zusammenhalt, die gemeinsame Regierung für die ver¬ schiedenen Länder eine erfolgreiche Verteidigung gegen den gemeinsamen Feind ermöglicht. Das war jedoch lediglich eine juristische Umformulierung des Wesent- lichen, des tatsächlich unlösbaren Widerspruchs zwischen der Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit Ungarns und seiner Zugehörigkeit zu einer Monarchie, die Großmachtpolitik betrieb. Die Antwortadresse kehrt -- gleichsam als Beruhigung -- immer wieder darauf zurück, daß die ungarische Unabhängigkeit die Interessen des Reiches in keiner Weise bedrohe. »Wir haben bereits in unserer Adresse des Jahres 1861 erklärt daß wir den Bestand des Reiches nicht aufs Spiel setzen wollen.« »Wir verlangen keine pohtische Unmöglichkeit, wir wollen die Sicherheit des Reiches nicht gefährden .. .« Und in der Tat lag dies auch der politischen Konzeption Deäks fern, mehr noch der Gyula Andrässys, was klar aus ihrer Deutung der Begriffe Selbständigkeit und Unabhängigkeit erhellt. Auch der Verfasser der Antwort¬ adresse hegte Zweifel: wenn die verfassungsmäßige Selbständigkeit des Landes auch im Zeitalter der Pragmatischen Sanktion mit der Sicherheit des Reiches in Einklang gebracht werden konnte, wird dies durch die Veränderungen der euro¬ päischen Kräfteverhältnisse in den seither verflossenen fast anderthalb Jahrhun¬ derten nicht notwendigerweise illusorisch? Es ist bezeichnend, daß Deäk gerade in den Kämpfen dieser anderthalb Jahrhunderte die Bestätigung dafür erblickt, die Frage zu verneinen. In diesen Kämpfen - heißt es in seinem Adreßentwurf -- konnte das Reich verteidigt werden ohne »daß damit Ungarns Selbständigkeit und gesetzliche Unabhängigkeit geschädigt werden mußte«.16 Das Deäksche Ideal der Selbständigkeit der inneren Verwaltung und der außen¬ politischen Unabhängigkeit ist also das Ungarn der Pragmatischen Sanktion. Diese Form der Unabhängigkeit und Selbständigkeit wurde durch die Großmacht¬ ansprüche der Habsburgmonarchie tatsächlich nicht bedroht.17 Obzwar sich Ferenc Deäks politische Vorstellungen von denen Gyula Andrässys nur in der Phraseologie unterscheiden -- wie dies aus der obigen Parallele klar hervorgehen dürfte -- war die Partei mit Deäks Pohtik unzufrieden. Viele waren der Meinung, der Umstand, daß der Adreßentwurf die Großmachtstellung der Monarchie nicht ausdrücklich betonte, werde die »vor allem erwünschte Ver¬ söhnung« ernstlich gefährden. Eigenartigerweise erblickten sie in Deäks Auf- fassung eine Rückständigkeit. Ein hervorragendes Mitglied der Deäk-Partei fragte: »... und schließlich, wenn in der ganzen Welt neue politische Richtungen durch¬ dringen und von Pfaden, die seit dem Mittelalter bis zum Ende des vorigen Jahr¬ hunderts beschritten wurden, nun abgewichen wird, können dann wir allein uns an die althergebrachten Traditionen halten?«18 Das auf die Antwortadresse am 3. März 1866 gegebene königliche Reskript hat denen recht gegeben, die befürchteten, die Nichtbetonung der Großmacht- 8 || || Stellung könnte einen erfolgreichen Abschluß der Ausgleichsverhandlungen gefährden. Im königlichen Reskript heißt es nämlich: »Die zur ungarischen Krone gehörigen Länder bilden einen sehr beträchtlichen Teil der Gesamtheit unseres Reiches« und ihr Zusammenhang mit den übrigen Provinzen des Reiches wirke sich auf die innere Entwicklung und die äußere Sicherheit der beiden Parteien aus; dann wird mit Bedauern festgestellt, daß für den Zusammenhang, für die Regelung der Beziehungen bisher nicht entsprechend gesorgt worden sei! Durch eine »derartige selbständige Verwaltung der mit den übrigen Teilen des Reiches gemeinsamen Verwaltungszweige - heißt es im könighchen Reskript -, wie dies im Ges. Art. III vom Jahre 1848 bei Außerachtlassung des erforderlichen organischen Zusammenhanges festgelegt wurde, wird nämlich die Möglichkeit einer erfolgreichen Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten ausgeschlos¬ sen.«19 Und als Antwort auf die überholten Formen der Konzeption (Erscheinen der Selbständigkeit im Rahmen der Komitate) wird als größter Mangel der Gesetze vom Jahre 1848 erwähnt, sie hätten das Gefüge der allgemeinen Verwaltung des Landes verändert, ohne sie mit der althergebrachten Komitatsinstitution in Einklang zu bringen. Die Herstellung der Rechtskontinuität auf der Grundlage der Gesetze vom Jahre 1848 wird im königlichen Reskript verweigert. Statt dessen verweist es auf die rehgiösen Empfindungen des Herrschers als sicherste Gewähr für die konstitutionelle Existenz des Landes.20 Das Reskript hat allgemein Anstoß erregt und auch Deäk war sehr verdrossen.21 Der neue Adreßentwurf (ebenfalls von Deäk), der vom Abgeordnetenhaus am 20. März, vom Magnatenhaus am 18. April, wenn auch nach einer Debatte, doch unverändert angenommen wurde, war wesentlich gemessener.22 Es wurden die Gesichtspunkte wiederholt, die von der Pragmatischen Sanktion ausgehend versuchten, den Wunsch nach Selbständigkeit mit Ungarns Zugehörigkeit zum Reiche in Einklang zu bringen. Ein neues Moment enthält der Teil, der beweist, daß die Regierung durch ein verantwortliches Ministerium und das altherge¬ brachte Komitatssystem in Einklang stehen.23 Während der Herrscher und das Parlament einander Reskripte und Adressen zusandten, begannen die vorbereitenden meritorischen Arbeiten für den Aus¬ gleich. Hierzu entsandte das Parlament eine aus 67 Mitgliedern bestehende Kommission, die am 22. März 1866 zum erstenmal zusammentrat. Später wurde von dieser Kommission eine aus 15 Mitgliedern bestehende Subkommission delegiert und beauftragt, auf Grund des bereits angenommenen Verhandlungs¬ programms den endgültigen Entwurf für den Ausgleich auszuarbeiten. Diese Fünfzehner-Subkommission hielt ihre erste Sitzung am 5. Mai ab, über deren Verlauf wir durch die Tagebuchaufzeichnungen der Sitzungsteilnehmer -- Gorove, Lönyay -- informiert sind.24 V Bei den im Frühjahr 1866 beginnenden Verhandlungen ging es darum, den Bestand, ja die Funktionsfähigkeit eines mit absolutistischen Methoden regierten und nach außen Großmachtpolitik betreibenden Reiches auch unter den ver- 9 || || änderten Verhältnissen zu sichern. Bestand und Funktionsfähigkeit hingen nicht nur davon ab, ob die Regierungsorgane, die die verhandelnden Parteien als Ergebnis der Ausgleichsverhandlungen schaffen sollten, gesund sein und den aktuellen Forderungen entsprechen würden, sondern - wegen der Eigenart der politischen Lage - auch von den Formen, in die das Übereinkommen gegossen wurde. »Wir können zwischen zwei Feuer geraten«, sagte der konservative Apponyi in der Sitzung der Subkommission am 11. Mai, als die verschiedenen Bedingungen des Ausgleichs erwogen wurden, »zwischen die Regierung und die Völker, die eine Verfassung erhalten werden«.25 Deshalb hielt Deäk die Pragmatische Sanktion für einen guten Ausgangspunkt und deshalb stellte auch die Thronrede -- offenbar nach vorheriger Absprache mit Deäk - dieses Grundgesetz der Habsburger¬ monarchie in den Mittelpunkt des Gedankenganges. Dem Herrscherhaus gegen¬ über schien die Pragmatische Sanktion die Gewähr für den politischen guten Willen zu sein, den Anhängern der Selbständigkeit von 1867 konnte als Beruhigung dienen, daß sich auch die 48er Gesetze auf die Pragmatische Sanktion berufen hatten. Apponyis Bemerkung »wir können zwischen zwei Feuer geraten« war eine Reflexion auf Ferenc Deäks Feststellungen zu Beginn der Debatte. Die Pragma¬ tische Sanktion setze eine gemeinsame Verteidigung voraus. Sie sei auch jetzt erforderlich. Der Unterschied zwischen der damaligen und der jetzigen Lage bestehe darin, daß der König vor anderthalb Jahrhunderten ein absoluter Herrscher gewesen sei, »jetzt sagt auch die Thronrede, daß es hier und auch jenseits der Leitha eine Verfassung gibt: tretet also mit ihnen in Verbindung«, erklärte Deäk. Apponyi gab - vom Standpunkt des konservativen Politikers mit vollem Recht - seiner Befürchtung Ausdruck, die den Ausgleich suchenden Ungarn könnten zwischen zwei Feuer geraten. Interessanterweise kam dieselbe Befürchtung - natürlich in eine andere politische Formel gegossen - auch im Kreise der links von Deäk stehenden Pohtiker zum Ausdruck. Ghyczy sagte, er würde die ungari¬ sche Verfassung nicht gern der Verfassungsmäßigkeit derer jenseits der Leitha subordinieren.27 Man hegte also von rechts wie von links Sorge, die von Ferenc Deäk bestimmten Modalitäten und Formen der Verhandlungen könnten eine für die ungarische herrschende Klasse günstige Lösung des Ausgleichs gefährden. Nachdem die im Sinne der Pragmatischen Sanktion gemeinsamen Angelegen¬ heiten besprochen worden waren und jene Gegenstände an die Reihe kamen, für die nicht nach dem Grundgesetz, sondern aus anderen politischen Gründen - wie sich Deäk ausdrückte - »aus der Gemeinsamkeit der Interessen«, eine gemeinsame Handhabung angebracht schien - wie die Staatsschulden, die Handels- und Zollangelegenheiten, die an die wirtschaftliche Grundlage der Habs¬ burgmonarchie rührten --, beantragte Deäk, man sollte über diese Fragen mit den übrigen Ländern Sr. Majestät als freie Nation mit freier Nation eine Einigung suchen.28 Apponyi, der noch vor kurzem befürchtet hatte, die den Ausgleich suchenden Ungarn könnten zwischen zwei Feuer geraten, erklärte nun unmi߬ verständlich den Grund seiner Besorgnis: aus dem Deäkschen Konzept sollte die Formel »freie Nation mit freier Nation« weggelassen werden, weil wir mit xo || || S. Majestät leichter fertig werden als mit jenem Turm von Babel, der Reichs- vertretmg«.29 Um diese offen verfassungswidrige Bemerkung Apponyis zu über¬ brücken, entschloß sich Deäk in seiner Bedrängnis zu einem Terminplan, der Wesen und Inhalt des Ausgleichs schon in vorhinein festlegte: »Zwei Stadien. Zuerst verhandeln mit S. Majestät, dann mit ihnen.«30 Wie wir wissen -- wir werden noch darauf zurückkommen - war das zweite Stadium nur der Form nach ein Verhandeln. Die Vertreter der zisleithanischen Länder S. Majestät konnten nur noch darüber verhandeln, in welche österreichische Form der zwischen dem Herrscher und den Ungarn geschlossene Ausgleich gegossen werden sollte.31 Und was sagten Kalman Tisza und seine Anhänger, die Verteidiger der ungari¬ schen Selbständigkeit auf Grund eines Ausgleichs hierzu? Die Formel »freie Nation mit freier Nation« mißfiel auch ihnen, einen Kontakt mit den übrigen Völkern S. Majestät wollten auch sie nur ungern.32 An Verhandlungen über gemein¬ same Probleme, die von beiden Seiten unter verfassungsmäßigen Formen geführt wurden, war ihnen nichts gelegen, weil sie darin das Gespenst eines gemeinsamen Reichsparlaments auftauchen sahen. Die Angst der Konservativen vor Verhand¬ lungen mit dem Turm von Babel und die Furcht des halbunabhängigen Kalman Tisza und seiner Anhänger vor dem Reichsparlament, diese beiden, aus verschie¬ denen Wurzeln entspringenden, negativen Kräfte genügten, daß es nicht zu einem Ausgleich kam, wie er in Deäks Worten als verfassungsmäßig hingestellt worden war, sondern zu einer Teilung der Macht zwischen den beiden Nationen und dem bedrängten Herrscher. Diese Besonderheit der politischen Lage erkannte Gyula Andrässy und formuherte sie so, wie es Deäk nicht ausgesprochen hat: er wünsche nicht, sich mit allen Völkern Sr. Majestät in verfassungsmäßige Verhandlungen einzulassen, er brauche ein ungarisch-deutsches Bündnis, mit einem Wort und klar ausgedrückt: einen Dualismus.TM Die »folgende Generation« hat also den pohtischen Rahmen, innerhalb dessen der Ausgleich zustandekam, bereits beim Namen genannt. Wie und mit welchem Inhalt wurde nun dieser Rahmen ausgefüllt? Nach Deäk war mit dem Fürsten auf der Grundlage der Pragmatischen Sanktion über die gemeinsamen Angelegenheiten verhandelt worden, »weil er absoluter Herr war«.34 Jetzt hat der König, in seiner Thronrede bereits erklärt: nachdem er nunmehr auch seine übrigen Länder und Provinzen mit verfassungsmäßigen Rechten ausgestattet hat, könne der verfassungsmäßige Einfluß derselben bei Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten bzw. bei den Verhandlungen über die Methoden ihrer Verwaltung nunmehr nicht vermieden werden. »Die erste Bedingung ist also«, erklärte Deäk, »daß unsere Verfassung wiederhergestellt wird und daß auch denen jenseits der Leitha eine Verfassung gegeben wird.« Er faßte die Grundsätze auch in Punkte zusammen. Aus unserem Blickwinkel ist der zweite Punkt interessant, das Prinzip der Parität. »Da die Pragmatische Sanktion den Ausgangspunkt bildet, da es zwei vertragschließende Parteien gibt, muß es eine Parität geben.«35 Erinnern wir uns: als davon die Rede war, die Ausgleichsverhandlungen könnten eventuell durch langwierige Debatten im Reichsrat ins Stocken geraten, verriet Deäk, daß man ja eigentlich nicht in erster Linie mit den verfassungsmäßigen Organen der österreichischen Reichshälfte n || || verhandeln werde, sondern mit dem Herrscher. Er sprach zwar von zwei Stadien, trotzdem war klar, daß das zweite Stadium der Verhandlungen nun mehr eine Formsache sein würde.36 Der Vater des Ausgleichswerkes glaubte vielleicht, daß auch das zweite Stadium der Verhandlungen eintreten werde, wobei allerdings auch ihm klar sein mußte, daß die verfassungsmäßige Unabhängigkeit der ungari¬ schen Nation nicht von den Völkern jenseits der Leitha, sondern vom absolutisti¬ schen Herrscher gefährdet wurde. Der Konflikt mußte also mit ihm gelöst, der Ausgleich mußte mit ihm abgeschlossen werden und nicht mit den ebenfalls unterdrückten Völkern seiner Erblande. Das war der grundlegende Zug der geschichtlichen Lage, in der der Ausgleich zustandekam. Als sich die Verhandlun¬ gen verschärften, als man das Wesentliche suchte und dies nicht mehr umgangen werden konnte, schlug bei den liberal-parlamentarischen Floskeln (»freie Nation mit freier Nation«) immer wieder dieser, den Gang der Verhandlungen und deren Endergebnis bestimmende Grundton durch. Das müssen wir vor unseren Augen halten, wenn wir den Weg weiter untersuchen, auf dem Deäk und seine Anhänger die für die letzten fünfzig Jahre der Monarchie entscheidenden höchsten Organe der Exekutive und eines Teiles der Legislative schufen. Im folgenden möchte ich statt der chronologischen Reihenfolge der Gescheh¬ nisse die ideengeschichtlichen Zusammenhänge in den Vordergrund treten lassen. Der Konzeption Deäks und seiner Anhänger werde ich nicht nur die Auffassung der Opposition, der in der Minderheit gebhebenen Gruppe Tisza--Ghyczy gegen¬ überstellen, sondern auch das spätere Verhandlungsmaterial des Reichsrats. Das ist um so eher möglich, da ja bekanntlich der Reichsrat nur noch über Annahme oder Ablehnung des zwischen dem Herrscher und dem ungarischen Parlament geschlossenen Ausgleichs zu entscheiden hatte. Die Möglichkeit einer meritori- schen Verhandlung hatte der Reichsrat nicht.37 Wenn sich also der Reichsrat auch später mit dem Ausgleich befaßte, konnte er auf das bereits früher zustande¬ gekommene Übereinkommen, auf Inhalt und Form des zwischen dem Herrscher und den ungarischen Politikern geschlossenen Ausgleichs keinen Einfluß mehr nehmen. Worin lag das Wesen des Standpunkts der ungarischen Liberalen und inwiefern deckte sich ihre Stellungnahme mit der politischen Konzeption der Opposi¬ tion? Die Beantwortung dieser Fragen -- besonders der letzteren, denn die innerungarische Einigung bildete ja den Kern des Ausgleichs mit dem Herr¬ scher -- kann das Verständnis für das komplizierte Ausgleichswerk, die fehler¬ hafte Konstruktion der Habsburgmonarchie nach 1867 erleichtern. Jözsef Eötvös schrieb am 1. August 1865 ah Gyula Andrässy: »... vor allem muß nicht nur unsere administrative Autonomie gesichert werden, sondern auch unsere staatliche Selbständigkeit.. .,38 doch müssen wir auch für Mittel und Wege sorgen, mit denen die Machtstellung des Reiches -- das auch unser Reich ist, und dessen Stellung daher mit unserem Wohlstand in Verbindung steht -- erhalten wird...« »Das Reich. .. ist auch unser Reich«. Unser Wohlstand hängt von diesem ab -- stellte Eötvös fest. In der Thronrede wurde die Aufrechterhaltung der Großmachtstellung der Monarchie als »conditio sine qua non« des Ausgleichs hingestellt. Die ungarische herrschende Klasse hatte also klar erkannt, daß die 12 || || Erhaltung der Großmachtstellung der Monarchie auch ihr Interesse war. Diese Interessengemeinschaft schuf dann die reale Grundlage zum Ausgleich mit dem Herrscher. VI Was bedrohte nun, nach Auffassung der den Ausgleich betreibenden ungarischen Politiker, den Erfolg der mit Franz Joseph I. geführten Ausgleichsverhandlungen bzw. die Funktionsfähigkeit der aus diesen Verhandlungen hervorgehenden Regie¬ rungseinrichtung ? Wie wir bereits gesehen haben, als wir auf die Meinung der rechts und links von Deäk stehenden Pohtiker (Apponyi bzw. Tisza und Anhänger) zu sprechen kamen, war es das parlamentarische Gegengewicht gegen den gemein¬ samen Herrscher und die gemeinsame Regierung, das gemeinsame Parlament, das die einen als Turm von Babel verspotteten, und von dem die anderen befürchte¬ ten, es werde auch die noch verbhebene Unabhängigkeit verschlingen. Die Verhandlungen waren bereits in vollem Gange, als das Blatt »Debatte« in einem von Ferenc Deäk inspirierten Artikel den ungarischen Standpunkt kurz folgendermaßen konzipierte: »Wir sind nur in dem einig, was wir nicht wollen, und das ist: ein 'Zentralparlament'.«39 Die ungarische Basis eines Übereinkom¬ mens war also ein Negativum. Genauer gesagt: das in der einhelligen Verneinung eines gemeinsamen Parlaments zum Ausdruck kommende Positivum ist es, was Istvän Tisza in den kritischsten Stunden der Österreichisch-Ungarischen Monarchie am klarsten formuherte: die Hegemonie des Ungartums bzw. der ungarischen herrschenden Klassen kann nur im Rahmen der ihre Großmachtstellung bewahren¬ den Monarchie gesichert werden. Es war daher kein Zufall, daß die Politiker, die den Ausgleich schlossen, die meiste Energie gerade auf die Umschreibung jener Institution, auf die genaue Determinierung ihrer Tätigkeit aufgewandt haben, die es ermöglichte, den Gegenstand ihrer gemeinsamen Angst (der gemeinsamen Angst Deäks und Tiszas und ihrer Parteigänger), das Reichsparlament auszu¬ schalten.40 In ihm erblickten sie -- mit Recht -- das gefährlichste Organ einer möglichen Majorisierung des Ungartums. »Bezüglich jenes Teiles der gemeinsamen Angelegenheiten, die nicht klar in den Bereich der Regierung gehören, halte ich weder einen totalen Reichsrat, noch ein, ganz gleich mit welchem Namen zu benennendes gemeinsames oder zentrales Parlament für zweckmäßig«, erklärte Deäk am 5. Juni auf der Sitzung der 67er Kommission zur Vorbereitung des Ausgleichs.41 Diesen Standpunkt begründete er prinzipiell damit, daß die Länder der ungarischen Krone einerseits und die übrigen Länder und Provinzen der Habsburger andererseits zwei vollkommen gleichberechtigte Parteien seien; bei der Verwaltung der gemeinsamen Angelegen¬ heiten müsse daher Parität herrschen. Die geschichtlich-logische Entgleisung des ungarischen Standpunktes, richtiger der den Ausgleich schaffenden Auffassung Deäks, was das Stocken des Staatsapparates der Monarchie, die wiederholte Lahmlegung ihres Parlamentarismus und schließlich ihren Bankrott im Welt¬ kriege verursachte, liegt hier, unmittelbar in den Folgerungen, die aus der die Parität feststellenden These gezogen wurden.42 Nach dem Grundsatz dieser Parität soll von seiten Ungarns das -ungarische Parlament aus seinen eigenen 13 || || Reihen eine aus einer bestimmten Anzahl von Mitgliedern bestehende Kommission (delegatio), und zwar aus beiden Häusern des Parlaments wählen. Die übrigen Länder und Provinzen Sr. Majestät sollen ihrerseits auf ähnlich verfassungsmäßige Weise eine aus ebensoviel Mitgliedern bestehende Kommission wählen.43 Nach seinen Worten sei dies ein Erfordernis der parlamentarischen Parität, der Gleichheit, der Gleichberechtigung der vertragschließenden (richtiger einander gegenüber¬ stehenden) Parteien. Bevor ich auf das parlamentarische Gebilde, das aus den Debatten hervorge¬ gangen ist, näher eingehe, muß ich zum Verständnis der Motive, die Deäk und seine Anhänger leiteten, einiges über die Methoden sagen, die für den Verkehr zwischen der österreichischen und der ungarischen Delegation vorgeschlagen (und später auch in den Text des Gesetzes übernommen) wurden. »Die beiden Kommissionen können nicht in gemeinsamer Sitzung miteinander beraten, sondern jede teilt der anderen ihre Ansichten und Beschlüsse schriftlich mit und beide trachten im Falle von Meinungsverschiedenheiten danach, einander durch schriftliche Botschaften aufzuklären« -- diktierte Ferenc Deäk den Teil seines Vorschlages.44 Sollte durch den Austausch von Botschaften keine Übereinstim¬ mung der Ansichten erzielt werden können, dann -- und nur in diesem Falle und nur zu einer einzigen Abstimmung -- halten die beiden Delegationen eine gemeinsame Sitzung ab. Andrässy, der, wie schon erwähnt, die Dinge bereits unverhohlen vom Gesichtspunkt der Habsburgmonarchie als einer Großmacht, die auch die Interessen der ungarischen Großgrundbesitzer zu sichern vermochte, betrachtete, sprach sich gegen gemeinsame Sitzungen der beiden Delegationen aus. Eine gemeinsame Abstimmung hielt er für gefährlich; er befürchtete, dabei könnten die Ungarn majorisiert, überstimmt werden. Er berief sich auf das Beispiel der Sachsen. »Was ist aus ihnen durch ihr Eintreten in den Reichsrat, durch den Kontakt mit den Deutschen geworden ?« -- fragte er. Er stellte sie als warnendes Beispiel hin: Was wird das Los der ungarischen Mitglieder der Delega¬ tion im Falle einer gemeinsamen Abstimmung sein ? Die ungarländischen Natio- naütäten verbünden sich mit den übrigen Fremden (er dachte offenbar an die slawischen Mitglieder der österreichischen Delegation). »Eine gemeinsame Sitzung ist daher nicht notwendig« -- zog er die Schlußfolgerung.45 Die wirklichen Gründe für die Bildung zweier Delegationen erhellen durch Andrässys scharfe Formulierung. Auch die formale Begründung hat -- mit Deäk debattierend -- er gegeben: »Da es zwei separate Ministerien gibt, bildet die Delegation zwei separate parlamentarische Körperschaften.«46 Wenn ich auf die Debatte und das Ausgleicbsgesetz zu sprechen komme, werde ich noch auf die allgemein bekannte Tatsache verweisen, daß schließlich im gemeinsamen (nach dem österreichischen Gesetz Reichs-) Ministerium -- was seinen Wirkungs¬ bereich anbetrifft -- eine über dem österreichischen und dem ungarischen Mini¬ sterium stehende Spitzenregierung geschaffen wurde.47 Hier möchte ich das Augen¬ merk nur auf das wiederholte, aus politischen Gründen erfolgte logische Abgleiten lenken: die ungarischen Liberalen begründeten die Notwendigkeit von zwei Par¬ lamentskommissionen (Delegationen) gegenüber dem gemeinsamen, einheitlichen Reichsparlament mit dem Vorhandensein zweier separater, selbständiger Regierun- 14 || || gen. Auch die Ablehnung einer gemeinsamen Abstimmung wurde formal damit begründet. Kalman Tisza kritisierte zu Recht diese Form der parlamentarischen Handhabung der gemeinsamen Angelegenheiten. »Selbständige, freie Nationen verhandeln über Angelegenheiten, die sie gemeinsam interessieren, über ihre Regierungen.«48 Für Ungarn verbindliche Beschlüsse bzw. Gesetze kann nur das gesetzliche ungarische Parlament bringen. Die Delegationen wären ein ständiges gemeinsames Organ zur Verbindung mit den Völkern der Erblande, eine Art Reichsparlament in primitiver Form,49 wir dagegen sind als freie Nation nur bei völliger Wahrung unserer Unabhängigkeit bereit, mit den Völkern der Erblande, als freie, in konstitutionellem Rahmen lebenden, ebenfalls selbständige Nation fallweise in Verbindung zu treten. (Kaiman Tisza und seine Anhänger wollten die österreichisch-ungarische Verwaltung im wesentlichen auf die normalen Verkehrsformen zwischen zwei Staaten, die besonders gute Beziehungen und auf allen Gebieten enge Verbindungen unterhalten, reduzieren.)50 In diesem Spiegel sind also die inneren (politischen und logischen) Widersprüche des Deäkschen Ausgleichsentwurfes klar zu erkennen. Die schwerfällige Institution der Delegationen schien formal ein parlamentarisches Gegengewicht der zwei selbständigen Regierungen zu sein, in Wirklichkeit waren sie ein schlecht funktio¬ nierendes, verkümmertes Reichsparlament, das -- wie sich später erwies - durch sein wiederholtes Aussetzen und schließlich völliges Versagen das gemeinsame Ministerium und den Herrscher bzw. die dahinter verborgenen Kräfte von ihrem parlamentarischen Hemmschuh befreite. Und dieses Fehlen eines echten parla¬ mentarischen Gegengewichtes ermöglichte es, die Monarchie in scheinbar moder¬ ner Umhüllung auch weiterhin absolutistisch zu regieren. Nachdem wir Deäks Konzeption im Spiegel der Ansichten der ungarischen Op¬ position betrachtet haben, stellen wir sie nun vor den Spiegel der »post festa«- Debatte im österreichischen Reichsrat.51 Vor allem: diese Frage durch Delegatio¬ nen zu lösen, hielten ausnahmslos alle Redner für ungesund und künstlich,52 aber sie betrachteten sie auch fast ebenso ausnahmslos als eine Institution, die wei¬ ter entwickelt werden könnte. (Dabei dachten sie natürlich an eine Entwicklung in zisleithanischem Sinne.) Dieser Vorstellung lag ohne Zweifel eine gute Absicht zugrunde: das zeitweilige Zusammentreten der Delegationen zu gemeinsamen Ab¬ stimmungen würde mit der Zeit öfter erfolgen und damit langsam zur Gewohn¬ heit werden. Später würden dann in diesen gemeinsamen Sitzungen nicht nur Ab¬ stimmungen, sondern auch Beratungen, Debatten stattfinden. Nicht nur über Bud¬ getfragen, sondern auch über Probleme, die nach der ursprünglichen Konzeption Ferenc Deäks und der in den Jahrzehnten des Dualismus erstarrten ungarischen staatsrechtlichen Auffassung nicht in den Aufgabenkreis der Delegation gehörten.53 Nach Ansicht der österreichischen Parlamentarier hätte das Leben die Mi߬ bildung der Delegationen allmählich zu einem gesunden, arbeitsfähigen Reichs¬ parlament umgewandelt. Ein wesentliches Element dieser erhofften »Entwicklung« war die von österreichischer Seite stark beanstandete Tatsache, daß die Institution der Delegationen nur ein Bestandteil der gesamten Gesetzgebung war, das Aus¬ gleichsgesetz ihr aber bedeutend wichtigere, weiterreichendere Rechte (das Recht zu Votierung des gemeinsamen Budgets) zusicherte als dem Ganzen. Durch dieses !5 || || weitreichende Recht wurde das Teil-Parlament, die Delegationen schon im vorhinein über die Gesamtheit gestellt. »Die staatsrechtliche Abnormität zeigt sich am krassesten darin, daß über die von den Delegationen bewilligten gemein¬ samen Ausgaben im Reichsrat nicht mehr abgestimmt werden kann und dieser nur mehr die Aufgabe hat, für die Deckung der von den Delegationen vorgelegten Ausgaben zu sorgen, und daß daher die eigentliche entscheidende und die ent¬ sprechenden Summen bewilligende Körperschaft und die diese Summen auf¬ bringende Körperschaft nicht identisch sind.«54 Trotz aller Schwierigkeiten, trotz des gekünstelten und ungesunden Wesens der Institution betrachteten die öster¬ reichischen Parlamentarier im gesamten Ausgleichswerk dennoch die Delegationen als den Punkt, der die Einheit des zerbröckelnden Reiches wiederherstellen könnte. Sehr richtig stellten sie fest, daß die Ungarn diese eigenartige Form des parlamenta¬ rischen Lebens als Konzession an den Reichsgedanken betrachteten, sie selbst darin aber den Anfang jenes Weges sahen, der zur innigeren Verbindung der beiden Reichshälften führen würde.55 Im Spiegel der österreichischen Parlamentsdebatte erscheinen die Delegationen womöglich als noch wichtigere Institution als im Spiegel der ungarischen Debat¬ ten. Zweifellos sahen beide Parteien, besonders die Österreicher, von ihrem Standpunkt in den Delegationen den Angelpunkt des Ausgleichs. Dies war tatsächhch eine zentrale Frage, denn der Umstand, daß die Delegationen suk¬ zessive funktionsunfähig wurden, führte dazu, daß die Kräfte der zentralen Regierung schrankenloser zur Geltung kommen konnten.56 Fast genau so, wie es sich bei Abschluß des Ausgleichs der Herrscher bzw. die hinter ihm ver¬ borgenen österreichischen zentralistischen Kreise vorgestellt hatten, wurde -- wie wir noch sehen werden --, gefördert durch die Angst der ungarischen herrschen¬ den Klasse vor einem »Reichsparlament«, bei der Festlegung des gesetzlichen Rahmens der Tätigkeit der Delegationen tatsächhch den absolutistischen Bestre¬ bungen zunehmend Raum gegeben. Es war ein -- sagen wir -- »technisches« Element des Staatsapparates der Monarchie, das, wie sich wiederholt, zuletzt im Laufe des ersten Weltkrieges, erwies, keiner größeren Belastung gewachsen war. Das in den Delegationen nur unvollständig verwirklichte Reichsparlament wurde weder in Österreich noch in Ungarn durch Vertretungsorgane ersetzt. Daran änderte auch der Umstand nichts, daß im Verlaufe der fünf Jahrzehnte Dualismus im ungarischen wie im österreichischen Parlament häufig heftige außenpolitische Debatten stattfanden. Dem gemeinsamen Minister des Äußeren, dem Haupt der »Reichs«-Regierung stand niemals der massive Block eines ein¬ heitlichen »Reichs«-Parlaments gegenüber. Das Fehlen eines Reichsparlaments war für den weiteren Gang der Dinge nicht unwichtig, es lohnt sich, zu untersuchen, wie aus den Anträgen der Delegationen Gesetze wurden. VII Die ungarische und die österreichische Fassung des Ausgleichsgesetzes decken sich nicht in allen Punkten der Bestimmung der Delegationen. Vor allem ist die Einleitung des entsprechenden Absatzes im ungarischen Gesetz (§ 28), der die 16 || || bereits dargelegte ungarische Stellungnahme gegen ein Zentralparlament umfaßt, im österreichischen Gesetz nicht enthalten. Allgemein gesehen, ist die österreichi¬ sche Version mehr summierend, die ungarische mehr detaillierend.57 Wie sehr die Frage der Delegationen ein zentrales Problem war, erhellt auch aus der Eigenart des österreichischen Ausgleichsgesetzes, daß es als Ergänzung zum Staatsgrundge¬ setz über die Reichsvertretung inartikuhert wurde. Im österreichischen Staatsrecht fungiert daher das Ausgleichsgesetz als Delegationsgesetz.58 Im weiteren werde ich auf Grund der gleichlautenden Bestimmungen der beiden Gesetze kurz über die Delegationen sprechen. Das ungarische Parlament und der österreichische Reichsrat entsenden jedes Jahr aus ihrer Mitte je eine, aus höchstens 60 Mitgliedern bestehende Delegation, um die gemeinsamen Angelegenheiten auf parlamentarischer Ebene zu beraten. Die ungarische und die österreichische Auffassung weichen hinsichtlich der Form der Delegationen nicht voneinander ab, grundlegend aber in der Deter- minierung des Wesens ihrer Funktionen. Das ungarische Gesetz (§ 28) organisiert die Delegation »für jenen Teil der gemeinsamen Angelegenheiten, der nicht rein in den Kreis der Regierung gehört«, also durchaus nicht ausgesprochen nur als gesetzgebende Körperschaft, während das österreichische Gesetz die Delegation zur gesetzgebenden Körperschaft deklariert.59 Der ungarische staatsrechthche Standpunkt verblieb bis zum Sturz der Monarchie starr dabei, die einzige Aufgabe der Delegationen sei die Festsetzung des gemeinsamen Budgets. Letzten Endes hat die politische Praxis -- trotz aller von dieser staatsrechtlichen Auffassung abweichenden »Entgleisungen« in den Interpellationen -- den ungarischen Stand¬ punkt bestätigt, denn aus der Institution der Delegationen wurde niemals ein Reichsparlament, wie es die den Ausgleich befürwortenden österreichischen Pohtiker erhofft hatten, auch keine wirklich gesetzgebende Körperschaft, wie es das österreichische Gesetz angestrebt hat.60 Die Delegationen tagen getrennt. Ihre Beschlüsse teilen sie einander schriftlich mit. Die schriftlichen Botschaften werden von der ungarischen Delegation in ungarischer, von der österreichischen in deutscher Sprache abgefaßt. Sie sind jedoch verpflichtet, auch eine authentische deutsche bzw. ungarische Übersetzung ihrer Beschlüsse (Botschaften) beizufügen. Die konkreten Formen und Rahmen, in denen die Delegationen ihre Angelegenheiten führen, wurden in den Gesetzen nicht festgelegt, dies ging automatisch in den Wirkungskreis des Ministeriums des Äußern über, wo sich die Geschäftsführung der Delegationen durch den Brauch herausbildete. Zur Abwicklung solcher Angelegenheiten, die sich aus dem Kontakt der Delegationen untereinander und mit dem gemeinsamen Ministerium ergaben, sowie solcher, die sie durch gewählte Vertreter nicht erledigen konnten, schuf Reichskanzler Beust noch vor den ersten Delegationssitzungen in der Präsidial¬ kanzlei des Ministeriums des Äußern, in der ehemaligen »Reichskanzlei« ein Hilfsorgan, das unter der Leitung eines Hofsekretärs stand.61 Die Verbindung zur ungarischen Delegation wurde von einem aus Ungarn stammenden Sekretär der Präsidialkanzlei aufrechterhalten.62 Das Archiv der Delegationen wurde ebenfalls in der Präsidialkanzlei des Ministeriums des Äußern verwahrt.63 Die Sitzungsprotokolle der österreichischen Delegation wurden von einem 2 Komjäthy: Protokolle i? || || Privatunternehmen, der Stenographiekanzlei des Professors Conn ange¬ fertigt. Das Fehlen eines »Delegationsamtes«, eines Organs, das die Angelegenheiten unabhängig von anderen Organen führt, scheint auf den ersten Blick bedeutungslos zu sein. Im Grunde genommen ist aber auch dies ein Symptom, ein amtsgeschicht¬ liches Symptom für die Tatsache, wie ungesund die höchsten staatlichen Organe der Monarchie waren. Der Umstand nämlich, daß die äußeren Rahmen und die technischen Bedingungen der Tätigkeit der Delegationen vom gemeinsamen Ministerium des Äußern (der Reichskanzlei) gesichert wurden, trug in gewisser Hinsicht ebenfalls dazu bei, daß das gemeinsame Ministerium des Äußern nur dem Namen nach nicht zu einer Reichskanzlei, zum höchsten Regierungsorgan ab¬ solutistischen Charakters wurde. Wir werden noch darauf zurückkommen, wollen zunächst aber den Aufgabenkreis der Delegationen, den Mechanismus ihrer Tätigkeit betrachten. Ein sehr bedeutendes Moment dieses halbgelungenen Organs wurde in den Gesetzen folgendermaßen festgesetzt: Falls bei Meinungsverschieden¬ heiten der Austausch von Botschaften zu keinem Ergebnis führt, können die Delegationen eine gemeinsame Sitzung abhalten, doch nur zur Vornahme der Abstimmung. Um die Parität der Vertretung zu sichern, muß die Zahl der an der gemeinsamen Sitzung teilnehmenden Delegierten die gleiche sein: fehlen in der einen Delegation einige Mitglieder, so muß die Mitgliederzahl der anderen Delegation auf die gleiche Zahl vermindert werden. Zur Beschlußfassung ist im übrigen stets die absolute Mehrheit erforderlich.64 Keine der Delegationen darf sich in die Angelegenheiten des entsendenden Parla¬ mentes oder irgendeines Ministeriums einmischen, das Parlament wiederum kann die von ihm entsandte Delegation nicht durch Anweisungen binden.65 Die Delegationen werden alljährlich vom Monarchen einberufen, nach öster¬ reichischem Gesetz (§ 11) an einen vom Herrscher zu bestimmenden Ort, nach ungarischem Gesetz (§ 32) dorthin, wo sich der Herrscher gerade aufhält. Im unga¬ rischen Gesetz wurde -- quasi als Wunsch -- noch hinzugefügt, die Delegationen sollten abwechselnd in Budapest, Wien oder in der Hauptstadt irgendeines anderen Landes Sr. Majestät zusammentreten.66 Hauptaufgabe der Delegationen ist die Festsetzung des gemeinsamen Budgets. Der Budgetentwurf wird, nachdem er mit den Ressortministern beider Regierun¬ gen beraten worden ist, beiden Delegationen getrennt vom gemeinsamen Finanz¬ minister vorgelegt. Über das von den Delegationen angenommene Budget können die entsendenden Parlamente nicht mehr debattieren.67 Eben deshalb hielten die Österreicher auch die Delegationen für eine schlechte Einrichtung, denn -- im Prinzip -- hatten sie mehr Rechte als jenes Organ (ungarischer Reichstag und öster¬ reichischer Reichsrat), das sie entsendet hatte. In Wirklichkeit standen die Dinge aber anders. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß -- wie schon erwähnt -- sowohl von ungarischer wie von österreichischer Seite versucht wurde, die Dele¬ gationen über die Bewilligung des Budgets hinaus zum Forum parlamentarischer Debatten auf höherer, ja höchster Ebene zu machen.68 Der prozentuelle Anteil am gemeinsamen Budget ist die Quote. Diese wird auf Grund eines nachträglichen Übereinkommens bestimmt. Stets für einen genau 18 || || festgelegten Zeitraum und möglichst über die Legislative beider Staaten. Jedes der beiden Parlamente entsendet eine Deputation (die Quoten-Deputation, nicht zu verwechseln mit den Delegationen). Mit Unterstützung der zuständigen Ressort¬ ministerien arbeiten diese Deputationen zur Bestimmung der Quote Vorschläge aus. Die Vorschläge werden dann vom ungarischen und vom österreichischen Finanzminister der Legislative ihrer Länder zur Behandlung und Entscheidung vorgelegt. Die Parlamente teilen ihre Beschlüsse einander durch die zuständigen Ministerien mit. Stimmen diese überein, werden sie dem Herrscher zur Sanktio¬ nierung unterbreitet. Können sich die Quotendeputationen nicht einigen, sind die Ansichten beider Parteien beiden Volksvertretungen vorzulegen. Wenn dann auch die beiden Parlamente verschiedener Meinung sind, wird die Quote auf Grund der unterbreiteten Angaben und des Verhandlungsmaterials vom Monarchen festgesetzt.69 So wie die eigenartige parlamentarische Form der Delegationen den Ausgleich in den Augen der ungarischen Pohtiker als annehmbar erscheinen ließ und -- post festum und auf Grund entgegengesetzter Hoffnungen -- das Übereinkommen über den neuen Rahmen der Monarchie auch von den Vertretern des anderen Teiles der Habsburgmonarchie angenommen wurde, so wurde Franz Joseph -- wie J. Redlich richtig bemerkt -- in erster Linie dadurch für die Annahme des von Ferenc Deäk ausgearbeiteten Ausgleichsentwurfs bewogen, weil er die end¬ gültige Entscheidung über die Quote in seine Hände legte. Hinzu kam noch der Umstand, daß ihm in den Angelegenheiten der ihm so sehr am Herzen liegenden Armee durch die Aufrechterhaltung seiner Rechte als oberster Kriegsherr, nicht nur die Erinnerung an sein absolutes Herrschertum erhalten blieb.70 VIII Im Verlaufe des Jahres 1866 hat sich der österreichische kaiserliche Ministerrat wiederholt mit der Frage des ungarischen Ausgleichs befaßt.71 Damals hatte es noch den Anschein, der Ausgleich könne auf der Grundlage des von der kaiserli¬ chen Regierung vorgeschlagenen Entwurfs Zustandekommen.72 Immer mehr jedoch wurde auch über die Verworrenheit der verfassungsmäßigen Zustände gesprochen.73 Was man unter Verworrenheit verstand, zeigte sich, als die Anfang Januar 1867 abgehaltenen Landtagswahlen (aus deren Mehrheitsbe¬ schluß das neue Reichsparlament hervorgehen sollte) eine Minderheit für die Deutschen brachten. Die am 30. Oktober 1866 erfolgte Ernennung des früheren sächsischen Ministerpräsidenten Baron Beust zum Minister des Äußern zeigte deutlich, daß sich die Vorstellung des Staatsministers und österreichischen Mini¬ sterpräsidenten Belcredi, der die Entwirrung nicht nur auf die Deutschen und Ungarn basieren wollte, nicht völlig mit der Auffassung des Herrschers deckte. Franz Joseph neigte immer mehr zum Standpunkt der deutschen Liberalen, Deäks, Andrässys und ihrer Anhänger. Der mit den innerpolitischen Verhältnissen der Monarchie wenig vertraute Beust hielt, überzeugt, daß eine aktive Außenpolitik nur nach Lösung der aktuellen innerpolitischen Probleme möglich sei, jene 19 || || Lösungsmethode für besser, die eher zum Ziele führt. Nach den Wahlen, die Belcredis föderalistischer Auffassung eine Mehrheit gebracht hatten, mußten Ver¬ handlungen mit dem Reichsrat besonders kompliziert sein. Deshalb stellte sich Beust eindeutig hinter den ungarischen Ausgleichsplan. Bei der Konferenz der österrei¬ chischen Minister mit den Delegierten der Deäk-Partei am 19. Januar 1867 war bereits die Richtung, in der die Lösung der Probleme erfolgen würde, zu erkennen. Am L Februar 1867 entließ der Kaiser Belcredi74 und ernannte Beust zum Minister¬ präsidenten der kaiserlichen österreichischen Regierung. Beust übernahm in seinem Kabinett gleichzeitig auch die Portefeuilles für Äußeres, Inneres, Unter¬ richt und Polizeiwesen. So konnte er sich fast mit Pienipotenz in den weiteren Gang der Dinge einschalten. Dieses persönliche Moment trug ebenfalls dazu bei, daß der Ausgleich unter solchen Formen und mit solchem Inhalt zustandekam, die das im vorhinein widerspruchsvolle Wesen der neuen Einrichtung der Monarchie, der dualistischen Staatsorganisation noch mehr unterstrichen. Am Ministerrat vom 14. Februar 1867 nahmen die verhandlungsführenden ungarischen Staatsmänner bereits als ausersehene ungarische Minister teil. Auf dieser letzten Beratung wurde über Zoll- und Handelsfragen entschieden. Hierbei konnten die Ungarn erreichen, daß die Zoll- und Handelsfragen nicht als aus der Pragmatischen Sanktion resultierende, gemeinsame Angelegenheiten betrachtet werden. Dadurch behielten die beiden Staaten in einem wichtigen Teil der Angele¬ genheiten, die die wirtschaftliche Grundlage der Monarchie bildeten, ihre Unab¬ hängigkeit. Der ohne Zweifel staatsrechtliche Erfolg der Ungarn hatte - worüber in anderem Zusammenhang zu sprechen sein wird -- weitere, das Schicksal der Monarchie verhängnisvoll beeinflussende Auswirkungen, denn die wirtschaft¬ liche Stabilität und der Kredit des Kaiser-Königreiches wurde durch die Unsicher¬ heit der in Zoll- und Handelsfragen von Zeit zu Zeit notwendig werdenden Unter¬ handlungen gefährdet. Der Herrscher ernannte am 18. Februar 1867 die Regierung Andrässy; das ungarische Abgeordnetenhaus nahm den Ausgleich am 30. März, das Magnaten¬ haus am 2. April an. Als Ges. Art. Nr. XII v. J. 1867 wurde er in das ungarische Gesetzbuch aufgenommen. Der König sanktionierte das Gesetz, das zur staats¬ rechtlichen Grundlage des Verhältnisses der zwei Länder wurde, am 12. Juni.75 IX Der zentrale Gedanke des Ausgleichsgesetzes, um den sich die übrigen Probleme und die Bestimmungen über die neue Struktur der Monarchie drehen, ist die Fest¬ stellung der gemeinsamen Angelegenheiten. Der Ges. Art. XII vom Jahre 1867 begründet die Notwendigkeit der mit der anderen Reichshälfte gemeinsamen Ange¬ legenheiten in einer geschichtlich-verfassungsrechtlichen Einleitung.76 Diese Be¬ gründung, wie überhaupt die überbetonte Rückführung der gemeinsamen Ange¬ legenheiten auf die Pragmatische Sanktion fehlen im österreichischen Gesetz vom 21. Dezember 1867. Letzteres formuliert auch bündiger, daß als gemeinsame An¬ gelegenheiten die Außenpohtik, die gemeinsame Verteidigung, das Heerwesen und das zur Deckung dieser Bedürfnisse notwendige Finanzwesen zu betrachten sind. 20 || || Im Gesetz wird für die gemeinsamen Angelegenheiten, die allein in den Wirkungs¬ kreis der gemeinsamen Regierung gehören,78 ein gemeinsames Ministerium ge¬ schaffen. Im Sinne des Paragraphen 27 des Ges. Art. Nr. XII v. J. 1867 fallen diesem die Angelegenheiten zu, » die als wirklich gemeinsam weder der Regierung der Länder der ungarischen Krone noch der separaten Regierung der übrigen Länder Sr. Majestät unterstehen. Dieses Ministerium kann neben den gemeinsamen Angelegenheiten die Angelegenheiten der separaten Regierung weder des einen noch des anderen Teiles besorgen und kann auf diese keinen Einfluß ausüben.. .«79 Während das österreichische Gesetz das gemeinsame Ministerium einfach als »verantwortlich« bezeichnet, wird im ungarischen Gesetz (im weiteren Teil von § 27) die Verantwortlichkeit des Ministeriums konkreter definiert: »Verantwort¬ lich wird jedes Mitglied dieses Ministeriums in allen Sachen sein, die in seinen Wirkungskreis gehören, verantwortlich wird auch das ganze Ministerium gemein¬ sam sein bei amtlichen Verfügungen, die gemeinsam festgestellt wurden.« Wie aus § 38 des ungarischen Gesetzes hervorgeht, ist der Begriff der parlamentarischen Verantwortlichkeit durch das Recht der gemeinsamen Minister, an den Sitzungen der Delegationen teilzunehmen und durch ihre Pflicht, die dort an sie gerichteten Fragen zu beantworten, im großen und ganzen erschöpft.80 Die genauen Formen der Möglichkeit, die gemeinsamen Minister zur Verantwortung zu ziehen, richtiger, Anklage gegen sie zu erheben, wurden zwar in den Ausgleichsgesetzen (so z. B. in §§ 50 und 51 des Ges. Art. Nr. XII v. J. 1867) festgelegt. Durch die eigenartige staatliche Struktur der Monarchie aber, vor allem durch eine Arbeitsunfähigkeit der Delegationen, von denen die gemeinsamen Minister zur Verantwortung gezo¬ gen werden konnten, wurde die Möglichkeit, dem gemeinsamen Ministerium das Vertrauen zu entziehen, auf parlamentarischem Wege zu stürzen, im wesentlichen illusorisch. Es fragt sich nun nach all dem, ob das durch die Ausgleichsgesetze geschaffene gemeinsame Ministerium im parlamentarischen Sinne des Wortes als verant¬ wortliche Regierung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie betrachtet wurde. Diejenigen Paragraphen des Ges. Art. Nr. XII v. J. 1867, in denen die Formen der Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten bestimmt wurden, zeigen, daß auch für die sogenannten gemeinsamen Angelegenheiten letzten Endes die einzel¬ nen Regierungen der Monarchie verantwortlich sind und daß die gemeinsamen Minister die Angelegenheiten im wesentlichen nur nach deren Vorstellungen erledigen können. Der Paragraph 8 besagt zum Beispiel, daß der gemeinsame Minister des Äußeren nur »im Einvernehmen mit den Ministerien beider Parteien und mit ihrer Zustimmung Vorgehen kann«.81 Ohne Zweifel, war von den beiden tragenden Pfeilern der durch den Ausgleich geschaffenen staatlichen Struktur der Monarchie, dem parlamentarischen und dem ministerialen, letzterer bedeutender. Die schwerfällige Institution der Delega¬ tionen war vom ersten Augenblick an nicht geeignet, die Rolle eines lebensfähigen Parlaments des Reiches zu spielen. Sie ist es auch nie geworden. Worin lag dieWich- tigkeit des ein Gegengewicht entbehrenden ministerialen Pfeilers? Studiert man die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates, so erhebt sich die nicht unwesentliche Frage, ob im Verlaufe der unter widerspruchsvollen Umständen vorgenommenen 21 || || bürgerlichen Umgestaltung der staatlichen Struktur der Habsburgmonarchie neben den funktionsunfähigen Delegationen nicht auch der Ministerrat ähnliche oder andere, ebenfalls mißgestaltete Formen angenommen hat. Wurde er in seinem Wirkungsbereich, in seiner Funktion das, was er werden sollte? War der gemein¬ same Ministerrat nicht gegenüber den ihres Wesens, ihres parlamentarischen Charakters entkleideten Delegationen gerade durch Überschreitung seines Wir¬ kungskreises, durch Hypertrophie der Funktion gekennzeichnet? Übernahm er nicht die Lösung von Aufgaben, welche durch die Arbeitsunfähigkeit der Delega¬ tionen oder zu einer Zeit, als diese nicht tagten, herrenlos waren? Oder die Mög¬ lichkeiten des anderen Extrems: war er die gemeinsame Regierung, der höchste Lenker der Politik des Reiches ? War er einfaches vollziehendes Organ auf höchster Ebene des Reiches oder nicht einmal das, blieb er - wovon im weiteren noch ausführlicher die Rede sein wird - das, was er im Absolutismus war, die höchste beratende Körperschaft der Krone ? Der gemeinsame Ministerrat war ein so wich¬ tiges Organ der Geschäftsführung, des technischen Apparates der Monarchie, daß es sich lohnte, diese Fragen auch dann zu untersuchen, wenn uns die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates nicht des näheren interessieren würden. Von dem Um¬ stand nämlich, wie dieser funktionierte, seine Kompetenz überschritt oder in deren Rahmen verblieb, in seiner Funktion mit den Ereignissen Schritt halten konnte oder dem beschleunigten Tempo im Weltkrieg nur stockend, von Zeit zu Zeit zurück¬ bleibend folgte, hing nicht zuletzt das ungestörte Leben der Monarchie ab. Es ist auch nicht gleichgültig, ob er, da ihm ein parlamentarisches Gegengewicht fehlte, im Kampf der in viele Richtungen wirkenden Kräfte tatsächlich zu einem Instru¬ ment des verfassungsmäßigen Lebens wurde, oder ob hinter seinen modernen Formen veraltete, absolutistische Regierungsmethoden zur Geltung kommen konnten. Mit anderen Worten: wurde bewußt oder unbewußt ein Apparat ge¬ schaffen, der unabhängig von den veränderlichen gesellschaftlich-politischen Verhältnissen zu einem Instrument wurde, geeignet, das bisherige absolutistische Regiment zumindest in seinen Elementen zu prolongieren? Fassen wir diese Fragen zusammen: welche Rolle spielte die neue Struktur der Monarchie und vor allem, der gemeinsame Ministerrat innerhalb der das Schicksal der Monarchie entscheidend beeinflussenden geschichtlichen Kräfte? Im wesentlichen wurden Aufgabenkreis und Zuständigkeit des gemeinsamen Ministerrates sowohl im ungarischen wie im österreichischen Ausgleichsgesetz in negativer Form bestimmt. Es wurde festgelegt, was er nicht durfte und in was er sich nicht einmischen konnte. Diese negative Formel ist der im Gesetz ausge¬ drückte und im Gesetz geschaffene institutionelle Ausdruck der widerspruchsvol¬ len pohtischen Lage, in die Deäk und seine Anhänger mit ihrem Ausgleichsunter¬ nehmen geraten waren. In der Sitzung der Fünfzehner-Subkommission am 4. Juni 1866 sagte Nyäry: »Ein schwerer Bissen; bisher konnten wir ihn nicht schlucken.« Deäk hatte nämlich seinen Antrag auf Schaffung eines gemeinsamen Ministeriums folgendermaßen begründet: »Aufgabe des derzeitigen Parlamentes ist es, zu beweisen, daß Österreich neben unseren Rechten bestehen kann.«82 Die negative Abgrenzung des Wirkungskreises des gemeinsamen Ministeriums und der Umstand, daß nicht einmal versucht wurde, den Inhalt seines Aufgaben- 22 || || kreises exakt, positiv zu definieren, resultierte aus dem vermeintlichen Schutz »unserer Rechte«.. Nach Lönyays Tagebuch hat Deäk die entsprechenden Grund¬ sätze seiner Vorstellungen vom Ausgleich folgendermaßen diktiert: »Die Regie¬ rung sei sowohl hier wie j(enseits) der L(eitha) verantwortlich; es soll eine Kon¬ stitution geben. . . Beide Parteien sollen verantwortliche Ministerien haben; außerdem soll es gemeinsame Minister geben, die die gemeinsamen Angelegen¬ heiten verwalten; die gemeinsamen Minister sollen nicht Minister der Leute jenseits der L(eitha) sein.«83 Eigenartigerweise wußte Deäks Grundvorstellung nur von der Verantwortlichkeit der Regierungen der beiden Teile des Habsburgreiches. Aufgabe der gemeinsamen Minister ist -- in Deäks Konzeption -- nicht mehr als die Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten. Dieses armselig konzipierte Positivum des Aufgabenkreises des gemeinsamen Ministeriums ging dann in negativer Form in den Paragraphen 27 des Ges. Art. Nr. XII v. J. 1867 über. Wie die Einrichtung der Institution der Delegationen, haben auch die Umstände der Schaffung des gemeinsamen Ministeriums, die Konzeption, die sich nicht getraute, das Wesentliche genau auszudrücken, ja es umging, die Unversöhnlichkeit zwischen Reichsidee und dem Prinzip der ungarischen Selbständigkeit widergespiegelt. X Wie begann nun dieses Reichs-Regierungsorgan, dessen Funktionund Wirkungs¬ bereich von seinen Schöpfern negativ festgelegt wurde, indem sie lediglich be¬ stimmten, was es nicht tun könne, in was es sich nicht einzumischen habe, wofür es nicht zuständig sei, was nicht in seinen Wirkungskreis falle, seine Arbeit ? Kann ein Regierungsapparat, dessen Aufgaben, Ziel nicht eindeutig bestimmt waren, dessen Tätigkeitsgrenzen gezogen wurden, ohne den Rahmen mit positivem Inhalt zu füllen, lebensfähig sein? Es war schon wiederholt die Rede davon, daß sich hinter den vielen negativen Formeln, den geschichtlich-prinzipiellen Erörterungen der ständisch-juristische Schutz der ungarischen Selbständigkeit verbarg. Die vielen Verbote und Vernei¬ nungen in der Definition des Wirkungskreises des gemeinsamen Ministeriums sind im Grunde genommen ebenfalls ein negativer Ausdruck dieses Willens, die Unabhängigkeit zu sichern. Die mit dem Kaiser verhandelnden ungarischen Politiker beanspruchten die tatsächliche Verteidigung des Habsburgreiches, die mit der Großmachtstellung des Habsburgreiches verbundenen tatsächlichen Vorteile, wollten jedoch zumindest den Schein der Selbständigkeit des ungarischen Staates wahren. Wir sahen bereits, daß Kaiman Tisza und seine Anhänger in ihrem überstimmten Vorschlag nichts von einem gemeinsamen Ministerium wis¬ sen wollten und auch Deäks Formel nur vorsichtig von Ministern sprach, die die gemeinsamen Angelegenheiten verwalten sollten. Er sagte nicht einmal gemeinsa¬ mes Ministerium. In seiner Vorstellung hatten nur die beiden Länder Österreich und Ungarn verantwortliche Ministerien. Das große Negativum des Ausgleichs¬ gesetzes lautet, wenn auch unausgesprochen: die Österreichisch-Ungarische Monarchie soll keine gemeinsame, verantwortliche Regierung haben. Das war 23 || || das Hauptziel der ungarischen Politiker. Es fragt sich nun, mit welchem Inhalt das diesem Zweck dienende große Negativum, das leer gelassene Gebiet des Aufgaben¬ kreises eines gemeinsamen Ministeriums ausgefüllt wurde, was die tatsächlichen Rahmen waren, in denen - mangels gesetzlicher Vorschriften, kraft der Gewohn¬ heit - die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates begann. Bei der Analyse ergibt sich folgende Frage: wie wurde unter den widerspruchsvollen gesellschaft¬ lich-politischen Verhältnissen das höchste Regierungsorgan der Habsburgmon¬ archie gestaltet und wie hat seine Tätigkeit das Leben des Kaiser-Königtums beeinflußt, was war seine Rolle bei der endgültigen Auflösung der Österreichisch- Ungarischen Monarchie ? Die damalige Registratur hat die Protokolle des durch den Ausgleich geschaf¬ fenen gemeinsamen Ministerrates als Fortsetzung der Serie der Protokolle des österreichischen kaiserlichen Ministerrates behandelt. Dies kam nicht allein darin zum Ausdruck, daß auch weiterhin vorgedruckte Protokollformulare mit denselben Rubriken benutzt wurden, wie zur Reinschrift der Protokolle aus der Zeit des Absolutismus und teilweise der 48er Ministerratssitzungen, sondern auch darin, daß die Protokolle des neuen Organs nach demselben System registriert wurden, wie die des alten.84 Diese aktenkundlichen Zeichen sind der äußere Ausdruck einer Praxis, die sich im Verlaufe der Zeit herausgebildet hatte. Der österreichische kaiserliche Mini¬ sterrat hat monatelang mit Ungarn über die Fragen des Ausgleichs verhandelt. Zu der am 14. Februar 1867 unter Vorsitz des Kaisers abgehaltenen Minister¬ konferenz wurden außer den Mitgliedern der Regierung auch die präsumtiven Mitglieder der künftigen ungarischen Regierung, an ihrer Spitze der zum Mi¬ nisterpräsidenten ausersehene Graf Gyula Andrässy geladen. Die Art, in der die damalige Kanzleipraxis die Teilnahme der ungarischen Staatsmänner am österreichischen kaiserlichen Ministerrat registrierte, war ein getreues Abbild der späteren, jahrzehntelang unverändert gebliebenen Formalitäten der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates.85 Die Formen des österreichischen kaiserlichen Ministerrates wuchsen unbemerkt in die Formen des durch den Ausgleich ge¬ schaffenen gemeinsamen Ministerrates hinüber. Ein halbes Jahrhundert hindurch war die Behandlung der strittigen Fragen zwischen der österreichischen und der ungarischen Regierung, die Behandlung der allgemeinen außenpolitischen Lage und der Fragen, die die Monarchie in ihrer Gesamtheit betrafen, eine der wichtigsten Funktionen der gemeinsamen Mini¬ sterkonferenzen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Davon aber wird später bei der Darlegung der Tätigkeit des Ministerrates während des Weltkrieges noch ausführlicher die Rede sein. Haben die im österreichischen kaiserlichen Ministerrat üblichen Gewohnheiten wie in den Formen, auch inhaltlich gewirkt ? Als Franz Joseph auch tatsächlich daranging, das anderthalb Jahrzehnte andauernde absolutistische System zu beseitigen, befaßte sich die unter Belcredis Vorsitz konstituierte neue Regierung bereits in ihrer zweiten Ministerratssitzung am 30. Juli 1865 mit der vom Kaiser für das »Gesamtministerium« ausgearbeiteten Instruktion.86 Nach dieser Anweisung bestand die Hauptaufgabe des Minister¬ rates neben den Vorbereitungsarbeiten zu den Gesetzen und der Erledigung der 24 || || wichtigeren Angelegenheiten des Reichsrats und der Landesvertretungen und der persönlichen Belange in der Lösung von Verwaltungsproblemen, die in die Kom¬ petenz zweier oder mehrerer Zentralbehörden fallen und über die auf schriftli¬ chem Wege keine Einigung erzielt werden konnte. Die kaiserliche Instruktion definiert den Begriff der »mündlichen Aussprache« als Funktion des Ministerrates fast in der gleichen Weise wie die während eines halben Jahrhunderts abgefaßten Protokolle des gemeinsamen Ministerrates. Im Jahre 1865 war dies der Wille des Kaisers, des jungen Herrschers, der auch weiterhin Mittelpunkt des »konstitutio¬ nell« gewordenen Reiches bleiben wollte. Am 29. Juli 1865, auf dem ersten Mini¬ sterrat nach Schmerlings Sturz, hat er, wie seine mit schulmeisterlicher Pedanterie gehaltene Rede bezeugt, auch in der neuen Staatsordnung seine persönliche Stellung als Herrscher als höchste Kraft betrachtet.87 Diese politische Anschauung, ein genauer Ausdruck der damaligen innerpolitischen Lage der Monarchie, wollte zweifellos im Ministerrat nicht mehr erblicken als eine Körperschaft, die berufen ist, Gegensätze auszugleichen, strittige Fragen durch Verhandlungen zu lösen. Sie war als höchstes Forum der Verwaltung und als höchste ratgebende Körperschaft der Monarchie gedacht. So traf die positive Vorstellung des Kaisers vom Ministerrat auf den Willen der ungarischen Politiker, den Regierungscharakter des gemeinsamen Ministeriums zu leugnen. Es sollte keine Regierung geben, sondern lediglich ein Organ, das die Angelegenheiten auf höchster Ebene erledigte und strittige Fragen durch Verhand¬ lungen löste. Die Angst der ungarischen Politiker vor irgendeiner Reichsregierung brachte es mit sich, daß im Text des Ausgleichsgesetzes der Teil, der die Funktio¬ nen des gemeinsamen Ministeriums hätte bestimmen sollen, leer blieb. Diese Lücke wurde im natürlichen Gang der Entwicklung der Dinge unbemerkt durch die Praxis des österreichischen kaiserlichen Ministerrates, die der kaiserliche Wille sanktionierte, ausgefüllt. Der Kaiser sah in seinen Ministern die höchsten Ratgeber der Krone. Im Ministerium ein Organ, das allein ihm verantwortlich war. Der Regierungscharakter, der dem gemeinsamen Ministerium nach der bürgerlichen Verfassung zukam, ging durch das Nichtvorhandensein eines parlamentarischen Gegengewichts verloren. Dieses parlamentarische Gegengewicht hatten die für den Ausgleich eintretenden ungarischen Politiker absichtlich vereitelt. Sie wußten sehr wohl, daß die legislatorische Entsprechung der gemeinsamen Regierung nur ein Reichsparlament sein konnte. Auf Regierungs- wie auf gesetzgeberischer Ebene wollten sie alles vermeiden, was auch nur den Anschein hätte erwecken können, über dem ungarischen Staat stünde ein Reich. Bevor wir näher untersuchen, wie die Lücke, die sich ergeben hatte, weil Auf¬ gabenkreis und Zuständigkeit des gemeinsamen Ministeriums in den Ausgleichs¬ gesetzen verschwiegen wurden, durch die Gewohnheit mit positivem Inhalt aus¬ gefüllt wurde, möchte ich durch einige Belege beweisen, daß nicht nur die negativen Bestimmungen des Gesetzes, sondern wiederholte heftige Proteste und daraus folgende Entschließungen für den Regierungscharakter des gemeinsamen Mini¬ steriums sprachen bzw. damit verbundene Fragen berührten. Schon zu Beginn, im Januar 1868, richteten Kalman Ghyczy und seine Anhän¬ ger im Namen der linken Mitte im ungarischen Abgeordnetenhaus eine Anfrage 25 || || an die Minister, die den Budgetvoranschlag einreichten, unter anderem deshalb, weil darin vor der ungarischen Delegation von »gemeinsamem Ministerium«, vor der österreichischen hingegen von »Reichsministerium« die Rede war. Es wurde auch vorgebracht, daß die Benennung Reichsminister, die dem ungarischen Gesetz fremd und mit der Selbständigkeit Ungarns unvereinbar sei, vom Kaiser in mehre¬ ren amtlichen Erklärungen und Schriften gebraucht werde. Mit der Interpellation befaßte sich der gemeinsame Ministerrat am 30. und 31. Januar. Der »Reichs«-Kanzler Beust und die »Reichs«-minister88 sagten, sie ver¬ stünden Ghyczys und seiner Anhänger Protest einfach nicht. Die beanstandeten Ausdrücke würden nunmehr mindestens schon ein Jahr lang gebraucht, auch die Ungarn hätten sie gehört, ohne jemals dagegen Einspruch zu erheben. Die Be¬ zeichnung Reichsministerium sei keine Erfindung des Ministeriums, sondern sei lediglich Ausdrucksweise für das was als gemeinsam bezeichnet wird.89 Der gemeinsame Finanzminister Becke brachte auch eine Etymologie des ominösen Terminus technicus: »Reich bedeutet eben: so weit das Scepter Seiner Majestät reicht.« Der oppositionelle Mittelgrundbesitzer Ghyczy und seine Anhänger sahen zwar nicht klar, wohin der Ausgleich das Land geführt hatte, machten sich aber Ge¬ danken über seine Folgen. Ihr Protest war gegen Formsachen gerichtet; das Wesentliche, den Ausgleich, gegen den Kossuth in der Emigration revoltierte, wollten sie ebenso wie Deäk und seine Anhänger, aber noch mehr als sie wollten sie die aus dem Ausgleich resultierenden schwerwiegenden Konsequenzen, die zahlrei¬ chen Beschränkungen der ungarischen Staatlichkeit verschleiern. Die Behandlung von Ghyczys Interpellation im gemeinsamen Ministerrat zeigt überaus klar, welche Auffassung die ungarischen herrschenden Kreise vom Wesen der Frage hatten. Gyula Andrässy stellte wiederholt fest, die Minister der einzelnen Länder müßten unbedingt mit den Reichsministern (auch er gebrauchte diesen Ausdruck!) sohdarisch sein, auch er sei es.90 Es wäre jedoch nicht richtig, bei Beantwortung der Interpellation anzuerkennen, daß der Text des österreichischen und des ungarischen Ausgleichsgesetzes in diesem Punkte voneinander abweichen. Es sei besser, die Tatsache, daß die beide Parteien gleicherweise betreffenden Gesetze der beiden Reichshälften in der Textierung nicht übereinstimmten, nicht zu berühren. Die ungarischen Minister hätten an zwei Fronten standzuhalten. Er beantragte, vom Gebrauch der Ausdrücke Reichsminister und Reichsministerium in ungarischer Relation abzusehen, denn -- und diese Begründung ist sehr charak¬ teristisch! -- wenn die ungarischen Minister das Wort Reich benutzten, würden sie daheim von der öffentlichen Meinung ständig angegriffen werden. Nach längerer Debatte wurde schließlich in diesem Sinne entschieden. Von der Sitzung am 9. Februar 1868 bis zum Zusammenbruch der Monarchie wurden für die Protokolle des Reichsministerrates unverändert vorgedruckte For¬ mulare mit der Aufschrift: »Ministerrat fürgemeinsameAngelegenheiten« benutzt.91 Die Debatte über die Terminologie bzw. deren aktenkundliches Erscheinen war der adäquate Ausdruck für den Ausgleich, der die ernsten inneren Gegensätze mit Scheinlösungen verschleierte und mit irreführender Phraseologie verdeckte. Die österreichischen Minister hatten recht, wenn sie sagten, der Begriff »Reich« drücke 26 || || im wesentlichen dasselbe aus, wie das Wort »gemeinsam« und der Kaiser akzep¬ tierte dies zu Recht. Sie konnten ruhig in den Gebrauch des Ausdrucks »gemeinsa¬ mes Ministerium« einwilligen, denn das gemeinsame Ministerium hat -- wie die Geschichte des letzten halben Jahrhunderts der Monarchie beweist -- stets Reichs¬ politik betrieben. Beust war der einzige Reichskanzler der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Sein Nachfolger, Graf Gyula Andrässy, wurde von Franz Joseph am 14. November 1871 bereits als kaiserhcher und königlicher Minister des Äußern ernannt.92 Der gemeinsame Kriegs- und Finanzminister werden in den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates jedoch noch lange Zeit hindurch als »Reichs«-minister angeführt. Es ist zwar nur eine Kleinigkeit, aber eine charakteristische akten- kundliche Gegebenheit, daß fast bis zum ersten Weltkrieg vor der Registrier¬ nummer der Protokolle die Abkürzung R.M.R. (Reichs-Ministerrat) stand und erst später, Jahrzehnte nach dem Ausgleich die Abkürzung G.M.C. (Gemeinsame Minister-Conferenz) in Gebrauch kam.93 Die Debatte über den Reichscharakter des gemeinsamen Ministeriums, richtiger über seinen Gesamtreichs-Regierungscharakter sollte verschleiern, daß die Sou¬ veränität des ungarischen Staates in Gefahr geraten und der Machtbereich und die Zuständigkeit der ungarischen Regierung bedeutende Einbußen erlitten hatten. Die tatsächliche Verminderung der ungarischen staatlichen Souveränität und der Machtfunktionen der ungarischen Regierung versuchte man auf der Bühne des ungarischen pohtischen Lebens zu verdecken, indem man den Regierungscharak¬ ter der gemeinsamen Regierung und das Bestehen des Gesamtreiches als selb¬ ständige juridische Person mit Worten verneinte. Hierzu ließen sich eine ganze Reihe von Erklärungen anführen. Wir wollen uns aber auf die lehrreichsten, auf die Proteste beschränken, in denen die Widersprüche am stärksten zum Ausdruck kommen. Die Widersprüche sind in den halb-oppositionellen Erklärungen wäh¬ rend der Koalitionsregierung geradezu komprimiert enthalten, der unüberbrück¬ bare Gegensatz zwischen dem Reichsgedanken der Habsburger und der ungari¬ schen staatlichen Unabhängigkeit trat hier am schärfsten zutage. Gewöhnlich geschah dies nicht in wesentlichen Fragen, die die Struktur der Habsburgmonarchie betrafen oder die ungarische staatüche Unabhängigkeit tatsächlich zu sichern vermochten, sondern eher in der symbolischen Wahrung der Unabhängigkeit. Dabei handelte es sich z. B. um das Anbringen des ungarischen Staatswappens bei den Auslandsvertretungen und den parallelen Gebrauch der ungarischen Sprache neben der deutschen im Geschäftsgang des Ministeriums des Äußeren. Die 48er Opposition, die »gezwungen« war, gemeinsam zu regieren, hat sich im Aufwerfen solcher Probleme ausgelebt.94 Im Juni 1906 wurde in der ungarischen Delegation das Budget des gemeinsa¬ men Ministeriums des Äußern behandelt. Lajos Hollo beanstandete in scharfer Form, Österreich trage nicht viel mehr zu den gemeinsamen Ausgaben bei als Ungarn, der gesamte Beamtenapparat des Ministeriums des Äußern und das ganze Netz der Diplomatie aber nährten Österreichs wirtschaftliche und politische Kraft. Der auswärtige Dienst sei selbst in seinen Äußerlichkeiten österreichisch. Deshalb wünsche er, daß bei den Auslandsvertretungen auch das ungarische Staatswappen 27 || || angebracht werde und die Diplomatie der Monarchie neben der deutschen Sprache auch die ungarische gebrauche. In leidenschaftlichem Ton stellte und beantwortete er zugleich die Frage: »Was für einen Staat vertritt nun der geehrte Herr Außenmi¬ nister? Vielleicht sich selbst oder vielleicht das gemeinsame Ministerium? Nein, er ist nur einfaches Organ der zwei Staaten. . . Die Gesetze, in denen die Parität und der Dualismus in allen gemeinsamen Institutionen auch separat festgelegt werden, verfügen klipp und klar, daß der Minister des Äußeren nicht einen ideellen gemeinsamen Staat vertritt. Es ist nicht mehr die alte, absolute, österreichische, kaiserliche Macht, die die Auslandsvertretung repräsentiert, sondern es ist ihre Aufgabe, die beiden Staaten, Österreich und Ungarn zu vertreten, die im Dualis¬ mus leben und aus diesem gar nicht ausscheiden wollen.« Statt des Gebrauchs des Wappens und der Farben »eines nicht bestehenden, gemeinsamen Staates« fordert er neben dem österreichischen auch den Gebrauch des ungarischen Wappens und der ungarischen Farben, denn ». . . die 67er verfassungsmäßige Ordnung... hat den ganzen Bestand der einheitlichen Monarchie, des einheitlichen, österreichi¬ schen Kaiserstaates ein für allemal ausgelöscht«.95 · Hollös Rede verweist auf die Wurzeln des Regierungscharakters des gemein¬ samen Ministeriums: da diese Auffassung keinen gemeinsamen, ideellen Staat kennt, konnte sie das gemeinsame Ministerium notgedrungen nicht als Regierung betrachten, sondern sah in ihm lediglich ein gemeinsames Organ der beiden Staaten. Das wurde in der Budgetdebatte auch klar ausgesprochen. Die ungarische Delegation tagte damals in Wien. Die Wiener demonstrierten gegen die Delegation. Imre Sziväk, der die Angelegenheit gemeinsam mit anderen zur Sprache gebracht hatte, erklärte, die Delegation müsse von der gemeinsamen Regierung Genugtuung verlangen. Die Verantwortlichkeit der gemeinsamen Regierung gegenüber der Delegation sei nämlich gesetzlich geregelt. Laut Sitzungsprotokoll bemerkte der Vorsitzende, begleitet von lebhaftem Beifall und Applaus: »Ich kenne gemeinsame Minister, aber keine gemeinsame Regierung k?6 Mit dieser Debatte war die Frage jedoch in einer anderen Angelegenheit nicht abgeschlossen. In der Sitzung vom 25. Juni verlangte Tivadar Batthyäny, daß in den Delegationsprotokollen der Ausdruck »gemeinsame Regierung« überhaupt nicht gebraucht werde. Istvän Rakovszky war für die Beibehaltung des Terminus gemeinsame Regierung, denn seiner Ansicht nach wurde durch den § 22 des Ges. Art. XII v. J. 1867 mit dem gemeinsamen Ministerium eine gemeinsame Regierung gebildet. Der Professor für Staatsrecht, der Delegierte Käroly Kmety warf hier ein: »das gemeinsame Mi¬ nisterium ist keine gemeinsame Regierung«. Rakovszky bezeichnete dies als Haar¬ spalterei und sagte, für die gemeinsamen Angelegenheiten verfüge das gemeinsame Ministerium über denselben Wirkungskreis, wie in ungarischen Angelegenheiten die ungarische und in österreichischen Angelegenheiten die österreichische Regie¬ rung.97 Es soll hier nochmals darauf verwiesen werden, daß die Funktion des gemeinsa¬ men Ministerrates im ungarischen Ausgleichsgesetz rein negativ bestimmt wird. Daraus ist nämlich nicht nur ersichtlich, daß die Machtbefugnis des gemeinsamen Ministeriums nicht total war (ihm stand nur zu, was weder dem ungarischen noch dem österreichischen Ministerrat zustand) sondern auch, daß die Machtbefugnis 28 || || des ungarischen und österreichischen Ministerrates nicht allumfassend war. Diese Tatsache beleuchtet eine verfassungsrechtliche Aufzeichnung positiv, die anläßlich der Debatte über die Ernennung Goluchowskis zum Minister des Äußeren gemacht wurde. Diese Ernennung hatte folgenden Wortlaut: »Ich ernenne Sie zum Minister meines Hauses und zum Minister des Äußeren. Ich betraue Sie mit dem Vorsitz im gemeinsamen Ministerrat. . .«98 Diese Formulierung der Ernennung löste im unga¬ rischen Parlament großen Sturm aus. Der Abgeordnete Gabor Ugron verwahrte sich gegen den Ausdruck »Minister meines Hauses«, denn das Ausgleichsgesetz spreche nur von einem Minister des Äußern. Auf die Interpellation folgte ein Notenwechsel zwischen dem ungarischen Ministerpräsidenten und dem gemein¬ samen Minister des Äußeren, als Ergebnis wurde im Ministerium des Äußeren eine Abhandlung »Staatsrechtliche Notiz« verfaßt und in Druck gegeben: sie enthielt alle entsprechenden Gesetze, Verordnungen und allerhöchsten Entschließungen." Danach befassen sich die Gesetze der beiden Länder nicht mit der Funktion der gemeinsamen Minister, was an mehreren Beispielen illustriert wird.100 Dann folgt die Konklusion, nur der Machtbereich und die Zuständigkeit des gemeinsamen, des ungarischen und österreichischen Ministeriums zusammen repräsentiere die ge¬ samte Exekutivgewalt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie.101 Obzwar diese staatsrechtliche Verbindung als eng gedacht war, gab es zwischen den zwei Mini¬ sterräten nur einen sehr dünnen Draht.102 In unseren Protokollen gibt es für diese Verbindung keine anderen Angaben als daß einerseits der Ministerpräsident oder ein Ressortminister, der im gemeinsamen Ministerrat die ungarische Regierung vertrat oder der Minister des Äußern als Vorsitzender auf Grund ihrer Vorlage einen Punkt der Tagesordnung unter Hinweis auf den entsprechenden Beschluß des un¬ garischen Ministerrates einleitete103 oder aber daß der Ministerpräsident dem un¬ garischen Ministerrat über Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates referierte.104 Im weiteren wird noch davon die Rede sein, wie der zur Besprechung strittiger Fragen durch die ungarischen und österreichischen Ministern ergänzte gemeinsa¬ me Ministerrat zum höchsten Regierungsorgan des Kaiser-Königreiches wurde. In diesem Zusammenhang soll nur darauf verwiesen werden, daß der dünne Faden, der die Ministerräte der beiden Staaten mit dem gemeinsamen Ministerrat verband, während des Weltkrieges stärker wurde. Nicht, daß die Zahl der gegen¬ seitigen Hinweise in den Protokollen sich vermehrt hätte, sondern, daß an den Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates immer häufiger und in immer größerer Anzahl die Ressortminister der österreichischen und der ungarischen Regierung und andere, hervorragende Fachleute teilnahmen.105 Die Kriegslage, die mit eherner Gesetzmäßigkeit die Zusammenfassung der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Kraft der Monarchie erforderte, verlangte auch einheitliche Verfügungen, zu deren Durchführung die Gesamtheit der höchsten Macht der Monarchie erforderlich war. Diese Gesamtheit der Exekutivgewalt kam in Wirklichkeit auf den Ministerratssitzungen zum Ausdruck, an denen außer den gemeinsamen Ministern alle bedeutenderen Vertreter des österreichischen und des ungarischen Ministeriums teilnahmen. Durch die be¬ drohliche Kriegslage wurden nacheinander Bedingungen geschaffen, die dazu hätten führen können, daß die aus Angst vor dem Reich zum Ausgleich, dann zur 29 || || Koalitionsregierung gedrängten oppositionellen ungarischen Führer den verstüm¬ melten Wirkungsbereich des gemeinsamen Ministeriums vervollständigt, aus ihm eine Regierung hätten werden lassen. Wenn nämlich die Kriegsverhältnisse, aus deren Zwangslage diese Bedingungen entstanden, nicht gleichzeitig auch jedwede Möglichkeit einer normalen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung zunichte gemacht hätten. Während des ersten Weltkriegs war der gemeinsame Ministerrat schon auf dem Wege, Regierung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, eine Reichsregie¬ rung zu werden. Die durch den Weltkrieg geschaffene Notlage war jedoch nicht so stark bzw. nicht so lange wirksam, daß sie die gegen den Reichsgedanken ge¬ richteten, negativen Kräfte jener politischen Überlegungen, aus denen das gemein¬ same Ministerium hervorgegangen war, hätte niederringen können. Schon des¬ halb nicht, weil diese Kräfte vom Jahre 1867 an bis zum Zusammenbruch der Monarchie, wenn auch von Zeit zu Zeit in veränderter Form, dennoch aber un¬ unterbrochen tätig waren. XI Im Ausgleichsgesetz wurden der Wirkungskreis, die Zuständigkeit des gemeinsa¬ men Ministerrates nicht positiv definiert. Nachdem wir gesehen haben, daß an diesem großen Negatimm nur die Zwangslage des Krieges hätte ändern können, die Friedensjahre dagegen eher die Vorstellungen begünstigten, von denen Deäk bei der Schaffung des gemeinsamen Ministerrates geleitet worden war, wollen wir nun mehr den Rahmen untersuchen, in den die neue Institution des Ausgleichs hineinwuchs, die Bedingungen, unter denen sich die Dinge, da positive Verfügun¬ gen fehlten, kraft der Gewohnheit entwickelten. An der Sitzung des kaiserlichen österreichischen Ministerrates am 14. Februar 1867, der die endgültigen Formen des bevorstehenden Ausgleichs bestimmen sollte, haben außer den Mitgliedern des kaiserlichen Ministeriums -- wie bereits er¬ wähnt - auch die maßgebenden Mitglieder der präsumtiven ungarischen Regie¬ rung teilgenommen. Der kaiserliche Ministerrat bestand damals noch nicht nur aus den eigentlichen Ministern, sondern aus den Leitern der alten Hofbehörden, den Vorsitzenden der »Hofstellen«. So wie dies seit 1848 auch unter den sich ändern¬ den Verhältnissen in der Epoche des Absolutismus stets Gewohnheit war.106 Wie die Protokolle bezeugen, wären anfangs nur die gemeinsamen Minister Mitglieder des gemeinsamen Ministerrats gewesen bzw. hätten nur diese an den anfangs sehr häufigen, später selteneren Sitzungen teilnehmen sollen.107 Sehr bald ergab sich jedoch die Notwendigkeit, daß die Regierungsmitglieder der beiden Reichshälften unmittelbar, auf kurzem Wege mit den Mitgliedern der gemeinsa¬ men Regierung bzw. später auch miteinander in Verbindung traten. In der Praxis war hierzu die entsprechende Form, daß jene Mitglieder der beiden Regierungen, die an dem einen oder anderen Tagesordnungspunkt des gemeinsamen Ministerra¬ tes interessiert waren, zur Beratung zugezogen wurden. Das war der historische Vorläufer der Entwicklung des Rahmens und der Zusammensetzung des gemeinsa¬ men Ministerrates, was aus einigen konkreten Fällen, über deren Einzelheiten uns die Protokolle genau unterrichten, erhellt. 30 || || Am 26. Oktober 1868 wandte sich Taaffe brieflich an Reichskanzler Beust. Er erwähnt, in Angelegenheit der in das Budget der Länder Zisleithaniens(d. h. Öster¬ reichs) einzuschaltenden gemeinsamen Ausgaben, über die er mit dem gemeinsa¬ men Finanzminister Brestei vorher schon verhandelt hatte, habe er einen Mini¬ sterrat abgehalten. Der österreichische Ministerrat halte es für angebracht, die Bedenken, die sich in Verbindung mit den gemeinsamen Ausgaben ergeben hätten, auf einer mit dem Reichskanzler und den Reichsministern gemeinsam abzuhalten¬ den Konferenz zu besprechen, um so auf dem kürzesten Wege zu einem Über¬ einkommen zu gelangen. Taaffe nennt in seinem Briefe den einzuberufenden Ministerrat »gemeinschaftliche Konferenz«.108 Diese von Taaffe vorgeschlagene »gemeinsame« Konferenz ist im Grunde genommen der Vorläufer der im Laufe der Zeit zur Gewohnheit gewordenen Form des gemeinsamen Ministerrates, durch die das höchste Regierungsorgan der Monarchie zum Diskussionsforum über Fragen zwischen den beiden Reichshälften wurde, die auf andere Art nicht zu lösen waren. (Daß Taaffe darum ersucht, den österreichischen Mini¬ sterrat mit Reichs-Ministern zu ergänzen, rührt daher, daß es um diese Zeit noch kein gemeinsames Ministerium im späteren Sinne gab. Das Wesentliche dieser Einladung ist das, was letzten Endes die Funktion des gemeinsamen Ministerrates bestimmte.) Taaffe hatte die Reichsminister aus demselben Grunde in den österreichischen Ministerrat eingeladen, aus welchem dem kaiserlichen österreichischen Ministerrat vom 14. Februar 1867 die Politiker der ungari¬ schen Mehrheitspartei zugezogen worden waren, d. h. um auf kürzestem Wege zu einem Übereinkommen zu gelangen. Seit 1869 haben an den Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates stets ein¬ zwei österreichische und ungarische Minister teilgenommen, in erster Linie der österreichische und der ungarische Ministerpräsident. Wer von den Mitgliedern der beiden Regierungen an den gemeinsamen Konferenzen teilnehmen sollte, wurde nie geregelt. Ihr Erscheinen wurde zum System, zur Gewohnheit und hatte anfangs nicht mehr Gewicht als die Beiziehung der ungarischen 67er Politiker zum Mini¬ sterrat, der die Bedingungen des Ausgleichs verhandelte; dies führte dann unbe¬ merkt dahin, daß ihre Anwesenheit zu einem konstanten Element der gemein¬ samen Ministerkonferenzen wurde. In den unmittelbar auf den Ausgleich folgen¬ den Jahren war es noch Gepflogenheit, ihre Beiziehung zu motivieren. In den Begriff »gemeinsamer Ministerrat« gehörten nur die gemeinsamen (Reichs-) Minister. Die Teilnahme von Mitgliedern des österreichischen und des ungarischen Ministeriums am gemeinsamen Ministerrat fungierte als ihre Beiziehung zur Beratung der gemeinsamen Ministerkonferenz, bei konkreten Angelegenheiten. Reichskanzler Beust schrieb am 10. September 1869 an Reichsfinanzminister Bre¬ stei : er habe die Absicht gehabt, die Frage des Budgets der Hofhaltung im gemein¬ samen Ministerrat zu beraten, dem auch die zuständigen Minister der beiden Reichshälften zugezogen werden sollten. Inzwischen habe jedoch ein Teil der Österreicher seinen Urlaub angetreten, die Ungarn wiederum, die sich damals in Wien aufgehalten hätten, weil die Delegationen dort tagten, seien inzwischen in die ungarische Hauptstadt zurückgekehrt. Deshalb hätte die Einberufung des gemeinsamen Ministerrates vertagt werden müssen. Jedenfalls habe er die Frage mit 3i || || Lönyay, dem ungarischen Finanzminister besprochen, solange derselbe in Wien war.109 (Nur in Klammern sei bemerkt, daß auch dieser Fall die eigenartige Funk¬ tion des gemeinsamen Ministerrates gut beleuchtet: er ist ein Forum zur Behand¬ lung gewisser, beide Reichshälften berührender Fragen. Insofern die Konferenz -- wenn auch nur vorübergehend -- nicht tagen kann, können die Beratungen der Konferenz durch gelegentliche Besprechungen ersetzt werden.) Die gelegentliche Beiziehung von Ministern der beiden Reichshälften wurde bald zu einer ständigen Erscheinung. Dies kam auch in der (aktenkundlich registrier¬ baren) Amtsführung zum Ausdruck, indem sie von der Präsidialsektion des gemeinsamen Ministeriums des Äußern, die anfangs »Reichskanzlei« genannt wurde,110 nicht nur als Teilnehmer angeführt wurden, sondern im Rubrum die Reinschrift des Protokolls in der Rubrik »zur Einsicht« auch von ihnen unter¬ fertigt wurde. Diese Formalität ist meines Wissens die einzige offizielle Anerken¬ nung, juridische Approbation dessen, daß die ungarischen und österreichischen Minister ebenfalls Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates sind. 111 So entwickelte sich aus dem kaiserlichen österreichischen Ministerrat der Epoche des Absolutismus durch die Beiziehung von außerhalb der Regierung stehenden ungarischen Politikern, dann durch die gelegentliche, später ständige Teilnahme von Mitghedern der ungarischen und österreichischen Regierung, der gemeinsame Ministerrat der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Kam dieser formellen Verbindung die Bedeutung eines meritorischen Zusam¬ menhanges bei? Wurde der im Ausgleich geschaffene gemeinsame Ministerrat nur in Äußerlichkeiten zum Erbe des Kaiserlichen Ministerrates? Oder hat die fehlende Festlegung des Wirkungskreises des gemeinsamen Ministerrates, inner¬ halb des aus dem Absolutismus übernommenen Rahmens, mitgeholfen, daß abso¬ lutistische Bestrebungen zur Geltung kamen? So viel konnten wir bereits feststellen, daß der gemeinsame Ministerrat mangels eines parlamentarischen Gegenge¬ wichtes schon im vorhinein nicht dem Ideal einer im Sinne der bürgerlichen Ver¬ fassungsmäßigkeit in zwei Richtungen verantwortlichen Regierung entsprechen konnte. Wurde dadurch der Weg zur schrankenlosen Durchsetzung des Herrscher¬ willens oder eines sich auf diesen berufenden Willens frei ? Das alles sind Fragen, die amtsgeschichtliche Erörterungen vor allem beantworten müssen. Mit ihrer Klärung fällt nämlich Licht auf die geschichtliche Rolle der Amtsstruktur, darauf, wie der Amtsapparat selbst mit seinen eigenartigen Formen zu einem Faktor der Gestaltung der Ereignisse wurde. Am 11. Juni 1867, einen Tag vor der königlichen Sanktion des ungarischen Ausgleichsgesetzes, wandte sich Reichskanzler Beust in einer umfangreichen Ein¬ gabe an den Kaiser.112 Die Eingabe geht davon aus, daß das derzeit regierende Reichsministerium durch den Ausgleich in eine eigenartige Lage gerät. Es wird von zwei Seiten kritisiert: einerseits, daß es die Interessen Zisleithaniens (d. h. Österreichs) nicht genügend vertrete, andererseits, daß die Ungarn im Laufe des staatsrechtlichen Ausgleichs eben den Ländern Zisleithaniens Konzessionen gemacht haben. Nach Ansicht Beusts sind beide Vorwürfe gänzlich unbegründet, denn was im Interesse des Reiches liegt, liege auch im Interesse der österreichischen Provinzen, doch auch 32 || || im Interesse der Ungarn. In der Eingabe wird kein scharfer Trennungsstrich zwi¬ schen den vermeintlichen und den tatsächlichen Problemen gezogen. Aus den konkreten Vorschlägen folgt aber, daß er die Gestaltung des Verhältnisses zwischen den Regierungen der beiden Länder, die nach dem Ausgleich ihr Amt antreten und dem, wie er es nannte, Reichsministerium für ein echtes Problem hielt. Beust war damals schon mehr als fünf Monate Ministerpräsident der kaiserlichen österreichischen Regierung, zugleich Außen-, Innen-, Unterrichts- und Polizei¬ minister. Durch seine vielfältige Tätigkeit wurde er übermäßig in Anspruch genom¬ men. Er war im Begriff, nach Paris zu reisen. Seinen weitverzweigten Arbeitskreis mußte er gleichzeitig mehreren Vertretern übergeben, und die Sanktion des Aus¬ gleichs mit Ungarn stand unmittelbar bevor. Diese beiden Tatsachen: die Not¬ wendigkeit, ihn in mehreren Eigenschaften zu vertreten, und die durch die Bildung der konstitutionellen ungarischen Regierung erfolgte Änderung der staatsrecht¬ lichen Lage der Zentralregierung bzw. ihrer Mitglieder erforderten gleicherweise die klare Abgrenzung ihrer Funktionen. Den unmittelbaren Grund zur Trennung der Funktionen und zur Festlegung des Wirkungskreises des neu organisierten zentralen Ministeriums gab daher Beusts damalige Überlastung. Da erkannte man, daß gleichzeitig mit der Perfektuierung des österreichischen Teiles des Ausgleichs und der Konstituierung der verfas¬ sungsmäßigen österreichischen Regierung das Amt des Vorsitzenden des gemein¬ samen (Reichs-)Ministeriums von dem des kommenden österreichischen Minister¬ präsidenten getrennt werden mußte. Das schlug auch Beust vor und bat außerdem Taaffe, den er als stellvertretenden österreichischen Ministerpräsidenten vorgese¬ hen hatte, auch das Kultusportefeuille zu übernehmen.113 Einstweilen handelte es sich also nur darum, den Aufgabenkreis des österreichischen Ministerpräsidenten und des Kultusministers von dem des Vorsitzenden der sich konstituierenden gemeinsamen Regierung zu trennen. Dieser Trennungsprozeß zog jedoch einer¬ seits automatisch eine weitere sukzessive Aufteilung der in den Händen Beusts konzentrierten Machtbefugnisse, andererseits die positive Festlegung des Wir¬ kungsbereichs des Vorsitzenden des gemeinsamen Ministeriums nach sich. Oder zumindest das Bestreben, diesen Bereich positiv zu definieren. Für die Anerkennung des Ausgleichs durch den Reichsrat bestand immer weniger Hoffnung, denn die pohtischen Kräfte der Monarchie konzentrierten sich auf ein Übereinkommen zwischen dem Herrscher und den ungarischen herrschen¬ den Klassen. Die ungarischen Pohtiker aber waren nur darauf bedacht, den Schein der Unabhängigkeit der ungarischen Regierung zu sichern. Eben aus diesen wieder¬ holt erwähnten Negativa erwuchs die Notwendigkeit, den Aufgabenkreis der gemeinsamen Regierung, hauptsächlich den des Vorsitzenden der gemeinsamen Regierung abzugrenzen. Den entscheidenden Schritt hierzu tat Beust in seinem Vortrag, der den Erfordernissen der momentanen Lage entsprach. Welches waren Beusts Argumente, was hat er dem Kaiser vorgeschlagen? Die Obliegenheiten des Vorsitzenden des Ministerrates -- wenn man nur die Erledigung von Akten in Betracht zieht - bedeuten zwar keine größere Arbeit, lassen ihm aber nicht genügend Zeit für andere Aufgaben. Die auswärtige Lage erforderte aber zu dieser Zeit volle und angestrengte Aufmerksamkeit. Wie die 3 Komjäthy: Protokolle 33 || || Eingabe beweist, hielt Beust seine Funktion als Minister des Äußeren für die wichtigste. Um die komplizierte Lage zu meistern, beantragte er, den Posten des Ministers des Äußern mit dem des endgültigen Reichsministers zu verbinden.114 Wir müssen wissen, daß seinerzeit die Ernennung Beusts damit verbunden war, daß der Kaiser den Minister des Äußern als erste Person des Ministerrates be¬ trachte, d. h., daß er im Ministerrat den Vorsitz führte. Beust unterstrich nun gerade den Betrauungs-Chaxaktzr der Funktion des Vorsitzenden des Ministerra¬ tes. Er erkannte, daß bis zu dem Zeitpunkt, wo das Ausgleichswerk von allen Seiten perfektuiert sein würde, oder wie er sich in seinem Vortrag ausdrückte, bis zur endgültigen Organisierung des Reiches, an der Spitze des Reiches ein gemischter Ministerrat stehen würde. Gemischt in dem Sinne, daß im bisherigen, homogenen kaiserliche"!! Ministerrat eine Zeitlang, bis zum Abschluß des österreichischen Teiles des Ausgleichs, auch die österreichischen Minister verbleiben, ja gelegent¬ lich auch Mitgheder der ungarischen Regierung zugezogen werden. Daher schlug Beust dem Kaiser vor, nach der bisherigen Rangordnung den Mi¬ nister des kaiserlichen Hauses und des Äußern mit dem Vorsitz im Reichsmini¬ sterium zu betrauen. Der Vorsitzende des Reichsministeriums sollte nicht gleich¬ zeitig Vorsitzender der Regierung in Zisleithanien (Österreich) sein. Dem Cha¬ rakter dieser Funktion des Vorsitzenden des Reichsministerrates würde am be¬ sten der Titel Reichskanzler entsprechen, da ja nicht zwei Ministerpräsiden¬ ten nebeneinander tätig sein könnten. Beusts Vorschlag widerspiegelte getreu die tatsächliche Lage und war ihr logi¬ scher Ausdruck auf regierungs-administrativer Ebene. In der Begründung seines Vorschlages verwies er darauf, daß diese organisatorische Abänderung die neue Ordnung der Dinge unterstreiche. Auf österreichischer Seite würden dadurch gewisse Zweifel zerstreut (diese bezogen sich offenbar auf die recht unsichere Sonderstellung der österreichischen Regierung). Auf ungarischer Seite würde sie unmißverständlich auf den Reichscharakter der gemeinsamen Regierung hinwei- sen und keine Widerrede duldend den Entschluß kundtun: es wird nicht zugelassen, aus dem Dualismus eine Personalunion zu gestalten. Die Verkörperung der zentralen Führung, der Zentralisation wäre eben die Zentralregierung. Zur Durchführung dieser Maßnahmen hielt Beust die Zeit für besonders gün¬ stig, da seine Person -- wie er die Dinge sah -- beiden Parteien sympathisch war. Der Kaiser sollte ihn also mit der interimistischen Führung der Agenden des Vor¬ sitzenden der zisleithanischen (österreichischen), besser gesagt des gsmischten (der von Beust gebrauchte Ausdruck) Ministerrates betrauen. Mit dem Abschluß des Ausgleichswerkes würde diese doppelte Funktion automatisch aufhören. In den, für die den Ausgleich suchenden ungarischen Politiker allerfeierlichsten Stunden, einen Tag vor der Sanktion des Ges. Art. XII v. J. 1867, der den Schein der ungarischen Selbständigkeit wahren soll, sucht -- ausgelöst durch augenblick¬ liche bürokratische Schwierigkeiten und auch geleitet von gewissen persönlichen Motiven -- der erste Staatsmann des Habsburgreiches in seinem Vortrage nach konkreten und durchaus nicht unwesentlichen Wegen der großen strukturellen Umgestaltung. Dabei ersucht er um die Sanktion des Monarchen für Elemente, für die von den Politikern, die sich nach den aktuellen politischen Forderungen 34 || || richteten, nicht gesorgt worden war. Der führende Staatsmann des Reiches hat -- vielleicht unbewußt -- mit seinem Antrag dazu beigetragen, die Lücken auszufüllen, so daß sich auch im bürgerlich-parlamentarischen Rahmen der Habsburgmonarchie Wege für die absolutistische Regierungsweise ergaben. Welches waren nun diese Wege und wo fanden sich in der sich herauskristal¬ lisierenden Regierungseinrichtung Punkte, die Gelegenheit boten, Metternichsche Methoden zur Verwirklichung Metternichscher politischer Ziele anzuwenden ? Die äußere Ordnung der Dinge erfolgte im Geist der Beustschen Eingabe. Franz Joseph ernannte Beust am 23. Juni 1867 unter Beibehaltung seines Postens als Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern zum Reichskanzler. Er bestä¬ tigte ihn auch in seiner bisherigen Eigenschaft als Vorsitzender des Ministerrates, bis das staatsrechtliche Verhältnis zwischen den Ländern der ungarischen Krone und seinen übrigen Ländern und Provinzen geregelt sein würde. Gleichzeitig wurde er ermächtigt, für seine Vertretung in letzterer Funktion persönliche Vorschläge zu unterbreiten.115 Ede Wertheimer schreibt, der Kaiser habe Beust aus taktischen Erwägungen zum Reichskanzler ernannt.116 Er habe damit den einheitlichen Reichscharakter der Monarchie zum Ausdruck bringen und knapp vor der bevorstehenden Behand¬ lung des Ausgleichsgesetzes im österreichischen Parlament jene beruhigen wollen, die durch eine übermäßige Verselbständigung Ungarns eine Gefährdung der Einheit des Reiches befürchteten. Wie dem auch sei, der Entschluß war eher ein Ausdruck der jahrhundertealten pohtischen Kräfteverhältnisse als der pohtischen Tagesbedürfnisse und sicherte eher das Weiterleben jahrhundertealter pohtischer Bestrebungen als jene momentanen politischen Ziele, in deren Dienst die aller¬ höchste Entschließung erfolgte. Beusts Eingabe und der darauf erfolgte Entschluß des Herrschers geben uns die Möglichkeit, die Funktion des Reichskanzlers bzw. des Vorsitzenden der durch den Ausgleich geschaffenen gemeinsamen Regierung zu untersuchen. Wenn wir diesen Machtbereich in seine Elemente zerlegen, so bietet sich, meiner Meinung nach, die Möglichkeit, die oben angeführten Fragen (ob die Entwicklung der Monarchie nach dem Ausgleich tatsächlich entschieden in bürgerücher Richtung erfolgte, ob sich nicht auch weiterhin absolutistische Auswirkungen zeigten usw.) annähernd genau zu beantworten. Aus Beusts Eingabe ist klar zu ersehen, daß er von seinen vielfältigen Macht¬ positionen seine Funktion als Minister des Äußern für die wichtigste hielt. Das war nicht allein die persönliche Überzeugung des früheren sächsischen und nun österrei¬ chischen Politikers. Dahinter verbarg sich zugleich jahrhundertealte Tradition der politischen Praxis des Habsburgreiches. Wohin diese Fäden der Tradition reichten, wird aus einigen konkreten Beispielen ersichtlich. Während des Absolutismus beschäftigte die führenden Politiker stets das Pro¬ blem : wie es möglich wäre, zumindest in der Benennung, die Regierungsorgane des im Jahre 1848 zusammengebrochenen und 1849 irgendwie restaurierten Ancien regime mit der kurzlebigen verfassungsmäßigen Epoche in Einklang zu bringen. Im Jahre 1855 beantragte der Minister des Äußern Graf Buol-Schauenstein die Umbenennung bzw. die Berichtigung der Benennung des unter seiner Führung 3* 35 || || stehenden Ministeriums. In diesem Vorschlag sagte er unter anderem: als infolge der politischen Wirren des Jahres 1848 die bisherigen Hofstellen zu Ministerien umgestaltet wurden, wurde die Geheime Haus-, Hof- und Staatskanzlei in Ministe¬ rium des Äußern und des Kaiserlichen Hauses umbenannt. Er beanstandete in dieser Benennung, die die doppelte Funktion des Ministeriums ausdrückte, die Reihenfolge. Seiner Ansicht nach würden in anderen, selbst in konstitutionellen Ländern die Worte »kaiserliches Haus« an erster Stelle gebraucht und »des Äußern« an zweiter. Da diese Benennung des Ministeriums auf einem kaiserlichem Ent¬ schluß beruhe, könne sie auch nur durch eine kaiserliche Resolution abgeändert werden. Diese vom Minister des Äußern erbetene Entscheidung wurde auch vom Herrscher getroffen.117 Von da an bis zum Zusammenbruch der Monarchie erfolgte die Ernennung des Hauptes der gemeinsamen Regierung, des Ministers des Äußern stets nach dieser Formel.118 Die Wurzeln des von Beust so hoch eingeschätzten Außenministeramtes reichen bis in die Rechtsstellung des Staatskanzlers, der höchsten Machtfunktion der Blütezeit des Habsburgerabsolutismus zurück. Aus einem relativ unbedeutenden Anlaß hat kein geringerer als Fürst Schwarzenberg, der die Freiheitsbestrebungen der Jahre 1848 -- 1849 im Blut erstickte, auf den grundlegenden Charakter des Rechtsvorgängers des halbkonstitutionellen und konstitutionellen Ministeriums des Äußern, der Staatskanzlei hingewiesen. Im Jahre 1851 wurden vom damaligen österreichischen Finanzminister die Gehälter des Personals sämtlicher Ministerien auf das gleiche Niveau gehoben. So wurden auch die Gehälter der Angestellten der Staatskanzlei mit denen der übrigen Ministerien gleichgestellt. Der Minister¬ präsident und Minister des Äußern Schwarzenberg protestierte dagegen aus prinzipieller Grundlage.119 In seiner Zuschrift an Finanzminister Baron Krauß heißt es, der allerhöchste Entschluß vom 13. September 1848 habe sich zwar auf die prinzipielle Grundlage der Gleichschaltung des Personals der verschiedenen Ministerien gestellt. Er selbst aber sei durch das Studium aller entsprechenden Akten zu der Überzeugung gelangt, daß die Verordnung vom 13. September nur über die Umgestaltung der administrativen Hofstellen in Ministerien verfüge; die Staatskanzlei sei jedoch -- laut der verschiedenen kaiserlichen Äußerungen -- niemals lediglich eine administrative Hofstelle gewesen.120 Im Gegenteil, wie frü¬ her nehme sie auch heute gegenüber allen aus Hofstellen hervorgegangenen Ministerien eine Sonderrechtsstellung ein. Dies beweise auch die Tatsache, daß das aus der Staatskanzlei hervorgegangene Ministerium nicht nur das Ministerium des Äußern, sondern auch das des kaiserlichen Hauses sei.1,11 Er wünsche daher gegenüber der Anordnung des Finanzministers die auf allerhöchstem kaiserlichem Beschluß beruhenden Rechte und die besondere Benennung der Staatskanzlei mit allen möglichen Mitteln zu wahren.122 Die Worte Schwarzenbergs weisen klar auf den Ursprung des Außenministeriums, sein Rechtsvorgänger ist die Staatskanzlei. Sie verweisen aber zugleich auch auf die doppelte Funktion des Außenministe¬ riums.123 Die durch Fürst Schwarzenberg provozierte Auseinandersetzung hat also den später durch den Ausgleich geschaffenen, in der Benennung Reichskanzler konzentrierten Machtbereich, die Funktion des Hauptes der gemeinsamen Regie¬ rung in ihre Elemente zerlegt. Um im weiteren stichhaltige Schlüsse ziehen zu 36 || || können, müssen wir noch die Wurzeln betrachten, aus denen sich der Machtbe¬ reich des ersten Ministers der Monarchie im letzten halben Jahrhundert ihres Bestehens nährte. Die Staatskanzlei wurde im Jahre 1742 von Maria Theresia eingerichtet. Dieses höchste Organ der Führung der auswärtigen Angelegenheiten hat das Jahrhun¬ dert von seiner Gründung bis zu den Märztagen verhältnismäßig unverändert überdauert. Im Auf und Nieder der aufeinanderfolgenden großen Umgestaltungen und kleineren Änderungen, von dem in diesem Zeitraum kaum eine politische und Finanzbehörde des Habsburgreiches unberührt blieb, war die Staatskanzlei eigentlich der einzige feste Punkt. Dieser augenfällige Zug in der Entwicklung ist - wie in der vorzüglichen Verwaltungsgeschichte Friedrich Walters festgestellt wird124 - auf zwei Gründe zurückzuführen. Der eine liegt in dem Umstand, daß sich die Führung der auswärtigen Angelegenheiten schon vor der Schaffung eines gesonderten Organs, schon in sich, fast automatisch von den übrigen Zweigen der höchsten Staatsverwaltung abgesondert batte. Wenn die Staatskonferenz in den entscheidendsten Fragen auch angehört wurde, stand einer kollegialen Behandlung dieser Probleme von vornherein deren eigenartige, eine Verhandlung auf breite¬ rer Grundlage nicht ertragende Natur im Wege. Der zweite Grund ist, daß die überragenden Persönlichkeiten, die während des Absolutismus an der Spitze dieses Regierungsorgans für auswärtige Angelegenheiten standen, ihm deutlich ihren Stempel aufgedrückt hatten. In erster Linie Kaunitz (1753-1793) und Metter¬ nich (1809 -- 1848), die beide vier Jahrzehnte dieses Amt bekleideten. In welcher Richtung, dazu zitiert Walter die Erklärungen Erzherzog Karls und Metternichs, die bezeichnenderweise übereinstimmen und einander ergänzen. Erzherzog Karl schlug im Jahre 1811 die Schaffung eines »Staats- und Konferenzministeriums« vor. In diesem Vorschlag analysierte er die Besonderheiten und die Erfordernisse der Führung der auswärtigen Angelegenheiten. Seiner Meinung nach müsse der Minister des Äußern in den meisten Fällen nicht nur von verschiedenen, sondern einander oft scharf widersprechenden Grundsätzen ausgehen und sich ähnlich entgegengesetzten Zielen anpassen. Auch sein Vorgehen wird, wenn er sich nicht von vornherein der Erfolglosigkeit aussetzen will, durch grundlegenden Wider¬ spruch charakterisiert: nach außen hin muß er andere Absichten zeigen, als in Wirklichkeit seiner Tätigkeit als Richtschnur dienen. Seine Politik kann weder in ihren Grundsätzen noch in ihren Endzielen Gegenstand der Debatten eines aus mehreren Mitgliedern bestehenden Rates sein. Daß die Führung der auswärtigen Angelegenheiten auf eine Person begründet ist, hat der hervorragendste Vertreter der Außenpolitik des Habsburgreiches, Metternich, noch prägnanter formuliert. Im Jahre 1811 befaßte man sich mit dem Gedanken, zur Führung der auswärti¬ gen Angelegenheiten eine ständige Konferenz zu schaffen. Metternich hat diesen Plan rundweg abgelehnt. Er sagte, in der Außenpolitik müsse man auf das Ganze sehen, von den offensichtlichsten Sachen bis zu den geheimsten, von den Angele¬ genheiten, die hauptsächlich nur das Reich betreffen, bis zu jenen Beziehungen, die dasselbe bloß im weitesten berühren. Dies aber könne, wie er sagte, nur ein Geist und ein Wille meistern. Sowohl Erzherzog Karl wie Metternich zogen einen scharfen Trennungsstrich zwischen den administrativen Hofbehörden der höchsten 37 || || Staatsverwaltung, den Hofstellen und den Vorsitzenden derselben einerseits und dem die auswärtigen Angelegenheiten führenden Amt bzw. dem an seiner Spitze stehenden Minister. Durch die Benennung Ministerium und den ministeriellen Charakter des Außenamtes wurde -- nach der Formulierung des Erzherzogs Karl und Metternichs - die nicht kollegiale Eigenart der Amtsführung hervor¬ gehoben, daß nämlich der höchste Verwalter der Außenpohtik allenfalls mit Referenten arbeite, seine Vorstellungen und Entschlüsse jedoch nicht Gegenstand der Debatten eines noch so hohen Staatsrates sein können. Die Staatskanzlei war in diesem Sinne, in ihrem von den Hofstellen abweichenden Wesen und nicht nach dem Begriff der Verfassungsmäßigkeit ein Ministerium. Es ist bezeichnend, daß am Anfang des 19. Jahrhunderts die höchsten Zweige der Staatsverwaltung, dar¬ unter auch die Führung der auswärtigen Angelegenheiten, zwar in der Hand eines einzigen Mannes, Colloredos, vereinigt waren, der Träger dieser geradezu absoluten Macht doch nicht »Ministrissimus« wurde. Die Person des Grafen Colloredo- Wallsee war nämlich hierzu gänzlich ungeeignet. Metternich dagegen war als Anerkennung vor allem seiner Leistungen in der Außenpolitik einige Jahre nach sei¬ nen größten Erfolgen in den Rang eines Staatskanzlers erhoben worden.125 Aus¬ maß und Inhalt des Machtbereiches des Staatskanzler-Außenministers hingen in erster Linie von der Persönlichkeit des Mannes ab, der dieses Amt bekleidete. Die Funktion des obersten Lenkers der Außenpolitik wird nicht nur durch äußere Elmstände gestaltet, auch die persönlichen Eigenschaften jener Männer, die dieses Amt bekleiden, formen es. Das Außenministeramt der Österreichisch-Ungari¬ schen Monarchie hatte stets einen gewissen Kaunitzschen, Metternichschen Zug. Das immanente Attribut der jeweiligen Außenpohtik, über die Notwendigkeit des Vorherrschens des einen Willens hinaus, als Metternichscher Überrest aus der Blütezeit des Absolutismus, ein gewisser diktatorischer Zug, niemandem ver- antwortlich zu sein -- all dies sonderte den Minister des Äußern der Österreichisch- Ungarischen Monarchie auch im' letzten halben Jahrhundert des bürgerlichen Parlamentarismus von seinen Ministerkollegen ab. Wenn wir die Kanzlerfunktion Beusts weiter in ihre Elemente zerlegen, ergibt sich die Frage: wie hat sich dieser, einen spezialen Rechtsbereich ausübende Posten in den Rahmen des Ausgleichs eingefügt ? Als der Kaiser an Stelle Belcredis den Baron Beust zum Minister des Äußern ernannte, wurde im allerhöchsten Handschreiben hinzugefügt, daß Beust in dieser Eigenschaft unter den Mitgliedern des Ministerrates der erste Platz gebührt.126 Wie bereits erwähnt, wurde im kaiserlichen Dekret vom 23. Juni 1867, mit dem Beust zum Reichskanzler ernannt wurde, der Kanzler auch weiterhin mit den Obliegenheiten des Vorsitzenden des Ministerrates betraut. Der Vorsitz im Ministerrat basierte also auf einer gesonderten Betrauung, die wieder daraus folgte, daß das Amt des Ministers des Äußern schon im Absolutismus gegen¬ über den Positionen der Vorsitzenden der Hofstellen traditionellen Vorrang hatte. Wir haben auch gesehen, daß die hohe Position des Staatskanzler-Außenministers -- wie die Eingabe Buol-Schauensteins im Jahre 1855 beweist -- damit begründet wurde, daß dieselbe mit dem Ministeramt des kaiserlichen Hauses verbunden war. Reichskanzler Beust hat seine Stellung als Vorsitzender im gemeinsamen Mini¬ sterrat aus seiner im kaiserlichen österreichischen Ministerrat eigenommenen 38 || || Position geerbt. Aufgabenkreis und Funktion dieses Ministerrates haben sich aber in den stürmischen Tagen des Jahres 1848 herausgebildet. Von unserem Gesichtspunkt ist das Protokoll der Sitzung der Staats-Konferenz am 17. März 1848 auch wegen seiner Formahtäten bedeutsam.127 Vor allem des¬ halb, weil das Protokoll der Staats-Konferenz die Aufschrift Ministerratsproto¬ koll trägt. In den Formalitäten und in der laufenden Numerierung schließen sich diesem eng die Protokolle der konstitutionellen Zeiten, dann -- wie bereits flüchtig erwähnt und worauf bei Behandlung der Formahtäten der Protokolle noch zurückzukommen sein wird -- der Ära Bach und Schmerling an.128 Die Staats- Konferenz, auf der Erzherzog Franz Karl den Vorsitz führte,129 erklärte, daß im Sinne der allerhöchsten Entschließung vom 15. März unverzüglich ein verant¬ wortlicher Ministerrat zu bilden sei. Der Ministerrat habe aus dem Minister des Äußern und des kaiserlichen Hauses, dem Minister des Innern, dem Justiz-, dem Finanz- und dem Kriegsminister zu bestehen.130 Den Vorsitz im Ministerrat werde der vom Herrscher zu designierende Ministerpräsident führen.131 Es wurde auch beschlossen, ein kurzes offizielles Kommunique herauszugeben, um bis zur endgültigen Regelung des Ministerrates und der Festlegung des Wirkungsbereiches der einzelnen Minister132 die Öffentlichkeit zu beruhigen.133 Das an den Grafen Kolowrat gerichtete Reskript Ferdinands V. vom 31. März 1848 ordnete an, daß die Minister und andere Vertraute des Herrschers, entspre¬ chend den Erfordernissen der Situation, täglich zusammentreten.134 In diesem allerhöchsten Handschreiben werden neue Elemente der Zusammensetzung und der Sitzungsordnung des Ministerrates (es darf nicht vergessen werden, daß es sich hierbei um das Vorbild des durch den Ausgleich geschaffenen gemeinsamen Mini¬ sterrates handelt) festgelegt. In der tags darauf, am 1. April zusammengetretenen Konferenz wurde vor allem über die Besetzung des Finanz- und des Kriegsmini¬ sterpostens beraten und über laufende Angelegenheiten, die mit der Verfassungs¬ änderung zusammenhingen. Bei der Organisierung des gemeinsamen Ministerrates wurde auf dieses Statut hingewiesen, bei der Bestimmungder Geschäftsordnung, der Funktion des Ministerrates wurde nicht darauf zurückgegriffen. In seinen Verfü¬ gungen kommen jedoch der Reihe nach jene Verfahrensweisen vor, durch die später auch die Praxis des gemeinsamen Ministerrates bestimmt wurde. Kraft der Gewohnheit wurzelten diese ebenso im Statut aus dem Jahre 1848, wie sich die Registrierungsordnung der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates und sozusa¬ gen alle Formahtäten derselben der Registrierungsordnung und den Formalitäten des ersten verfassungsmäßigen Ministeriums und darüber hinaus dem Form- und Rechtsvorgänger des gemeinsamen Ministerrates, dem höchsten Regierungsorgan zur Zeit des Absolutismus, dem kaiserlichen Ministerrat angeschlossen haben. Im Statut wird vor allem festgelegt, daß der Mittelpunkt der Regierung der Ministerrat ist.135 Aufgabe des Ministerrates ist, einesteils gemeinsame Beschlüsse zu fassen, andernteils die Anträge der einzelnen Minister und die dem Ministerrat vorgelegten Angelegenheiten zu prüfen und über dieselben zu beschließen. Eine seiner Hauptfunktionen ist, in strittigen Fragen ein Übereinkommen zu erzielen und zu den Aufgaben der Minister gehört es, ihre Ministerkollegen auf kürzestem Wege über die in ihr Ressort fallenden Sachen zu orientieren.136 39 || || Ebenfalls neben dem Protokoll vom 1. April 1848 erliegt auch das Konzept des Begleitschreibens zu dem, wie aus dem Text zu entnehmen, Ministerratsstatut (das bereits flüchtig besprochen wurde), das dem Herrscher zur Genehmigung vorgelegt wurde.137 Die Spitze dieses Schriftstückes ist gegen den Staatsrat und die Staatskonferenz gerichtet. Hier wird der Beweis versucht, daß jedwedes andere Organ zwischen Herrscher und Ministerrat überflüssig sei. Wie im Statut wird auch hier nachdrücklich beantragt, auch andere Personen, vor allem Mitarbeiter der Ministerien oder höherer Gremien zu den Verhandlungen des Ministerrates heranzuziehen. (Wie in der letzten Phase der Ausgleichsverhandlungen die noch nicht in verantwortlichen Stellungen befindlichen ungarischen Politiker, oder wie zu den Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates systematisch Finanz- und Militärfachleute gleicherweise beigezogen wurden, selbst in den schwersten Tagen des Weltkrieges.) Das sind die Elemente, die in der Konstruktion des gemeinsamen Ministerrates erkennbar sind, deren Ursprung über die Jahre des Absolutismus und die kurzen Monate der Verfassungsmäßigkeit in mancher Beziehung weit in die Praxis der höchsten Regierungsorgane des Absolutismus zurückreichen. Bevor wir noch genauer untersuchen, wie sich diese, oft veralteten Traditionen mangels minuziöser Regelung, kraft der Gewohnheit über die Beschlüsse, Ver¬ säumnisse und den Leerlauf des gemeinsamen Ministerrates auf das Schicksal der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ausgewirkt haben, wollen wir noch zwei Tatsachen betrachten. Die eine ist, daß der Minister des Äußern bzw. vor Einführung der Ministertitel der oberste Verwalter der auswärtigen Angelegenheiten, meist der stillschweigend anerkannte erste Mann, das Haupt der Regierung war. Auch Beust hielt von seinen vielseitigen Funktionen das Außenamt für das wesentlichste. Als erster unter den Ministern hat gewöhnhch der Minister des Äußern in den Ministerkonferenzen den Vorsitz geführt bzw. wurde er mit dem Vorsitz im Ministerrat be¬ traut.138 Dieser aus ihrem Primat, ihrer Vornehmheit, aus ihrem besonde¬ ren, den der übrigen Minister überragenden Machtbereich resultierende Vorsitz, ferner der Umstand, daß ihnen diese Aufgabe vom Herrscher besonders übertragen wurde, widersprach schon im vorhinein dem Cha¬ rakter ihrer Position als Haupt der Regierung. Die Auszeichnung Baron Beusts mit dem Titel Reichskanzler war eine vorübergehende Erscheinung. Diesbezüg¬ liche Reminiszenzen kehren zwar in der Titulierung seiner Nachfolger, der gemeinsamen Minister des Äußern durch andere Behörden139 von Zeit zu Zeit noch wieder, besagen aber nicht mehr, als daß der Außenminister des Reiches Vorsitzender des gemeinsamen Ministerrates war. Dies ist die eine Tatsache, deren Festlegung notwendig erscheint, bevor wir weitere Schlüsse ziehen. Die andere ist der bereits erwähnte Umstand, daß nämlich das Ansehen des Außenministeramtes nicht zuletzt daraus folgte, daß der Außen¬ minister geleichzeitig Minister des kaiserlichen Hauses war. Als sich am Anfang der fünfziger Jahre die Notwendigkeit ergab, den Machtbereich und die Funktio- - nen der in ihrer Benennung zwar verfassungsmäßigen, in Wirklichkeit aber noch absolutistischen Regierungsbehörden abzugrenzen, wurden der Wirkungskreis des 40 || || Ministers des Äußern und jener des Ministers des kaiserlichen Hauses getrennt geregelt.140 Der Reichskanzlertitel des Vorsitzenden des gemeinsamen Ministerrates wurde auf Forderung der ungarischen Opposition abgeschafft.141 Zumindest war dies der unmittelbare Grund für das Verschwinden des Titels. Daß er jedoch so leicht ver¬ schwand, der Herrscher ohne größere Schwierigkeiten einwilligte, diesen Titel, der doch am meisten geeignet war, nach außen hin die Einheit des Reiches zu reprä¬ sentieren, nicht mehr zu benutzen, hatte einen tiefem Grund. Die Forderung der ungarischen Opposition deckte sich, wenn auch vielleicht nicht ganz bewußt, mit den Absichten des Kaisers, mit seiner Vorstellung über die Funktion des Vorsitzen¬ den seiner Reichsregierung. Wir haben gesehen, daß auch die Regelung im Jahre 1848 dem Ministerpräsi¬ denten keine die der übrigen Minister weit überragende Rolle zudachte. In der Aufzählung der Ministerratsmitglieder der am 14. März 1848 abgehaltenen Staats- Konferenz wird sie gar nicht erwähnt. Lediglich an zweiter Stelle wird hinzugesetzt, daß der Ministerpräsident, dessen Person vom Herrscher bestimmt werden wird, im Ministerrat präsidiert. Die Angelegenheiten werden mit voller Verantwortung von den Ministern erledigt. Der Ministerrat bildet das Forum zur Beratung strit¬ tiger Angelegenheiten, zum Ausgleich von Gegensätzen. Die Funktion des Mini¬ sterpräsidenten ist mit der Einberufung des Rates, der Einladung der Minister und anderer Fachleute, der Feststellung der Geschäftsordnung, der Einleitung der Beratung usw. erschöpft. Dies waren aber mehr administrative Obliegenheiten, denn Aufgaben eines Chefs der Regierung. Als Baron Beust bestrebt war, seinen vielfältigen Aufgabenkreis zu verteilen, richtete er eine Reichskanzlei ein, um den administrativen Teil seiner Funktion zu versehen, der mit seinem Amt als Ministerpräsident zusammenhing. Er legte auch ihren Geschäftskreis fest, der im wesentlichen die Amstgeschäfte umfaßte, die mit der Funktion als Vorsitzender des Ministerrates des späteren, dem Namen nach nicht existierenden Reichs- (gemeinsamen) Ministerpräsidenten in Zusammenhang standen. Nach dem Ausgleich wurde der Wirkungskreis so manchen Organs der Monarchie negativ festgelegt; auch diese Erscheinung spiegelte die Widersprüche der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Einrichtung des Staates wider. Das geschah auch bei Abgrenzung des Geschäftsbereiches der Reichskanzlei. Am 27. Juni 1867, einige Tage nach seiner Ernennung zum Reichskanzler, richtete Beust eine Eingabe an den Herrscher, in der der Grundsatz zur Bestimmung der Funktion der Reichskanzlei festgelegt wird. Danach gehören hierher alle Angelegenheiten, die streng genommen mit der Administration weder des Ministeriums des Äußern, noch der der Länder Zisleithaniens in unmittelbarer Verbindung stehen, weiter die ihrem Wesen nach politischen und solche Angelegenheiten, die sich bis zu einem gewissen Maße auf das Gesamtreich beziehen.142 Mit der Streichung des Titels Reichskanzler verschwand auch die Benennung Reichskanzlei, ihren Geschäftsbereich übernahm die Präsidialsektion des gemeinsamen Ministeriums des Äußern.143 Das Ministerratsstatut des Jahres 1848 besagt in einem Punkt: wenn der Mini¬ ster gegen einen in kollegialer Beratung gefaßten Entschluß der ihm unterstellten 4i || || Hofstelle Bedenken erhebt, kann er diesen Beschluß sistieren und dem Ministerrat zur Beratung vorlegen.144 Das Statut spricht von »Hofstellen«. Der Ministerpräsi¬ dent war im wesentlichen kein Regierungschef. Als sich dann das gemeinsame Ministerium konstituierte, summierten sich die Obliegenheiten des Regierungschefs als Vorsitzender des Ministerrates in einem rein administrativen Organ, in der Tätigkeit der Präsidialsektion des Außenministeriums. In der ungarischen Fassung des Ausgleichsgesetzes wurden Wirkungskreis und Funktion des gemeinsamen (Reichs-) Ministeriums nur negativ bestimmt. Der oppositionelle Flügel des ungarischen politischen Lebens (stillschweigend auch die Regierungspartei) haben bis zum Zusammenbruch der Monarchie unermüdlich betont, das gemeinsame Ministerium sei keine Regierung, sondern ein höchstes administratives Organ, berufen, die sich aus der gelegentlichen Vereinigung zweier unabhängiger Länderergebenden gemeinsamenAngelegenheiten zu verwalten. Diese Forderungen deckten sich, wenn auch nicht in den Gründen ihrer Initiative und ihren Absichten, aber auf anderen Wegen, in ihrem Endziel mit der im Verlaufe von Jahrhunderten entstandenen Praxis, der Rolle, der Funktion des höchsten Regierungsorgans des Habsburgreiches, ja teilweise auch mit der theoretischen Formuherung dieser Praxis. Aus dem Nicht-Regierungscharakter des gemeinsamen Ministerrates folgte einerseits die isolierte Stellung des gemeinsamen (Reichs-) Ministers des Äußern, andererseits die im Metternichschen Sinne genommene Lenkung seiner Funktion durch einen Geist -- einen Willen. Daraus folgte aber, daß sich die Stellung der beiden anderen Mitglieder des gemeinsamen Ministeriums, des gemeinsamen Finanz- und des gemeinsamen Kriegsministers kaum von der Stellung der Vor¬ sitzenden der Hofstellen des 18. Jahrhunderts unterschied.145 In der jahrhundertealten politischen Praxis des Habsburgreiches fehlte von jeher ein parlamentarisches Gegengewicht. Elemente gegensätzlicher Staatsauf¬ fassungen grundverschiedener Welten trafen hier aufeinander und wurden zu einer organischen Verbindung. XII Ein ausgezeichneter, scharfblickender Diplomat der letzten Jahrzehnte der Öster¬ reichisch-Ungarischen Monarchie, Musulin, analysiert in seinen Memoiren146 einge¬ hend die Eigenheiten der Stellung des Ministers des Äußern des Reiches. Er hält die pohtische Isolierung für den bezeichnendsten Zug der Stellung des gemeinsamen Mi¬ nisters des Äußern. Seiner Ansicht nach mußte der gemeinsame Minister des Äußern die auswärtigen Angelegenheiten der Habsburgmonarchie, also im wesentlichen die Funktion eines Reichskanzlers, eine Funktion, die eine sorgfältige Erwägung der Änderungen der innerpolitischen Lage erheischt, führen, ohne mit den Kräften des innerpolitischen Lebens der Monarchie in lebendiger Verbindung zu stehen. Ver¬ bindungen hatte er nur mit den Delegationen. Diese, alljährlich in verschiedener Zu¬ sammensetzung und bereits im vorhinein mit eingeengtem Verhandlungsmaterial ar¬ beitenden Körperschaften konnten jedoch -- das ist Musuhns Ansicht -- keinesfalls die Teilnahme an den lebhaften Debatten der den ganzen Horizont des politischen 42 || || Lebens überblickenden Parlamente ersetzen. Nun sind aber der enge Zusammenhang der Innen- und Außenpolitik und ihre Wechselwirkung ein uraltes Postulat der Staatsführung. Der führende Staatsmann der Österreichisch-Ungarischen Monar¬ chie trat mit dem innerpolitischen Leben des Reiches systematisch und verfassungs¬ mäßig durch die Ministerspräsidenten der beiden Länder in Berührung. Ihre Infor¬ mationen dienten oft -- da ihre Interessen nicht selten einander entgegengesetzt waren -- nicht der Aufdeckung, sondern der Verschleierung der Wirklichkeit (je nachdem wurden sie beschönigt oder in ungünstigerem Licht dargestellt).147 In Musulins Beobachtungen steckt zweifellos eine gewisse Wahrheit. Der Außen¬ minister der Monarchie führte die Amtsgeschäfte des Reiches tatsächlich isoliert, wenn auch nicht in dem Sinne, wie Musulin dachte. Er stand in der Tat nicht in der unruhigen, für jede Regung empfindlichen Welt der Parlamente, verfassungsmäßig erhielt er über die Ministerpräsidenten Kenntnis von den innerpohtischen Ver¬ hältnissen der beiden Reichshälften. Doch gab es für ihn außer diesen Möglich¬ keiten und Quellen noch unzählige andere Möglichkeiten und Quellen, um sich ins innerpolitische Leben einzuschalten und sich über die Entwicklung der Innenpoli¬ tik zu orientieren. Es ist wohl wahr, im überaus komphzierten Mechanismus der Monarchie stand dem Minister des Äußern in der Zeit, wo die Delegationen nicht tagten, nur ein einziges Forum zur Verfügung, in dem er seinen Standpunkt in diskursiver Form entwickeln konnte, der gemeinsame Ministerrat. Freilich sicherte dieser enge Kreis, der über das Wirken der Kräfte, die das Leben der Monarchie bewegten lediglich durch sorgfältig gesiebte Nachrichten Kenntnis erhielt, den Ministern des Äußern nur sehr einseitige Möglichkeiten für ihre Konzeptionen, was auch aus dem Material der Debatten stets ersichtlich ist.148 Doch das, was Musulin im Amte des gemeinsamen Außenministers als negative Isolierung erschien, war eigentlich eine Isoherung im positiven Sinne. Musulin übersah oder wollte nicht sehen, daß sich der Außenminister, wenn er auch an den pohtischen Debatten der Parlamente nicht teilnahm, über unzählige andere, zuverlässige Quellen viel¬ seitig informieren konnte. Und was noch wichtiger ist: auf dieser Höhe des Staatsapparates, durch alte Regelungen kraft der Gewohnheit gesichert, stand er tatsächlich isohert. In dieser Stellung -- praktisch nur dem Monarchen gegenüber verantwortlich -- und formell nur gezwungen, die Grundsätze seiner Außenpoli¬ tik ausschließlich mit den beiden Regierungschefs zu besprechen, brauchte er auf Parlamente und andere parlamentarische Faktoren kaum Rücksicht zu nehmen.149 Die Funktion des Hauptes der Reichsregierung verminderte sich aus der Reichs¬ kanzlerschaft Beusts auf den Vorsitz im gemeinsamen Ministerrat und auf dem Gebiete der damit zusammenhängenden amtlichen Obliegenheiten aufdie bürokra¬ tische Tätigkeit in der Präsidialsektion des Außenministeriums.150 Verblieb also die Lenkung der Außenpoütik, von Metternich so formuliert: gelenkt durch »einen Geist und einen Willen«. Neben dem Minister des Äußern wurde die Tätigkeit des Ministerrates auf die Besprechung der anfallenden Fragen, auf die Ebnung der zwischen beiden Reichshälften eventuell vorhandenen und die außenpohtische Aktivität des Reiches lähmenden Gegensätze eigenschränkt, also auf die Rolle der »mündlichen Aussprache«. Dieser amtstechnische Teil des Überbaus dem noch die Spuren der überragenden Persönlichkeit der großen Vorgänger in diesem Amt 43 || || anhafteten, gab einem späten, unbegabten Nachfolger Metternichs, dem Grafen Berchtold einen Wirkungsbereich in die Hände, daß er ohne konkrete und sofort einsetzende Kontrolle und durch das Fehlen eines parlamentarischen Gegenge¬ wichtes praktisch ohne Risiko, auf parlamentarischem Wege zur Rechenschaft gezo¬ gen zu werden, den Militärapparat des verfallenden Habsburgreiches in Gang setzen konnte. Das Gewicht liegt hier eigentlich nicht so sehr auf der Ingangset¬ zung wie auf dem Zeitpunkt, zu dem es geschah. Denn die Interessen jener Schich¬ ten, die Berchtold im Amt des Außenministers vertrat,151 richteten sich nicht gegen die Auslösung des Krieges, doch stimmten ihre Interessen bezüglich des Zeitpunk¬ tes nicht überein. Daß diese Tatsache, die auf den ersten Blick als nicht einschnei¬ dend erscheinen mag, im gegebenen Zeitpunkt -- meiner Ansicht nach, zumindest teilweise eben durch die Eigenart des Staatskonstruktion -- als entscheidende Kraft in den Gang der Dinge eingegriffen hat, wird bei genauer Untersuchung der Dinge klar. Aus der Geschichte des letzten halben Jahrhunderts der Habsburgmonarchie möchte ich drei Wendepunkte betrachten, um, wenn auch auf die augenfälligsten Tatsachen beschränkt, blitzlichtartig, die geschichtliche Rolle des höchsten Regie¬ rungsorgans des Habsburgreiches, des gemeinsamen Ministerrates und den Einfluß des sich aus der Stellung des gemeinsamen Ministers des Äußern ergeben¬ den Machtbereichs auf die Gestaltung schicksalentscheidender Ereignisse zu erkennen. Anfang des Jahres 1878, als in der Atmosphäre der bevorstehenden Okkupation von Bosnien --Herzegowina der Bogen der internationalen Gegensätze bis zum äußersten gespannt war, befaßte sich der gemeinsame Ministerrat der Österrei¬ chisch-Ungarischen Monarchie mit den militärischen Maßnahmen, die im Falle eines drohenden Konfliktes zwischen Rußland und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie zu ergreifen wären. Es kam auch das Problem der Mobilmachung zur Sprache. Die Deckung der Mobilmachungskosten hätten nach den Regeln der kaum mehr als zehnjährigen konstitutionellen Einrichtung die Delegationen votie¬ ren müssen. Graf Gyula Andrässy nahm in der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 7. Februar 1878 gegen die öffentliche Behandlung dieser Frage Stellung. Nach Meinung des ersten und unter allen späteren Regierungschefs von politischen Idealen vielleicht am wenigsten beeinflußten Ministerpräsidenten des dualisti¬ schen Ungarns sollten die parlamentarischen Faktoren nicht zu ernst genommen werden (also nicht einmal die in den Ausgleichsverhandlungen eingerichteten Delegationen, dieses nicht besonders gelungene Organ!). Er sagte: das Budget der Mobilisierung müsse den Yertretungsorganen so vorgelegt werden, daß es keinen Anlaß zu viel Rederei gebe. Vor allem sollte man nur mit einem Bruchteil der sich als notwendig erweisenden Ausgaben vor die Delegationen hintreten und so hin¬ stellen, als würden sie für Yerteidigungszwecke gefordert werden.Wenn diese bewil¬ ligt sind, müsse man trachten, die in den ersten Tagen der Mobihsierung fällig werdenden Summen auf anderen Wegen zu beschaffen. Die Genehmigung der auf diese Weise eröffneten Geldquellen durch die Delegationen werde unschwer erreicht werden können, wenn der Krieg bereits ausgebrochen sei. Wichtig sei, daß der Beginn der Mobilisierung nicht von langwierigen Debatten abhängig gemacht 44 || || werde und so die Vorteile, die militärischen Aktionen nur rasches Handeln sichern könne, nicht aufs Spiel zu setzen.152 Die politischen Akte des Okkupationsjahres entstanden ohne meritorische Zusammenarbeit der parlamentarischen Organe der Monarchie. Der Turm von Babel, das Reichsparlament konnte bei der Formulierung der das Schicksal der Österreichisch-Ungarischen Monarchie entscheidend beeinflussenden Entschließun¬ gen tatsächlich nicht viel Schwierigkeiten bereiten. Im gemeinsamen Ministerrat fand jedoch eine wirkliche Debatte statt. Wie die Institution der Delegationen von Jahr zu Jahr immer mehr an Gewicht verlor, darüber könnte aus dem Material der dicke Bände füllenden Journale und Protokolle der ungarischen und österreichischen Delegationen für gemeinsame Angelegenheiten eine lange Reihe von Beispielen angeführt werden. Doch werden wohl auch einige genügen, um das Funktionieren und die Bedeutung dieses Teiles der Staatskonstruktion zu beleuchten. Aus einem Jahr, als die außenpolitischen Gegensätze innerhalb und außerhalb der Monarchie abermals bis zum äußersten gespannt waren: aus dem Jahr .der Annexion Bosniens und der Herzegowina bzw. aus den Tagen vor dem Annexionsjahr. Öffentlich war noch keine Rede von der Annexion, als in der Sitzung der österreichischen Delegation am 21. Dezember 1907 unter anderen der kroatische Delegierte Bukovic das Budgetprovisorium kritisierte. Einleitend sagte er, den Mitgliedern der Delegation für gemeinsame Angelegenheiten sei es fast unmöglich, das Budget einer ernsten Kritik zu unter¬ ziehen, da sie ja gar nicht Zeit hätten, das Material zu studieren. Mit dem Jahres¬ voranschlag hätten sie sich nur einige Stunden befassen können, dabei fülle das Millionen betragende Mihtärbudget des Reiches dicke Bände. Eine gewissenhafte Durchsicht würde Tage in Anspruch nehmen. Zu einer eingehenden Beratung sei keine Zeit und die Delegierten könnten nur mit Ja oder Nein stimmen. Ähnliche Erscheinungen der letzten Jahre bewiesen eindeutig, daß die Institution der Delega¬ tionen zu einer leeren Formalität wurdet Der Abgeordnete Bukovio und alle, die sich in dem halben Jahrhundert nach dem Ausgleich ähnlich äußerten, hatten vollkommen recht. Bis zur Jahrhundertwende war die Bedeutung der Delegatio¬ nen, die schon im vorhinein nicht als parlamentarisches Gegengewicht zum höch¬ sten Regierungsorgan der Monarchie gedacht waren, gänzlich gesunken. Erstreckte sich dieser Schrumpfungsprozeß auch auf die anderen Institutionen des Habsburgreiches ? Wurde die Rolle des gemeinsamen Ministerrates, der sein Gegengewicht verloren hatte, nicht farblos? Wurde sein Wirkungskreis nicht eingeengt, verschob sich seine Funktion nicht auf andere Organe ? Kurz vor der obenerwähnten Sitzungsserie der Delegationen hatte Außenmini¬ ster Baron Aerenthal seine beiden gemeinsamen Ministerkollegen, den gemeinsa¬ men Finanzminister Baron Buriän und den gemeinsamen Kriegsminister, Feld¬ zeugmeister Schönaich, sowie die Chefs der österreichischen und ungarischen Regie¬ rung, Baron Beck Und Sändor Wekerle für den 1. Dezember 1907 in das Palais am Ballhausplatz zu einer Besprechung eingeladen. Die Aufzeichnung über die Besprechung154 verrät schon in ihren Äußerüchkeiten dem viel, der in der Ausferti¬ gung der Schriftstücke, selbst so improvisierter Aufzeichnungen, nicht etwas von den Verhältnissen der Epoche Unabhängiges sieht. Aus dem Konzept bzw. 45 || || aus den auf dem Konzept vorgenommenen Korrekturen ist klar ersichtlich, daß der Protokollführer bei der Niederschrift der Aufzeichnungen der Meinung war, an einer gemeinsamen Ministerkonferenz teilgenommen zu haben, über die jedoch das Protokoll nicht unter den üblichen Formen geführt werden sollte. Als Beweis zitiere ich die einleitenden Zeilen des Konzepts und den zum Protokoll seitwärts quasi als Titel geschriebenen Text: in eckigen Klammern stehen die Worte bzw. Ausdrücke, die der Minister des Äußern, Aehrenthal, bei Durch¬ sicht des vom Protokollführer niedergeschriebenen Textes durchgestrichen hat. Das Protokoll beginnt folgendermaßen: »Am 1. Dezember fand im Ministerium des Äußern eine Besprechung der gemeinsamen Minister statt [eine gemeinsame Minister-Conferenz] unter dem Vorsitze des Ministers des Äußern Baron Aehrenthal statt, an der auch die beiderseitigen Ministerpräsidenten teilnahmen. Diese Besprechung [Conferenz] war veranstaltet [einberufen] worden...« etc.155 Das Konzept trägt den Titel: »Aufzeichnung über eine Besprechung [die Berathungen] der gemeinsamen Minister [Conferenz], die am ersten Dezember 1907 [im Mini¬ sterium des Äußern unter dem Vorsitze] bei dem Herrn Minister des Äußern Frei¬ herrn von Aerenthal [abgehalten wurde] über die gegenwärtige Situation in Bos¬ nien und der Herzegowina stattfand.« Der Außenminister hat an den Rand noch folgende Weisung an die Kanzlei geschrieben: »Kaisereinlauf (sodann Erzherzog Franz Ferdinand), Baron Buriän, Freih. v. Schönaich.« Die Kanzlei (offenbar die Präsidialsektion des Ministeriums des Äußern) verfügte -- der Anweisung des Ministers entsprechend --, die Aufzeichnung in vier Exemplaren auszufertigen (eines für den Kaiser, eines für Finanzminister Buriän, eines für Kriegsminister Schönaich und eines für den Minister des Äußern).156 Aehrenthals Korrekturen sollten eindeutig dokumentieren, daß er die seinerseits den gemeinsamen Ministern und dem österreichischen und dem ungarischen Mini¬ sterpräsidenten vorgelegte Frage nicht auf der Ebene eines gemeinsamen Ministerra¬ tes hatte beraten lassen. Bei der Behandlung der Formalitäten der Protokolle werden wir noch darauf zu sprechen kommen, daß es damals schon üblich war, die Konferenzprotokolle auf dem Mantelbogen, in der Rubrik Einsichtnahme auch von den an den Konferenzen teilnehmenden nicht gemeinsamen Ministern regel¬ mäßig unterzeichnen zu lassen. Die ministerielle Weisung über die Ausfertigung des Protokolls der Ministerbesprechung vom 1. Dezember 1907 sieht keine Abschriften für die beiden Regierungschefs vor. Offensichtlich aus der Erwägung, daß der österreichische und der ungarische Ministerpräsident -- wie in den ersten Jahren nach dem Ausgleich praktiziert -- nicht »vollberechtigte« Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates seien, sondern nur die besten, vornehme Stellungen einnehmende Fachleute für gewisse Fragen, gewissermaßen -- an das Zeitalter des Absolutismus erinnernd -- die höchsten Ratgeber der Krone. Sie wurden den Verhandlungen zugezogen, damit man ihre Ansicht über ein Problem hörte, das im Leben der Österreichisch-Ungarischen Monarchie damals als lebenswichtig erschien und das das weitere Schicksal des Habsburgreiches tatsächlich in entscheidendem Maße beeinflußte. Dieses Problem war die Annexion Bosniens und der Herzego¬ wina, die im Jahre 1878 okkupiert wurden. Als die Okkupation zu einer europäi¬ schen Spannung führte, wurde die eine Alternative, die eventuelle kriegerische 46 || || Lösung den Delegationen nicht offen unterbreitet. Diese Frage wurde auf gemein¬ samer Ministerratsebene behandelt. Drei Jahrzehnte später trat der gemeinsame Minister des Äußern mit einem weiteren Kettenglied desselben Problems vor ein noch engeres Gremium. Als würde man die dreißig Jahre früher erklungenen Worte Gyula Andrässys hören: keine Gelegenheit für viel Rederei bieten. Nicht einmal so viel, wie damals im Okkupationsjahr. Auf das Konzept des Protokolls über die engere Besprechung schrieb Aerenthal eigenhändig: geheim. An der Besprechung hatten dieselben Minister teilgenommen, die zum gemeinsamen Ministerrat gehörten. Trotzdem waren sie vom Minister des Äußern nicht zu einem gemeinsa¬ men Ministerrat eingeladen worden. Er wünschte keinen Regierungsbeschluß, sondern wollte nur ihre Ansichten wissen. Die Frage anzuschneiden, war nicht nur heikel, ihre Lösung barg große Gefah¬ ren in sich. Natürlich hatte der Minister des Äußern, der die »Lösung« als großes diplomatisches Werk seines Lebens betrachtete, diese so vorbereitet, daß die zu erwartenden Hindernisse schon vorher weggeräumt worden waren oder zumindest auf dem Wege zur Lösung umgangen werden konnten. Ohne Zweifel, hätte die Annexion auf dem von der Verfassung der Monarchie vorgeschriebenen Wege nur nach stürmischen Debatten, schweren Erschütterungen durchgeführt werden können oder wegen der nach den Debatten verschärften außenpohtischen Situa¬ tion überhaupt unterbleiben müssen. In den Delegationen, besonders aber in den Parlamenten, vor allem natürlich im österreichischen Parlament hätte man einen derartigen Antrag kaum glatt durchbringen können.157 Alle Mittel der Geheim¬ haltung wurden nicht zuletzt deshalb angewendet, weil Aerenthal die Welt mit der Annexion vor eine vollendete Tatsache stellen wollte.158 Dabei fühlte sich der Außenminister durch die erfolgreiche Überraschungs- und Verblüffungspohtik großer Staatsmänner, wie Metternich, Bismarck und anderer angezogen. Der Durchsetzung des Prinzips »ein Geist, ein Wille« stellte die siebenundsechziger Verfassung Aehrenthal nicht einmal so viele Hindernisse in den Weg, wie dreißig Jahre vorher dem Grafen Gyula Andrässy.159 Nach den Schicksalsjahren 1878 und 1908 wenden wir uns nun dem Jahr 1914 zu, dem dritten Schicksalsjahr im letzten halben Jahrhundert der Monarchie, das das Los des Habsburgreiches besiegelte. Bevor wir jedoch die aus unserem Gesichts¬ punkt, der Funktionsfähigkeit des durch den Ausgleich geschaffenen Regierungs¬ apparates interessanten Tatsachen untersuchen, ist es vielleicht geboten, die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen in den wesentlichsten Momenten zusam¬ menzufassen. So weit wir das Amt des Ministers des Äußern der dualistischen Monarchie in die Vergangenheit zurückverfolgen, sehen wir, daß die Hände des Lenkers der Außenpohtik bei der Regelung des Wirkungsbereichs der höchsten Regierungsor¬ gane jeweils durch Anordnungen, Statuten und Richtlinien des Herrschers nur sehr locker gebunden wurden. Geregelt wurden, sagen wir, die fachlichen Details seiner Tätigkeit, abgegrenzt wurde jener Teil seiner Agenden, die mit dem Vorsitz in den Ministerkonferenzen zusammenhing usw., doch wurde er nie und nirgends ver¬ pflichtet, über die Prinzipien, Methoden, Ziele seiner Außenpolitik, über seine entscheidenden Entschlüsse mit voller Verantwortung und zur rechten Zeit parla- 47 || || mentarischen Organen Rechenschaft zu geben. Auch die Gesetze aus dem Jahre 1867 haben ihn lediglich verpflichtet, im Einvernehmen mit beiden Regierungen vorzugehen. Das Habsburgreich ist im Jahrhundert von Metternich bis Berchtold vom Feudalismus zum Kapitalismus übergegangen. Die Produktivkräfte haben sich mächtig entwickelt, die wirtschaftlichen Verhältnisse haben eine riesige Umge¬ staltung durchgemacht, besonders jener Komplex der Produktivkräfte, den wir Technik zu nennen pflegen.160 Zur gleichen Zeit blieb der höchste Verwaltungs¬ apparat der Habsburgmonarchie in seinen wesentlichsten Punkten dasselbe Instrument, dessen sich unter den feudalen Verhältnissen noch Metternich bedient hatte.161 Wie hat nun Berchtold nach Andrässy und Aehrenthal dieses Instrument benutzt ? Ihn hatte das Schicksal in den vielleicht kritischsten Stunden der vielhundertjäh¬ rigen Geschichte des Habsburgreiches auf den höchsten Posten der Staatsein¬ richtung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gestellt. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir die Protokolle der Ministerkonferenzen unmittelbar vor der Kriegserklärung eingehender analysieren (s. dazu die ersten Protokolle des vorliegenden Bandes). Nach dem Attentat von Sarajewo trat der gemeinsame Ministerrat erstmalig am 7. Juli 1914 zusammen.162 Die Ministerkonferenz wurde einberufen, um für die innere Krise Bosniens, die durch den Mordanschlag auf das Thronfolgerpaar offensichtlich geworden war, eine Lösung zu finden. Der Minister des Äußern, Berchtold, der den Vorsitz führte, legte die Richtung der Lösung bereits in seiner Eröffnungsrede fest: Abrechnung mit Serbien und Kriegserklärung. Er verwies darauf, daß er mit Deutschland bereits in Verbindung getreten sei und sowohl der Kaiser als auch der Reichskanzler die Monarchie im Falle eines kriegerischen Konfliktes ihrer bedingungslosen Unterstützung versichert hätten. Er berief sich auch darauf, die Nachbarn der Monarchie würden Tatenlosigkeit (als Tat ver¬ stand er den Krieg) für ein Zeichen der Schwäche ansehen. Der österreichische Ministerpräsident Graf Stürgkh betonte, bei einer derartigen Enunziation der Bundestreue Deutschlands würde durch eine Politik des Zögerns und der Schwäche die Möglichkeit einer eventuellen, zu einem späteren Zeitpunkt notwendigen Unterstützung durch das Deutsche Reich aufs Spiel gesetzt werden. Wenn er zustimme, daß der Aktion gegen Serbien ein diplomatischer Schritt vorangehe, so nur dann, wenn die Note mit der entschiedenen Absicht abgesandt wird, dem diplomatischen Schritt den Krieg folgen zu lassen. Nach Ansicht des gemeinsamen Finanzministers Bilihski verstehen die Serben nur die Sprache der Gewalt. Der gemeinsame Kriegsminister Krobatin erwähnte Beispiele von Kriegen ohne Kriegs¬ erklärung: er gebe dem Krieg auch vor einer erfolgreichen diplomatischen Aktion den Vorzug. Und Istvän Tiszas Standpunkt ?163 Er erklärte, er würde niemals einem Krieg ohne Kriegserklärung zustimmen, und einem Krieg überhaupt nur dann, wenn Serbien harte aber nicht unannehmbare Forderungen der Monarchie zurückweisen würde. Als ungarischer Minister¬ präsident würde er auch im Kriegsfälle die Verstümmelung Serbiens, die Anglie¬ derung serbischen Bodens an die Monarchie nicht zulassen können, ausgenommen gewisse Grenzberichtigungen strategischen Charakters. Heute kennen wir den 48 || || Grund für seine scharfe Stellungnahme gegen territoriale Eroberungen, wenn auch der Text des Protokolls auf diese Frage keine Antwort gibt. Nur eine Bemerkung Tiszas kann uns auf den richtigen Weg führen: ein Krieg, der mit dem Ziel begon¬ nen wird, Serbien zu vernichten, würde die Monarchie in einen Kampf auf Leben und Tod mit Rußland verwickeln. Sich wiederholt zum Wort meldend machte er darauf aufmerksam, daß unter den derzeitigen Verhältnissen ein furchtbarer europäischer Krieg unvermeidlich wäre. Würde sich die internationale Lage ändern, wäre ein späterer Zeitpunkt vielleicht für die Lösung des großserbischen Problems günstiger. Als der Vorsitzende Minister des Äußern das Ergebnis der Beratungen zusammen¬ faßte, sagte er, mit Ausnahme Tiszas würden alle darin übereinstimmen, daß ein rein diplomatischer Erfolg gegenüber Serbien selbst dann wertlos wäre, wenn er zu einer Demütigung des Königreichs Serbien führe. Die Monarchie müsse daher so hohe Forderungen stellen, daß im vorhinein damit zu rechnen sei, daß Serbien sie ablehnen werde und damit die radikale Lösung der Frage durch eine militä¬ rische Intervention gesichert werden könne. Hierauf machte Tisza das Zugeständ¬ nis, auf das ich schon verwiesen habe. Die Forderungen an Serbien sollten zwar hart sein, aber nicht erkennen lassen, daß die Monarchie gewillt sei, unannehmbare Bedingungen zu stellen, wenn diese Absicht klar auf der Hand liege, werde es un¬ möglich sein, eine Rechtsgrundlage für die Kriegserklärung zu finden. Allgemein herrscht die Auffassung, Istvän Tisza habe seine Stellungnahme gegen den Krieg möglicherweise unter dem Einfluß des deutschen Botschafters in Wien, Tschirschky, geändert. In diesem Zusammenhang spricht man von der »Bekeh¬ rung« des Grafen Tisza. Aus der obigen Analyse des Textes des Protokolls des schicksalentscheidenden Ministerrates geht jedoch meiner Meinung nach hervor, daß -- wenn überhaupt von einer »Bekehrung« Tiszas die Rede sein kann -- diese bereits im Ministerrat vom 7. Juli erfolgt ist, zumindest beschritt er damals den Weg zur »Bekehrung«. Sein Protest gegen die Kriegserklärung nahm am Ende der Beratung rein formalen Charakter an. Er wünschte nur die Einhaltung der inter¬ nationalen Rechtsgewohnheiten. Die Änderung seines Standpunktes erfolgte offen¬ bar unter der Wirkung des einmütigen Widerstandes seiner Ministerkollegen und der sich im Verlaufe der Beratungen zeigenden Kriegspsychose. Dies beweist auch seine Mahnung, die er nach Erörterung der militärischen Fragen an die Teilnehmer der Konferenz richtete: sie sollten die Angelegenheit vor der Entscheidung gewis¬ senhaft prüfen. Graf Tisza empfand zweifellos die drückende Last der Kriegs¬ stimmung. So konnte Berchtold, der den Vorsitz führte, das Ergebnis der Beratun¬ gen summierend erklären, daß -- obwohl zwischen Tiszas Auffassung und jener der übrigen Minister noch ein Gegensatz bestehe -- doch eine Annäherung zu¬ standegekommen sei und im Endergebnis auch Tiszas Vorschläge zu der von ihm und von seinen Ministerkollegen für richtig gehaltenen militärischen Abrechnung mit Serbien führten. Im wesentlichen kommt diese Haltung auch in den am l.164 und 8. Juli165 an Franz Joseph gerichteten Vorträgen Tiszas zum Ausdruck. Tisza hält den Standpunkt Berchtolds für verhängnisvoll. Durch seine Forderung wäre in den Augen der ganzen Welt die Monarchie der Friedensstörer. Und zwar unter ungünstigsten Verhältnissen. Bei der derzeitigen Lage auf dem Balkan werde es 4 Komjäthy: Protokolle 49 || || überhaupt nicht schwer sein, einen Casus belli zu finden, wenn sich die Kräftever¬ hältnisse einmal für die Monarchie günstiger gestalten. Serbien müsse jetzt auf jeden Fall die Möglichkeit gegeben werden, den Krieg zu vermeiden. Wenn es die Bedingungen der Monarchie nicht annimmt, sollte ein Ultimatum gestellt werden und erst nach Ablauf desselben sollte mit den Feindseligkeiten begonnen werden. Auf diese Weise würde die Verantwortlichkeit für den Krieg auf Serbien abge¬ schoben und jedermann könnte sehen, daß der Monarchie der Krieg aufgezwun¬ gen worden sei. Diesen Krieg müßte dann jede Macht, die ihren staatlichen Be¬ stand überhaupt erhalten will, ohne Zaudern durchkämpfen. Tiszas Standpunkt war also in der Tat nicht mit dem seiner Ministerkollegen identisch. Dies trat auch im Ministerrat vom 19. Juli klar zutage, wo in der Frage der Note an Serbien endgültig Beschluß gefaßt wurde. Sowohl Berchtold wie auch die österreichischen Minister rechneten schon mit dem Krieg als mit einer vollendeten Tatsache, der an der Beratung ebenfalls teilnehmende Chef des Generalstabes Conrad drängte geradezu auf Entfachung des Krieges. Tisza erklärte, er sei seitens der ungarischen Regierung nur dann geneigt, dem Ultimatum zuzustimmen, wenn der Ministerrat einstimmig erklärte, die Monarchie habe nicht die Absicht, Ser¬ bien zu unterjochen und werde höchstens strategisch notwendige Grenzberichti¬ gungen durchführen. Dieser Beschluß wurde auch gefaßt. Sein Wert wurde jedoch dadurch in Frage gestellt, daß im Verlaufe der Debatte wiederholt die Erwägung zum Ausdruck kam, die Monarchie werde kein serbisches Gebiet beanspru¬ chen, nach der Niederschlagung Serbiens aber Teile Bulgarien, Griechenland und Albanien zuteilen.166 Als Zeitpunkt der Überreichung des Ultimatums wurde vom Ministerrat der 23. Juli 5 Uhr nachm, bestimmt und ein Termin von 48 Stunden festgelegt. Es gibt auch eine Anschauung, daß während des Dualismus kaum von einer Initiative der ungarischen Regierung auf dem Gebiete der Außenpolitik gespro¬ chen werden kann.167 Wenn sie auch in Schicksalsfragen, wie in der orientalischen Frage, in der Frage der Okkupation, dann der Annexion Bosniens und der Herze¬ gowina um Ratschlag ersucht worden war, wurde ihre Meinung nicht unbedingt in Betracht gezogen. Die Rolle der ungarischen Regierung scheint nur sekundär gewesen zu sein. Die mit dem Ausbruch des Weltkrieges zusammenhängenden Ereignisse bestä¬ tigen teilweise diese Beobachtung. In den entscheidenden Ministerratssitzungen fiel Tiszas Meinung zwar stark ins Gewicht, die Beschlüsse wurden nach seinem Wunsche abgefaßt. Im Endergebnis hat jedoch die österreichische Führung der Außenpolitik ihren Willen durchgesetzt, wenn dies auch außerhalb des Minister¬ rates geschehen ist. Die Geschehnisse außerhalb des Ministerrates haben dann auch Tisza vor vollendete Tatsachen gestellt. Jenö Horvath hat ausführlich nachgewie¬ sen, daß Berchtold und Conrad bestrebt waren, durch eine Erklärung des Deut¬ schen Reiches, daß es im Falle einer kriegerischen Abrechnung mit Serbien das Eintreten des Casus foederis anerkenne, den verantwortlichen Faktoren der Monarchie die Kriegserklärung zu erleichtern. In dieser Sache wandte sich auch Franz Joseph mit einem Schreiben an Kaiser Wilhelm. Der Inhalt dieses schicksal¬ entscheidenden Briefes wurde auch Tisza mitgeteilt, jedoch erst dann, als dieser 50 || || schon in den Händen Kaiser Wilhelms war; Tisza konnte also bloß nachträglich seine Bemerkungen machen.168 Tisza bzw. die ungarische Regierung wurden in dieser Sache also von Berchtold offenbar umgangen.169 Der gemeinsame Minister des Äußern hat jedoch Tisza auch mehrere andere wichtige Momente, die auf den endgültigen Ausgang der Dinge von entscheidendem Einfluß waren, nicht mit¬ geteilt. Giesl, der Gesandte der Monarchie in Belgrad, überreichte am 23. Juli nachm. 6 Uhr dem Ministerpräsidentstellvertreter Pacu, der den abwesenden Ministerpräsi¬ denten Pasic vertrat, die Note seiner Regierung.170 Bei Überreichung der Note erklärte der Gesandte, falls er innerhalb einer Frist von 48 Stunden keine Ant¬ wort erhalte oder diese nicht zufriedenstellend sei, werde er mit dem Personal der Gesandtschaft Belgrad verlassen. Uber das zu befolgende Verhalten erhielt Giesl am 24. Juli nachmittags ein weiteres Telegramm Berchtolds.171 In diesem wiederholte Berchtold die Anweisungen, die er Giesl in seinem Schreiben vom 20. Juli,172 das mit der Note gleichzeitig zugesendet wurde, gegeben hatte. Darin wurde Giesl darauf aufmerksam gemacht, daß er nicht ermächtigt sei, über ein¬ zelne Punkte der Note zu verhandeln. Er müsse von Pasic die »pure et simple« Annahme derselben verlangen. Im Telegramm vom 24. Juli wurde neuerlich festge¬ legt, Serbien habe die Forderungen der Monarchie entweder bedingungslos anzu¬ nehmen oder diese in ihrer Gänze abzuweisen. Die bedingte Annahme der Note habe Giesl als deren Ablehnung aufzufassen und danach die serbische Hauptstadt sofort zu verlassen. Berchtold hatte auch Instruktionen geschickt, mit welchem Zuge der Gesandte abzureisen habe. Diese besagten, Giesl müsse spätestens bis nachm. 6 Uhr die Note der serbischen Regierung erhalten, der nächste Zug gehe um halb 7 Uhr in Richtung Zimony ab. Es müsse daher alles so vorbereitet werden, daß -- falls die Antwortnote Serbiens im obigen Sinne nicht annehmbar wäre -- das gesamte Personal der Österreichisch-Ungarischen Gesandtschaft mit diesem Zuge Belgrad verlasse. Am 25. Juli orientierte Giesl telegraphisch Berchtold über die Belgrader Ereig¬ nisse, über den im Ministerrat eingetretenen Umschwung (anfangs schien es näm- lich, als würde die serbische Regierung die Forderungen der Monarchie anneh¬ men; später wurde jedoch, wenn auch nicht direkt durch die Stellungnahme der zaristischen Regierung, so doch unter dem Eindruck des Berichtes, den der ser¬ bische Gesandte in St. Petersburg unter dem Eindruck dieser Stellungnahme an seine Regierung geschickt hatte, über Truppenbewegungen usw. anders beschlos¬ sen).173 Nachmittags 5 Minuten vor 6 Uhr brachte Ministerpräsident Paäic selbst die Antwortnote der serbischen Regierung in die Österreichisch-Ungarische Gesandtschaft. Zwischen dem Ministerpräsidenten und dem Gesandten entspann sich ein kurzes Gespräch, in dessen Verlauf Pasic seiner Hoffnung Ausdruck gab, daß Giesl die Antwort annehmen werde. Der serbische Staatsmann hatte keine Kenntnis davon, daß Giesl nicht zu meritorischen Verhandlungen ermächtigt war. Nachdem sich Pasic entfernt hatte, verglich Giesl unverzüglich die Note seiner Regierung mit der serbischen Antwortnote und stellte sofort fest, daß diese nicht die »pure et simple« Annahme der Forderungen der Monarchie darstellte. Hier¬ über machte er dem serbischen Ministerpräsidenten in einer kurzen Note Mittei- 4 51 || || lung und brachte ihm gleichzeitig zur Kenntnis, daß er innerhalb einer halben Stun¬ de Belgrad verlassen würde und damit die diplomatischen Beziehungen zwischen der Monarchie und Serbien abgebrochen seien. Giesl verließ mit der Gesandt¬ schaft tatsächlich um halb 7 die serbische Hauptstadt. Ganz Europa beobachtete gespannt, wie sich die Dinge in Belgrad entwickeln werden. Der ungarische Ministerpräsident ersuchte um Mitteilung des Ergebnis¬ ses. »Dies hätte er gewiß nicht getan«, schreibt Jenö Horvath174, »wenn er gewußt hätte, daß dies der Bruch sein würde. Es ist sonderbar, daß die Wiener russische Botschaft bereits am 24. Juli wußte, was nicht einmal der Chef der ungarischen Regierung wußte, daß Baron Giesl die Anweisung erhalten hatte, Belgrad zu ver¬ lassen.« Aus der Analyse der Ministerratsprotokolle geht hervor, daß die gemeinsamen und die österreichischen Minister für das Attentat von Sarajevo umjeden Preis und damals an Serbien Vergeltung üben wollten. Tisza hielt den Zeitpunkt keineswegs für geeignet. Er stellte sich fest der Ansicht seiner Ministerkollegen entgegen, die -- teilweise vielleicht deshalb, weil sie befürchteten, vor der internationalen Öffent¬ lichkeit als Urheber des Krieges in eine unmögliche Lage zu geraten -- den For¬ derungen des ungarischen Ministerpräsidenten nachgaben und ihren Beschluß über die an Serbien zu richtende Demarche in der bekannten Form faßten. Berchtold sah, daß er Tisza für den Gedanken des sofortigen Kriegsbeginns nicht gewinnen konnte: er gab also dem Gesandten in Belgrad Weisungen, die dem Geiste der im gemeinsamen Ministerrat auf Tiszas Wunsch gefaßten Beschlüsse nicht entsprachen. Inzwischen unternahm der Außenminister alles, um den ungarischen Ministerpräsidenten zur Abänderung seines Standpunktes zu über¬ reden. Er berief sich hauptsächlich darauf, daß Deutschland von der Mo¬ narchie eine feste und entschiedene Stellungnahme verlange. All dies genügte jedoch nicht, um Tisza zu überzeugen. Deshalb war es nötig, Giesl solche Anweisungen zu geben, die die Abweisung der Demarche im vorhinein wahr¬ scheinlich machten. Die Zurückweisung der Demarche war aber gleichbedeu¬ tend mit Krieg. Ich glaube, heutzutage gibt es keine Meinungsverschiedenheit mehr darüber, daß die führenden Staatsmänner der Monarchie für die Entfesselung des Krieges keinesfalls mehr verantwortlich sind als die maßgebenden Politiker irgendeiner kriegerischen Großmacht der damaligen Welt. Die Probleme der auf das Sarajewoer Attentat folgenden Kriegserklärung habe ich jedoch nicht untersucht, um dies -- quasi als Nebenprodukt -- festzustellen, sondern um das Funktionieren der dualistischen Staatskonstruktion im Lichte der tragischen Ereignisse des Juli 1914 zu beobachten. Im Jahre 1878 wurden die Delegationen von Andrässy bewußt umgangen; vor der Annexion erbrachte Aehrenthal schon nach den auf der Ebene des gemeinsamen Ministerrates geführten Besprechungen seine Beschlüsse. Das Zusammenschrumpfen der mit dem Ausgleich geschaffenen Institutionen machte jedoch selbst hier nicht halt. Im Juli 1914 hat der Minister des Äußern, die Mög¬ lichkeiten ausnutzend, die ihm die eigenartige politische Einrichtung der Öster¬ reichisch-Ungarischen Monarchie bot, den Krieg in dem von ihm gewählten Zeit¬ punkt ausgelöst. Wie schon am Anfang dieser Erörterungen betont wurde, ist aus 52 || || unserem Gesichtspunkt gesehen nicht die Entfesselung des Krieges, sondern der Zeitpunkt entscheidend. Hier haben wir uns nicht damit zu befassen, welche Klassen der Gesellschaft der Monarchie und bis zu welchem Maße sie am Krieg interessiert waren. In dieser Beziehung unterschieden sich die Meinungen der herrschenden Krei¬ se nicht wesentlich voneinander. Um so mehr in der Frage des Zeitpunktes. Ich will mich nur auf die beiden extremsten Standpunkte bzw. auf die bekanntesten Ver¬ treter derselben berufen: Conrad hielt die Abrechnung mit dem südlichen Nach¬ barn der Monarchie schon für fast verspätet, Tisza war der Ansicht, daß der Zeit¬ punkt hierfür noch nicht gekommen sei. Was wäre das Schicksal des Habsburg¬ reiches und darüber hinaus das Europas und der Menschheit gewesen, wenn es Tisza eventuell gelungen wäre, die Kriegserklärung hinauszuschieben? Wären nicht Ereignisse eingetreten, die den Gang der Dinge entscheidend in andere Richtung gelenkt hätten? Das sind jedoch müßige Fragen, selbst wenn wir in Betracht ziehen, daß ein noch so kleiner Zeitgewinn gegenüber dem sofortigen Handeln, wie Berchtold und sein Kreis die Kriegserklärung nannten, für die Kräfte des Friedens unbedingt ein Plus bedeutet hätte. Daran müssen wir denken, wenn wir die Person Tiszas der Berchtolds gegenüberstellen. Tisza war eine der markantesten Persönlichkeiten nicht nur seiner Zeit, sondern auch der vielhun¬ dertjährigen Geschichte des Habsburgreiches, er war eine Persönlichkeit von eiserner Willensstärke; die Willensschwäche, Weichheit, Nachlässigkeit in der Erledigung seiner Aufgaben und die Trägheit Berchtolds werden von den zeitge- nössichen und späteren Quellen einstimmig bezeugt.175 Trotzdem siegte der Wille Berchtolds über den Tiszas. Doch war dies nicht der Sieg des einen Politikers über den anderen, nicht das Versagen bzw. der Triumph persönlicher Eigenschaften, sondern das Werk von Kräften, die über die handelnden Personen hinausge¬ wachsen waren. Die Gegenüberstellung Tisza --Berchtold scheint uns am besten geeignet, die Rolle der im Jahre 1867 gebildeten Regierungseinrichtung der Öster¬ reichisch-Ungarischen Monarchie zu illustrieren. Ferenc Deäk und seine Anhän¬ ger wollten den Schein der Unabhängigkeit Ungarns so wahren, indem das Mini¬ sterium, das die gemeinsamen Angelegenheiten auf höchster Ebene verwaltete, keine Reichsregierung sein sollte. Es wurde auch keine Reichsregierung. Doch nicht, weil die Pohtik der ungarischen oder der österreichischen Regierung sich in den wesentlichsten Punkten der Politik der Monarchie das Ministerium unterwor¬ fen hätte, das berufen war, die gemeinsamen, die Reichsinteressen zu vertreten. Sondern darum, weil der Wirkungskreis des gemeinsamen Ministeriums nur nega¬ tiv bestimmt worden war und das in dem solcherart an der Spitze des Staatsappara¬ tes der Monarchie entstandenen Vakuum die vom Staatskanzler ererbte und eben¬ falls Undefinierte Macht des Ministers des Äußern immer leichter zur Geltung kommen konnte. Um so leichter, je mehr die Delegationen -- die schon von An¬ fang an nicht als ernstes, parlamentarisches Gegengewicht in Betracht kommen konnten -- an Bedeutung verloren. Das Prinzip des »ein Geist, ein Wille«, das in dieser klassischen Form von Metternich aufgestellt worden war, konnte nie so klar zur Geltung kommen, wie, in der Frage der Festlegung des Termins für die Kriegserklärung, zu einem Zeitpunkt, als in dem wichtigsten Amt der Staatsmaschi¬ nerie der vielleicht unbedeutendste Staatsmann in der Geschichte des Reiches saß. 53 || || XIII Die im Juli 1914 abgehaltenen Konferenzen des höchsten Regierungsorgans der Monarchie bzw. die mit diesen Konferenzen zusammenhängenden Ereignisse spie¬ len in der Entfesselung des die ganze Welt erstmals in Feuer und Flammen stür¬ zenden Krieges keine größere Rolle als der Druck auf einen Knopf, der ein mächti¬ ges Kraftwerk in Gang setzt, und auch Außenminister Berchtold hat keine größere Rolle als der auf den Knopf drückende Ingenieur. Ebenso wie hinter dem Knopf und der das ganze Kraftwerk in Gang setzenden, auf den Bruchteil einer Sekunde beschränkten Arbeit des Ingenieurs der komplizierte Mechanismus des Kraftwer¬ kes und Jahre und Jahrzehnte der diesen Mechanismus zustandebringenden per¬ sönlichen und gesellschaftlichen Arbeit stehen, so ist auch die Tat Berchtolds in das Gewebe der in einer jahrzehntelangen Entwicklung herausgebildeten gesell¬ schaftlichen, wirtschaftlichen, politischen Verhältnisse der Monarchie, ja teilweise Europas eingebettet. Die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates, ja auch die Enunziationen und das Handeln Berchtolds und seiner an den Konferenzen teilnehmenden Minister¬ kollegen sind ein eigenartiges Produkt dieser Verhältnisse. Bevor wir die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates und die Rolle der Mitglieder des Ministerrates im Weltkriege untersuchen und analysieren, müssen zum besseren Verständnis und zur Vermeidung eventueller Mißverständnisse zwei Fragen geklärt werden. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, daß ich hier das Funktionieren des regierenden Organs der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, des gemeinsamen Ministerrates, des die Gesellschaft des einstigen Kaiser-Königreiches lenkenden »Instruments«, des Apparates untersuche und mich nur mit kurzen Hinweisen auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse berufe, die diesen Apparat hervorbrachten. Ich weiß, daß es ein Treibhausexperiment ist, die Tätigkeit der Regierungsorgane so, aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Bedingungen fast gänzlich herausgehoben, scheinbar abgesondert, fast in sich selbst zu untersuchen. Es würde jedoch teils die Kräfte des Verfassers, teils den gegebenen Rahmen übersteigen, wollte er die in der Tätig¬ keit der Regierungsorgane des Habsburgreiches von Zeit zu Zeit eingetretenen Veränderungen stets auf ihre tiefsten Wurzeln, auf die Gestaltung der gesell¬ schaftlichen Verhältnisse zurückführen. Jede Institution, die das Zusammenleben von Menschen regelt, entsteht aus dem Kampf von Interessen. So kam auch der gemeinsame Ministerrat der Monarchie zustande. Die das Leben von Staaten, Gesellschaften regierenden, lenkenden Organe überleben gewöhnlich die politischen Situationen, deren objektive Erschei¬ nungsformen, manchmal bloß Spiegelbilder diese Institutionen sind.178 Das Ziel von Untersuchungen, wie auch unserer, ist es eben, zu versuchen, die geschichtliche Rolle derartiger Einrichtungen festzustellen.177 In der gesellschaftlich-politischen Entwicklung werden die institutionellen Rahmen des Lebens selbst auch zu Fak¬ toren. Sie sichern, daß gewisse Kräfte zur Geltung kommen, anderen versperren sie den Weg oder schwächen deren Wirkung ab. Die äußeren Formen des gesell¬ schaftlichen Lebens (in unserem Falle der im engsten Sinne genommene Amts- 54 || || Organismus), ganz gleich, ob bewußte politische Handlungen oder die Gebräuch¬ lichkeit sie hervorgebracht haben, spielen eine ähnliche Rolle, wie die sogenannten Errungenschaften der Technik.178 Die Technik ist das beweglichste, sich am schnellsten verändernde, gestaltende Element der wirtschaftlichen Basis der gesellschaftlichen Entwicklung. Bei der Förderung des Wirtschaftslebens werden die Kräfte in erster Linie auf die Vervollkommnung, auf die Erneuerung der Technik konzentriert. Die Bedeutung der Technik hat im Leben der Menschheit seit der Anwendung von Dampfmaschinen und Explosionsmotoren stürmisch zugenommen. Heute stehen wir nur am Anfang jener Untersuchungen, die berufen sind, die Wirkung der technischen Entwicklung auf das Leben der Gesellschaft genau festzustellen. Dem von den sonstigen Produktionsmitteln abgesonderten Studium der Technik179 muß die Untersuchung der Wechselwirkung von Technik und Gesellschaft angeschlossen werden. Besonders jener Zeiten, in denen der Fortschritt der Technik durch äußere Einwirkungen (Krieg, Kriegsvorbereitungen usw.) in noch größerem Tempo erfolgte. All dies wird vorausgeschickt, weil diese Arbeit die bedeutendsten schriftlichen Denkmäler des höchsten Regierungsorgans einer der maßgebendsten europäischen Mächte der Jahrhundertwende, der Österreichisch-Ungarischen Monarchie eben aus der Zeit des ersten Weltkrieges veröffentlicht. Aus den Jahren, in welchen im Laufe der Weltgeschichte zum erstenmal die Technik mit bis dahin unbekanntem Tempo einen bis dahin ebenfalls unbekannten maximalen Entwicklungsgrad erreichte. Diese beschleunigte Entwicklung hat die Amtsführung selbst der elastischsten, anpassungsfähigsten Staatseinrichtung auf eine harte Probe gestellt. Die Selbstverwaltungseinrichtungen der Gesellschaft, so auch der Staatsapparat mit seiner eigenen Amtsführung sind zweit-, ja sogar drittrangige Gebilde der gesellschaftlichen Entwicklung. Vielleicht eben das rückständigste, zu Veränderun¬ gen, Anpassung, Umgestaltung vielleicht am wenigsten fähige Element dieser Entwicklung. Schon auf den ersten Blick scheint der Gegensatz zwischen dem Tempo der technischen Entwicklung und der schwerfälligen, auf Veränderungen verspätet oder kaum reagierenden Amtsführung der die Gesellschaft regierenden Einrichtungen unüberbrückbar zu sein. Zweifellos dringen die durch den techni¬ schen Fortschritt gebotenen Vorteile früher oder später unvermeidlich auch in die Amtsführung ein und modernisieren diese allmählich, doch erfolgt diese Moderni¬ sierung viel zu langsam, so daß die Technik den rückständigen, der Entwicklung nur mit großen Phasenunterschieden folgenden Institutionen über den Kopf wächst. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte kennen wir noch nicht genug, besonders in dieser Beziehung, um die Spannung in dieser parallelen Entwicklung entsprechend abmessen zu können. Sicher ist jedoch, daß die Spannung im gesellschaftlichen Leben, innerhalb seiner früher herausgebildeten, immer mehr veraltenden Organisationsformen und -rahmen mit dem beschleunigten Entwick¬ lungstempo der Technik zunimmt.180 Die konkreten Formen und Rahmen der Staatseinrichtungen, die selbst die winzigsten Details ihrer Amtsführung festsetzen, sind die Geschöpfe einer bestimm¬ ten, zeitgebundenen politischen Situation. Die Institutionen der Staatsführung und ihre Amtsführung veralten selbst bei dem langsamsten gesellschaftlichen 55 || || Fortschritt rasch, ihre Modernisierung, ihre Anpassung an die Anforderungen der fortgeschritteneren Stufe der Entwicklung erfolgt in den meisten Fällen nur sehr spät. Meiner Meinung nach ist dieser Entwicklungsrückstand, der Selbstregierungs¬ einrichtungen der Gesellschaft eine der bisher noch nicht genügend untersuchten und bewerteten Ursachen der im Leben der Menschheit stets wiederkehrenden Krisen.181 Unser Augenmerk auf den technischen Fortschritt konzentrierend, können wir sagen, daß die Rückständigkeit der Staatsführung umso gefährlicher wird, je größer die Anforderungen des technischen Fortschritts an die gesellschaft¬ lich-staatlichen Einrichtungen sind, mit anderen Worten, je weniger diese Ein¬ richtungen, Institutionen bzw. deren Amtsführung mit der Entwicklung der Tech¬ nik Schritt halten können. Die Veraltung der gesellschaftlichen Regierungsformen war, vom Gesichtspunkt der Technik gesehen, vor Jahrhunderten zweifellos um vieles langsamer als schon in den ersten Jahrzenten des Dualismus. Der technische Fortschritt erfolgt zur Zeit von Kriegen in so raschem Tempo, daß gegenüber den konkreten Formen der staatlichen Einrichtung, die das Leben der Gesellschaft in ungesund enge oder schiefe Rahmen zwängen, die Gegensätze zu einer diese Rahmen und Einrichtungen sprengenden und zusammenbrechenden Spannung werden. In der Geschichte der Menschheit sind das jene tragischen Augenblicke, in denen die die gesunde Entwicklung hemmenden, negativen, zweit- und drittrangigen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens, die Regierungsein¬ richtungen und Methoden der Amtsführung fast ein selbständiges Leben be¬ ginnen. Auf den ersten Blick scheint die Kluft zwischen den einzelnen Komponenten des gegebenen Entwicklungsabschnitts der Geschichte unüberbrückbar zu sein. Namentlich zwischen dem schwindelerregenden Entwicklungstempo der Technik und den konservativsten Elementen des gesellschaftlichen Überbaus, der Amts¬ führung. Aus unserem Gesichtspunkte ist es nicht gleichgültig, daß es gerade das Zeitalter des ersten Weltkriegs war, wo in der Geschichte der Menschheit vielleicht zum erstenmal und in der der Österreichisch-Ungarischen Monarchie vielleicht am augenfälligsten die vernichtenden Folgen dieser eigenartigen Spannung zur Entfaltung kamen und auch für die Geschichte wahrnehmbar waren. Die Staats¬ konstruktion der Monarchie, die unter den konkreten gesellschaftlichen und poli¬ tischen Verhältnissen der Epoche des Ausgleichs entstanden und durch die schnelle Veränderung dieser Verhältnisse bereits um die Jahrhundertwende überholt war, konnte den besonderen Anforderungen im Krieg keineswegs entsprechen. Zu ihrem Zusammenbruch trug bis zu einem gewissen Grade -- wie wir im weiteren sehen werden -- auch die Spannung zwischen der durch die beschleunigte Ent¬ wicklung der Technik im Weltkriege geschaffenen neuen Lage und der alle kriegeri¬ schen Mächte übertreffenden Veraltung des Regierungsapparates der Monarchie bei.182 Zur Beleuchtung dieses Fragenkomplexes bzw. zur Illustrierung, daß die fast zur Technik gewordene, erstarrte Amtsführung des Regierungsapparates in kriti¬ schen Augenblicken einer herannahenden Katastrophe (wie z. B. der Ausbruch eines Kontinente umfassenden Krieges) eine diese Katastrophe fördernde, ja sogar, wenn der Gang der Dinge auf einen toten Punkt angelangt ist, eine über 56 || || diesen hinweghelfende, also entscheidende Rolle spielen kann, möchte ich eine Episode erwähnen, die sich während des Weltkriegs nicht in der Monarchie abgespielt hat. Deutschland hatte bereits mobilisiert und die Streitkräfte waren bereits an der französischen Grenze aufmarschiert, als Grey, der englische Minister des Äußeren, dem Botschafter des Deutschen Reiches in London, Lichnowsky telefonisch mitteilte, solange die Deutschen Frankreich noch nicht angegriffen haben, sei nichts Entscheidendes geschehen. Der Botschafter hat -- offenbar in seiner Nervo¬ sität -- die Mitteilung mißverstanden und nach Berlin berichtet, Großbritannien werde -- falls Deutschland nicht angreift -- neutral bleiben. Kaiser Wilhelm, der ebenso wie sein Kanzler, Bethmann Hollweg, einen Krieg mit England auf jeden Fall vermeiden wollte, war über die Mitteilung hocherfreut. Er ließ sofort den Chef des Generalstabes, den General Moltke zu sich berufen und gab ihm die Weisung, die Mobilisierung sofort anzuhalten. Der General erlitt bei Erhalt dieses Befehles fast einen Nervenzusammenbruch, der Aufmarsch der deutschen Armee war ja nach den Aufmarschplänen bereits in vollem Gange. Moltke versuchte, den Kaiser zur Zurücknahme des Befehles zu bewegen. Der Mechanismus der Mobilmachung -- setzte er dem Kaiser auseinander -- sei einem äußerst präzisen Uhrwerk ähnlich, das, einmal in Gang gebracht, automatisch weitergehe. Das Räderwerk der Uhr zurückzudrehen sei einfach unmöglich. Wir wissen nicht, ob der Kaiser schließlich geneigt gewesen wäre, die Argumentation des verzweifelten Generals anzunehmen. Inzwischen traf nämlich die zweite Depesche Lichnowskys ein, aus der hervorging, daß der sich aufdie Neutralität Großbritanniens beziehende Teil der ersten Depesche auf einem Mißverständnis beruhe, so daß zur Rück¬ nahme des Mobilisierungsbefehls kein Grund mehr bestehe.183 Der Mechanismus der Mobilmachung spielte im großen und ganzen auch im Leben der übrigen kriegführenden Staaten eine ähnhche Rolle. So ist z. B. bekannt, daß die allge¬ meine Mobilisierung in Rußland eben mit verkehrstechnischen Gesichtspunkten begründet wurde.184 Politische und andere Gesichtspunkte, die die zaristische Regierung in diesem katastrophalen Moment zu erwägen hatte, mußten hinter dem technischen Gesichtspunkt zurücktreten. Zweifellos repräsentieren nicht alle Teile des Staatsapparates und nicht zu jeder Zeit ihrer Tätigkeit die schicksalwendende (oder einfach: geschichtliche) Rolle ihrer Amtsführungstechnik in so fast klassischer Form wie die von den General¬ stäben ausgearbeiteten Mobilmachungspläne bei Ausbruch des ersten Weltkrieges und der auf Grund dieser in Gang gesetzte Mechanismus. Doch meine ich, daß dieses scharf exponierte Beispiel am klarsten die Formel in zusammenhängende Elemente zerlegt, die die auf der Ebene der geschichtlichen Hilfswissenschaften wahrnehmbare Problematik der gesellschaftlich-politischen Veränderungen in den Gegensatz zwischen dem Tempo der technischen Entwicklung und dem Zurück¬ bleiben der Selbstregierungseinrichtungen der Gesellschaft komprimiert. Der Ver¬ fasser dieser Zeilen sucht schon seit Jahren geeignete Methoden, um die geschicht¬ lichen Hilfswissenschaften und die mit den Hilfswissenschaften nächstverwandte Amtsgeschichte auf sozialgeschichtlicher Grundlage zu erneuern. Welche Richtung der universalen Geschichtswissenschaft auch immer betrachtet wird, auf diesem 57 || || Gebiete ist bisher so wenig geschehen, sind die vor uns stehenden Aufgaben so vielfältig, daß jeder Anfang, so auch der, der in diesen Zeilen skizziert wird, nur als Versuch betrachtet werden kann. Das Wesen, der zentrale Gedanke dieses Ver¬ suches ist: in einem sehr kritischen Abschnitt der Menschheitsgeschichte (der vielleicht eben deshalb für derartige Untersuchungen sehr geeignet ist) die Ver¬ bindung zwischen der Amtsführung (bzw. konkreter: der Tätigkeit des höchsten Regierungsorgans der Österreichisch-Ungarischen Monarchie) und der gesell¬ schaftlichen Wirklichkeit an den augenfälligsten Punkten zu erfassen und diesen Zusammenhang auf eine Formel zu bringen, die verallgemeinert werden kann.185 Bei der Untersuchung der Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates der Öster¬ reichisch-Ungarischen Monarchie während des Weltkrieges bin ich bestrebt, diese Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Dies ist die Frage, die ich bereinigen möchte, bevor ich die Funktion des gemeinsamen Ministerrates während des ersten Weltkrieges im Lichte unserer Quellen, in erster Linie der Ministerrats¬ protokolle selbst zu bestimmen versuche. Die zweite Frage, deren Bereinigung ich zu Beginn der Erörterungen für not¬ wendig hielt, ist das Problem der Person Berchtolds. Wie bereits bei der Charakte¬ risierung des Machtbereichs des Ministers des Äußern, der das Amt des Vor¬ sitzenden des gemeinsamen Ministerrates innehatte, erwähnt wurde, erklären nicht die persönlichen Gegebenheiten Berchtolds, daß das Gewicht des Amtes des ersten Staatsmannes der Monarchie in einem solchen Maße angewachsen war, das an die Macht der führenden Pohtiker des Zeitalters des Absolutismus erinnert. Um Mißverständnisse zu vermeiden, soll noch hinzugefügt bzw. nach¬ drücklich betont werden, daß Berchtold lediglich Vertreter, Vollzieher jener Politik war, die die Österreichisch-Ungarische Monarchie und mit ihr ganz Europa auf den verhängnisvollen Weg drängte. Eben die eigenartige Konstruktion des Staatsapparates ermöglichte es -- ich habe eben auf die Eigenart dieser Konstruk¬ tion verwiesen --, daß dieser unbegabte, leichtsinnige, konzeptlose Staatsmann in den Gang der Ereignisse in entscheidender Weise eingreifen konnte. Diese Zeilen haben nicht die Aufgabe, den gesellschaftlichen Hintergrund der »Berchtold- schen« Pohtik zu klären, sondern sollen jene Regierungseinrichtung untersuchen, in denen diese Pohtik zur Geltung kam. Als vom Ausbruch des Weltkrieges die Rede war, sahen wir in Berchtold den Mann, der den Mechanismus des Weltkrieges in Gang gesetzt hatte, unabhängig davon, ob die Monarchie erfolgreichere Staatsmänner mit mehr Konzeption hatte (und sie hatte solche). Man kann natürlich die Frage stellen, ob diese Anschauung richtig ist. Ich halte sie für richtig. Beobachten wir doch den Mechanismus des gemeinsamen Ministerrates, des bedeutendsten Organs der Staatskonstruktion der Monarchie. Im Interesse, im Dienste welcher Gesellschaftsklasse Berchtold stand und handelte, so wie es die Akten, die Ministerratsprotokolle und andere Quellen zeigen, zu analysieren, ist nicht unsere Aufgabe, denn wir müssen unser Augenmerk in der Arbeit dieser, sagen wir primären Kräfte auf die Untersuchung der sekundären Wirkungen konzentrieren. Was die primären Kräfte anbelangt, möge der Hinweis genügen, daß die Teilnehmer der gemeinsamen Minister¬ konferenzen, wenn sie auch nicht alle einer Gesellschaftsklasse angehört haben, im 58 || || wesentlichen identische Interessen, die der herrschenden Klasse vertraten. Interes¬ sengegensätze gab es freilich unter ihnen. Doch konzentrierten sich diese fast ausschließlich auf die Interessengegensätze zwischen der österreichischen und der ungarischen herrschenden Klasse.186 Die Macht des gemeinsamen Außenministers der Monarchie wuchs auf Kosten des Machtkreises des gemeinsamen Ministerrates an. In erster Linie, weilsein Gegengewicht, die Institution der als Reichsparlament gedachten Delegationen alles eher war als ein parlamentarisches Gegengewicht. Ein Charakteristikum des inneren Mechanismus der bürgerlichen Yerfassungsmäßigkeit ist es, daß die Schrumpfung eines seiner Organe oft die Schrumpfung eines anderen nach sich zieht oder zumindest eine Änderung seiner ursprünglichen Funktion. Aus den Delegationen wurde kein Reichsparlament, auch wenn sie Schauplatz von Debat¬ ten, ja leidenschaftlicher Debatten waren; da ihre Tätigkeit bereits vor Kriegs¬ ausbruch stockte und dann während des Krieges, besonders zu einer Zeit, als ihre Tätigkeit auf die Gestaltung der Dinge noch von Einfluß hätte sein können, aussetzte, verschob sich die Beratung der von Zeit zu Zeit auftauchenden Fragen -- in Form diskursiven Meinungsaustausches -- notwendigerweise auf den Ver¬ handlungstisch der gemeinsamen Ministerkonferenzen.187 Wie wir später, bei Beobachtung der Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates während des Welt¬ krieges, auch konkret sehen werden, war das zumindest eine Änderung der Funktion des höchsten Regierungsorgans der Monarchie. Durch die Zunahme der Macht des Vorsitzenden der gemeinsamen Minister¬ konferenzen, des gemeinsamen Ministers des Äußern auf Kosten des Macht¬ bereichs des gemeinsamen Ministerrates, den wir in seinen Hauptpunkten im vorigen Kapitel betrachtet haben, konnten, da die dualistische Staatskonstruktion mangelhaft, nicht massiv war, im parlamentarisch gedachten Rahmen an die Epoche des Absolutismus erinnernde oder auch tatsächlich absolutistische Metho¬ den zur Geltung kommen. Im Machtbereich des gemeinsamen Ministers des Äußern nahm eigentlich die Macht des Herrschers der Österreichisch-Ungarischen Monar¬ chie eine konkrete, der dualistischen Staatskonstruktion angepaßte Form an. Franz Joseph war bei Ausbruch des Weltkrieges schon ein Greis. Sein Nachfolger, Karl wieder war ein unerfahrener Mann ohne Praxis, der nicht selten übereilt handelte. Der Marasmus Franz Josephs und die Schwäche Karls, also subjektive Gründe brachten es mit sich, daß die absolutistischen Überreste der Funktion des Kaisers und Königs in ihrer Gänze nicht durch die Person der Herrscher zur Geltung kommen konnten. Franz Joseph führte während des Weltkrieges ins¬ gesamt nur zweimal den Vorsitz in den gemeinsamen Ministerkonferenzen. Bei der einen Gelegenheit, am 19. August 1914, war davon die Rede, die österreichische und ungarische Hauptstadt mit Befestigungen zu umgeben. Damals befürchtete man nämlich einen italienischen Angriff und der Generalstab war der Ansicht, daß das an der russischen Front in schwere Kämpfe verwickelte Heer diesen auf offenem Felde nicht aufhalten könnte.188 Franz Joseph bezeichnete als Zweck der Einberufung der Konferenz, daß er gerne in dieser Frage die Ansicht der Teilnehmer der Konferenz kennenlernen möchte.189 Ähnlich am 8. März 1915, als die Führung der auswärtigen Politik der Monarchie endgültig die Illusion, 59 || || Italien werde neutral bleiben, aufgegeben hatte und der Herrscher den gemein¬ samen Ministerrat einberief, um sich über die Ansichten der führenden Staats¬ männer der Monarchie in dieser kritischen Lage zu informieren.190 An diesem Kronrat191 nahm zum erstenmal Karl, damals noch als Thronfolger teil. Nach seiner Thronbesteigung hat er in jeder bedeutenderen Konferenz den Vorsitz geführt. So auch an der vom 22. Januar 1917, deren Gegenstand die Frage des uneingeschränkten Unterseebootkrieges war. Karl eröffnete die Sitzung mit der Erklärung, Kaiser Wilhelm habe die Entscheidung über den uneingeschränkten Einsatz der Unterseeboote von seiner Stellungnahme abhängig gemacht. »Seine Majestät lege Wert darauf, die gegenständliche Ansicht der Anwesenden zu hören, bevor Er diesbezüglich einen Entschluß fasse.«192 Die Aufgabe eines unter Vorsitz des Herrschers abgehaltenen Ministerrates haben sowohl Franz Joseph als auch Karl fast wortwörtlich so bezeichnet, wie die kaiserliche Instruktion in den Jahren des Absolutismus, die den Aufgabenkreis und die Regeln der Tätigkeit des kaiserlichen Ministerrates festlegte.193 Nach dieser Auffassung sind die Minister die höchsten Ratgeber der Krone, die der Herrscher in schwierigen Fragen vor seiner Beschlußfassung anhört. Wie sehr der aus dem Zeitalter des Absolutismus überkommene Machtbereich des Monar¬ chen in seiner Funktion über den des gemeinsamen Ministerrates hinausgewachsen war, wird am klarsten aus den Ereignissen in Laxenburg am 22. März 1917 er¬ sichtlich. An diesem Tag fanden zwei gemeinsame Ministerkonferenzen statt. Auf der einen, in Wien abgehaltenen und vermutlich früheren194 führte der Minister des Äußern, Czernin, den Vorsitz. Die Sitzung begann um 10 Uhr 30 und wurde um 12 Uhr 30 geschlossen. Es wurde die kritische, mit einer Hungersnot drohende Getreidelage der Monarchie behandelt. In der zweiten gemeinsamen Ministerkonferenz, die in Laxenburg zusammen¬ getreten war,195 führte der Kaiser und König Karl den Vorsitz. Die zentrale Frage des Ministerrates bildete die Möglichkeit eines Friedensschlusses und dessen Form und Bedingungen.196 Im wesentlichen handelte es sich darum, wie sich die Monarchie nach Anerkennung der Annexionsansprüche Deutschlands auf östliche, in erster Linie polnische Gebiete, nach Aufgabe der »austro-polnischen« Lösung,197 auf Kosten Rumäniens und auf dem Balkan entschädigen könnte. Im Laufe der Debatte stellte sich heraus, daß die Gegensätze zwischen dem ungarischen und dem österreichischen Standpunkt schier unüberbrückbar waren. Besonders Tisza formulierte seine Ansichten bzw. die seiner Regierung sehr scharf. Dies ging so weit, daß der Herrscher nach Bekanntgabe des endgültigen Beschlusses der Konferenz ergänzend noch vorschlug, der österreichische und der ungarische Ministerpräsident sollten in separaten Verhandlungen versuchen, sich über die Details zu einigen. Der Konferenzbeschluß gab dem Minister des Äußern über die Art der Weiterführung der erwarteten Friedensverhandlungen allgemeine Weisungen. Im ersten Punkt wurde als Hauptbedingung für die Friedenspolitik vorgeschrieben, das Deutsche Reich sollte nach Möglichkeit die Bürgschaft für die territoriale Unversehrtheit der Monarchie übernehmen.198 Diesen Punkt der Konferenzbeschlüsse habe ich nicht zitiert, um die Friedensaussichten der Mon¬ archie -- die offenbar auch von ihren eigenen höchsten Führern schon als kläglich 6o || || angesehn wurden -- zu beleuchten, sondern um zu illustrieren, wie sehr die ganze Friedenspolitik des österreichisch-ungarischen Außenministers auf dem vollen Vertrauen der deutschen Staatsmänner beruhen mußte. Heute sind auch die Details jener Ereignisse bekannt, von denen sich ein großer Teil am Tage des Kronrates (teilweise zur selben Stunde, an der vormittags der gemeinsame Minister¬ rat tagte) in Laxenburg abgespielt hatte. Karl empfing zu dieser Zeit seinen Schwa¬ ger, den Prinzen Sixtus von Parma, den er zu Verhandlungen über eine Waffen¬ streckung der Monarchie bzw. einen mit der Entente abzuschließenden Separat¬ frieden ermächtigte. Der Geist dieser Ermächtigung stand in diametralem Gegen¬ satz zu den Instruktionen, die er zur gleichen Zeit dem verantwortlichen Führer der Außenpolitik gegeben hatte. Das Wesentliche in der Ermächtigung war, daß die Monarchie auch auf Kosten des Deutschen Reiches zum Frieden bereit war. Der gemeinsame Kronrat bezeichnete als wichtigstes Element der Friedenspolitik des Außenministers die Garantie des Deutschen Reiches für die territoriale Unversehrtheit der Monarchie, der Herrscher der Österreichisch-Ungarischen Monarchie aber wollte zur selben Zeit, unter Mißachtung des einstimmigen Beschlusses seiner höchsten Ratgeber und jedes Friedensfühlers des verantwort¬ lichen Führers der Außenpolitik des Reiches, der Verstümmelung des damaligen Territoriums des Deutschen Reiches (Überlassung Elsaß-Lothringens) zustimmen und mit Frankreich in der Frage des Friedens Übereinkommen. Der gemeinsame Minister des Äußern hat, aller Wahrscheinlichkeit nach, nichts davon gewußt, daß der Monarch auf eigenen Wegen den Frieden suchte,199 und sich so von der durch die verfassungsmäßigen Organe Österreich-Ungarns gebilligten und durch den gemeinsamen Außenminister vertretenen Politik distanzierte.200 Dieser Schritt des Herrschers der Österreichisch-Ungarischen Monarchie beleuchtet, in die Ereignisse eines einzigen Tages zusammengefaßt, den Gegensatz zwischen dem beschleunigten Tempo der Kriegsereignisse, in diesem Fall der Notwendigkeit eines baldigen Friedensschlusses, und der Schwerfälligkeit der Verfassungsstruktur der Monarchie. Im Laufe dieser Ereignisse erscheint die ge¬ meinsame Ministerkonferenz nur mehr als ein beratendes, begutachtendes Organ. Die Macht des Herrschers hat, als Überrest des Absolutismus, den in der bürger¬ lichen Verfassungsstruktur zur Verrichtung der Aufgaben der höchsten Regierung berufenen gemeinsamen Ministerrat beiseite geschoben. Die Macht war von der Person, die sie ausübte, unabhängig. Der Exponent der im Hintergrund tätigen gesellschaftlich-wirtschaftlich-politischen Kräfte konnte ein gealteter Monarch, ein in idealistischen Illusionen lebender, unbedachter junger Kaiser und König oder ein Berufsdiplomat ohne besondere Begabung sein. Den Spalt, durch welchen -- mit Hilfe dieser Exponenten -- die an den Absolutismus erinnernden Kräfte tätig waren, hatten die im Ausgleich oberflächlich gestalteten Staatsorgane offen gelassen. Der überkomplizierten Einrichtung der Monarchie ist in dieser Form des Rest-Absolutismus unter den tragischen Ereignissen des ersten Weltkrieges die moderne Technik über den Kopf gewachsen. Im nun Folgenden werden wir untersuchen, wie dies geschehen ist. Unsere Daten wollen wir möglichst so gruppieren, daß wir klar erkennen, worin die Funktion des gemeinsamen Ministerrates bestand. (Schon aus dem bisher Gesag- 6x || || ten ist ersichtlich, daß sowohl die Zuständigkeit wie auch der Wirkungskreis des gemeinsamen Ministerrates niemals eindeutig festgelegt wurden und daß diese auch im Laufe der Ereignisse des Weltkrieges keine schärferen Konturen erhalten haben, wo aus dieser Mangelhaftigkeit des Ausgleichswerkes unzählige Mi߬ verständnisse und Schwierigkeiten erwachsen sind.201 Deshalb will ich schon im vorhinein darauf hinweisen, daß unsere Daten nur zur Bestimmung der Funktion des gemeinsamen Ministerrates ausreichen, nicht aber zur genauen Definition seiner Zuständigkeit und seines Wirkungskreises. XIV Die Ereignisse des Weltkrieges wuchsen durch die Technik mit ihren dringenden mihtärischen und wirtschaftfichen Anforderungen und durch die Dimensionen der Amtsführung dem gemeinsamen Ministerrat über den Kopf. Unter Dimen¬ sionen der Amtsführung verstehe ich, daß bei Entscheidungen in gewissen Sachen, die letzten Endes am Verhandlungstisch der Österreichisch-Ungarischen Monarchie erledigt werden sollten, diese den Kreis des höchsten Regierungsorgans des Habsburgreiches übertraten. Es geschah nämlich, daß sich die Regierung des Deutschen Reiches bzw. die auf die Reichsregierung einen entscheidenden Einfluß ausübende Deutsche Oberste Heeresleitung in Angelegenheiten, die auf höchster Ebene vor den gemeinsamen Ministerrat der Monarchie gehörten, mit stets zunehmendem Gewicht einmischte.202 Die Funktionsschrumpfung und den Gewichtsverlust des höchsten Regierungs¬ organs der Monarchie betrachte ich auf diese zwei Punkte eingeschränkt, damit die Zusammenhänge, auf die ich in der Einleitung bereits verwiesen habe, aus den um gewisse Probleme verdichteten Daten klarer hervorgehen. Die stete Ver¬ minderung des Gewichtes des gemeinsamen Ministerrates bzw. die Verzerrung seiner Funktion kann im Endergebnis darauf zurückgeführt werden, daß innerhalb der Monarchie zum Nachteil Ungarns die Wirtschaft und besonders die Technik Österreichs wesentlich entwickelter war, und innerhalb des Lagers der Zentral¬ mächte zum Nachteil der Monarchie die des Deutschen Reiches. Durch die bis dahin unbekannt schnelle Entwicklung der Technik (der Kriegstechnik) kamen die technisch entwickelteren Parteien unvermeidlich zu einer größeren Rolle.203 Durch den Dreibund wurde Österreich-Ungarn auf eine engere Zusammen¬ arbeit mit dem Deutschen Reich verwiesen. Die Zusammenarbeit bedeutete in den meisten Fällen, daß die Wirtschaft der Monarchie stark auf die Hilfe Deutschlands angewiesen war. Dies zeigte sich in stärkstem Maße im Einströmen des deutschen Kapitals nach Österreich. Bei den Beratungen der gemeinsamen Ministerkon¬ ferenzen kam während des Weltkrieges wiederholt zur Sprache, daß die Wirt¬ schaft Österreich-Ungarns, besonders die Spezialisierung seiner Industrie ohne Hilfe des deutschen Kapitals unvorstellbar sei.204 Bei Ausbruch des Weltkrieges waren also in ihren Elementen alle wirtschaft¬ lichen und politischen Voraussetzungen gegeben, die dem Deutschen Reich in der Verwaltung der lebenswichtigen Angelegenheiten der Habsburgmonarchie einen immer stärker werdenden Einfluß sicherten. In der Auslösung der militäri- 62 || || sehen Aktion der Monarchie, letzten Endes in der Ingangsetzung des mihtärischen Mechanismus der ganzen Welt hatte der Umstand eine entscheidende Rolle, daß Außenminister Berchtold die Berliner Mission des Grafen Hoyos positiv ein¬ schätzte -- was vom Gesichtspunkt seiner eigenen Politik bzw. der von ihm ver¬ tretenen Kreise auch richtig war. Die beiden Berichte des Botschafters Szögyeny über diese Mission haben tatsächhch bei Berchtold selbst den Schatten jedes Zweifels verscheucht, das Deutsche Reich könnte das militärische Auftreten der Monarchie gegen Serbien eventuell nicht unterstützen. In den Versicherungen über die Bündnistreue sind Kaiser Wilhelm und der Reichskanzler Bethmann Hollweg so weit gegangen, daß sie geradezu auf den Beginn des Feldzuges gegen Serbien drängten. Obwohl sie sicher mit einer feindseligen Haltung Rußlands rechneten, hielten sie es doch nicht für wahrscheinlich, daß das Zarenreich beim damaligen Stand seiner militärischen Vorbereitungen zu den Walfen greifen würde. Auch die damalige internationale Lage hielten sie geeigneter für ein mili¬ tärisches Auftreten als einen späteren Zeitpunkt.205 Umsonst erklärte das angesehenste Mitglied des gemeinsamen Ministerrates, Istvän Tisza, auf der Ministerkonferenz vom 7. Juli 1914, »es sei nicht Sache Deutschlands, zu beurteilen, ob wir jetzt gegen Serbien losschlagen sollten oder nicht«.206 Unter den verantwortlichen Staatsmännern der Zentralmächte war viel¬ leicht er der einzige, der -- bei allem Illusionismus seiner außenpolitischen Kon¬ zeption - die Möglichkeit und die Größe der russischen Intervention am wirklich¬ keitsnahesten einschätzte.207Doch hat er die aus dieser Erkenntnis gezogenen Folge¬ rungen, daß nämlich der Zeitpunkt für eine Abrechnung mit Serbien derzeit nicht geeignet sei, weder auf dieser noch auf den folgenden Ministerkonferenzen durchsetzen können. Es besteht kein Zweifel daran, daß die Lösung der Frage auf das kriegerische Geleise geschoben wurde, weil die Kriegspartei der Monarchie der militärischen Kraft und der kriegstechnischen Überlegenheit des Deutschen Reiches vertraute und ihre Zuversicht durch die unüberlegten Versprechungen des Kaisers und des Reichskanzlers noch erhöht wurde. So betrat die Regierung der Monarchie den Weg, dessen Richtung während der Kriegsereignisse in stets zunehmendem Maße durch die pohtischen Ziele und die Mobilmachungs-, Aufmarsch- und strategischen Pläne der Deutschen Obersten Heeresleitung bestimmt wurden. In den ersten Kriegsmonaten versuchte Deutschland, die Neutralität Italiens, das Anerbieten der Monarchie überbietend, selbst auf Kosten der territorialen Integrität Österreich-Ungarns zu sichern. Wiederum war es Tisza, der sich dem, die Handlungsfreiheit der Monarchie beschränkenden deutschen Schritt scharf entgegenstellte. Auf der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 8. August 1914 gab er seiner Ansicht Ausdruck, durch die vom deutschen Generalstab erzwungene grobe Verletzung der Neutralität Belgiens seien Italien und damit auch die mit ihm verhandelnde Österreichisch-Ungarische Monarchie in eine schwierige Lage versetzt worden, denn die englische und französische Flotte seien nach der Über- rennung Belgiens im Mittelmeer erschienen.208 Monatelang zogen sich die unglei¬ chen Unterhandlungen hin, bis auf der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 3. Februar 1915 der neuernannte gemeinsame Minister des Äußern, Istvän Buriän, 63 || || in seinem Eröffnungsexpose mitteilte, Deutschland habe nunmehr davon abgese¬ hen, die Verhandlungen in der Form weiterzuführen, daß die Monarchie Italien Gebiete überlasse; das Reich stehe endlich als »Verbündeter« an der Seite Öster¬ reich-Ungarns.209 Es stellte sich jedoch bald heraus, daß diese Feststellung Buriäns ebenso wie unzählige andere Elemente seiner Politik (die im wesentlichen auch die Politik Tiszas war) auf Illusionen aufgebaut waren. Auf dem gemeinsamen Kronrat vom 8. März 1915 stimmte nach langer Debatte, in deren Verlauf wieder¬ holt schwere Vorwürfe gegen Deutschland erhoben wurden, auf Grund der über¬ einstimmenden Ansicht der am Kronrat teilnehmenden Staatsmänner der Monarch zu, daß der Minister des Äußern zur Sicherung der Neutralität Italiens das Trentino anbieten sollte.210 Bei den an die Adresse Deutschlands gerichteten Vorwürfen übersahen die verantwortlichen Pohtiker der Monarchie, oder wollten sie nicht sehen, daß das, was sie in der Pohtik Deutschlands für Überbietung ihrer eigenen Politik hielten und erklärten, der Wirklichkeit näher stand bzw. besser mit der Wirklichkeit rechnete als ihre eigene Politik.211 Gerade in ihren Beziehungen zu den Deutschen sahen sie sich sehr bald der Wirklichkeit gegenüber, der Frage um Sein oder Nichtsein. Der österreichisch-ungarische Generalstab hatte sich Jahre hindurch systema¬ tisch auf den Krieg vorbereitet. Selbst der ein Jahr vor dem Weltkrieg, im Jahre 1913 aufgedeckte Verrat des Obersten Redl erforderte keine wesentliche Änderung der mit der Präzision eines Uhrwerkes ausgearbeiteten Pläne.212 Gemessen an der technischen Ausrüstung des Heeres war das Wirtschaftsleben bei Kriegsausbruch in einem trostlosen Zustand. Besonders an zwei Punkten wurde dies offensichtlich. Einerseits darin, daß die landwirtschaftliche Produktion Österreich-Ungarns den Bedarf selbst in den günstigsten Jahren nicht decken konnte und Jahr für Jahr große Mengen an Getreide zu sehr hohen Preisen aus dem Ausland importiert werden mußten, wodurch - und dies ist der zweite Punkt - die im Weltmaßstab ohnehin geringen Goldreserven der Österreichisch-Ungarischen Bank stark in Anspruch genommen wurden.213 Der Goldbestand war im Jahre 1909 mit 1442 Mil¬ lionen der höchste, sank dann infolge der durch die Balkanereignisse entstan¬ denen Unruhe bis Ende 1912 sukzessive auf 1209,8 Milhonen. Zu Beginn des Jahres 1914 zeigte sich zwar eine Besserung, doch blieb der Geldvorrat der Österreichisch-Ungarischen Bank selbst hinter dem der russischen, französischen und deutschen Staatsbanken weit zurück; bei letzteren nahm der Goldvorrat in der Zeit, in der sich die österreichisch-ungarischen Vorräte verringerten, beträcht¬ lich zu.214 Noch schwerer fiel ins Gewicht, daß die Finanzverwaltung der Monarchie (richtiger der beiden Länder) selbst nach den Erfahrungen, die sie in den kriti¬ schen Zeiten der Balkankriege gemacht hatte, nicht geneigt war, die wirtschaft¬ liche Basis für einen eventuellen Krieg zu schaffen. Es herrschte nämlich allge¬ mein, auch in militärischen Kreisen, die Ansicht, bei der modernen Technik könne selbst eine europäische Konflagration nicht länger als drei Monate dauern.215 So kam es, daß die Kriegsmaschinerie mit ihrem im vorhinein berechneten Automatismus in immer schnellere Bewegung geriet, immer weitere Sektoren des unvorbereiteten Wirtschaftslebens der Monarchie in ihren Dienst zwang, die 64 || || Grundlagen des Wirtschaftslebens durch die übermäßige Inanspruchnahme zer¬ rüttet wurden. In diesem Zustand wäre die Weiterführung des Kriegs für die Monarchie unmöglich geworden. D. h. sie wurde zunehmend auf die wirtschaft¬ liche und militärische Hilfe Deutschlands angewiesen. So brachte die wirtschaft¬ liche Zerrüttung wie ein Transmissionsriemen die Notwendigkeit der Rücksicht¬ nahme auf die deutschen Interessen auf den Verhandlungstisch des höchsten Regierungsorgans der Monarchie. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates selbst illustrieren mit reichem Material die Zunahme des deutschen Einflusses in der Regierung der Monarchie. Die ersten Anzeichen waren schon in den Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates unmittelbar nach Kriegsausbruch wahrnehmbar. Wie bereits erwähnt, in erster Linie darin, daß Deutschland bei der Monarchie eine bis zu territorialen Zugeständnissen gehende Nachgiebigkeit Italien und Rumänien gegenüber erreichen wollte. Im Kronrat vom 8. März 1915, als die Geldvorräte der Monarchie schon gefährlich im Abnehmen begriffen waren, berief sich Istvän Tisza auf die Information von einem deutschen Bankier, wonach die Reichsbank geneigt wäre, Gold flüssig zu machen, wenn Österreich-Ungarn die Neutrahtät Italiens durch Überlassung Südtirols sicherte.216 Im Ministerrat vom 18. Juni 1915 wurde vor allem der Antrag des ungarischen Finanzministers Teleszky, über eine wirtschaftliche Basis für den alles zu verschlingen drohenden Moloch Krieg behandelt.217 Hierbei verglich der gemeinsame Finanzminister Koerber die finanziellen Opfer Gro߬ britanniens für seine kapitalärmeren Verbündeten Rußland, Belgien und Italien, mit den Opfern, die Deutschland bisher zur Unterstützung seines finanziell schwächeren Partners, Österreich-Ungarns gebracht hatte. Aus dem Vergleich ging hervor, daß »das Deutsche Reich auf diesem Gebiete noch eine bedeutende Bündnispflicht zu erfüllen habe«. Von dieser, für moralisch gehaltenen Grundlage kritisierte Koerber den Standpunkt der Deutschen, eine Milharde Mark zu opfern, um die Neutralität Italiens und eine nicht viel geringere Summe, um die Neutrahtät Rumäniens zu sichern. Seinem treuen Verbündeten könnte also das Deutsche Reich -- zog Koerber die Schlußfolgerung -- ruhig mit einer Anleihe von einer Milliarde Mark helfen.218 Die Frage der deutschen Anleihe, zu der noch mehrere andere Teilnehmer des Ministerrates das Wort ergriffen hatten (einige dieser Stellungnahmen werde ich bei Summierung noch zitieren), figurierte von da an ständig unter den Verhandlungsgegenständen des höchsten Regierungsorgans der Monarchie. Dadurch, daß die Monarchie finanziell auf Deutschland angewiesen war, wurden dem gemeinsamen Ministerium in hohem Maße die Hände gebunden. Die gemeinsame Ministerkonferenz vom 3. Juli 1916 verhandelte darüber, wie die österreichisch-ungarischen Banken der Türkei helfen könnten. Der ungarische Finanzminister Teleszky fand scharfe Worte über die schweren Bedingungen dieses Plans. Daß nämlich Deutschland, das die Monarchie mit Geld und Roh¬ material versorgte, durch diese Aktion Österreich-Ungarns seinen Kapital- und Kriegsmaterialexport in die Türkei gefährdet sehen würde. »Wenn man sich nicht dem aussetzen wolle, daß Deutschland der Monarchie eine weitere finanzielle Unterstützung verweigert, so ergebe sich die Schlußfolgerung, daß man in der Frage der türkischen Lieferungen ohne eine Fühlungnahme mit Deutschland 5 Komjäthy: Protokolle 65 || || überhaupt nicht weitergehen könne« -- führte Teleszky aus, und diese Stellung¬ nahme bildete dann auch die Basis des in ähnlichem Sinne gefaßten Beschlusses.219 Von dem Zeitpunkt an, als die Russen die Kornkammer der österreichischen Provinzen, Galizien, besetzt hatten, nahmen die Versorgungsschwierigkeiten Österreichs ständig zu. Zur Überlassung von Geldvorräten, zur Markanleihe, zu Rohstoff- und Kriegsmateriallieferungen kamen bald auch deutsche Getreidelie¬ ferungen. Im gemeinsamen Ministerrat vom 8. Juli 1915 war erst davon die Rede, wie die notleidenden österreichischen Provinzen durch Beschallung von rumäni¬ schem Getreide versorgt werden könnten, doch mußte der ungarische Minister¬ präsident schon beklagen, daß in diese für die Monarchie lebenswichtige Frage seitens der österreichischen und gemeinsamen Behörden die Deutschen ein¬ bezogen wurden, die zuständigen ungarischen Organe aber erst nachträglich über die getroffene Vereinbarung Kenntnis erhielten. An den unter dem Vorsitz des Kriegsministers abgehaltenen Beratungen hatten nur die Fachmänner der öster¬ reichischen Kriegsgetreide-Verkehrsanstalt mit den Delegierten der deutschen Zentral-Einkaufsgesellschaft verhandelt. Da die Vertreter der ungarischen Hadi- termeny Tärsasäg (Kriegsprodukten-Gesellschaft) nicht zugegen waren, hatten die Deutschen, nach Tiszas Ansicht,220 ein falsches Bild von den Dingen erhalten. In dieser nicht unbedeutenden Frage hatten also die Deutschen schon ein gewichti¬ geres Wort als die ungarische Hälfte der Monarchie. Es trat also der Fall ein, daß in einer ausgesprochen gemeinsame Angelegenheiten behandelnden Beratung das Wort des Deutschen Reiches gewichtiger in die Waagschale fiel als das der unvollständig vertretenen Monarchie. Auch in der Getreidefrage blieb es aber nicht bloß bei Einbeziehung Deutschlands in die Beratungen. Der gemeinsame Ministerrat vom 9. September 1916 beschloß, sich zur wenig¬ stens teilweisen Deckung des 10 Milhonen Doppelzentner betragenden Getreide¬ defizits an Deutschland zu wenden. Ähnliche Beschlüsse wurden in der gemein¬ samen Ministerkonferenz vom 10. Januar 1917 und dann am 22. März gefaßt, in letzterem Falle war bereits von einer drohenden »Ernährungskatastrophe« die Rede.221 Unterdessen kam immer wieder die Frage einer Markanleihe, der Roh¬ material- und Kriegsmateriallieferungen zur Sprache. Davon gar nicht zu reden, daß hinter den mihtärischen Erfolgen Österreich-Ungarns (Durchbruch bei Gorhce, Niederwerfung Serbiens, Durchbruch bei Tolmein) immer bedeutende deutsche Waffenhilfe stand. Die Staatsmänner der Monarchie fühlten, daß die stets zunehmende wirtschaft¬ liche, finanzielle und auch militärische Abhängigkeit des Habsburgreiches von Deutschland nicht ohne schwere Folgen bleiben würde. Unter der drückenden Last dieser Erkenntnis trösteten sie sich stets damit, eine finanzielle, wirtschaftliche und militärische Erstarkung Österreich-Ungarns liege auch im Interesse des Deutschen Reiches. So erklärte Buriän unter anderem auf dem Ministerrat vom 18. Juni 1915: »Deutschland hat nicht nur Interesse an der Erhaltung unserer Wehrkraft, sondern auch an der Gesundung unserer Valutenverhältnisse.«222 Diese illusionistische (nämlich vom Gesichtspunkt der zukünftigen Unabhängig¬ keit der Monarchie illusionistische) Auffassung wurde sogar vom ungarischen Ministerpräsidenten Tisza mit ähnheher Entschiedenheit formuliert,223 obwohl 66 || || er, fast von der ersten Minute des Krieges bis zum endgültigen Zerfall der Monar¬ chie versucht hatte, das Habsburgreich gegen die gefährliche Zunahme des deutschen Einflusses zu schützen bzw., als dies nicht mehr möglich war, zumindest gegen dessen Schein. Besonders bei der Definierung der Kriegs- und Friedensziele der Zentralmächte und innerhalb dieser Frage hauptsächlich bei den Verhandlungen über das zu¬ künftige Schicksal Polens stellte sich heraus, daß die Abhängigkeit der Monarchie von deutschen Gold-, Getreide- und Rohmateriallieferungen schwere pohtische Konsequenzen in sich barg. Der gemeinsame Ministerrat vom 6. Oktober 1915 hat, da fast das ganze Gebiet Polens wie es im 18. Jahrhundert bestanden hatte, in den Besitz der Zentralmächte gelangt war, die polnische Frage in extenso untersucht. Der zentrale Gedanke dieser oft heftigen Debatte war, daß die Mon¬ archie nicht nur in der Angelegenheit Polens, sondern selbst in der Angelegenheit des auf seinem eigenen Gebiet, in Galizien lebenden polnischen Volkes keinen Schritt ohne Wissen des Deutschen Reiches tun könne. Auf Ersuchen des Außen¬ ministers Buriän hat der österreichische Ministerpräsident Stürgkh eine umfang¬ reiche Denkschrift224 darüber verfaßt, wie man sich in der Monarchie die Lösung des polnischen Problems vorstelle. Diese wurde vom Minister des Äußern der gemeinsamen Ministerkonferenz zur Erörterung unterbreitet, um sie dann dem Reichskanzler Bethmann Hollweg zu übersenden. Nach der eingehenden Analyse der Denkschrift kam man einhellig zu der Ansicht, daß der Antrag umgearbeitet werden müsse, da er in der Form, wie er dem gemeinsamen Ministerrat vorgelegt wurde, den Deutschen nicht entsprechen werde. Vom Gesichtspunkt der Bezie¬ hungen zwischen dem Habsburgreich und Deutschland ist es nicht uninteressant, mit welchen Worten die Notwendigkeit einer Umarbeitung begründet wurde: die Arbeit müsse »ad usum Delphink umstilisiert werden -- wurde gesagt. Der zur Charakterisierung der Schriften und Vorträge, die dem künftigen Souverän zur Information vorgelegt werden sollten, sarkastisch formuherte Terminus wurde von den Pohtikern der Monarchie, denke ich, nicht ohne Selbstironie gebraucht. Es war dies die Formel für das mißliche Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich. In den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates finden wir reichlich Beispiele, welche Züge des in ihrem Bewußtsein vorhandenen unheimhehen Bildes der Wirklichkeit von den Führern des Habsburgreiches in diese Formel zusammen¬ gefaßt wurden. Wieder ist es Istvän Tisza, der zitiert werden muß. Er war es, der als erster und am klarsten auf der Sitzung des gemeinsamen Ministerrates vom 18. Juni 1915, als die Wiederherstellung der durch die rapidzunehmenden An¬ sprüche der Kriegsführung zerrütteten wirtschafthchen Grundlage der Monarchie zur Sprache kam, darlegte, wohin die Abhängigkeit Österreich-Ungarns vom Deut¬ schen Reich führe. Wörtlich sagte er: »Deutschland arbeite offensichtlich daraufhin, daß bei Friendensabschluß alle unsere Verpflichtungen fällig werden, alle unsere Gelderfordernisse sich auf diesen Termin konzentrieren und wir ganz aufDeutsch¬ land angewiesen, in ein hilfsbedürftiges Abhängigkeitsverhältnis gebracht werden. Es sei dies auch ein Mittel zum Zwecke, uns wirtschaftlich von Deutschland ab¬ hängig zu machen.«225 In Österreich sehen die amtlichen Kreise nach Tiszas 5* 67 || || Meinung untätig zu, daß die Deutschen gegen die wirtschaftliche Selbständigkeit der Monarchie agitieren, obwohl sie doch sehen müßten, daß das Aufgeben der Selbständigkeit in erster Linie die österreichische Industrie zugrunderichten würde. »Die wirtschaftliche Einigung sei gleichbedeutend mit wirtschaftlicher Abhängig¬ keit . . . Eine Zollunion oder dergleichen bedeute aber nicht nur die wirtschaftliche Abhängigkeit von Deutschland, sondern es würden sich auch die politischen Folgen für unsere Großmachtstellung einstellen.«226 Die Befürchtungen Tiszas haben sich in rascher Reihenfolge bewahrheitet. Der österreichische Handelsminister (und später gemeinsame Finanzminister) Spitzmüller hat in der Ministerkonferenz vom 3. Juli 1916 nachdrücklich betont, die Folgen der schwierigen Wirtschaftslage der Monarchie müßten vom Gesichts¬ punkt des Verhältnisses zu Deutschland dringend bereinigt werden. »Gerade die staatsfinanzielle und wirtschaftliche Lage lasse befürchten, daß Österreich-Ungarn auf handelspolitischem Gebiete, im Verhältnisse zu Deutschland, nicht über eine volle Freiheit verfügen werde.«227 Auf dem Wege der Aufgabe der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Monarchie war die erste Station, daß sich das Deutsche Reich Einsichtnahme in die inneren, hauptsächlich wirtschaftlichen Angelegen¬ heiten der Monarchie sichern wollte.228 Und dann wäre die Möglichkeit bzw. Gefahr nicht mehr fern gewesen, daß die beiden verbündeten Mächte auf wirt- schaftlichem Gebiete in eine Einheit verschmolzen. Einziger Gegenstand der gemeinsamen Ministerkonferenz am 6. Mai 1917 war die Regelung der wirtschaftlichen Verbindungen zwischen der Monarchie und Deutschland. Jedes Mitglied des Ministerrates war sich darüber im klaren, daß die Wirtschaft Österreich-Ungarns ohne deutsche Hilfe zusammenbrechen würde. Klar war aber auch, daß die deutsche Politik die Zwangslage der Monarchie mißbrauchte. Zur Überbrückung der schweren Gegensätze zeigte sich keine reale Lösung. Obwohl sie wußten, daß es eine Selbsttäuschung war, nahmen sie doch für eine enge Zusammenarbeit mit den Deutschen Stellung, wobei sie sich mit dem zweifelhaften Gedanken trösteten, die Zusammenarbeit sei für beide Parteien von Lebensinteresse.229 Dabei hatte der gemeinsame Kriegsminister Krobatin bereits ein Jahr vorher, im gemeinsamen Ministerrat vom 3. Juli 1916, über den bereits gesprochen wurde, klar auseinandergelegt, daß die Monarchie bei Inanspruchnahme der deutschen Wirtschaftshilfe nicht mehr selbständig han¬ deln könne. Beim geringsten Anzeichen, sich selbständig zu machen, stellten die Deutschen für ihre Hilfe die Bedingung, ihre Fachmänner hierher zu entsenden und auf die Geschäftsführung Einfluß zu nehmen. Aus den Äußerungen auf dem gemeinsamen Ministerrat vom 6 -- 15. September 1917 kann entschieden gefolgert werden, daß die Monarchie im Zuge der »Entwicklung« in volle wirtschaftliche und politische Abhängigkeit vom Deutschen Reich geraten, ja darüber hinaus in die deutsche wirtschaftliche Struktur eingebaut worden wäre, doch kam es dann durch den Zusammenbruch der Zentralmächte nicht dazu. Der österreichische Minister¬ präsident Seidler klagte, als von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Deutschen die Rede war, daß die Deutschen im Laufe der in dieser Frage im Juli und August erfolgten Beratungen die Monarchie enger an das Deutsche Reich binden wollten.230 68 || || Die wirtschaftliche und politische Tragfähigkeit Österreich-Ungarns entsprach bei weitem nicht den zunehmenden Anforderungen des Krieges. Dieses Zurück¬ bleiben der Monarchie hinter dem stürmischen Tempo der Ereignisse zeigte sich in erster Linie in der Tätigkeit des höchsten Regierungsorgans, des gemeinsamen Ministerrates. Das Habsburgreich sah sich vor Aufgaben gestellt, die es allein nicht mehr bewältigen konnte. Wie der ungarische Finanzminister Teleszky eben bei Behandlung der Beziehungen zu Deutschland im gemeinsamen Ministerrat vom 3. Juli 1916 sagte,231 war die Monarchie gezwungen, zuzulassen, daß sich eine auswärtige Macht in immer mehr Angelegenheiten einmischte, in Angelegen¬ heiten, über die auf höchster Ebene eigentlich die gemeinsame Ministerkonferenz zu entscheiden batte. Die durch die Kriegstechnik diktierte Entwicklung ist dem gemeinsamen Ministerrat über den Kopf gewachsen. Auf dem Gebiete der Kriegsführung, von den Plänen des Generalstabs angefangen bis zu der im engsten Sinne des Wortes genommenen Kriegstechnik, die jeder kriegführende Staat, wenn er mit den Ereignissen Schritt halten wollte, fast von Stunde zu Stunde vervollkommnen mußte, wurde das Wirtschaftsleben der Doppelmonarchie überfordert. Diese Überforderung zeigte sich durch zahllose Transmissionen letz¬ ten Endes auch in der Amtsführung des gemeinsamen Ministerrates. Daß die Aufgaben, die der gemeinsame Ministerrat zu lösen hatte, über seine Möglich¬ keiten hinausging, daß die Dimensionen viel größer waren als der Rahmen, innerhalb dessen die Monarchie diese Aufgaben selbst hätte lösen können, wurde von den Mitgliedern des höchsten Regierungsorgans des Habsburgreiches nur ungern zugegeben. Innerhalb ihres Wirkungsbereichs fanden siekeine realen Lösun¬ gen, weshalb sie von den Realitäten in Scheinlösungen flüchteten. Im gemeinsamen Ministerrat vom 6. Mai 1917, also zu einer Zeit, als alle führen¬ den Männer der Österreichisch-Ungarischen Monarchie bereits sahen, daß die Abhängigkeit des Habsburgreiches von Deutschland bereits auf Kosten der Unabhängigkeit der Monarchie ging -- wie dies aus mehreren zitierten Erklärun¬ gen ersichtlich ist --, erklärte nun der gemeinsame Minister des Äußern, Czernin, über die Annäherung zu Deutschland, der besonders in England entstandene Eindruck, »a/s ob die Annäherung auf Kosten der Selbständigkeit Österreich- Ungarns geschehe«, sei falsch.232 Gegen diesen Schein protestierte auch Istvän Tisza: wie sehr die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland auch not¬ wendig sei -- sagte er --, »so sei doch dem Auslande gegenüber der Anschein zu vermeiden, als ob Österreich-Ungarn sein wirtschaftliches Selbstbestimmungs¬ recht aufgegeben hätte«. Im Laufe der Debatte stellte er dann weiter die Auf¬ rechterhaltung des Scheins der Unabhängigkeit der Monarchie geradezu als positive Forderung hin, die auch Deutschland konkret von Nutzen sein werde: »Bei den Friedensverhandlungen und auch später werde Österreich-Ungarn um so mehr in der Lage sein, Deutschland gute Dienste zu leisten, je mehr das Ausland den Eindruck gewinne, daß die Monarchie selbständig vorgehe und nicht ins deutsche Schlepptau genommen worden sei.«233 Es besteht kein Zweifel, daß der Kampf um den Schein, wenigstens um den äußeren Anschein der Unabhängigkeit in der Kriegsagonie der Österreichisch-Ungarischen Monarchie einen gewissen realen Inhalt hatte. Den, auf den Außenminister Czernin in seinen Worten bei der 69 || || Eröffnung angespielt hatte: das Hauptziel der kriegerischen Anstrengungen Großbritanniens sei, das Erstarken des preußischen Militarismus zu verhindern. Nun erwecke aber die wirtschaftliche Annäherung des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns nicht ganz unbegründet bei den Engländern die Besorgnis, daß aus der politischen Kooperation und dem wirtschaftlichen Zusammengehen der Zentralmächte letzten Endes der preußische Mihtarismus Nutzen ziehen werde. Wenn die wirtschaftliche Zusammenarbeit notwendig und für die Monarchie auch nützlich sei, müsse sie so verwirklicht werden, daß sie nicht auf Kosten der Unabhängigkeit Österreich-Ungarns gehe. Darüber hinaus sei es jedoch erstrebens¬ wert -- sagte Czernin --, daß auch der Schein so sei. In den Zielsetzungen der führenden Pohtiker der Monarchie war also die Sicherung des Scheins eine mit der Verwirklichung realer Ziele gleichwertige Aufgabe. Ja, wenn wir das Protokoll des gemeinsamen Ministerrates vom 6. Mai 1917 genau durchlesen, so zeichnet sich eindeutig das Bild einer nur nach dem Schein strebenden und sich in die Erhal¬ tung des Scheins flüchtenden Politik ab. XV Schon fast bei Ausbruch des Weltkriegs begann der Wettlauf zwischen den von der Verfassung vorgeschriebenen, traditionellen Methoden der Amtsführung der Monarchie auf höchster Ebene und dem rasenden Tempo der Ereignisse, das durch den Krieg, hauptsächlich die Entwicklung der Kriegstechnik diktiert wurde. Dieser Wettlauf zeigte sich notgedrungen auch in der Tätigkeit des höchsten Regierungsorgans Österreich-Ungarns, des gemeinsamen Ministerrats. Wie wir auch im Falle der Beziehungen der Monarchie zu Deutschland gesehen haben, waren in ihren Elementen auch hier, in Hinblick auf die Technik der Amts¬ führung die Bedingungen gegeben, daß dieser Wettlauffür das Habsburgreich vom Gesichtspunkt des Regierens nach traditionellen Methoden immer hoffnungs¬ loser wurde. In allen europäischen Staaten mit bürgerlichen Einrichtungen, so auch in Öster¬ reich, wurden bereits Jahre, ja Jahrzehnte vor Ausbruch des Weltkriegs Gesetze erlassen, die die Exekutivgewalt der Regierung im Kriegsfälle derart erweiterten, daß dies bereits an Diktatur grenzte, ja meistens diesen Begriff auch erschöpfte. Das entsprechende österreichische Gesetz ist vom 5. Mai 1869 datiert, trägt den Titel »Suspension der Grundrechte und Ausnahmezustand« und faßt die durch die Kriegslage erforderlichen Rechtsnormen zusammen. Am Anfang des 20. Jahr¬ hunderts, besonders in der gespannten Atmosphäre der Balkankriege entstand im Jahre 1913 das »Kriegsleistungsgesetz«, das seine Wurzeln im Gesetz vom Jahre 1869 hatte und dessen Zweck, so wie in anderen Ländern Europas, »die volle Ausnützung aller moralischen, physischen und geistigen Kräfte der Bevölkerung für den Zweck der Kriegführung« war.234 Parallel mit den Vorbereitungsarbeiten für dieses Gesetz fanden unter größter Geheimhaltung zwischen dem Kriegsministerium, dem Generalstab und den zu¬ ständigen österreichischen Ministerien Besprechungen statt, um eine zusammen¬ hängende Weisung zu schaffen, die sämtliche, durch die Mobilisierung notwendig 70 || || gewordenen Verfügungen umfaßt. Dieses, »Orientierungsbehelf über Ausnahms¬ verfügungen für den Kriegsfall für die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder« genannte Operat wurde 1912 fertiggestellt und den höchsten Militär- und Verwaltungsorganen zur Information zugestellt.235 Der Grundsatz dieser Weisung mit dem bescheidenen Titel war im wesentlichen derselbe wie der des Gesetzes vom Jahre 1869: der Kriegszustand geht mit der Anwendung gewisser diktatorischer Maßnahmen in der inneren Verwaltung einher. Seitdem im Staats¬ leben die Prinzipien der parlamentarischen Verfassungsmäßigkeit zur Geltung ge¬ kommen waren, wurden diese Methoden von den Menschen als schreiender Gegensatz des Friedenszustandes, der »normalen« Verhältnisse empfunden. Ein Zug des österreichischen »Orientierungsbehelfs« sowie der ähnlichen anderen europäischen Generalstabsweisungen war diese Außerordentlichkeit, der diktato¬ rische Charakter. Ein weiterer Zug wurde durch die technische Entwicklung des 19 -- 20. Jahrhunderts (innerhalb dieser besonders durch die Entwicklung des Verkehrs- und Nachrichtenwesens) bestimmt. Schon die kleinen -- mit heutigen Augen betrachtet unbedeutenden -- Balkankriege waren eine gute Gelegenheit zum Wettkampf technischer Erfindungen und Neuerungen. Die Generalstäbe der europäischen Staaten, die sich vorbereiteten, Millionenheere in Bewegung zu setzen, waren dann auch bestrebt, die Methoden der herkömmlichen Strategie der modernen Technik anzupassen. Diese Technisierung war der zweite Zug des Orientierungsbehelfs.236 Und zwar auch in der Form, daß man versuchte, die Kriegsdiktatur mit den sehr komplizierten sozialen und wirtschaftlichen Ver¬ hältnissen des modernen Lebens in Einklang zu bringen. Dieser Versuch war sozusagen auf dem gesamten Gebiete des Lebens mit einer gewissen Mechani¬ sierung gleichbedeutend. In Österreich hat der Orientierungsbehelf diesen bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten diktatorischen Mechanismus in den Dienst des Reiches und der Dynastie gestellt. Redlich schreibt, seine feine Analyse summie¬ rend, daß ». . . der Gedanke der Diktatur von vornherein weit über das technische Moment der bloßen Sicherung der Mobilisierung hinausging und von Anbeginn als eine politische Maßnahme im höchsten Sinne des Wortes von den entscheidenden Faktoren nicht nur der Armee, sondern auch der Zivilregierung, der Bureaucratie, aufgefaßt wurde«.237 In diesem Geiste wurde das neben dem gemeinsamen Kriegs¬ ministerium tätige »Kriegsüberwachungsamt« geschaffen, das -- über seine ur¬ sprüngliche Aufgabe, den Kriegsnachrichtendienst, die Spionageabwehr usw. hin¬ ausgehend -- sich immer mehr der Lenkung und der Kontrolle des Lebens in Österreich, ja teilweise auch der ganzen Monarchie im Kriege bemächtigte. All dies diente natürlich konkreten militärischen Zielen. In der Tätigkeit dieses, unter Umgehung der in der Verfassung vorgeschriebenen Wege geschaffenen Organs zeigten sich jene Elemente, die ich früher als not¬ gedrungene Begleiterscheinungen der durch den Krieg diktierten technischen Entwicklung benannt habe. Neben dem vor der breiten Öffentlichkeit, ja man kann sagen, sogar vor der engeren parlamentarischen Öffentlichkeit verschleierten Kriegsüberwachungsamt zeigten jedoch noch unzählige Tatsachen von geringerer oder größerer Bedeutung darauf, daß der Amtsführung der bürgerlichen Staats¬ einrichtung ein gefährlicher Konkurrent entstanden ist. 71 || || Von diesen Tatsachen fiel zweifellos am meisten ins Gewicht, daß Conrad v. Hötzendorf als erster Generalstabschef bereits geraume Zeit vor Kriegsausbruch an den Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates mit fast den gleichen Rechten wie ein Minister teilnahm. Militärische Sachverständige haben schon in den Jahren unmittelbar nach dem Ausgleich zum Vortrag an den gemeinsamen Minister¬ konferenzen teilgenommen. Die Vertretung der militärischen Fragen auf höchster Ebene fiel innerhalb der komplizierten Heeresverwaltung der Monarchie238 fast ausschließlich dem gemeinsamen (Reichs-) Kriegsminister zu. Das Erscheinen des Chefs des Generalstabs im gemeinsamen Ministerrat, die Schrumpfung des Wir¬ kungsbereichs des Kriegsministers bedeutete, daß militaristische Interessen und mit diesen zusammenhängende kriegstechnische Fragen vorherrschend geworden waren. Die alle anderen Gesichtspunkte in den Hintergrund drängende Kraft und Bedeutung der militär-technischen, dann der in engerem Sinne genommenen kriegstechnischen Gesichtspunkte zeigte sich schon zu Beginn des Krieges. Aus den verschiedensten Gebieten des Lebens der Monarchie kamen Klagen, daß die Militärbehörden gegenüber der Zivilbevölkerung in den normalen Gang des Lebens in störender Weise eingriffen. Ein kleiner Teil dieser Klagen kam, gesichtet, manchmal verändert, eventuell verzerrt, über zahlreiche Foren geleitet, schließlich auch auf den Verhandlungstisch des gemeinsamen Ministerrates. So wie das Aufleuchten einer roten Lampe anzeigt, daß im Funktionieren irgendeiner Maschine oder Einrichtung eine Störung, irgendein technischer Fehler eingetreten ist, so wurde auch der gewohnte Gang der Verhandlungen des gemeinsamen Minister¬ rates -- im Laufe des Krieges immer öfter -- durch die Klage des österreichischen oder des ungarischen Regierungschefs bzw. irgendeines Ressortministers über »Übergriffe« der Militärbehörden gehemmt. Die roten Lampen der Klagen und Proteste zeigten aber in Wirklichkeit keine Übergriffe an, sondern nur, daß die Mihtärbehörden unter dem Zwange der Kriegsführung notgedrungen der Amts¬ führung des bürgerlichen Staatsapparates Vorgriffen. Von den zahlreichen Fällen sollen hier einige erwähnt werden, aus denen ersichtlich ist, welche Bedeutung diese vom Gesichtspunkt der Funktion des gemeinsamen Ministerrates hatten. Auf der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 19. August 1914 wurde sowohl seitens des österreichischen wie auch des ungarischen Ministerpräsidenten bean¬ standet, daß die Militärbehörden die zivile Verwaltung fast gänzlich ausgeschaltet, zu gleicher Zeit jedoch nicht dafür gesorgt hatten, die Versorgung des Wirt¬ schaftslebens der Monarchie durch Eisenbahntransporte zu sichern.239 Dies war der erste, im gemeinsamen Ministerrat vorgebrachte Protest, der aber eigentlich nur Erscheinungen an der Oberfläche betraf. Die Konferenz vom 3. Februar 1915 befaßte sich mit dem sog. Auffenberg- Programm. Die Ausarbeitung eines Planes zur Modernisierung der Artillerie der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ist mit dem NamenAuffenbergs verbunden, der in den Jahren vor Ausbruch des Weltkrieges gemeinsamer Kriegsminister war. Die Verwirklichung dieser Pläne war kaum in Angriff genommen, als der Krieg ausbrach. Die mit einer Serie von technischen Neuerungen verbundene Moderni¬ sierung verschlang mächtige Summen, deren Beschaffung die Finanzverwaltung 72 || || der Monarchie in eine immer schwierigere Lage versetzte. Die täglichen Anforde¬ rungen der Kriegsführung nahmen ständig zu und ihre Befriedigung ging nicht glatt vonstatten. Die Funktionen des gemeinsamen Ministerrates untersuchend, muß ich ausführlicher über die Debatten im gemeinsamen Ministerrat und außerhalb desselben sprechen, die über den Mobilisierungskredit und die mit dem Auffenberg- Programm zusammenhängenden außerordentlichen Kredite geführt wurden. Aus den Debatten selbst sollen jene Daten herausgehoben werden, die für die eben be¬ handelte Frage von Interesse sind. Das Heerwesen hatte den gesetzlichen Rahmen der Kredite, von den Kriegsereignissen gedrängt, bereits in den ersten Monaten überschritten. Der ungarische Finanzminister Teleszky hatte auf der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 3. Februar 1915 besonders nachdrücklich daraufhinge¬ wiesen, er habe schon bei Kriegsbeginn, also rechtzeitig betont, er übernehme weder für die Höhe, noch die Zweckmäßigkeit oder Notwendigkeit der Kriegskredite, sondern lediglich für deren rechtzeitige Beschaffung die Verantwortung; und auch diese beschränkte Verantwortung nur dann, wenn sich das Kriegsministerium verpflichtet, nach Beendigung des Krieges bis in die kleinsten Details Rechenschaft über die Verwendung der zur Verfügung gestellten Kredite abzulegen. Teleszky und dann auch der ungarische Ministerpräsident Tisza verlangten, daß die Heeres¬ verwaltung die Kredite nur auf Grund vorangehender Ministerratsbeschlüsse und nur zu dem dabei festgelegten Zweck in Anspruch nehme. Teleszky fügte der vorgeschlagenen Formel gleichsam als Konzession zu, daß die kriegsindustriellen Bestellungen der Heeresverwaltung -- ohne Rücksicht auf die Höhe des bewilligten Kredites -- durch die Leistungsfähigkeit der Fabriken, also durch einen stark technischen Gesichtspunkt begrenzt werden. Im Laufe der Debatte schlug der österreichische Ministerpräsident Stürgkh vor, sich auf eine Formel zu einigen, die dann ein für allemal gültig sein sollte. Die Summen zur Deckung der kriegs¬ industriellen Bestellungen sollen automatisch flüssig gemacht werden, um nicht bei jeder Gelegenheit zur Einberufung des Ministerrates und zu neuer Beschlu߬ fassung gezwungen zu sein. Der Ministerrat nahm diesen Antrag nicht an, sondern beschloß im wesentlichen im Sinne des Tisza-Teleszkyschen Antrages.240 Die überbrückende Proposition Stürgkhs erhellt das Wesentliche im Mechanismus der Staatsführung im Kriege. Die Angelegenheiten konnten nun nicht mehr auf die in der Verfassung vorgeschriebene Weise erledigt werden. Die Entwicklung der Kriegsmaschinerie, innerhalb des Kriegsmechanismus in erster Linie die Kriegs¬ technik der modernen Kriegsführung, verlangte in stets wachsendem Tempo Geld. Diesen Ansprüchen mußte -- falls das Habsburgreich nicht infolge technischer Rückständigkeit in höchste Gefahr geraten wollte -- das Wirtschafts¬ leben Österreich-Ungarns ununterbrochen, oder wie Stürgkh die durch den Krieg erforderte Vertechnisierung der Amtsführung geradezu klassisch formulierte, automatisch entsprechen. Das Wirtschaftsleben der Monarchie konnte jedoch die Automatisierung nicht ertragen, noch weniger ein Teil des Überbaus der Wirtschaft, die Amtsführung. Vergebens erbrachte der gemeinsame Ministerrat den Beschluß, die Heeresverwaltung dürfe die Kriegskredite nur auf Grund einer Ermächtigung durch den Ministerrat in Anspruch nehmen und neue Industrie¬ betriebe, Fabriken ebenfalls nur auf Grund solcher Entscheidungen einrichten, 73 || || gerade die im Ministerrat vorgebrachten Klagen und die immer neuen Beschlüsse241 beweisen, daß die Kriegsereignisse bzw. die Erfordernisse der technischen Ent¬ wicklung die traditionelle Amtsführung der Staatseinrichtung der Monarchie und den gemeinsamen Ministerrat überforderten. Der Chef des Generalstabes, Conrad v. Hötzendorf, der zu der bedeutendenKon- ferenz über die Verwendung der Kriegskredite und die Entwicklung der Kriegs¬ technik am 18. Juni 1915 ebenfalls geladen war, hat auf die Vorwürfe des un¬ garischen Finanzministers Teleszky,242 der die Verschwendung der Heeresver¬ waltung beanstandet und mit unzähligen Beispielen illustriert hatte, gereizt gefragt, wo eigentlich gespart werden solle, und wozu überhaupt diese fortwährenden Kon¬ ferenzen eigentlich dienten. (Also die Formel Stürgkhs über die automatische Befriedigung der durch den Krieg gestellten Ansprüche in roher Fassung.) Die Ministerkonferenz befaßte sich am 12. Dezember 1915 unter anderem wieder mit einer vollendeten Tatsache, die die Heeresleitung bei der Materialversorgung geschaffen hatte. Die Heeresverwaltung begründete die Umgehung des vorge¬ schriebenen Weges mit der Dringlichkeit der Angelegenheiten. Es wurde nun ein konditioneller Beschluß gefaßt, wonach in derlei Angelegenheiten möglichst mit Wissen der beiden Regierungen vorgegangen werden sollte.243 Alles war jedoch vergeblich. Die immer schnellere Bewegung der Kriegsmaschi¬ nerie überholte die traditionelle Erledigung der Angelegenheiten immer von neuem. Die Kraft, als deren Exponent Berchtold den Krieg in Gang gesetzt hatte, drängte immer weitere Gebiete des Wirtschaftslebens der Monarchie in den Dienst des Krieges. In der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 3. Juli 1916 hat Istvän Tisza im Zusammenhang mit Industriebetrieben, die ohne vorherigen Minister¬ ratsbeschluß eingerichtet worden waren, gesagt: ».. . bezieht sich auf die in früheren gemeinsamen Ministerkonferenzen getroffenen Vereinbarungen, laut denen der Kriegsminister bei allen Bestellungen, welche über die Deckung des laufenden Bedarfes auf die zur Sicherung der Kontinuität des vollen Betriebes in den Industrieunternehmungen notwendige Zeit hinausgingen, an die vorherige Zustimmung der Regierungen gebunden sei. Er müsse zu seinem Bedauern constatieren, daß das Kriegsministerium durch die Errichtung ganz neuer Werke und Erweiterung der Bestehenden seine Befugnisse überschritten und eine schwere Verantwortung auf sich geladen habe«.244 Sehr interessant ist, was Tisza in seinem Protest teils als Begründung, teils in Form eines weiteren Protestes weiter erklärte. Auf Grund der vorhergegangenen Ministerratsbeschlüsse bestehe keinerlei Zweifel, sagte Tisza, daß es nicht genüge, wenn sich das Kriegsministerium bei Schaffung neuer Industrieanlagen das kon¬ sultative Votum der Regierungen einhole. Neue Betriebe dürften nur in vollem Einverständnis mit den Regierungen und auf Grund vorhergehender Minister¬ ratsbeschlüsse errichtet werden. Das regelwidrige Vorgehen der Heeresverwaltung treffe besonders die ungarische Industrie. Die nachteilige Lage der ungarischen Industrie sei eine Gegebenheit aus der Vergangenheit und es müsse hier Abhilfe geschaffen werden. Die Heeresverwaltung habe aber durch die neuen Kriegs¬ betriebe die Waage noch mehr zugunsten Österreichs bzw. zum Nachteil Ungarns herabgedrückt. Der größere Teil der Betriebe wurde nämlich in Österreich er- 74 || || richtet.245 Die ungleiche, widerspruchsvolle wirtschaftliche Struktur der Monarchie wurde durch die kriegsbedingten Verfügungen weiter zergliedert und noch un¬ gleichmäßiger. Die Mißachtung der ungarischen industriellen Interessen können wir nicht nur auf das Konto des österreichischen Chauvinismus schreiben. Die Befriedigung der Anforderungen der Kriegsmaschinerie konnte nicht aufgeschoben werden, das Kriegsministerium mußte sich also notgedrungen an das über eine entwickeltere Wirtschaft verfügende Österreich wenden, das den immer höheren Ansprüchen der Kriegstechnik schneller und besser entsprechen konnte. Klagen kamen natürlich auch weiterhin in den Beratungen der gemeinsamen Ministerkonferenz vor, als Zeichen dafür, daß die kriegsbedingte Entwick¬ lung des Wirtschaftslebens, besonders jener Elemente, die ich als technisch bezeichnete, dem gemeinsamen Ministerrat über den Kopf gewachsen sind. Auf der Ministerkonferenz vom 24. Februar 1917, aufder darüber verhandelt wurde, welche Auswirkungen das die Kriegswirtschaft und die Kriegsindustrie Deutschlands zu maximalen Leistungen drängende Hindenburg-Programm auf Österreich-Ungarn haben werde, stellten abermals die Mitglieder der ungarischen Regierung, Tisza und Teleszky fest, »das von der Heeresverwaltung aufgestellte Programm übersteige die wirtschaftlichen Kräfte der Monarchie«.246 Zur gleichen Zeit haben bezeichnenderweise dieselben Personen, in deren Kritiken die Wörter »übersteigt«, »übertrifft«, »überspannt« stets wiederkehrten, auch selbst auf die Gründe verwiesen, die das wirtschaftliche, politische Leben des Habsburgreiches und seine Regierung überlastet haben. Istvän Tisza, der im gemeinsamen Minister¬ rat vom 24. Februar 1917 den Vorsitz führte, »verkündet... als den Beschluß der Konferenz, daß volles Einvernehmen darüber bestehe, die maschinelle Leistung im Kriege auf das denkbarste Maximum zu erhöhen, um das Menschenmaterial zu schonen«.247 Es wurde abermals erklärt, daß zu jeder weiteren kriegsindustriellen Investition die Einholung der Zustimmung beider Regierungen notwendig sei.248 Kriegs¬ minister Stöger-Steiner, der doch der »verfassungsrechtlichen« Empfindlichkeit der österreichischen und der ungarischen Regierung bedeutend mehr Verständnis entgegenbracbte als Krobatin, hat im gemeinsamen Ministerrat vom 2 -- 5. Juli 1917 den Beschluß vom 24. Februar ein Hindernis der Versorgung der Kriegs¬ maschinerie genannt. Seiner Ansicht nach genüge es nicht, m der Fabrikation von Geschützen, Munition und Sprengmitteln und anderen Kriegsgeräten die kon¬ tinuierliche Produktion zu sichern, sondern es müsse unter allen Umständen sofort für die Deckung des angewachsenen Bedarfes gesorgt werden. Und dies, nämlich die Kontinuität der Produktion werde durch die Forderung, bei jeder Gelegenheit die vorherige Zustimmung der Regierungen einzuholen, unmöglich gemacht. Auf dem Wege der erfolgreichen Kriegsführung ist die normale, traditionelle Weise der Erledigung der Angelegenheiten zu einem gefährlichen Hindernis geworden.^ Im gemeinsamen Ministerrat vom 28. Oktober 1917 brachte Kriegsminister Stöger-Steiner die Frage der Zustimmung der Regierungen abermals zur Sprache. Die roten Lichter der Proteste, die die Klagen über die Umgehung der konstitu¬ tionellen Formen bei Befriedigung der stets anwachsenden Anforderungen der Kriegstechnik anzeigten, flammten im gemeinsamen Ministerrat immer von neuem 75 || || auf. Der Kriegsminister verlangte nun, die Zustimmung der Regierungen mö¬ ge in einer Form gesichert werden, die unter allen Umständen die schnellste Erledigung der Angelegenheiten ermöglicht. Wenn dies nämlich nicht gesichert wird, erklärte er, wäre er gezwungen, auf eigene Verantwortung, selbständig und gegen den Ministerratsbeschluß vorzugehen. Der österreichische Finanzminister bestand auch weiterhin darauf, daß Investitionen der Heeresverwaltung nur auf Grund von Ministerratsbeschlüssen vorgenommen werden dürfen. Czernin stellte einen überbrückenden Antrag, der bereits ebenfalls eine sukzessive Zerschlagung der durch die Gesetze festgelegten Amtsführung anzeigte. Er schlug vor, zur Erreichung der von der Heeresverwaltung gewünschten schnellen Erledigung (Automatismus Stürgkhs!) sollte der Kriegsminister seine Mitteilungen über neue Investitionen auf kurzem Wege unmittelbar den interessierten Finanzministern zukommen lassen. Ich behaupte nicht, daß dieser Antrag die Erledigung der Angelegenheiten mit meritorischer Umgehung der Ministerpräsidenten, also der verantwortlichen Leiter der Regierungen bewerkstelligen lassen wollte. Doch besteht kein Zweifel, daß der Antrag Czernins die Umgehung der traditionellen Formen und die Zer¬ schlagung der alten Formen bedeutete. Die angeführten Beispiele zeigen, daß der reißende Strom der Kriegsereignisse die wirtschaftlichen Grundlagen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie weggespült und der Zerfall dieser Grund¬ lagen die Destruktion, die Deformierung der in der Konstitution vorgeschriebenen Art der Regierungs- und Amtsführung nach sich gezogen, sie von ihrem ursprüng¬ lichen Weg abgeleitet hat. Der Krieg ist eine furchtbare Erscheinung im Leben der menschlichen Gesell¬ schaft, die unter anderem die wirtschaftliche Grundlage des Lebens der Völker zerrüttet, besonders dadurch, daß sie die Menschen zu einer beispiellosen, jedoch sehr einseitigen Kraftanstrengung nötigt. In den unserem Zeitalter am nächsten liegenden Zeiten der Menschheitsgeschichte konzentriert sich die Kriegsanstren¬ gung immer mehr auf die Entwicklung der Technik. Wie ich bereits früher fest¬ gestellt habe: das Tempo der technischen Entwicklung steigert sich gerade unter den kriegerischen Verhältnissen in einem Maße, daß dies auch in der Tätigkeit der Selbstregierungseinrichtungen der bürgerlichen Gesellschaft bemerkbar wird. Deshalb wagte ich, das Verhältnis von Technik und Amtsführung in der Art und Weise zu charakterisieren, in der die Regierungseinrichtung Österreich-Ungarns auf die Ereignisse des ersten Weltkrieges reagiert hat, um dieses eigenartige Ver¬ hältnis (zwischen Technik und Amtsführung) auf eine entsprechende Formel brin¬ gen zu können. Ich möchte klar festlegen: ich wollte keine Gesetzmäßigkeit fest¬ stellen, sondern gewisse Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung, was meiner Ansicht nach als Ausgangspunkt für weitere geschichtshilfswissenschaftliche und amtsgeschichtliche Forschungen dienen kann, die sich auch die Erforschung von Gesetzmäßigkeiten zur Aufgabe stellen.250 XVI Wir wollen nun unsere Aufmerksamkeit auf jene Daten konzentrieren, die die Funktion des gemeinsamen Ministerrates, genauer seine Funktion während des Weltkriegs beleuchten. Aus den bisher behandelten Fällen war schon ersichtlich, 76 || || daß sich in der Tätigkeit des höchsten Regierungsorgans der Monarchie im Welt¬ kriege so manches Symptom des Einflusses der Kriegsverhältnisse zeigte. Bei Behandlung der Entstehung der dualistischen Staatseinrichtung war bereits davon die Rede, daß die Funktion des gemeinsamen Ministerrates niemals im einzelnen geregelt wurde. Auch die Gesetze, die über die gemeinsamen Angelegen¬ heiten nach 1867 erlassen wurden, konnten die Lücken der Grundregelung des Ausgleichs nicht ausfüllen. Durch diese Gesetze wurde nur die Lösung einiger Detailfragen mehr praktischen Charakters, ja meist nur unbedeutender politischer Probleme formuliert, welche Fragen nicht mehr länger offen gelassen werden konnten.251 Wie nun das höchste Regierungsorgan der Österreichisch-Ungarischen Monarchie innerhalb der nur negativ definierten, fast ganz verschwommenen Grenzen funktionierte, kann eben mangels präziser gesetzlicher Regelungen bloß auf Grund von Daten, die aus der Beobachtung dieser Funktion abgeleitet wurden, annähernd festgestellt werden. Der »Reichs«-Finanzminister Menyhert Lönyay hat am 26. August 1871 den »Reichskanzler« Baron Beust gebeten, eine gemeinsame Ministerkonferenz einzu¬ berufen, um den in einer gewissen Finanzfrage zwischen ihm und dem »Reichs«- Kriegsminister entstandenen Gegensatz zu beseitigen. Nicht nur die Wichtigkeit der Frage, sondern auch die Förderung des erwünschten Übereinkommens be¬ gründeten eine Sitzung des gemeinsamen Ministerrates.202 In dem Wunsche Lönyays erscheint schon ganz am Anfang eine später allgemein gewordene Variante der Funktion des eben gebildeten obersten Regierungsorgans: die Erledigung der zwischen den einzelnen Ministerien aufgetauchten strittigen Fragen. Diese Konturen der Funktion des gemeinsamen Ministerrates zeichneten sich dann in ihrer ganzen Schärfe im Laufe des Weltkrieges ab. Außer den bereits behandelten Fragen bzw. Angelegenheiten des Weltkrieges fällt aus dem folgenden Fragenkomplex ein besonders scharfes Licht auf die Eigenheiten der Funktion des gemeinsamen Ministerrates: Ministerpräsident Istvän Tisza hat mit Schreiben Nr. 453/res. ME. vom 27. Januar 1915 den gemeinsamen Minister des Äußern, Istvän Buriän ersucht, in nächster Zeit eine gemeinsame Ministerkonferenz einzuberufen, weil »in bezug der auf Konto der Kriegskredite verrechneten Aus¬ gaben und im allgemeinen bezüglich der mit dem Krieg im Zusammenhang stehenden wirtschafthchen Fragen mehrere hochwichtige Fragen aufgetaucht sind, deren Besprechung zwischen den Regierungen und Bereinigung notwendig erscheine«.253 Um die fachgemäße Behandlung der Fragen zu sichern, schlug Tisza vor, zur Sitzung außer den Mitgliedern der gemeinsamen Regierung auch die beiden Ministerpräsidenten, die Finanz-, Landesverteidigungs- und Handels¬ minister beider Regierungen einzuladen. Buriän gab Tiszas Ersuchen statt und berief eine der kritischsten Ministerkonferenzender im Kriege stehenden Monarchie ein.254 Eben der von Tisza bzw. von der ungarischen Regierung beantragte Be¬ schluß des gemeinsamen Ministerrates in der Angelegenheit der Mobihsierungs- kredite riefbei der obersten Heeresleitung großes Befremden hervor. Auf Ansuchen des Armeeoberkommandos vom 18. Februar 1915255 hat der gemeinsame Kriegs¬ minister Krobatin unter Berufung darauf, daß von der gemeinsamen Minister¬ konferenz im wesentlichen nur für einen Zeitraum von 3 Monaten Investitionen 77 || || zu Lasten der Mobilisierungskredite bewilligt wurden, Buriän gebeten, neuerlich einen Ministerrat einzuberufen, nm diesen, die Kriegsführung der Monarchie lähmenden Beschluß rückgängig zu machen. Vor einer Stellungnahme in dieser heiklen Angelegenheit hat Buriän beide Ministerpräsidenten ersucht, ihren prinzipiellen Standpunkt zu diesem Wunsche der Militärkreise darzulegen. Der österreichische Ministerpräsident Stürgkh erklärte mit einer halb abwehrenden Geste, der beanstandete Beschluß sei von der ungarischen Regierung ausge¬ gangen. Er sei jedoch überzeugt, daß es nicht das Ziel der ungarischen Regierung sein könne, die schon in Durchführung befindlichen Bestellungen der Heeresver¬ waltung zu verhindern. Er nehme gerne auch an einer weiteren Konferenz teil, doch sei er der Meinung -- und diese Feststellung beleuchtet ausgezeichnet den Charakter der gemeinsamen Ministerratssitzungen --, daß die Standpunkte auch außerhalb der Konferenzen in prinzipiellen Gleichklang gebracht werden könnten, und zwar entweder durch direkten Notenwechsel der beiden Regierungen mit der Heeresverwaltung oder durch Vermittlung des Ministers des Äußern. Eine der Hauptfunktionen des gemeinsamen Ministerrates war, den Standpunkt der beiden Regierungen und anderer wichtiger Faktoren der Monarchie in Einklang zu bringen. Istvän Tisza erklärte in seinem Antwortschreiben vom 1. März, es handle sich hier um ein aus der unglücklichen Formulierung im Protokoll des Ministerrates vom 3. Februar herrührendes Mißverständnis. Die ungarische Regierung hatte nicht den Wunsch, bei allen für Kriegszwecke notwendigen schwerindustriellen Bestellungen einen dreimonatigen maximalen Termin festzulegen, sondern die Bestellungen in einem Rahmen zu halten, in dem die maximale Leistungsfähigkeit der Fabriken gesichert werden könne -- wie dies auch in der einstimmig ange¬ nommenen Formel der Ministerkonferenz ausgedrückt worden sei. Es wurde also kein starrer Termin gewünscht, sondern die Feststellung eines Zeitraumes, der zur Sicherung der ständigen Produktion und der vollen Lieferfähigkeit erfor¬ derlich ist. Zweck des Beschlusses sei nur gewesen, Bestellungenüberdiesen elastisch festgestellten Termin hinaus zu verhindern, damit die Heeresverwaltung nicht gezwungen sei, noch nach Kriegsende überflüssigerweise Kriegsmaterial und andere Ausrüstungsgegenstände zu übernehmen, deren Kosten eine unnötige finanzielle Belastung der durch den Krieg ohnehin in hohem Maße in Anspruch genommenen Bevölkerung bedeuten würde. Deshalb halte er die Einberufung einer neuerlichen Ministerkonferenz für gänzlich überflüssig. Die Debatte war jedoch damit nicht beendet, denn das Armeeoberkommando war der Ansicht, daß zwischen dem Standpunkt Tiszas einerseits und dem des Ministers des Äußern und Stürgkhs andererseits ein scharfer Unterschied bestehe. Letztere hatten besonders verfassungsrechtliche Bedenken. Sie hielten es für gefährlich, wenn der Ministerrat seinen Wirkungsbereich weit überschreitet und zu einer Zeit, da die Delegationen nicht tagen, sich schon auf die nächste Budget¬ periode auswirkende finanzielle Beschlüsse faßt. (Wenn auch nur in Klammern, möchte ich doch auf meine bei Analyse des Aufgabenkreises des gemeinsamen Ministerrates gestellte einleitende Frage zurückgreifen: hat nicht der gemeinsame Ministerrat mit seinem unklaren Wirkungsbereich die eine oder andere Funktion der aktionsunfähig gewordenen Delegationen übernommen?256 Unter den Ver- 78 || || hältnissen des Weltkrieges, wo selbst weniger komplizierte Staatsorganisationen durch den schnellen Gang der Ereignisse, durch die zahlreichen, schnell zu erledi¬ genden Angelegenheiten überlastet wurden, trat nun diese Möglichkeit ein, und zwar - wie es eine ganze Reihe von Dingen, die unserer Frage ähnlich sind, beweisen -- nicht nur ein einzigesmal.)257 Interessant ist, daß der ansonsten gerade in verfassungsrechtlichen Fragen sehr empfindliche Tisza hier einen ungewohnt elastischen Standpunkt vertreten hat. Seiner Meinung nach mußten alle, auch die finanziellen Gesichtspunkte unbedingt den Anforderungen der maximalen militärischen Kraftanstrengung der Monarchie untergeordnet werden.258 Die Armee hat sich aber auch diesem Beschluß, der doch als elastisch betrachtet werden kann, nicht angepaßt. Offenbar konnte sie das auch gar nicht, denn die Gesetzmäßigkeit des Krieges hat ja die morschen Rahmen des staatlichen Lebens der Monarchie notwendigerweise durchbrochen. Tisza sah sich in seinem am 31. Mai an den gemeinsamen Minister des Äußern, Buriän, gerichteten Schreiben259 abermals genötigt, gegen Übergriffe des Armeeoberkommandos zu protestieren und die strenge Einhaltung der Beschlüsse der Ministerkonferenz vom Februar zu fordern.280 Diese Proteste, die ich als rote Lampen zum Anzeigen von Störungen im norma¬ len Gange der Amtsführung der Monarchie bezeichnet habe, beleuchten so recht die niemals positiv festgelegten Grenzen des Wirkungsbereichs des gemeinsamen Ministerrates. Kurz nach der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 8. Juli 1915 schrieb der ungarische Ministerpräsident an Buriän :261 »In zuständigen ungarischen Regierungskreisen hat es peinlichstes Aufsehen erregt, daß die 5. Abteilung des Rriegsministeriums in der Frage des Petroleums und des Erdöls noch Ende Juli, ja sogar Anfang August Verfügungen getroffen hat, die den Beschlüssen des gemein¬ samen Ministerrates vom 8. Juli diametral entgegengesetzt sind.« Auf dieses An¬ suchen sandte der Kriegsminister die Fachreferenten der Angelegenheit zu Tisza. Im Laufe ihrer Besprechung stellte sich dann heraus, daß sie die entsprechenden Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates nicht einmal kannten. Tisza schreibt nun, da ». .. die endgültige Fertigstellung der Protokolle der gemeinsamen Mini¬ sterkonferenzen geraume Zeit in Anspruch nimmt, habe ich die Ehre, mich an Eur. Exzellenz mit der Bitte zu wenden, in Zukunft die eine dringende Durch¬ führung erfordernden Feststellungen solcher Konferenzen möglichst sogleich nach Abhaltung der Konferenz abfassen und den Teilnehmern der Konferenz noch vor Fertigstellung des Protokolls zustellen zu lassen«. Bezeichnend für die aus der Kompliziertheit des politischen und Verwaltungsapparates der Monarchie resultierende Schwerfälligkeit, Hilflosigkeit, für die Fahrlässigkeit ja Indolenz der Beamten, deren Aufgabe es war, zu disponieren, und die diese strukturellen Fehler ausnutzten, ist die Tatsache, daß Ministerpräsident Tisza in seinem Brief vom 31. August 19 1 5262 noch immer zu der Feststellung genötigt ist, trotz seiner unlängst vorgebrachten Beschwerde und seiner mit den zuständigen Referenten geführten Besprechung, sei »der Beschluß der gemeinsamen Ministerkonferenz über die Evakuierung des galizischen Petroleums und darüber, daß die beiden Regierungen über den aus Galizien nach Österreich und nach Ungarn gerichteten 79 || || Verkehr informiert werden sollen, bis zum heutigen Tage nicht durchgeführt«. Der abschließende Teil des Briefes verweist auf einen Umstand, der auch in ande¬ ren, ähnlichen Fällen zu beobachten ist: da die Ausgleichsgesetze Funktion und Aufgabenkreis der gemeinsamen Institutionen, so auch des gemeinsamen Minister¬ rates nicht ausreichend festgelegt hatten, müssen noch in den letzten Stunden der Monarchie Wege gesucht werden, um den Beschlüssen des höchsten Regierungs¬ organs des Reiches Geltung zu verschaffen. Tisza schreibt dazu an Buriän: »Mit dem Bemerken, daß ich die Durchführung der Beschlüsse beim Herrn Kriegsminister urgiert habe, beehre ich mich den Fall Eur. Exzellenz als dem Vor¬ sitzenden des gemeinsamen Ministerrates mit der Bitte zur Kenntnis zu bringen, die Durchführung der Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates durch die einzelnen Flerren gemeinsamen Minister auf geeignete Weise sichern zu wollen.«203 Noch klarer als das Material der eingehend erörterten Debatten wird die Frage nach den Unklarheiten der Ausgleichsgesetze und den Versuchen, der uferlosen Amtsführung des gemeinsamen Ministerrates Richtung und Rahmen zu schaffen, durch ein Ansuchen Istvän Tiszas am 24. Mai 1916 an den Minister des Äußern Buriän beleuchtet.204 Tisza beschwerte sich, daß die Militärbehörden bei den Investitionen der Industrien beider Staaten eigenmächtig Vorgehen. Und führt dann fort: »Der über diese Fragen entstandene Schriftwechsel hat die Lage nicht genügend beleuchtet und bietet nicht genügend Gewähr, daß sich ähnliche Er¬ scheinungen im weiteren Verlaufe des Krieges nicht wiederholen werden. Infolge¬ dessen schlage ich seitens der kgl. ung. Regierung die Abhaltung einer gemein¬ samen Ministerkonferenz vor . . ., deren Aufgabe es wäre, die bisherigen derartigen Anlagen festzustellen, über das Schicksal derselben zu beschließen und für die Zukunft auch für den Herrn k. und k. Kriegsminister unbedingt verbindliche Vereinbarungen zu treffen.« In Tiszas Formuherung ist es also Aufgabe des gemeinsamen Ministerrates die endgültige Behandlung der strittigen Fragen, die im Schriftwechsel, im Notenwechsel zwischen den beiden »unabhängigen« Regierungen nicht erledigt werden können, auf Grund der Konferenzdebatte und der vorgebrachten Argumente eine Verein¬ barung zu treffen, die den Charakter eines für jeden verbindlichen Beschlusses hat. Der Umstand, daß der Aufgabenkreis des gemeinsamen Ministerrates nicht gere¬ gelt war, hat natürlich auch bereits vor dem Weltkrieg Verwicklungen bzw. Situationen geschaffen, in denen nachdrücklich gefordert werden mußte, daß die Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates von den zuständigen Stellen unter allen Umständen zu respektieren seien. Der ungarische Finanzminister Läszlö Lukäcs z. B.265 hat beim Minister des Äußern Aehrenthal dagegen protestiert, daß der Chef der Marinesektion des k.u.k. gemeinsamen Kriegsministeriums in seiner Zuschrift zur Befestigung des Deiches im Kriegshafen von Pola um einen weiteren Nachtrags- bzw. außerordentlichen Kredit ersuchte. Im Ministerrat vom 6. und 20. November »sind zwischen den die Regierungen der beiden Staaten vertretenden Ministerpräsidenten und Finanzministern, weiter den Herren gemeinsamen Ministern endgültige Vereinbarungen über den Rahmen des gemeinsamen Budgets für das Jahr 1911 zustande gekommen«. Er ersucht daher, daß Aehrenthal ».. . als Vorsitzender der eingangs erwähnten gemeinsamen Ministerkonferenzen dahin 8o || || wirken wolle, daß den Vereinbarungen der Konferenz seitens der Herren gemein¬ samen Minister und aller ihnen unterstellten Organe Geltung verschafft werde«.266 Fast ein halbes Jahrhundert schon wurden die Angelegenheiten des Habsburg¬ reiches auf höchster Ebene vom gemeinsamen Ministerrat gelenkt, als dieser Wunsch Tiszas erfolgte, und noch immer konnte nur durch einen separaten Be¬ schluß seine Aufgabe unmißverständlich bestimmt, das Wesen seiner Funktion erfaßt werden. Doch selbst aus den energischen Worten des ungarischen Minister¬ präsidenten, der alle ungelösten Probleme der in höchste Gefahr geratenen Mon¬ archie erkennt, geht nicht hervor, wie aus der Entscheidung des gemeinsamen Mi¬ nisterrates ein für jedermann verbindlicher Beschluß werden sollte. Dazu stellte Tisza in den Debatten im Frühjahr und Sommer des Jahres 1915 einen anderen Antrag. Als er sah, daß das Armeeoberkommando einfach nicht geneigt war, die Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates zur Kenntnis zu nehmen, was sich in der Staatsführung als unberechenbare, immer wieder hemmende Kraft zeigte, erklärte er es für unumgänglich notwendig, die Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates dem Herrscher zur Billigung vorzulegen, damit sie nach ihrer Genehmigung eine für jedermann verbindliche Richtschnur würden.TM In dem für die Rolle der Monarchie im Weltkrieg vielleicht entscheidensten gemeinsamen Ministerrat vom 19. Juli 1914 wurde, eben um Tiszas Widerstand zu überwinden, ein Beschluß gefaßt,268 den die gemeinsamen Minister, zumindest ein Teil derselben, zu Beginn des Jahres 1916 bereits als überholt betrachteten. Buriän stellte fest, in Ermanglung eines neuerlichen Beschlusses, sei der vom 19. Juli 1914 noch in Geltung.269 Der Chef des Generalstabes Conrad trat dafür ein, den Beschluß aus dem Jahre 1914 möglichst schnell durch einen anderen zu ersetzen. Da wir die Funktion des gemeinsamen Ministerrates und den Charakter seiner Beschlüsse mit Hilfe der bedeutendsten Dokumente seiner Tätigkeit, der Sitzungs¬ protokolle festzustellen versuchen, ist die Feststellung, die der österreichische Ministerpräsident Stürgkh in dieser Debatte machte, am inhaltsreichsten: obwohl die Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates nicht die Kraft von Reichsgesetzen haben, sei der Beschluß vom 19. Juli 1914 noch in Geltung, denn es wurde kein anderer gefaßt. Das Negativum der Definition Stürgkhs streift vermutlich ganz zufällig die äußersten Grenzen der Funktion des gemeinsamen Ministerrates: Stürgkh spricht davon, daß die Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates nicht den Charakter von Reichsgesetzen haben. Er vergaß allerdings zu erwähnen, daß es in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie Reichsgesetze überhaupt nicht gab. In Friedenszeiten gab es einen halbwegs gangbaren Weg, für das ganze Reich gültige Gesetze zu erlassen, indem beide Parlamente getrennt die notwendigen Verfügungen in Gesetzesform annahmen. Die Kriegsereignisse ließen hierfür keine Zeit. Aber es war auch keine Zeit für eine entsprechende Praxis, allgemein gültige Entscheidungen in gesetzmäßige Form zu fassen; Stürgkhs Bemerkung zeigt, was auch in anderer Beziehung bemerkt werden kann, daß der gemeinsame Ministerrat notgedrungen zum Forum derartiger Entscheidungen geworden war. Teilweise die Funktion der Delegationen übernehmend, versah er Aufgaben, die in den Bereich der Gesetzgebung gehören. Auf diesem Wege konnte er jedoch wegen der eigenartigen Stellung der Ministerräte im bürgerlichen Verfassungsleben 6 Komjäthy: Protokolle 8i || || nicht weiter hinausgelangen -- wofür wir schon Beispiele gezeigt haben -- als in Streitfragen zwischen den Regierungen der beiden Reichshälften, die ein einheit¬ liches Vorgehen erforderten, ein Übereinkommen zu treffen. Dieser unmittelbare Meinungsaustausch, nach dem in den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates immer wiederkehrenden Ausdruck: die »mündliche Ansprache« war die Haupt¬ funktion der gemeinsamen Ministerkonferenzen der Monarchie}10 Im wesentlichen kann jede Tätigkeit des höchsten Regierungsforums in diese Definition zusammengefaßt werden. So vor allem die von Zeit zu Zeit erfolgende Erörterung der außenpolitischen Lage.271 Oft war die veränderte Lage der Anlaß, eine gemeinsame Ministerkonferenz einzuberufen.272 Noch ganz am Anfang des Krieges, im gemeinsamen Ministerrat vom 31. Okto¬ ber 1914 hat Tisza den Minister des Äußern Berchtold aufgefordert, ein Memoran¬ dum über die minimalen und maximalen Kriegsziele der Monarchie auszuarbeiten, welche territoriale Forderungen sie habe und auf welche Kriegsentschädigung sie Anspruch erhebe. Er möge die Grundsätze der Friedensbedingungen und der Kriegsentschädigung mit den maßgebenden pohtischen Faktoren besprechen und die Fragen sodann Deutschland vorlegen. Das derart vorbereitete Memorandum sollte dann als Grundlage zur Behandlung dieser Probleme im gemeinsamen Mini¬ sterrat dienen. Auch hieraus erhellt der Mechanismus der Arbeit des gemeinsamen Ministerrates, seine Aufgaben und deren Lösung. Mit der Bestimmung seiner Funktion und seiner Aufgaben hängt die Fest¬ legung seines Wirkungsbereichs eng zusammen. Wie bereits erwähnt, hat das ungarische Ausgleichsgesetz, das auch in dieser Hinsicht ausführlicher ist als das österreichische, den Wirkungsbereich des gemeinsamen Ministerrates nur negativ definiert. Das hat sich natürlich in Zeiten, wo das höchste Regierungsorgan der Monarchie vor positiven, und zwar in schweren Zeiten vor dringenden Entschei¬ dungen stand, notwendigerweise als ungenügend erwiesen. Es ist kein Zufall, daß sich eben im Weltkriege, als das verfassungsmäßige Leben der Monarchie verzerrt wurde, der Rahmen der Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates abzu¬ zeichnen begann, dessen sorgfältige und weitsichtige Regelung bei Schaffung der Grundlagen für die dualistische Staatseinrichtung versäumtwurde, weil man damals den Schwierigkeiten einer bis in die Details gehenden konsequenten Ausführung aus dem Wege gehen wollte. In der Frage über die Ausdehnung des Wirkungsbereichs des gemeinsamen Ministerrates kann uns in gewissem Maße Tiszas Auftreten als Wegweiser dienen, der aufder Konferenz vom 31. Oktober 1914ebenin dieser Angelegenheit das Wort ergriff. Es handelte sich um die Ernennung eines Mihtärgouverneurs für das zum Kriegsgebiet gewordene oder unmittelbar an das Kriegsgebiet angrenzende Galizien. Über diese Angelegenheit referierte Berchtold: Der Armeeoberkomman¬ dant Erzherzog Friedrich hat in einem unmittelbar an den Herrscher gerichteten Vortrag die Ernennung eines Mihtärgouverneurs für Galizien und die Bukowina erbeten. Schon einleitend wies der Außenminister selbst darauf hin, daß die Frage eigentlich den österreichischen Ministerpräsidenten angehe und er sie bloß deshalb im gemeinsamen Ministerrat vorbringe, weil die Wiederherstellung nor¬ maler Verhältnisse in diesen Provinzen im Interesse der ganzen Monarchie liege.273 82 || || Die Regelung der konkreten Fragen sei Aufgabe der österreichischen Regierung. Trotzdem habe er die Frage der Ernennung eines Militärgouverneurs für Galizien hier zur Sprache gebracht, weil es wünschenswert sei, daß auch der gemeinsame Ministerrat hierzu Stellung nehme. Doch habe er auch aus dem Grunde so gehan¬ delt, weil die Lösung der Frage sich auch auf die außenpolitischen Verhältnisse auswirken könnte. Der gemeinsame Finanzminister Bilihski, der polnischer Abstammung war, protestierte scharf gegen die Ernennung eines Militärgouverneurs, denn seiner Mei¬ nung nach würde in den Augen der Polen durch den Amtsantritt des Militär¬ gouverneurs die Einordnung Polens als selbständigen Staates in den Rahmen der Monarchie im vorhinein unmöglich gemacht werden. Der ungarische Minister¬ präsident erklärte, daß er sich, falls es nur um die Ernennung eines General¬ gouverneurs ginge, nicht zu der Frage äußern wolle, denn in diesem Falle habe der gemeinsame Ministerrat kein Recht, sich in die Lösung der Frage ein¬ zumengen. Wenn es sich jedoch, dem Wunsche Bilihskis entsprechend, um die zukünftige staatsrechtliche Lage Polens in der Monarchie handle und dies¬ bezüglich entschieden werden soll, also in einer Frage, die die Verfassungsstruktur der Monarchie betreffe, sei allerdings der gemeinsame Ministerrat berufen, eine Entscheidung zu treffen. Der Ministerrat machte sich Tiszas Argumentation zu eigen und bestätigte damit formell die jahrzehntelange Praxis, die den Wirkungs¬ kreis des gemeinsamen Ministerrates auf die in den Ausgleichsgrundgesetzen fest¬ gelegten Prinzipien der staatsrechtlichen Struktur der Monarchie bzw. auf die diese tangierenden Fragen beschränkte.TM Wenn wir die Tagesordnungen der gemeinsamen Ministerkonferenzen über¬ blicken, kann zweifellos festgestellt werden, daß die behandelten Fragen die erwähnten Grenzen nur äußerst selten überschritten. Die Einberufung der Dele¬ gationen, die Erlangung der Gesetzeskraft ihrer Beschlüsse, der Verkehr mit ihnen, die Vertretung des gemeinsamen Ministeriums in den Delegationen, die Beant¬ wortung der an das gemeinsame Ministerium oder an einen der gemeinsamen Mi¬ nister gerichteten Interpellationen, mit dem gemeinsamen Heer verbundene Probleme, das Budget des Ministeriums des Äußern und des Kriegsministeriums, nach der Okkupation Bosniens und der Herzegowina Probleme, die mit der in oberster Instanz in den Händen des gemeinsamen Finanzministers zusammen¬ laufenden Verwaltung der besetzten Provinzen in Zusammenhang standen und nicht in letzter Linie die Exposes der Außenminister über die internationale Lage - dies waren die wichtigsten Punkte der Geschäftsordnung des gemeinsamen Ministerrates. Wenn wir versuchen, die Daten über die Tätigkeit des gemeinsamen Minister¬ rates im Weltkriege als Mosaiksteine in ein Bild zu fassen, können wir die Frage, ob der gemeinsame Ministerrat eine gemeinsame (Reichs-) Regierung Österreich- Ungarns war, nur mit Vorbehalten und Einschränkungen bejahen. Mit Vorbe¬ halten und Einschränkungen, weil der als höchstes Regierungsorgan gedachte gemeinsame Ministerrat kaum mehr war als das höchste beratende Organ der Krone und ein Debattenforum, wo versucht wurde, die oft entgegengesetzten Interessen der österreichischen und ungarischen Regierung und ihre entgegen- 6* * 83 || || gesetzten Anschauungen in Einklang zu bringen. Der österreichische Minister¬ präsident Stürgkh und auch andere nannten sich oft höchste Ratgeber der Krone 275 Das Gremium der höchsten Ratgeber der Krone, der gemeinsame Ministerrat, war das höchste beratende Organ der Krone. Worauf ich bereits verwiesen habe die persönlichen Gegebenheiten der beiden Herrscher im Weltkriege, das Alter Franz Josephs und Karls jugendliche Unerfahrenheit, Beeinflußbarkeit, seine Leichtfertigkeit, die einem an Naivität grenzendem guten Willen entsprang, waren vielleicht das einzige ernste Hindernis, daß innerhalb der Schranken der bür¬ gerlichen parlamentarischen Verfassung (deren Großteil durch den Weltkrieg ohnehm zerschlagen wurde) Macht und Rechtssphäre des Monarchen nicht in der Vollkommenheit des absolutistischen Zeitalters zur Geltung kamen.276 Im einzelnen konnte ich nicht untersuchen, wie diese Rechtssphäre gerade im Ver¬ hältnis zum gemeinsamen Ministerrat zum Ausdruck kam. Bei der Besprechung der Formalitäten der Protokolle werde ich die Frage der in den Protokollen vom Ausgleich bis zum Zusammenbruch der Monarchie gebrauchten, die Kenntnis¬ nahme durch den Herrscher anzeigenden Formel streifen. Die Formel hat in den Jahrzehnten des Dualismus nicht immer denselben Inhalt gehabt. Nur peinlich genaue Untersuchungen werden feststellen können, worin die eingetretene inhalt¬ liche Veränderung bestand.277 Die Tatsache der Kenntnisnahme (oder der Nicht- zurkenntmsnahme, wofür ich im übrigen kein Beispiel bringen kann) hatte auf wesenthche Dinge keinen Einfluß. Im ursprünglichen Sinne des Wortes hat diese jahrzehntealte Formel in den meisten Fällen tatsächlich nur die Kenntnisnahme des Inhaltes des Protokolls ausgedrückt. Im Weltkrieg ist der gemeinsame Ministerrat im allgemeinen immer hinter den Ereignissen nachgehinkt. Vom Augenblick der Kriegserklärung (genauer der Vor¬ bereitung der Kriegserklärung) an verschob sich die Initiative und Leitung zu der Kraft, die am einfachsten als Militärclique bezeichnet werden kann und die durch den Herrscher, den Minister des Äußern, den Chef des Generalstabs eventuell durch eine Gruppe der herrschenden Klasse repräsentiert wurde. Diese Kralt war den Entscheidungen des höchsten Regierungsorgans der Österreichisch- Ungarischen Monarchie, des gemeinsamen Ministerrates stets vorausgeeilt. Als Abschluß dieser Erörterungen, möchte ich die Aufmerksamkeit auf eine weitere eigenartige Symptomgruppe der Schrumpfung der Funktion des gemein¬ samen Mimsterrates als des höchsten Regierungsorgans der Monarchie lenken. Als wir das Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich im Weltkrieg untersuchten, sahen wir, wie die Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates vor den, für die Monarchie und ihre führenden Politiker ungünstigen Tatsachen der Wirklichkeit in die Welt des Scheins flüchteten. Die Unlösbarkeit der wirklichen Probleme hat die österreichisch-ungarischen Pohtiker auch auf anderen Gebieten in Illusionen gedrängt. Im wesentlichen war ihre ganze Anschau¬ ungsweise eine Illusion, sie wurde genährt aus dem Boden der Klassenzugehörigkeit der duahstischen Politiker. Der Boden aber wurde, wenn der Vergleich gestattet ist wahrend des Weltkrieges unfruchtbar und begann auch unter ihren Füßen weg- zugleiten. Ihre eigenartige pohtische Anschauung möchte ich strukturelle Anschau¬ ung nennen, was ausdrückt, daß ihr politisches Denken und damit ihre politische 84 || || Phraseologie grundlegend durch die dualistische Struktur Österreich-Ungarns deter¬ miniert wurde. Diese strukturelle Anschauung zeigte sich am ausdruckvollsten bei Istvan Tisza. Schon gegen die Auslösung des Krieges war er, weil er befürchtete ein mihtanscher Sieg der Monarchie könnte zur Annexion größerer serbischer Gebiete fuhren. Er hielt die Einverleibung größerer slawischer Gebiete für ver- eine unverdauliche Last, eine Gefahr für die innere Struktur der Mon- aTMh!e' In erster Lime befürchtete er, daß das mit starker Hand gesicherte »Gleichgewicht« im ungarischen pohtischen Leben durch das Aufsaugen weiterer Nationalitäten gestört werden könnte. In Tiszas Anschauung war aber der Bestand des ungarischen Nationalstaates von der Großmachtstellung der Österreichisch- Ungarischen Monarchie in engstem abhängig (und dies war, in Anbetracht der damaligen völkisch-territorialen Konsistenz Ungarns realistisch gesehen) Ja er betonte darüber hinausgehend gerade in einer Debatte im gemeinsamen Minister¬ rat auch die umgekehrte These (und von seinem Gesichtspunkt hatte er auch darin recht): die Großmachtstellung der Monarchie ist vom in jeder Hinsicht unver¬ sehrten Bestehen des ungarischen Nationalstaates abhängig.279 Die auf stark unterhöhltem gesellschaftlich-politischem Boden stehende Anschauung (Ungarn war ja ein Vielvölkerstaat), mußte fast notgedrungen zu irrealen, man, könnte sagen illusionistischen Folgerungen führen. Selbst bei einem so kühl und nüchtern urteilenden Staatsmann, wie Tisza es war. Als es durch die Siege der Zentral- mächte möglich schien, die polnische Frage der »austropolnischen Lösung« zuzuführen, d.h. im wesentlichen das gesamte polnische Gebiet dem Habsburg¬ reich anzughedern, wodurch Zisleithanien mächtige polnische Gebiete erhalten hätte, hat Tisza - bei Stürgkh großes Erstaunen auslösend - sofort den Anspruch Ungarns auf das bisher mit Österreich gemeinsam verwaltete Bosnien und Herzeg¬ owina und auf das von Österreich regierte, jedoch juridisch-formell zu den Ländern der Heiligen Ungarischen Krone gehörende Dalmatien angemeldet.280 Später aber, als offensichtlich wurde, daß Deutschland an der Westfront nicht siegenwerde und deshalb im Osten eine Entschädigung suchen müsse, und so die »austropolni- sche Losung« der polnischen Frage unmöglich wurde, beantragte Tisza, Bosnien- Herzegowina samt kleineren, vom Königreich Serbien abzutretenden Gebieten Österreich zu übergeben und. Ungarn aus dem damals zum großen Teil von den Mittelmächten okkupierten Rumänien zu entschädigen.281 Die beiden Anträge Tiszas zeigen den skeletthaften, strukturellen Charakter seiner Anschauung. In beiden Fällen ließ er das realistische Element seiner pohtischen Auffassung außer acht, daß nämlich der geringste Zuwachs der Nationahtäten Ungarns das innere Gleichgewicht in höchstem Maße gefährde, nur darauf bedacht, inner¬ halb der duahstischen Staatsstruktur einen territorialen und zahlenmäßigen Zu- wachs Österreichs sogleich durch einen ähnlichen Zuwachs des Ungarischen Königreiches auszugleichen. Dies war pohtischer Illusionismus. Und in dieser Sphäre wurden im Weltkrieg auch die Debatten im gemeinsamen Ministerrat geführt. Eigentlich könnte man aus jedem Blatt der gemeinsamen Ministerratsprotokolle während des Weltkrieges aufzeigen, von welchen Illusionen die Debatten erfüllt waren, wie unfähig sich die Staatsmänner erwiesen, die Probleme zu lösen. Aus 85 || || der Fülle dieses Materials möchte ich die Aufmerksamkeit nur auf eine Parallele und einige Daten lenken. Die Tagesordnung der nach Kriegsausbruch abgehaltenen ersten gemeinsamen Ministerkonferenzen wurde fast gänzlich durch die Erklärungen der Außen¬ minister über die außenpolitische Lage und die anschließenden Bemerkungen und Vorschläge der Konferenzteilnehmer ausgefüllt. Diese Situationsberichte und die anschließenden Debatten enthielten kaum ein reales Element. In den meisten Fällen haben die Minister ihre weiteren Folgerungen gar nicht auf die eigenen, sondern auf die außenpolitischen Schachzüge anderer Mächte und die davon erhoffte Änderung in der Konstellation aufgebaut. Es waren dies von illusionisti¬ schen Voraussetzungen ausgehende »hochpolitische« Erörterungen, die sich anfangs darum drehten, wie die Aktion der Monarchie gegen Serbien im Rahmen einer Strafexpedition gehalten werden könnte; als sich diese Hoffnung dann bald als irreal erwies, wurde die Jagd auf Neutrale zu immer aussichtsloseren und sich von der Wirklichkeit immer mehr entfernenden Debatten in luftleerem Raum. Keine Spur einer Erörterung der realen Grundlagen der Kriegführung und einer expansiven Außenpolitik. Besonders wurde niemals die vielfältige, bunte Kultur der Völker der Monarchie und der beispiellose, einander harmonisch ergänzende Reichtum ihrer Länder an Rohmaterialien in Rechnung gezogen. Die Probleme einer wirtschaftlichen »Planung« der Kriegführung tauchten erst auf, als es schon zu spät war. Eingangs war oft davon die Rede, wie das höchste geschäftsführende Organ der Habsburgmonarchie hinter den Kriegsereignissen zurückblieb. In demselben Maße wie das Tempo der Kriegsereignisse zunahm, verminderte sich die Möglichkeit, die Anforderungen des Krieges, in erster Linie der in schwindeler¬ regendem Tempo anwachsenden Anforderungen der Kriegstechnik (vom Auffen- berg-Programmbis zum Hindenburg-Programm) durch die Wirtschaft der Doppel¬ monarchie auch nur annähernd befriedigen zu können. Dieses beispiellose Zurück¬ bleiben zeigte sich schließlich in kläglichen Symptomen. Der gemeinsame Minister¬ rat vom 29. Juni 1917 wurde von Kaiser und König Karl mit der Erklärung eröffnet, es sei ein Lebensinteresse der Monarchie, ihre Volkswirtschaft vor einer Katastrophe zu bewahren.282 Der späte Nachkomme Rudolfs von Habsburg, Karls V., Ferdinands II. und Maria Theresias versuchte, sich in die Analyse der Kartoffel- und Grünzeugpreise in Österreich und in Ungarn vertiefend, den Aus¬ weg aus der Katastrophe zu suchen. Auf dem Verhandlungstisch des höchsten Regierungsorgans des Habsburgreiches, wo so viel darüber gesprochen wurde, welches die Bedingungen der Großmachtstellung der Monarchie seien, wurde ein Beschluß über den unmittelbaren Warenaustausch zwischen der mit dem Hunger kämpfenden Industriearbeiterschaft und der unter dem Mangel an Industrie¬ artikeln, Petroleum und Salz leidenden Bauernschaft gefaßt.283 Zu Beginn des Krieges (und noch weniger vor dem Kriege) kam in den gemeinsamen Minister¬ konferenzen das Problem, wie für die gigantischen Kraftanstrengungen eine wirt¬ schaftliche Basis geschaffen werden könnte, gar nicht zur Sprache. Die Beratungen des gemeinsamen Ministerrates waren mit Problemen der »hohen Politik« ausge¬ füllt, die selbst die verbündeten Deutschen für irreal hielten. Und inzwischen waren die wirtschaftlichen Grundlagen i*i Leben Österreich-Ungarns auf die 86 || || Sicherung der Bedingungen des Existenzminimums zusammengeschrumpft. Das höchste Regierungsorgan der einstigen Großmacht befaßte sich mit wirtschaftli¬ chen Fragen, die in normalen Zeiten allenfalls auf der Ebene kleiner Verwaltungs¬ behörden auftauchen konnten. Der politische und administrative Rahmen Österreich-Ungarns war noch unangetastet, als diese einst so mächtige wirtschaftliche Einheit in ihre Bestand¬ teile zu zerfallen begann. Im Ministerrat vom 29. Juni 1917 stellte Außenminister Czernin, wie in dem vom 24. September Generalmajor Landwehr, der Vorsitzende des gemeinsamen Ernährungsausschusses der Monarchie fest, daß sich nun¬ mehr nicht nur die einzelnen Länder und Provinzen bzw. Komitate, sondern auch schon Bezirke einander gegenüber starr abschließen, die Monarchie durch Ausfuhrverbote in winzige Wirtschaftseinheiten aufspalten.284 Die Behandlung der wirklichen Probleme Österreich-Ungarns auf höchster Ebene war einfach unmöglich geworden. Versuche zu einer realen Lösung der Probleme hätten den sofortigen Zerfall der durch den Ausgleich geschaffenen Staatskonstruktion nach sich gezogen. Die in erster Reihe zur Lösung der Probleme berufen waren, die höchsten Ratgeber der Krone, flüchteten vor der Wirklichkeit in selbsttäuschende Formeln. Die klassische Form für den Illusionismus der dualistischen Politiker fand vielleicht Tisza, der im Kronrat vom 22. März 1917 in einer längeren Rede versicherte, es bestehe kein Grund zum Verzagen: »Wir haben gesiegt!« Den Feinden der Österreichisch-Ungarischen Monarchie sei es nicht gelungen, ihr Kriegsziel, die Zerschlagung der Monarchie zu erreichen, und dies sei gleichbedeutend mit dem Siege.285 Der alte Wekerle, gleichsam das Symbol der zur Anpassung an die neue Lage nunmehr unfähigen Monarchie, hatte einige Tage vor dem Zerfall des vielhundert¬ jährigen Habsburgreiches das einzige Mittel zur Verhinderung des sich in un¬ zähligen, nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen Symptomen zeigen¬ den Auflösungsprozesses im starren Festhalten am Dualismus (wie Tisza) gesehen. Im gemeinsamen Ministerrat vom 27. September 1918, wo über die durch die bulgarische Kapitulation entstandene Lage beraten wurde, warnten sowohl er als auch Buriän vor pohtischen »Neuerungen«. Oberstes Prinzip müsse -- erklärte Buriän -- der Dualismus bleiben.286 Als bereits alles verloren war, glaubten selbst jene, die das Groteske in der Anschauung Wekerles klar erkannten, entweder (wie der österreichische Minister¬ präsident Hussarek), es sei wirklich am Platze, sich an die duahstische Konstruk¬ tion der Monarchie zu klammern, man sollte nur nicht zu viel darüber sprechen, oder sie meinten (wie der am weitesten gehende gemeinsame Finanzminister Spitzmüller), durch einfache strukturelle Änderung, durch Einführung des Trialis¬ mus an Stelle des Dualismus den Zusammenbruch der Monarchie verhindern zu können.287 Auf der letzten Sitzung des gemeinsamen Ministerrates, am 22. Oktober 1918288 hat Wekerle gleichsam als komprimierte Äußerung der strukturellen, illusionisti¬ schen Anschauung der dualistischen Politiker erklärt, wenn überhaupt über eine Vereinigung der Südslawen gesprochen werden könne, so nur unter der Krone des Heiligen Stephan.289 Die eigenartige, dualismus-zentrische Anschauung 87 || || wurde in seiner und seiner Kollegen politischen Denkweise derart vorherrschend, daß deren Elemente in ihrem Bewußtsein die Tatsachen der Wirklichkeit ersetzten. Das war für sie die Wirklichkeit und nach dieser haben sie ihr Verhalten und ihre Entscheidungen gerichtet. Auf dem Boden dieser Schein-Wirklichkeit stehend forderte Berchtold nach dem Attentat von Serajewo eine »Kraftäußerung« von der Armee der damals schon kranken Monarchie und davon ausgehend sprach Buriän in seiner Antrittsrede über die Politik des Selbstbewußtseins, der Kraft und der Würde der Großmachtstellung.290 Und als die Amtsführung der Öster¬ reichisch-Ungarischen Monarchie im Strom der Kriegsereignisse nicht nur zurück¬ blieb, sondern im Wettrennen mit ihnen bereits den Atem verlor und im letzten gemeinsamen Ministerrat auch der Chef des Generalstabes, Baron Arz, den soforti¬ gen Waffenstillstand forderte, hielt Wekerle dieser Schein-Wirklichkeit entsprechend das Tempo für zu schnell.291 Die Funktion des obersten Regierungsorgans des dahinsiechenden Habsburgreiches erschöpfte sich darin, die Schein-Tatsachen der Welt der Illusionen zu erwägen.282 XVII Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates gehören formell in die Reihe der Protokolle der unter dem Vorsitze von Erzherzog Rainer, Schmerling, Belcredi und Beust abgehaltenen österreichischen Reichsministerratssitzungen. Die Praxis der Registratur ist ebenfalls ein Zeichen dafür, daß die Österreicher den gemeinsa¬ men Ministerrat als österreichisches Reichsorgan betrachteten. Im weiteren möchte ich die Abfassung und die Registrierung der Protokolle mit einigen Daten beleuchten. Die Protokolle vor und nach dem Ausgleich hatten gleicherweise zwei Akten- (bzw. laufende) Nummern. Die eine, K.Z. war vor 1867 niemals eine kurrente Zahl (auch bei den Protokollen aus der Zeit des Weltkrieges kommen manchmal Unterbrechungen vor), sondern eine offenbar mit anderen Produkten der Tätig¬ keit des gemeinsamen Ministerrates gemeinsame Nummer der Protokolle; die andere, die M.R.Z. (vor 1865 M.C.Z., im Jahre 1868 manchmal: R.M.C. Pr.Z. bzw. R.M.R. Pr. Z., ab Sitzung vom 13. IV. 1896: G.M.C.Z.) ist die eigene Registriernummer der Protokolle (Ministerrat-, Ministerkonferenzzahl, Minister¬ ratsprotokollzahl usw.). Diese Nummern sind seit 1848 fortlaufend. Mit der Demission Schmerlings, der kaiserlichen Instruktion vom Jahre 1865 bzw. der in der. ersten Sitzung der neuen Regierung vom Kaiser gehaltenen »Ansprache« begann eine neue Numerierung, die bis zum 31. Dezember 1867 fortgeführt wurde. An diesem Tage war der damals noch Reichsministerium genannte gemeinsame Ministerrat zu seiner, seit dem Ausgleich bzw. seit seiner österreichischerseits erfolgten Inartikuherung ersten Sitzung zusammengetreten. Auch auf dem Mantelbogen des Protokolls steht: I. Sitzung des Reichsministeriums vom 31. Dezember 1867. An dem unter Vorsitz des Kaisers am 14. Februar 1867 abgehal¬ tenen Ministerrat, dessen Protokoll die Nummer K.Z. 322. -- M.R.Z. 127 trägt, haben zum erstenmal die Minister der präsumtiven ungarischen Regierung 88 || || (Andrässy, Eötvös, Lönyay) teilgenommen. Nach Inartikulierung des Ausgleichs in Ungarn bzw. nach der Sanktionierung des Gesetzes sind die Formalitäten der Ministerratsprotokolle bis zur erwähnten Sitzung vom 31. Dezember (als die verfassungsrechtliche Wende vollzogen war) unverändert geblieben. Der Mantelbogen der Protokolle hat sich im wesentlichen vom Absolutismus bis zum Zusammenbruch der Monarchie kaum geändert. Der Mantelbogen be¬ stand aus zwei Einschlagbogen. Auf dem ersten haben die Teilnehmer das Protokoll gegengezeichnet, auf dem zweiten wurden der Vorsitzende und die Teilnehmer aufgezählt und der Gegenstand der Sitzung angeführt. Vor 1865 wurden außer den Anwesenden auch die Abwesenden geführt. (Diese Gewohn¬ heit wurde nach dem Ausgleich nicht übernommen.) Die Sitzungsprotokolle der ersten zwei Sitzungen nach dem Ausgleich sprechen noch von Reichsministerium, von der dritten Sitzung an erfolgt die Benennung »gemeinsames Ministerium«. Das eigentliche gemeinsame Ministerium wird in den Protokollen eine Zeitlang noch als »Reichsministerium« bezeichnet, wenn die Be¬ ratungsteilnehmer in drei Gruppen aufgezählt werden (1. Von Seiten des Reichs¬ ministeriums, 2. von Seiten des Ministeriums für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder, 3. von Seiten des ungarischen Ministeriums). Doch bereits im Jahre 1868 wird wieder auf die alte Praxis zurückgegriffen, die die Teil¬ nehmer global anführt. Und zwar derart, daß, falls im Ministerrat der Herrscher den Vorsitz führt, an erster Stelle der Reichskanzler bzw. später der gemeinsame Minister des Äußern, dann der gemeinsame (k.u.k.) Kriegs- und Finanzminister, dann nach der Rangordnung der ungarische bzw. österreichische Ministerpräsident und die anwesenden Mitglieder der ungarischen und der österreichischen Regie¬ rung angeführt werden. Die Formalitäten des Mantelbogens sind in der Form, wie auch die in diesem Bande publizierten Protokolle aus der Zeit des Weltkrieges zeigen, seit der Sitzung vom 26. Januar 1868 (K.Z. 65. -- R.M.R.Z. 8/868) die gleichen gebheben. Seit dem Protokoll der Sitzung vom 20. Januar 1868 (die K.Z.--Nummer fehlt -- M.R.Z. 9) wurde ein vorgedruckter Mantelbogen benutzt. (Ein Großteil der Ministerratsprotokolle vor dem Ausgleich hat ebenfalls vorgedruckten Mantel¬ bogen, der Text weicht von dem der nach 1867 gebrauchten etwas ab.) An den gemeinsamen Ministerkonferenzen haben anfangs -- wie bereits erwähnt -- nur die Mitglieder des in engerem Sinne genommenen gemeinsamen Ministeriums sowie der ungarische und der österreichische Ministerpräsident teilgenommen. Der Kreis der Teilnehmer wurde später erweitert. Bereits vor dem Weltkriege, aber hauptsächlich während des Weltkrieges wurden den Beratungen nicht selten außer den Fachministern auch subalterne mihtärische und zivile Sachverständige zugezogen. In solchen Fällen wurden die Protokolle auf dem Mantelbogen auch von diesen unterzeichnet. Stets wurde peinüch darauf geachtet, daß die Unterschriften der Anwesenden streng nach der Reihenfolge ihrer Würde und ihres Ranges folgten. Wenn an einer Ministerkonferenz unter Vorsitz des Herrschers (die manchmal auch Kronrat genannt wurde), auch der Thronfolger teilnahm, so erfolgte seine Beglaubigungsunterschrift unter der Formel »Zur höchsten Einsicht«; bei Ministern und ihnen gleichrangigen zivilen und militäri- 89 || || sehen Würdenträgern war die Formel: »Zur hohen Einsicht«, bei Fachleuten niedrigeren Ranges (Oberst, Ministerialrat usw.) »Zur Einsicht«. (Diese formellen Teile der Protokolle enthalten nützliche amtsgeschichtliche Daten und geben genaue Auskunft über die Amtseinteilung der Teilnehmer.) Die Reihe der ETnter- schriften ist nicht immer vollständig. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die betreffen¬ den Minister den Inhalt des Protokolls nicht zur Kenntnis genommen hätten. Der Natur der Dinge entsprechend hat das Fehlen dieser Unterschriften die Authentizität der Protokolle nicht berührt. Ihr Text wurde auch vom Herrscher zur Kenntnis genommen. Nach der im Weltkriege entstandenen Praxis erschien der gemeinsame Minister des Äußern noch am Tage des gemeinsamen Ministerrates oder tags darauf beim Herrscher zur Audienz und erstattete kurz Bericht über die Konferenz. Das inzwischen möglichst rasch angefertigte Protokoll wurde dem Herrscher im sog. »Kaiser- Einlauf« unmittelbar vom Minister des Äußern vorgelegt.293 Nachdem der Inhalt des Protokolls zum erstenmal vom Herrscher zur Kenntnis genommen worden war, kam das Protokoll zurück zum Minister des Äußern, der es dann zur Kennt¬ nisnahme und Unterschrift unter den übrigen Teilnehmern zirkulieren ließ. Nachdem diese die Richtigkeit und Genauigkeit des Protokolls mit ihrer Unter¬ schrift bestätigt hatten, wurde das Protokoll nunmehr dem Herrscher zum zweiten¬ mal vorgelegt, und zwar diesmal durch die kaiserliche Kabinettskanzlei, »um ihm -- wie Legationsrat Walterskirchen in seiner obenerwähnten Aufzeichnung schreibt -- so die Möglichkeit zu geben, sich zu überzeugen, daß alle Teilnehmer die Richtigkeit des Protokolles bestätigt hatten«.294 Die Vidimierungsklausel des Herrschers wurde erst nach dieser zweiten Kenntnisnahme am Ende des Protokolls angebracht, und zwar stets mit der unveränderten, aus den Ministerratsprotokollen der absolutistischen Epoche ererbten Formel: »Ich habe den Inhalt dieses Protokol¬ les zur Kenntnis genommen.« Die zweite Kenntnisnahme durch den Herrscher erfolgte manchmal erst nach Monaten. Von der ersten Vorlage sind nicht viele Spuren geblieben. Einmal der Registrie¬ rungsvorgang, daß die Vorlage in die »Kaiser-Einlauf-Bücher« eingetragen wurde, zum anderen die nur wenigen bekannte Kleinigkeit, der sog. »Kaiserstrich«. Auf dem ersten Mantelbogenblatt des vom Minister des Äußern unmittelbar nach Fertigstellung dem Herrscher vorgelegten Protokolls hat der Herrscher mit Blei¬ stift von der linken unteren Ecke bis zur oberen rechten Ecke einen Strich ge¬ zogen.295 Auf den Konzepten der Protokolle ist in den Jahren 1917--1918 am oberen Teil des ersten Textblattes die vom Herrscher mit Bleistift eingetragene Bemerkung zu lesen: »gelesen, K.« Auch dies beweist, was von Karl allgemein bekannt war, daß er stets bestrebt war, mit den Ereignissen Kontakt zu halten. Die Konzepte wurden auch von den Außenministern gelesen und ebenfalls mit ihrer Unterschrift versehen. In den Originalen der Protokolle aus der Zeit des Weltkrieges kommen nicht selten nachträgliche Einschaltungen vor. Besonders Tisza war streng daraufbedacht, daß seine Worte in den Protokollen getreu wieder¬ gegeben wurden. Gewöhnlich hat er seine eigenartige Auffassung -- die den Nationalstaatscharakter Ungarns mit der Großmachtstellung der Monarchie in Zusammenhang brachte -- prägnanter zum Ausdruck gebracht. So hatte er z. B. 90 || || im Ministerrat vom 7. Januar 1916 davon gesprochen, daß die Interessen Ungarns auch die der Monarchie seien; im Protokoll stand dann »Interessen der Gesamt¬ monarchie«, was er in »Interessen der ganzen Monarchie« verbesserte. (Offenbar der Wirklichkeit - bzw. dem sich in seiner politischen Gedankenwelt wider¬ spiegelnden Bilde der Wirklichkeit - entsprechend, denn Tisza sah die Hervor¬ kehrung der Selbständigkeit Ungarns eben im konsequenten Kampf gegen diesen veralteten staatsrechtlichen Begriff.) In demselben Protokoll ist auch seine Fest¬ stellung darüber enthalten, daß sich die große Bedeutung Ungarns im Weltkriege besonders erwiesen habe. Diesen Satz hat er folgendermaßen ergänzt: »Die Lebensbedingungen des ungarischen Nationalstaates müssen berücksichtigt wer¬ den, weil sie eben Bedingungen der Großmachtstellung der Monarchie darstellen.« Ich glaube, daß auch diese wenigen Zeilen überzeugend beweisen, daß die Forscher diese nachträglichen Eintragungen mit besonderer Sorgfalt beachten müssen, da in denselben individuelle Stellungnahmen zum Ausdruck kommen. Ebenso müssen die Begleitschreiben berücksichtigt werden, mit denen die Minister die Protokolle nach Kenntnisnahme in einzelnen Fällen der Kanzlei des Ministers des Äußern zurücksandten. Stürgkh hat in seinem an den Vorsitzenden des Ministerrates vom 12. Dezember 1915 gerichteten Schreiben gebeten, der Minister des Äußern möge seinen, dem Protokoll beigelegten, an den ungarischen Ministerpräsidenten gerichteten Brief diesem zukommen lassen. In diesem Ministerrat war von der tragischen Verschlechterung der Versorgungslage Österreich-Ungarns die Rede. Während dieser Debatte geriet Stürgkh in derartige Erregung, daß er genötigt war, die Konferenz zu verlassen. Er ersuchte nun in seinem Schreiben Tisza nachträglich, in Ungarn dieselben Beschränkungen einzuführen, die in Öster¬ reich bereits bestanden. Da er dies im Ministerrat nicht mehr verbringen konnte, hat er es in diesem Schreiben niedergelegt. Aus dem Protokoll geht nicht hervor, daß sich der österreichische Ministerpräsident während der Sitzung entfernt hatte. Dieses Begleitschreiben gibt nun sehr interessante Aufklärungen sowohl über dieses wesentliche Moment wie überhaupt über die Stimmung, die im Ministerrat herrschte. (Der Brief liegt als Beilage zum Protokoll des betreffenden Minister- rates.) Der gemeinsame Ministerrat hatte keine eigene Kanzlei. Die schriftlichen Agen¬ den des Ministerrates und der Delegationen wurden vom »Cabinet des Ministers des Äußern, Präsidialsection« erledigt.296 Früher, vor dem Ausgleich hatte die »Protokollskanzlei des Ministerrates« einen eigenen Status gebildet. Zur Zeit Belcredis war die Protokollskanzlei im Staatsministerium tätig. Am 23. Dezember 1867297 ordnete der Herrscher an, daß die Protokolle vom I. Departement der Reichs¬ kanzlei, von der Präsidialsektion geführt werden. Nach dem Erlöschen des Reichs¬ kanzlertitels wurde die »Reichskanzlei« in die »Präsidialsection« des gemeinsamen Ministeriums des Äußern eingeschmolzen.298 Diese Einschmelzung begann bereits zu Zeiten Beusts und von da ab bis zum Zusammenbruch der Monarchie war es Aufgabe der Präsidialsektion des gemeinsamen Ministeriums des Äußern, die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates zu führen und zu besorgen. Schrift¬ führer waren stets hochgestellte Beamte des Außendienstes (Legationssekretäre, Legationsräte, Generalkonsuln usw.), und zwar wurden die Protokolle von Sitzun- 91 || || gen, an denen der Monarch den Vorsitz geführt hatte, immer von ranghöheren Beamten abgefaßt als die der übrigen Sitzungen, wo den Vorsitz der gemeinsame Minister des Äußern, oder in seiner Abwesenheit der Chef der österreichischen oder der ungarischen Regierung, eventuell der gemeinsame Finanzminister ge¬ führt hatte. Dafür, daß der gemeinsame Kriegsminister den Vorsitz geführt hätte, kenne ich kein Beispiel.300 Zum Aufgabenkreis des Kabinetts gehörte auch die Erledigung der die Einberufung eines Ministerrates verlangenden Zuschriften der Minister.301 Die Einladungen erfolgten im Namen des Ministers des Äußern und wurden auch von ihm persönlich unterfertigt. Die Einladungen hatten nicht selten die Form eines Privatschreibens. Die Bestimmung, welche Mitglieder der einzelnen Regierungen außer den Regierungschefs eingeladen werden sollten, wurde vom Minister des Äußern gewöhnlich den zuständigen Ministerpräsidenten überlassen. Natürlich konnte jeder gemeinsame Minister und sowohl der ungarische wie der österreichische Ministerpräsident die Einberufung einer gemeinsamen Ministerkonferenz verlangen und auch die Tagesordnung derselben bezeichnen.303 Auf Grund des Protokolls des gemeinsamen Ministerrats vom 15. Februar 1918 können wir den Weg beschreiben, auf dem eine Angelegenheit vor die gemein¬ same Ministerkonferenz gelangte. Gegen Mitte November 1917 teilte der Chef des Generalstabes mit, in kürzester Zeit werde mit Rußland ein Waffenstillstand abgeschlossen werden, in welchem Falle eine teilweise Demobilisierung vorge¬ nommen werden könne. Auf Grund dieser Mitteilung des Chefs des Generalstabs hat der Kriegsminister für den 26. November nach Budapest unter dem Vorsitz des Feldzeugmeisters Rohm eine interministerielle Kommission einberufen. Diese arbeitete in dreitägigen Beratungen gewisse Vorschläge aus, die den einzelnen Regierungen vorgelegt wurden. Die Regierungen haben dann über diese beraten sie teilweise abgeändert, dann die Anträge zur Demobihsierung in der abgeänder¬ ten Form dem gemeinsamen Ministerrat zur Entscheidung unterbreitet.304 Wie bereits erwähnt, ließ das Kabinett des Ministers des Äußern die Minister¬ ratsprotokolle zur Vidimierung unter den Teilnehmern des Ministerrates zirku¬ lieren. Dieses Zirkuheren bzw. die Kenntnisnahme bedeutete lediglich, daß die betreffenden, die das Protokoll übernommen und unterfertigt hatten, den Inhalt desselben einfach zur Kenntnis genommen, eventuell jenen Teil, der ihre Aus¬ führungen enthielt, verbesserten, darin etwas gestrichen oder zugesetzt haben. Zweck des Zirkuherens war die Beglaubigung des Protokolls. Dieser Vorgang war nicht geeignet, die in den Protokollen enthaltenen Beschlüsse im Gedächtnis der Teilnehmer dauernd zu verewigen. Daraus haben sich sehr viel Schwierigkeiten und Mißverständnisse ergeben. Nach einer solchen Serie von Mißverständnissen, die zu heftigen Debatten führte, ersuchte der ungarische Ministerpräsident Kalman Tisza am 7. Juni 1876 den Minister des Äußern, Graf Gyula Andrässy, dafür zu sorgen, daß über den meritorischen Teil der Protokolle des gemeinsamen Mi¬ nisterrates Auszüge angefertigt werden, wovon im ungarischen Ministerrat wiederholt die Rede gewesen sei. »... es wäre sehr wünschenswert, daß die Regie¬ rung in der Lage sich befinde, in den darauf bezüglichen Protokollen nachschlagen zu können«.305 Die Protokolle gelangten nach ihrer Fertigstellung nur einmal in 92 || || die Kände der Interessenten. Es werde nicht organisch dafür gesorgt, beklagt sich Kalman Tisza m weiteren, daß die Protokolle, zumindest deren wesentliche Teile s anchg zur Verfügung stunden. Schon allein die Tatsache, daß man auf sein Gedächtnis angewiesen sei, erschwere die Sache sehr: besonders viel Schwierig¬ keiten ergaben sich daraus, daß der Nachfolger nichts über die Erklärungen seines Amtsvorgangers im gemeinsamen Ministerrat, nichts über die dort erbrachten sein Ressort betreffenden Beschlüsse wisse. Kalman Tisza verlangte vom Minister des Äußern, eine ein für allemal gültige Verfügung zu treffen, »daß Beschlüsse der gemeinsamen Mimster-Conferenzen, welche gleichzeitig die diesseitigen Interessen berühren, von Fall zu Fall stets auch der kgl. ungarischen Regierung in Form von Protokollauszügen mitgeteilt werden mögen«.306 Das von Kalman Tisza aufgeworfene Problem beschäftigte auch den Herrscher Aut seine Anordnung wurde die Praxis bei der Zirkulierung der Protokolle schrift- ich zusammengefaßt. 7 Aus dieser kleinen Zusammenstellung geht hervor daß einzelne Minister, falls nach ihrer Kenntnisnahme andere Minister am Protokoll Korrekturen Vornahmen, eine erneute Einsicht verlangten. Was die Auszüge betrifft hielt es die Aufzeichnung nicht für ungefährlich, aus den ohnehin in gedrängtem Stil abgefaßten Protokollen Auszüge zu machen. Zweckmäßiger wäre es, nach der Kenntnisnahme die Protokolle nochmals zirkulieren zu lassen, damit dm Teilnehmer der Mmisterkonferenzen gegenseitig Kenntnis von den Änderungen an den Protokollen erhielten. Staatsrat Braun, der sich auf Anordnung Franz Josephs über den Vorgang bei Ausfertigung der Ministerratsprotokolle informiert hatte, memte, die Wünsche der Minister seien mit der bisherigen Praxis schwer m Einklang zu bringen und auch zur kleinsten Abänderung sei die Zustimmung des Monarchen notwendig. (An der Praxis wurde, wie wir wissen, nichts geändert) Das vom Schriftführer meist mit der Hand geschriebene und wiederholt ver- besserte Konzept wurde von ihm unterfertigt. (Der Minister des Äußern hat es gewöhnlich nur mit den Anfangsbuchstaben seines Namens vidimiert.) An den meisten Protokollen hat auch der Minister des Äußern Korrekturen vorgenommen. Das solcherart umgearbeitete Exemplar wurde dann -- zumindest nach der im Weltkriege befolgten Praxis - mit der Maschine abgeschrieben, eventuell in mehreren Exemplaren. Dann ließ man entweder diese Kopien unter den Teil¬ nehmern der Beratungen zirkuheren, die ihre Abänderungen oder Zusätze ein¬ trugen, welche im Kabinett des Ministers auf das authentische Exemplar über- tragen wurden, oder man ließ das für authentisch vorgesehene Exemplar unter den Ministern zirkulieren, die ihre Änderungen an diesem Vornahmen.308 Im allgemeinen wurden die Abänderungen im Text selbst vorgenommen, seltener wurden sie auf dem Einsicht-Blatt neben der Unterschrift verzeichnet. Die im gemeinsamen Mmisterrat vom 7. Januar 1916 gemachten Erklärungen des gemein- samen Finanzministers Koerber wurden vom Schriftführer Hoyos nicht ins Konzept aufgenommen, sondern dafür ein entsprechender Raum freigelassen. Neben dem Konzept erliegt auf einem separaten Blatt mit Maschine geschrieben die Erklärung Koerbers. Der gemeinsame Finanzminister hielt es offenbar für wichtig, daß das, was er in der Konferenz vorgebracht hatte, mit seinen eigenen Worten ins Protokoll aufgenommen wurde. 93 || || Das Originalprotokoll oder eine der Abschriften ging manchmal während des Zirkulierens verloren, worüber im Zusammenhang mit dem Protokoll vom 24. Februar 1917 bereits die Rede war.309 Joseph Redlich, der im letzten österreichi¬ schen Kabinett der Monarchie ein Portefeuille innehatte, schreibt in seinen Memoiren, er habe an der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 30. Oktober teilgenommen.310 Über diesen Ministerrat liegt kein Protokoll vor, ein solches wurde wahrscheinlich gar nicht mehr abgefaßt. Die einzige archivalische Spur ist eine Aufzeichnung, die auf einem Blatt zwischen den Ministerratsprotokollen vom 2. und 22. Oktober 1918 erliegt: »Protokoll No 552. niemals ins Archiv gelangt. 9/3. 1920. P.«311 Daß dieses Protokoll nicht angefertigt wurde und auf dem Protokoll vom 22. Oktober die Kenntnisnahme durch den Herrscher fehlt, sind auf der Ebene der Aktenkunde wahrnehmbare Symptome des verhängnis¬ vollen Zurückbleibens der Amtsführung der Monarchie hinter den Ereignissen des Weltkrieges. Der gemeinsame Ministerrat tagte gewöhnlich in Wien, seltener in Budapest, während des Weltkrieges je einmal in Baden und in Laxenburg. Die äußeren Umstände der gemeinsamen Ministerkonferenzen beleuchtet die Aufnahme des am 22. März 1917 in Laxenburg abgehaltenen gemeinsamen Kronrats, die der Chef der Kabinettskanzlei des Kaisers und Königs Karls, Polzer-Hoditz, in seinen Memoiren veröffentlichte.312 Die Mitglieder der Beratung sitzen um einen relativ kleinen Tisch. Der Schriftführer ist auf dem Bild nicht zu sehen. Von einer größeren Menge schriftlicher Vorlagen ist keine Spur. Diese Photographie ist ein getreuer Ausdruck des »mündliche Aussprache«-Charakters des gern einsamen Ministerrates. XVIII Der Leser kann dem Verfasser mit Recht vorwerfen, daß er der Lösung eines Teils der gegenständlichen und erkannten Probleme aus dem Wege geht. Mit beinahe abwehrender Geste wendet sich der Verfasser nun auch der Frage der Quellenkritik der Protokolle zu. Vor allem deshalb, weil seiner Ansicht nach nur jene Quellenkritik relativ verläßliche Ergebnisse zeitigen kann, die auf die feste Basis von Feststellungen der geschichtlichen Hilfswissenschaften bzw. der Aktenkunde aufgebaut ist. Der Baum der ungarischen geschichthchen Hilfswissenschaften trägt reichhch Früchte, wenn wir z. B. die Urkundenlehre betrachten, sogar der strengsten Kritik standhaltende Früchte, doch fehlt ihm der Ast der Aktenkunde. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrats der Österreichisch-Ungarischen Monarchie sind zwar dem Boden der westlichen Schriftlichkeit entsprossen, können also keines¬ wegs als Produkte der eigenartigen ungarischen Amtsführung betrachtet werden, so daß hier die Kategorien der westlichen Aktenkunde ohne Bedenken angewendet werden könnten. Diese aktenkundlichen Kategorien sind jedoch entstanden, ohne daß die Autoren der Aktenkunden über die Mauern der die Akten sozusagen physisch hervorbringenden Kanzleien hinausgeblickt hätten. Bei ihren Unter- 94 || || suchungen haben sie größtenteils nur den Mechanismus der Amtsführung betrach¬ tet. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, unter denen die Schriftstücke entstanden sind, wurden dabei kaum in Betracht gezogen. Und wie auch die Rechtsverhältnisse und die Staatsformen in sich selbst nicht verstanden und nicht aus der sog. allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes herausgeschält werden können, so kann man auch die im Laufe der Funk¬ tion des Staates oder der Erledigung der Rechtsangelegenheiten angefertigten Schriften nicht ohne Kenntnis der besonderen gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen; diese Schriften sind eben - durch unzählige Transmissionen entstan¬ dene -- Produkte und Widerspiegelungen dieser Verhältnisse. Was besagt z. B. die Aktenlehre über die Art von Schriften, deren eigenartige Variante dieser Band enthält, über die Protokolle der Regierungsorgane? Meis- ners Handbuch313 zählt die Protokolle zu den Schriftarten »neutralen« Charakters. Die Anwendung des Attributs »neutral« geschah auf Grund äußerlicher Stil¬ merkmale und besagt dem, der den Quellenwert der Protokolle untersucht, nichts näheres, genaueres über die Zusammenhänge, die diese eigenartigen Objektivierun¬ gen der schriftlichen Amtsführung in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Epoche ihres Entstehens eingebettet haben. Ohne Kenntnis dieser Zusammenhänge bleibt aber unsere Quellenkritik oberflächlich.314 Da in der ungarischen Geschichts¬ wissenschaft -- worauf bereits hingewiesen wurde -- die Voraussetzungen einer auf der Aktenlehre fußenden, in die Gesellschaftsgeschichte vertieften Quellen¬ kritik leider fehlen, konnte der Verfasser unter dem Titel der Quellenkritik der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates nur bis zur Aufzeichnung einiger einschlägiger Probleme gelangen. Vor allem muß der Leser daran erinnert werden, wie die Protokolle des gemein¬ samen Ministerrates angefertigt wurden. Wenn wir uns diese Verhältnisse vor Augen halten, zeichnen sich schon im vorhinein die Grenzen ab, in denen die Protokolle als Quellen benutzt werden können. Einer der bedeutendsten und in seinen Auswirkungen verhängnisvollsten pohtischen Entschlüsse in der Geschichte des ersten Weltkrieges wurde in der Sitzung des höchsten Regierungsorgans der Österreichisch-Ungarischen Monar¬ chie vom 19. Juli 1914 gefaßt. In dieser Sitzung wurde die einem Ultimatum gleichkommende diplomatische Note angenommen, die letzten Endes zum bewaff¬ neten Konflikt mit Serbien und dann zum Ausbruch des Weltkrieges geführt hat. Auf der Tagesordnung der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 19. Juli war unzweifelhaft dies der wesentlichste Punkt. Das Protokoll enthält aber weder den Text dieser Note noch die Details der offenbar nicht uninteressanten Debatte (ja kein einziges Wort derselben), in deren Verlauf die unheilvolle Note zustandegekommen war. Im Protokoll steht nur, daß die Teilnehmer der Beratung vor den eigentlichen, auf der Tagesordnung stehenden Gegenständen in Form einer ungezwungenen Besprechung den Text des an Serbien zu richtenden Ulti¬ matums bereinigt haben. Dieses inhaltliche (innere) und gleichzeitig formale (äußere) Kennzeichen der Ministerratsprotokolle ist für sämtliche Protokolle aus der Kriegszeit charak¬ teristisch. In den Protokollen können wir stets von neuem Ausdrücke lesen wie: 95 || || nach kurzer Debatte wurde entschieden, oder: nach längerer Debatte kam der Ministerrat überein, oder: vom Vorsitzenden (vom Monarchen oder vom Mi¬ nister des Äußern usw.) aufgefordert, gab der Kriegsminister, eventuell der Chef des Generalstabs den Mitgliedern der Konferenz vertrauliche Informationen usw. usw. Nicht selten kommt in den Protokollen auch die Bemerkung vor, daß diese Informationen, da sie vertraulichen Charakter hatten, vom Schriftführer in das Protokoll nicht aufgenommen werden durften. Daten ähnlichen Charakters könnten aus den Protokollen aus den vier Kriegs¬ jahren nach Belieben zitiert werden. Danach muß vom-Gesichtspunkt des Quellen¬ wertes der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates leider die Folgerung gezogen werden, daß in den Protokollen zahlreiche Daten, Tatsachen, die in der Geschichte der Monarchie, ja des im Kriege stehenden Europa entscheidende Bedeutung hatten, und über die im gemeinsamen Ministerrat verhandelt wurde, nicht fest¬ gehalten wurden. Wurde nun in den Protokollen in jedem einzelnen Falle ange¬ deutet, daß auf der Konferenz Dinge behandelt wurden, über die im Protokoll meritorisch nicht gesprochen wird? Mit großer Wahrscheinlichkeit kann ange¬ nommen werden, daß wenn auch nicht in jedem Falle, so doch in jedem bedeuten¬ deren Falle, eine Spur dieser Tatsache aufzufinden ist. So können die Protokolle als negative Quelle benutzt werden. So viel kann ihnen zumindest entnommen wer¬ den, daß die erhalten gebliebenen Protokolltexte nicht das ganze Material der Debatten im gemeinsamen Ministerrat enthalten. Danach erhebt sich nun die Frage: Wurde in jenen Teilen der Protokolle, die die Debatten des gemeinsamen Ministerrates auch meritorisch festhielten, die abge¬ gebenen Erklärungen wortgetreu oder nur gedanklich, inhaltlich getreu wieder¬ gegeben ? Man kann fast als sicher annehmen, daß die Debatten des gemeinsamen Minister¬ rates während des Weltkrieges mitstenographiert wurden.315 Eine Spur dieser stenographischen Aufzeichnungen konnte ich im Wiener Staatsarchiv leider nicht finden. So viel kann aus dem Sfudium der Konzepte der Ministerratsproto¬ kolle zweifellos festgestellt werden, daß diese Konzepte aus der Feder der Schrift¬ führer stammen. Die äußere Form der Konzepte, die darin erfolgten Korrekturen (vor allem jene, die vom Schriftführer selbst stammen) sowie die Tatsache, daß einige Konzepte zum großen Teil, manche sogar gänzlich in Maschinenschrift vorliegen, bezeugen, daß diese Konzepte keinesfalls unmittelbar während der Ministerratssitzungen angefertigt wurden. Sie sind sekundäre, eventuell tertiäre Produkte der Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates. Am Konzept haben vor der Reinschrift auch die Außenminister Änderungen vorgenommen. Diese vom Minister des Äußern vorgenommenen Verbesserungen beschränkten sich manch¬ mal auf Worte, manchmal entstanden dadurch jedoch ganz neue Absätze oder es wurden bereits bestehende Teile neu abgefaßt. Die Konzepte der Sitzungsproto¬ kolle des gemeinsamen Ministerrats aus der Zeit des Weltkrieges können daher keineswegs als wortgetreue Wiedergabe der in den Sitzungen erfolgten Erklärungen betrachtet werden. Notgedrungen folgt daraus freilich auch, daß die Reinschriften dieser Konzepte noch weniger ein getreues Spiegelbild der oft stürmischen Debat¬ ten in den gemeinsamen Ministerkonferenzen sind. (Bevor wir in unseren Folgerun- 96 || || gen weitergehen, möchte ich gleich hier bemerken, daß diese Tatsache die Authenti¬ zität der Protokolle natürlich nicht berührt.) Im vorangegangenen wurde bereits der Weg aufgezeigt, den die Ministerrats¬ protokolle zurücklegen mußten, bis sie die uns bekannte, derzeitige Form erhielten. Dabei war auch davon die Rede, wie in den Reinschriften der vom Schriftführer abgefaßten und vom Minister des Äußern umgestalteten Konzepten von den Mitgliedern des gemeinsamen Ministerrates Änderungen vorgenommen wurden. Über diese nachträglichen Abänderungen und Ergänzungen ist auch in dem mit den Protokollen in Zusammenhang stehenden Schriftwechsel die Rede.316 Inwie¬ weit sind diese nachträglichen Korrekturen charakteristisch und was dokumentieren sie ? In anderem Zusammenhänge wurde schon über eine, von Istvän Tisza vor¬ genommene, sehr charakteristische Korrektur gesprochen, daß er nämlich den im Protokoll vorkommenden Ausdruck »Gejamtmonarchie« in »der ganzen Monar¬ chie« verbesserte. Diese Korrektur halte ich für so bezeichnend für Tisza, daß ich mit Bestimmtheit annehme, daß diese Feststellung des ungarischen Minister¬ präsidenten auch in Wirklichkeit, im Laufe der Debatte wörtlich so erfolgt ist. Während diese von Tisza vorgenommene Abänderung317 dafür spricht, daß durch die nachträglichen Korrekturen die Glaubwürdigkeit, die Zuverlässigkeit der Protokolle im allgemeinen erhöht wurde, müssen wir aus einer anderen Korrektur gerade die entgegengesetzte Folgerung ziehen. Im Kronrat vom 22. März 1917, in welchem Istvän Tisza als aktiver Politiker zum letztenmal auf höchster Ebene seine pohtische Anschauung bzw. die charakteristischen Grundprinzipien318 seiner Politik in ihrer ganzen Tiefe und Breite entfaltete, verwahrte er sich schärfstens dagegen, daß der Österreichisch-Ungarischen Monarchie solche Völker bzw. Gebiete angeschlossen würden, durch welche die für das Habsburgreich bereits gefährlichen zentrifugalen Kräfte noch verstärkt würden. Dabei hat er seine innerpolitischen Schwierigkeiten angedeutet. Zumindest nach dem ursprünglichen Text der Reinschrift des Protokolls. In diesem sind nämlich folgende Worte zu lesen, die Tisza nachträglich gestrichen hat: ».. . verweist auf die Schwierigkeiten seiner Lage«. Der österreichische Ministerpräsident Clam-Martinic, mit dem Tisza eben in dieser Frage eine heftige Kontroverse hatte, leitete laut Protokoll m Zusammenhang mit der behandelten Frage eine seiner Feststellungen mit folgender Redewendung ein: ».. . wenn Graf Tisza auf die Schwierigkeiten seiner Lage hingewiesen habe .. .«319 So oft und so sorgfältig die Protokolle auch durch¬ gesehen wurden, dieser innere Widerspruch ist dem nicht aufgefallen, der den Text des Protokolls dem Herrscher in seiner endgültigen Form vorgelegt hat. Ich meine, Tisza hat zweifellos auf seine schwierige Lage angespielt. Diese Feststellung schien ihm jedoch zur Zeit, als ihm der Text des Protokolls zur Kenntnisnahme und Kontrolle vorgelegt wurde, aus irgendwelchem Grunde für unbequem und er hat sie deshalb gestrichen. (Wenn er auch bemerkt hätte, daß diese Verstümme¬ lung seiner im Protokoll reproduzierten Worte auch notwendigerweise eine entsprechende Abänderung der Erklärung des österreichischen Ministerpräsiden¬ ten nach sich ziehen müßte, kann als sicher angenommen werden, daß er diese nicht vorgenommen haben würde. Eine Abänderung der Worte seines Kollegen wäre ihm sicher als eine eigenmächtige und ihm unerlaubte Handlung erschienen.) 7 Komjathy: Protokolle 97 || || Wie es ja tatsächlich Aufgabe des Schriftführers oder des Ministers des Äußern (genauer des diesen entsprechend informierenden, mit seiner Zustimmung vor¬ gehenden Schriftführers) gewesen wäre, den Text des Protokolls in Einklang zu bringen.320 Aus dieser Kleinigkeit (ähnliches dürfte auf den gemeinsamen Minister¬ konferenzen wiederholt vorgekommen sein, wenn auch keine diesbezüglichen Nachweise zurückgeblieben sind) können wir nicht nur den Schluß ziehen, daß die Protokolle durch die nachträglichen Korrekturen nicht in jedem Falle genauer geworden, die Erklärungen in den Sitzungen nicht getreuer wiedergegeben,321 ja manchmal geradezu verfälscht worden sind, sondern, daß die Protokolle außer durch die in ihnen enthaltenen Daten, Tatsachen (hauptsächlich die nachträglichen Korrekturen und Zusätze) auch als eigenartige Quelle zur Charakterisierung der an den Sitzungen beteiligten Politiker benutzt werden können. Es ist ein sozusagen traditionelles Verfahren, die über ein und dasselbe Ereignis erhalten gebliebenen Quellen nicht nur zur möglichst genauen, wahrheitsgetreuen Beleuchtung des Ereignisses oder der handelnden Personen miteinander zu ver¬ gleichen, sondern auch aus rein quellenkritischer Absicht, um den Wert, die Zuverlässigkeit der Quellen festzustellen. In unserer neueren Geschichte gibt es wenig Ereignisketten, wie der erste Weltkrieg, die eine so reichhaltige Vielfalt der Quellen zu Vergleichungen dieser Art bieten würden. Unter diesen Quellen sind die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates besonders interessant. Interessant, weil sie über die politischen Enunziationen, Pläne, Entschließungen, Stellungnahmen von zwei Ministern des Äußern, also führenden Staatsmännern der Österreichisch- Ungarischen Monarchie berichten, die nachträglich selbst in ihren Memoiren ihre Rolle im Weltkriege verewigt haben. Der eine ist Buriän, der andere Czernin. Aus ihren Memoiren bzw. dem parallelen Text der Protokolle könnten viele Seiten zitiert werden. Hier möchte ich nur auf einige Dinge aufmerksam machen. Buriän setzt in seinen Memoiren fast mit der Gründlichkeit eines Professors auseinander, welche Komponenten im Augenblick seines Amtsantritts die außen¬ politische Lage der Österreichisch-Ungarischen Monarchie bestimmt haben. Da¬ mals, im Januar 1915 war die Haltung Italiens das erregendste Problem.322 Wie bekannt, entstand eben in der Beurteilung der italienischen Frage ein scharfer Gegensatz zwischen der deutschen Reichsregierung und der österreichisch¬ ungarischen Regierung. Die Deutschen wollten um jeden Preis die Neutralität Italiens sichern, von der sehr realen Überlegung ausgehend, daß die militärische Leistungsfähigkeit der Zentralmächte durch eine weitere Front verhängnisvoll überlastet werden würde. Sie verhandelten mit den Italienern, teilweise auch hinter dem Rücken ihres Verbündeten, und waren bestrebt, parallel mit diesen Verhandlungen die verantwortlichen Leiter der österreichisch-ungarischen Außen¬ politik für den Plan zu gewinnen, die Neutralität Italiens durch -- von ihnen für minimal gehaltene -- territoriale Zugeständnisse (die Abtretung zumindest des Trentino) zu sichern. Buriän fuhr Ende Januar als neuernannter Minister des Äußern ins deutsche Hauptquartier nach Mezieres-Charleville, um unter anderen auch über diese, vom Gesichtspunkt der Monarchie lebenswichtige Frage zu beraten. Er hat dort mit Kaiser Wilhelm, dem Reichskanzler Bethmann Hollweg, dem Staatssekretär im Außenministerium, Jagow, und mit anderen führenden 98 || || deutschen Politikern verhandelt. Über seine Besprechungen hat er in der gemein¬ samen Ministerkonferenz vom 3. Februar 1915 berichtet, als er in seinem Expose die Grundsätze seiner Außenpolitik darlegte. Laut Ministerratsprotokoll sprach er über die sich auf diesem Gebiete türmenden Schwierigkeiten, reproduzierte seine Argumentation, mit der es ihm -- angeblich -- gelungen war, die Deutschen für den österreichischen Standpunkt zu gewinnen. Kaiser Wilhelm und seine Regierung haben, wie der im Protokoll verewigte Bericht Buriäns besagt, davon Abstand genommen, die territorialen Forderungen Italiens zu unterstützen. Das Protokoll des Ministerrats vom 3. Februar 1915 betrachtend, müssen wir die diplomatische Mission Buriäns im deutschen Hauptquartier, vom Gesichtspunkt der italienischen Frage, als erfolgreich betrachten. Demgegenüber stellt er in seinen Memoiren, als er über seine Verhandlungen in Mezieres-Charleville ausführlich spricht und deren Ergebnis zusammenfaßt, unmißverständlich fest: »Wir konnten einander damals nicht überzeugen.« Einst¬ weilen sei nur so viel festgestellt, daß über ein und dasselbe Ereignis zwei Quellen einander diametral entgegengesetzt berichten. Den trockenen, langatmigen Memoiren Buriäns gegenüber sind in den fast belletristischen, mit gut exponierten Bildern, lebensgetreuen Charakteristiken, farbigen Momentaufnahmen durchwobenen, manchmal von staatsmännischem Weitblick zeugenden Memoiren Czernins323 vielleicht die Teile am interessantesten, lehrreichsten und zum Vergleich mit den entsprechenden Stellen der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates am besten geeignet, die sich mit den Friedensver¬ handlungen in Brest-Litowsk befassen. Auch in diesem Falle könnten seitenweise parallele Texte aus den Memoiren und den Ministerratsprotokollen zitiert werden. Diese Details bezeugen eindeutig, daß Czernins Darstellungen in seinen Memoiren mit den Ministerratsprotokollen mehr Kongruenz aufweisen, manchmal mit den¬ selben Wort für Wort übereinstimmen; als Grund hierfür sei hier einstweilen nur angeführt: vielleicht, weil er der Abfassung der Protokolle zeitlich näher stand als Buriän. Als Quelle seiner Memoiren erwähnt der ehemalige Minister des Äußern unter anderem sein Tagebuch.324 Dieses Tagebuch kenne ich leider nicht und so kann ich nicht feststellen, woher die wortwörtlichen Übereinstimmungen hergeleitet werden können. Entweder hat Czernin in sein Tagebuch z. B. den Text seines Berichts im gemeinsamen Ministerrat vom 22. Januar 1918, zumindest die wesentlichsten Teile, wenn auch nur skizzenhaft aufgezeichnet, oder er hat die Ministerratsprotokolle im Original benutzt. Meiner Meinung nach ist letzteres wahrscheinlicher. Doch selbst diesen Unsicherheitsfaktor in Rechnung gestellt, ist es nicht uninteressant, die Texte zu vergleichen. Der Teil der Memoiren, in welchem der Hergang der gemeinsamen Minister¬ konferenz vom 22. Januar 1918 geschildert wird, verweist nur im allgemeinen auf die Schwierigkeiten, die sich bei der Zusammenarbeit mit den Deutschen im Laufe der Friedensverhandlungen mit den Bolschewiken gezeigt haben und mit deren Schilderung Czernin sein Expose begann. Ebenso summarisch befaßt er sich mit der Stellungnahme des ungarischen Ministerpräsidenten Wekerle, während die Worte des österreichischen Ministerpräsidenten Seidler auffallend ausführlich wiedergegeben werden. Daß diese Eigenart der Memoiren nicht darauf zurück- 7» 99 || || geführt werden kann, daß die Bilder in der Erinnerung des ehemaligen Ministers des Äußern eventuell verschwommen sind, beweistder ganze, dieseTeile enthaltende Kontext der Memoiren. Das Votum Seidlers wird sowohl im betreffenden Teil der Memoiren wie in den Protokollen nicht nur inhaltlich, sondern auch der Form nach gleichlautend angeführt, wobei sich die Übereinstimmung fast bis auf die Bindewörter erstreckt.325 Als von charakteristischer Beweiskraft betrachte ich die übereinstimmende Wiedergabe eines Vergleiches, den der Minister des Äußern gebrauchte, als er die diametral entgegengesetzten Stellungnahmen der beiden Ministerpräsidenten beantwortete.326 Auf die vorher erwähnte Alternative des Gebrauchs der Tagebücher und der Protokolle zurückkommend, könnte ich das Ergebnis der Vergleichung der Texte, wovon hier bloß eine Kostprobe mitgeteilt wurde, darin zusammenfassen, daß Czernin bei der Abfassung seiner Memoiren offenbar sowohl die Tagebücher wie die Protokolle des gemeinsamen Minister¬ rates benutzt hat. Aufgabe einer wirklichen Quellenkritik wäre es, eben die Gründe der minimalen Abweichungen aufzuklären. Ob nun im Falle dieser Abweichungen die in der gemeinsamen Ministerkonferenz gefallenen Worte, die Wirklichkeit in den Memoiren oder in den Protokollen getreuer und genauer wiedergegeben wurden, könnte nur eine ganz exakte Quellenanalyse entscheiden, die sich außer auf diese zwei Varianten zumindest auch auf die Kenntnis des Tagebuchs des Außenministers stützen müßte. Da ich mir die Voraussetzungen für eine derartige Quellenkritik nicht verschaffen konnte, muß ich im vorhinein schon den Schein meiden, dies versucht zu haben. Aus den angeführten Beispielen möchte ich nur allgemeinere Schlußfolgerungen ziehen. Zuvor jedoch möchte ich noch auf einige bereits erwähnte Dinge zurückkommen. Die Änderungen, nachträglichen Eintragungen, die die Teilnehmer der gemein¬ samen Ministerkonferenzen beim Zirkulieren der Protokolle Vornahmen, dienten in erster Linie nicht dem Zweck, die Wirklichkeit möglichst getreu wiederzugeben, also nicht in erster Linie der Wahrheit. So wenig, daß -- wie im Falle einer nach¬ träglichen Eintragung durch Tisza beobachtet werden konnte --, durch manche Korrekturen der als authentisch gedachte Text der Protokolle geradezu verfälscht wurde. Wenn wir auch in unseren Folgerungen nicht in jedem Falle so weit gehen, kann jedoch angenommen werden, daß die im gemeinsamen Ministerrat gefallenen Worte vom Schriftführer nicht mit magnetophonartiger Präzision fixiert wurden. Ja wir können sogar voraussetzen, daß über die Beratungen des gemeinsamen Ministeriums nicht in jedem Falle stenographische Aufzeichnungen gemacht wurden. Die Grundlage für die von den Ministern vorgenommenen Abän¬ derungen bot zweifellos dieser Mangel der Protokollführung. Die Abänderungen und nachträglichen Eintragungen -- sowohl die Beschaffenheit der Abänderungen wie ihre große Zahl -- beweisen, daß die Protokolle von manchen der Teilnehmer für bedeutende Dokumente gehalten wurden, von anderen wiederum nur für eine Formalität. Meiner Meinung nach ist dieser Unterschied in den Auffassungen, in den Anschauungen ein ebenso wesentliches Element der Zuverlässigkeit der Quellen wie das Maß der Genauigkeit bei der schriftlichen Fixierung der in den Sitzungen gefallenen Worte. Die Abänderungen sind -- dies wird im Falle der von Istvän Tisza vorgenommenen Abänderungen am stärksten fühlbar -- auch 100 || || Widerspiegelungen des Spielens einer geschichtlichen Rolle. Gerade jene, die die Protokolle der Debatten im gemeinsamen Ministerrat als meritorische Dokumente betrachteten, hielten es für wichtig, daß ihr Verhalten auf bedeutenden Posten im politischen Leben der Monarchie, ihre dort geäußerte Meinung, ihr dort ein¬ genommener Standpunkt auf der Waage der Nachwelt günstig erscheine. Die von ihnen vorgenommenen Abänderungen und nachträglichen Eintragungen sind auch aus diesem Gesichtspunkt interessant. Ebenso muß auch die schriftliche Wiedergabe der Meinung des Ministers des Äußern (bzw. des jeweiligen Vorsitzenden der gemeinsamen Ministerkonferenz) beurteilt werden. Alles, was die Minister des Äußern (bzw. die jeweiligen Vorsitzen¬ den der gemeinsamen Ministerkonferenzen) bei den Konferenzen gesagt hatten, wurde vor der Reinschrift der Protokolle von ihnen selbst verbessert. Die Rein¬ schriften, die beglaubigten, mit der Maschine geschriebenen Exemplare enthielten also schon die vom Minister des Äußern (dem Vorsitzenden) vorgenommenen Korrekturen. Diese Korrekturen und nachträglichen Eintragungen haben auf der Waage der Quellenkritik und der geschichtlichen Auswertung denselben Wert, wie die vorher erwähnten, von anderen Mitgliedern des gemeinsamen Minister¬ rates vorgenommenen Korrekturen. Wie die Protokolle insgesamt nicht so sehr vom Gesichtspunkt der Vermehrung des Tatsachenmaterials der Kriegsereignisse interessant sind, so sind besonders diese nachträglichen Abänderungen mehr vom Gesichtspunkt der Rekonstruktion einesteils der pohtischen Vorstellungen der handelnden Personen, der als Grundlage ihrer alltäglichen pohtischen Praxis dienenden Prinzipien, andemteils jenes gedachten Spiegels, in welchem der Mi¬ nister sich selbst und seine gespielte Rolle sehen lassen möchte, interessant. Meines Erachtens könnte die Beachtung dieses Spiegelcharakters der Quelle zu einem wertvollen methodischen Element der Kritik unserer eigenartigen Quellen, der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates werden. Einzelne Feststellungen der Protokolle, die Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit und den Wert ihrer Lagebe¬ schreibungen und Folgerungen können wir relativ sachlich untersuchen, wenn wir diesen Spiegelcharakter der Protokolle nicht vergessen. Hier soll besonders an die Details gedacht werden, über deren Thema auch in anderen Enunziationen der betreffenden Person Belege erhalten sind. So in erster Linie -- wie bereits er¬ wähnt -- in den Memoiren der Außenminister, wie Buriän und Czernin. Der Spiegelcharakter der Memoiren ist noch offensichtlicher als der der Protokolle. Auch in diesen will der Autor in bestimmtem Licht gesehen werden. Die Gegen¬ überstellung des Memoirenspiegels und des Protokollspiegels ist deshalb interessant, weil oft beide über das gleiche Ereignis, die gleiche Lage, die gleichen Gestalten usw. berichten. Die Zeitpunkte, zu denen die Berichte in den Protokollen bzw. in den Memoiren Form angenommen haben, liegen nicht nur zeitlich weit von¬ einander entfernt, sondern auch in der Haltung der Autoren. Wie die Dinge in ihrem Ablauf gesehen wurden und wie sie dem Leser post festum gezeigt werden sollen, ist über die Beobachtung der anschaulichen Unterschiede hinaus auch vom Gesichtspunkt des bloßen Tatsachenmaterials, der Daten, und zwar nicht nur in ihrer Bewertung, sondern auch ihrer Menge interessant. Diese Anschauungs¬ und Datendifferenzen können dem Historiker ein relativ sachliches Maß liefern, ioi || || um die Glaubwürdigkeit, Verläßlichkeit der benutzten Quellen von Fall zu Fall abzuwägen. Aus den vielen ähnlichen Fällen sei hier auf einen Punkt im Expose des Ministers des Äußern Buriän vom 3. Februar 1915 und auf dessen Variante in seinen Memoi¬ ren verwiesen: Laut Protokoll des gemeinsamen Ministerrates hatte Buriän gesagt, es sei ihm bei den Verhandlungen in Mezieres-Charleville gelungen, die Deutschen von der Unrichtigkeit ihres Standpunktes zu den territorialen Forderungen Itali¬ ens zu überzeugen. Demgegenüber sagt er in seinen Memoiren, wie wir wissen, daß im deutschen Hauptquartier keine Übereinstimmung erzielt werden konnte. Ein aus den zwei historischen Grundsituationen sich ergebender Unterschied in der Darstellung ein und desselben Ereignisses! Der handelnde, auf die Verwirk¬ lichung konkreter Ziele hinstrebende Minister des Äußern berichtet über seine Verhandlungen mit den deutschen Staatsmännern derart, daß seine diplomatische Mission vor seinen Ministerkollegen erfolgreich erscheint und diese sich dar¬ aufhin beruhigen oder zumindest die Gefahr einer italienischen Einmengung ge¬ ringer einschätzen. Zweifellos sind beide Einstellungen subjektiv. Sowohl jene, die im Wirbel der Ereignisse entstand, als auch jene, die Buriän von der Bühne der Geschichte abtretend formulierte. Beide entstanden in der Absicht, sich zu recht- fertigen. Beide tragen über die Rekonstruktion der Wirklichkeit hinaus vielleicht mehr zur Kenntnis der seelischen Struktur, der pohtischen Anschauung des re¬ ferierenden Ministers des Äußern und der Änderungen dieser Anschauung bei. Die Memoiren werfen auf die Tatsachen, zumindest in der Form, wie sie sich im Kopf des Außenministers widerspiegelten, ein klareres und stärkeres Licht, das sogar hinter den stilistischen, gegenstandslosen Schleier des Ministerexposes leuch¬ tet. (Die Formel der Memoiren, daß Buriän und die Deutschen einander nicht überzeugen konnten, erscheint wirklichkeitstreuer als die absichtlich optimistische Einstellung des Berichtes im Ministerrat, wonach der österreichisch-ungarische Minister des Äußern bei den Deutschen erreichte, daß sie die Unrichtigkeit ihres Standpunktes einsahen.) Der Vergleich der Quellen kann über das primäre Ziel, die Bestimmung der Zuverlässigkeit hinaus sozusagen selbst zu einer datenschaffenden Quelle werden, die in das schon gewonnene Bild neue Farben und Züge bringt. In unserem Falle z. B. erscheinen bei einem Vergleich mit anderen Quellen Buriän und Czernin von einer anderen Seite beleuchtet.327 Durch das, was in den vorangegangenen Zeilen im Zusammenhang mit den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates gesagt wurde, werden einige Probleme der Quellenkritik blitzartig beleuchtet. Die ungarischen aktenkundlichen For¬ schungen stecken noch in den Kinderschuhen und der Mangel an ungarischen akten- kundlichen Forschungen kann für den ungarischen Forscher auch durch die Fest¬ stellungen der internationalen Aktenkunde nicht ersetzt werden. Zumindest nicht in dem Maße, daß er auf seine Feststellungen die Quellenkritik der untersuchten Aktenart aufbauen könnte. Solange wir die Genetik der einzelnen Aktenarten nicht über die Kanzleimauern hinaus verfolgen, und zwar nicht nur die einzelner 102 || || Akten, sondern auch die sämtlicher bedeutenden Dokumente der neuzeitlichen Aktenproduktion, kann unsere Quellenkritik nur über dieformelle Glaubwürdigkeit der Schriften befriedigende Antwort geben. Die Aktengenetik muß aufjeden Fall weiter hinausblicken, und wenn ihr dies gelingt und sie auch die Fäden finden und herauslösen kann, die die verschiedenen Aktenarten mit den besonderen Verhältnissen ihrer Zeit verbinden, dann kann schon auf objektiverer Grundlage die meritorische Kritik der Akten, die Feststellung ihrer inneren Glaubwürdigkeit versucht werden.328 Zum Schluß möchte ich im Zusammenhang mit den Ministerratsprotokollen auf einen unmittelbar wahrnehmbaren Zusammenhang hinweisen. Der dualistische Staatsapparat der Österreichisch-Ungarischen Monarchie hat, wie wir gesehen haben, in allen seinen Gliedern diejenigen gesellschaftlichen, politischen Ver¬ hältnisse widergespiegelt, unter denen er entstanden ist. Diese Verhältnisse waren für die Entstehung eines gemeinsamen, eines »Reichs«-Parlaments nicht günstig. Der Mangel eines Reichsparlaments zog eine Veränderung des Wirkungsbereichs, der Funktion der ein Gegengewicht entbehrenden Reichsregierung nach sich. Die Behandlung von Fragen, die auf der Grundlage der bürgerlichen Verfassungs¬ mäßigkeit parlamentarische Ebene erforderten, verschob sich von den Delegatio¬ nen, diesen mißglückten Parlamenten auf den Verhandlungstisch des gemeinsamen Ministerrates. Diese Eigenart des politischen Lebens der Monarchie erklärt den Unterschied zwischen den Protokollen einerseits des österreichischen und des ungarischen, andererseits des gemeinsamen Ministerrates. Selbst wenn wir die ungarischen und österreichischen Ministerratsprotokolle nur flüchtig mit den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates vergleichen, fällt uns der bestehende wesentliche Unterschied sofort ins Auge. Während jene in den seltensten Fällen über Debatten berichten (entweder weil es gar nicht zu solchen gekommen war, oder weil die schriftliche Festlegung derselben sich nicht als notwendig erwies oder durch die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse geradezu kontraindiziert war), wird in den Protokollen des gemeinsamen Minister¬ rates vom einfachen Meinungsaustausch bis zu den die Teilnehmer erregenden heftigen Debatten, alles in einer in der Amtsführung der Monarchie bis dahin unbekannten Detaillierung wiedergegeben. Dieser Unterschied hat zweifellos in der abweichenden Funktion der Ministerräte seinen Grund, unter anderem darin, daß der gemeinsame Ministerrat zu einer Art »Filialparlament«, auf jedem Fall zu einem Debattenforum geworden war. Nicht selten geht bereits aus den Formalitäten der Protokolle hervor, aufwelcher Ebene und zu welchem Zweck die Angelegenheiten beraten wurden. Die Verhand¬ lungsart hat mehrere Varianten der Protokolle hervorgebracht. Denken wir z. B. an die von Aehrenthal vor der Annexion Bosniens und der Herzegowina einberufene Ministerbesprechung, die aber kein gemeinsamer Ministerrat war und daran, wie empfindlich im Grundkonzept des Besprechungsprotokolls und in den vom Minister des Äußern in diesem Konzept vorgenommenen' Abänderun¬ gen die in den politischen Verhältnissen eingetretenen Änderungen, die sich auch in der Amtsführung widerspiegelten, angezeigt wurden.329 Das Protokoll der von Aehrenthal einberufenen Besprechung illustriert klar, daß wir uns bei der 103 || || Kritik derartiger schriftlicher Dokumente nicht mit der Untersuchung der äußeren und der inneren Merkmale des Dokuments begnügen dürfen, sondern daß wir die bei der Untersuchung gewonnenen Daten in den Zusammenhang der zeit¬ genössischen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse stellen müssen. Nur derart tiefgreifend aktenkundliche Untersuchungen können die Frage beantworten (auf die ich übrigens weiter oben eine provisorisch gedachte, überbrückende Ant¬ wort gegeben habe), was der eigentliche Zweck der Verfügungen Aehrenthals im Zusammenhang mit diesem Beratungsprotokoll eigener Art war. Diese Protokoll¬ form erinnert an die Votumbögen des Staatsrats im 18 -- 19. Jahrhundert, ebenso wie das Vorgehen Aehrenthals, der seine Ministerkollegen als höchste Ratgeber der Krone nur anhörte, an die Politik seiner Vorgänger ein Jahrhundert früher erinnert. Ebenfalls mit Anwendung gesellschaftsgeschichtlicher Gesichtspunkte wird bereinigt werden müssen, weshalb die Erörterung eines für Europa, ja für die ganze Menschheit derart schicksalsschweren Schrittes, wie der Kriegserklärung, außer¬ halb des eigentlichen Ministerrates erfolgte. So müssen wir alle Fragen betrachten, über die außerhalb des Protokolls die Rede war. Die bürgerlichen parlamentari¬ schen Verhältnisse haben offenbar eine schriftliche Festlegung derartiger Fragen nicht vertragen und deshalb finden sich in den Protokollen keine Spuren der meritorischen Debatte. Wie im Zeitalter des Feudahsmus keine der auf höchster Regierungsebene behandelten Fragen eine den Ministerratsprotokollen ähnliche Verewigung in Protokollen erfordert oder vertragen hätte (so erscheinen die feudalen gesellschaftlichen Verhältnisse auf aktenkundlicher Ebene!). 104 || || ANMERKUNGEN 1 Die Einleitung einer solchen Quellenausgabe ist mit dem Aufwerfen amtsgeschichtlicher, quellenkritischer, aktenkundlicher sowie archeographischer Probleme und einer wenigstens teilweisen Lösung derselben eine nicht so leicht definierbare Disziplin der Geschichtsschreibung: die strukturellen Fehler in der Funktion des gemeinsamen Ministerrates Österreich-Ungarns, die sich aus den besonderen, aus der geschichtlichen Lage resultierenden Umständen des Ausgleichs ergaben und sich auch in der Amtsführung auf höchster Ebene bemerkbar machten, sowie die eigenartige politische Anschauung, die das Gehabe der führenden Staatsmänner des dahinsiechenden Habsburgerreiches charakterisierte und die ideelle Begründung ihrer Taten gab, das sind nicht Teile irgendeiner geschichtlichen Darstellung, sondern lediglich eine Vorbereitung derselben. Und zwar auf der Ebene von Hilfswissenschaften. Die Bezeich¬ nung dieser Ebene soll keinesfalls ein niedrigeres Niveau andeuten; dies versuche ich im späteren bei den theoretischen Erörterungen im Kapitel über den Weltkrieg auch prinzipiell zu begründen. 2 Soweit ich die Frage kenne, werden die Hilfswissenschaften auf der ganzen Welt mit traditionellen Methoden betrieben. Auf dem Gebiete der Erneuerung dieser Methoden kann nicht viel Fortschritt verzeichnet werden, was ich auch zu meiner Entschuldigung bemerken möchte, weil ich, wenn auch nicht mit neuen Methoden, so doch mit der Anwendung neuer Gesichtspunkte experimentiere. Ich möchte betonen, daß die beschreibenden Methoden der Urkundenlehre, der Aktenlehre, der Siegelkunde oder der Amtsgeschichte nicht bagatellisiert werden dürfen. Diese Methoden sind, wie auch die Materialsammlung selbst, eine notwendige Vorbedingung des Weiterkommens. Auch meine Einleitung bedient sich dieser Methoden. Doch neben diesen bzw. über diese hinaus ist sie auch bestrebt, auf tiefere Zusammenhänge zu verweisen. * Über diese Gesetze wird im weiteren noch detaillierter die Rede sein. 4 Meine Einleitung will, wie schon betont, keine geschichtliche Bearbeitung sein. Mit der Analyse der Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates und seiner Produkte, der Protokolle auf hilfswissenschaftlicher Ebene will sie das bessere Verständnis für die Probleme des letzten, krisenhaften Abschnitts des Dualismus, des Weltkrieges fördern. Zur sozialen und politischen Bewertung des Ausgleichs und des darauf folgenden halben Jahrhunderts verweise ich den Leser auf folgende Arbeiten: Zs. P. Fach: A dualizmus rendszerenek elsö evei Magyarorszdgon (Die ersten Jahre des dualistischen Systems in Ungarn). Szäzadok, 1955, S. 34--74.-- P. Hanak: A dualizmus välsägänak elmelyülese a XX. szdzad elsö eveiben (Die Vertiefung der Krise des Dualismus in den erstenJahren des 20. Jahrhunderts). Ebd. S. 359--414. -- P. Handk: A dualiz¬ mus vdlsdgdnak problemäi a XIX. szdzad vegen (Probleme der Krise des Dualismus am Ende des 19. Jahrhunderts). Studia Historica 51 (1961) S. 337--387. Ferner verweise ich auf das von diesen Autoren verfaßte Universitäts-Lehrbuch, das zur Zeit, als diese Zeilen geschrieben wurden, in Vorbereitung war. In diesen Arbeiten erhält der Leser eine eingehende Analyse der sozialen Wirklichkeit. Von österreichischer Seite habe ich das meiste aus dem reichhaltigen, vielerlei Gesichtspunkte erörternden Werk von J. Redlich: Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Leipzig 1920--26, Bd. I--II gelernt. Auch die modernste Bearbei¬ tung der Geschichte Österreichs, H. Hantsch: Die Geschichte Österreichs. Graz--Wien--Köln 1955, 2. Aufl. Bd. II habe ich mit Nutzen gelesen. 105 || || 5 Vom Gesichtspunkt der verhandelnden Parteien insofern, daß der Wirkungsbereich und die Funktion der durch den Ausgleich geschaffenen Regierungs- und gesetzgebenden Organe nur in großen Zügen bestimmt wurden und die Lösung selbst solcher Fragen vernachlässigt wurde, die man bei entsprechender Sorgfalt -- auch trotz der widerspruchsvollen gesellschaft¬ lichen Verhältnisse -- hätte lösen können. 6 Aus jenem Teil des Ges. Art. Nr. I, der die königliche Fürsorglichkeit dankbar quittiert: »ad . . . incrementum publici Status regni Hungariae, partiumque eidem annexarum, proque stabilienda in omnem casum, etiam contra vim externam, cum vicinis regnis et provinciis haereditariis unione«. 7 Eine gründlichere, tiefere Untersuchung der Parallele wäre fruchtbringend und lohnend. Hier möchte ich nur hervorheben: es war keineswegs Zufall, daß sich weder der Herrscher noch die Ungarn bei den Ausgleichsverhandlungen auf die in der politischen Lage und in den politischen Erfordernissen während anderthalb Jahrhunderten eingetretenen grund¬ legenden Veränderungen beriefen. (Ein Umstand, den die Österreicher bemerkt und auf den sie auch verwiesen haben.) s Deäk Ferenc beszedei (Ferenc Deäks Reden). Gesammelt von M. Könyi (im weiteren: Könyi) Budapest 1889, Bd. III, S. 366--369. 9 Über den Inhalt der in der Wohnung Franz Deäks am 29. Januar 1866 abgehaltenen Debatte s. die Zusammenfassung bei Könyi, a.a.O. S. 371. 10 Nach der vorzüglichen Konzipierung /. Redlichs: ». .. der Ausgleich von Anfang an doch nur die künstlich herbeigeführte Erstarrung der nach dem Kriege von 1866 augenblicklich vorhandenen politischen, nationalen und wirtschaftlichen Interessengegensätze und Macht¬ verhältnisse bedeutete«. A.a.O. Bd. II, S. 678. 11 Sowohl das Oktoberdiplom wie auch das Februarpatent berufen sich auf die Pragmatische Sanktion. Das Oktoberdiplom betont die Unteilbarkeit und Unzertrennlichkeit der verschie¬ denen Teile des Reiches. Es bezeichnet es als gemeinsames Interresse des Herrscherhauses und der Untertanen, »die Machtstellung der österreichischen Monarchie zu wahren«. -- Den Textdes Oktoberdiplomsund des Februarpatents siehe bei J.Redlich, a.a.O., Bd. 1/2, S. 228 ff. 12 Dieser Gedanke gibt auch den Grundton der weitschweifigen Einleitung dieses Grund¬ gesetzes. Aus mehreren barocken Wendungen im § 4 der Praefatio ist klar ersichtlich, daß nach Ansicht der Gesetzgeber Ungarn nur durch das enge Bündnis mit den unter dem Zepter der Habsburger stehenden Provinzen vor jedweder Konfusion und Gefahr (»ab omni confu- sione et periculis«) bewahrt wird und in demselben Bündnis Schutz gegen fremde Gewalt und jedwede innere Bewegung (»adversus omnem vim externam, quam quosvis etiam fatales internes actus«) gesucht werden müsse: »cum reliquis . . . suae majestatis sanctissimae regnis et provinciis haereditariis mutua cointelligentia et unio adeoque publica reipublicae Christianae quies, pax constans, imperturbata tranquillitas«. 13 Darüber, daß die Meinungsverschiedenheit zwischen Deäk und Andrässy in den partei¬ politischen, richtiger in den gesellschaftlichen Verhältnissen wurzelt, s. die zitierte Studie von Zs. P. Fach, Szäzadok, S. 38 ff. 14 Natürlich wurde weder im Laufe der Ausgleichsverhandlungen, noch weniger bei der endgültigen Abfassung des Ausgleichs angedeutet, daß die Pragmatische Sanktion ebenfalls die blutige Niederschlagung eines Freiheitskrieges, den Abschluß desselben von oben und die Beschränkung der staatlichen Souvärenität in grundlegenden Punkten bedeutete. Eben des¬ halb war die Pragmatische Sanktion ein geeigneter Ausgangspunkt für die neuen Unter¬ handlungen! Wie im weiteren ausgeführt werden wird, haben im österreichischen Reichsrat einige ihrem Erstaunen Ausdruck verliehen, wie man als Grundlage einer neuen gesell¬ schaftlich-politischen Einrichtung eine vor anderthalb Jahrhunderten entstandene staats¬ rechtlich-politische Form wählen konnte, wo doch die damaligen Umstände, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse von denen der Ausgleichsepoche wesentlich abweichen. Die Verhältnisse waren, worauf in Anm. 7. bereits hingewiesen wurde, tatsächlich sehr unter¬ schiedlich, doch die politische Grundlage, in der die Pragmatische Sanktion entstand, zeigt viele ähnliche Züge mit dem Ausgleichszeitalter. Es war daher kein Zufall, daß sich beide verhandelnden Parteien wiederholt und auch im endgültigen Text des Ausgleichsgesetzes auf die Pragmatische Sanktion beriefen. 106 || || 15 Hervorhebungen von mir -- M. K. 16 Dieser Gedanke erscheint ebenso, die Dinge vom Gesichtspunkt der Sicherheit des Reiches betrachtet, im Osterartikel. Dort schreibt Deäk: ». . . auch bei unserer verfassungs¬ mäßigen Selbständigkeit hat die Sicherheit des Reiches wegen und durch uns nicht gelitten« (Könyi, a.a.O. S. 316. Hervorhebung von mir -- M. K.). Deäk führt seine Argumente gegen den im »Botschafter« erschienenen, mit einer drohenden Prophezeiung verbundenen Artikel ins Treffen, in dem es heißt, die ungarische Verfassung sei bisher deshalb gebrochen worden, weil die Interessen des Reiches ihre Einhaltung nicht erlaubten, und sie werde auch in Zukunft gebrochen werden, wenn sie nicht den Interessen des Reiches angepaßt wird. »Wir bezweifeln nicht die Wichtigkeit des festen Bestandes des Reiches« -- schreibt Deäk in seinem Oster¬ artikel als Antwort. Das Ziel ist, »sowohl die Sicherheit des Reiches gänzlich zu erreichen, als auch die Grundgesetze der ungarischen Verfassung nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten . . .« (ebd. S. 314. Hervorhebung von mir -- M. K.). Die graduelle Unterscheidung der Erreichung der beiden Ziele der politischen Entwirrung: »gänzliche« Sicherheit des Reiches und Aufrechter¬ haltung der ungarischen Verfassung »nach Möglichkeit« war keineswegs eine nachlässige Konzipierung; hier wurde das Wesen der Politik Deäks ausgedrückt, was aus dem folgenden Absatz des Artikels klar hervorgeht. Dort heißt es, der sichere Bestand des Reiches »soll keinerlei anderen Interessen untergeordnet werden«, die Sicherheit des Reiches ist also absolutes Ziel, während die verfassungsmäßige Selbständigkeit Ungarns nur ein relatives ist, hier sei man geneigt, sich so viel abhandeln zu lassen, als »die Sicherung des festen Bestandes des Reiches unumgänglich erfordert«. -- Die gedanklichen Antezedenzien des Deäkschen Aus¬ gleichs kann ich hier nicht weiter zurückverfolgen. Auch die obigen Zitate beweisen schon zur Genüge, daß das Vorbild der für Ungarn verhängnisvollen politischen Form schon geraume Zeit im Kopfe der Ausgleichspolitiker vorhanden war. 17 Der Adreßentwurf, den das Abgeordnetenhaus am 20. Februar 1866 unverändert ange¬ nommen hat, kann bei Könyi, a.a.O. S. 385--400 nachgelesen werden. Die Zitate auf S. 386, 387, 392 und 397. 18 K. Szäsz: Egy kepviselö naplöjegyzetei (Tagebuchaufzeichnungen eines Abgeordneten), zitiert bei Könyi, a.a.O. S. 403. 19 Obwohl dieser Paragraph des Ges. Art. III. vom Jahre 1848 (§13: »Einer der Minister wird stets am allerhöchsten Hoflager sein und in allen Verhältnissen, die das Vaterland mit den Erbländern gemeinsam interessieren, Einfluß nehmend in diesen das Land bei Verant¬ wortung vertreten«) die mit den österreichischen Provinzen gemeinsamen Angelegenheiten schon beim Namen nennt und zur Verwaltung derselben ein eigenes Organ schafft und so weit über die Pragmatische Sanktion hinausgeht, wird im königlichen Reskript doch richtig festgelegt, daß er bei Feststellung der Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten auf die Verbindung der Teile des Reiches, aus der sich diese Angelegenheiten organisch ergeben, keine Rücksicht genommen hat. Lediglich in einem geringen Sektor des Heerwesens wurde (im § 8) konkret verfügt. 20Der Text des Reskripts: Könyi, a.a.O. S. 443 -- 448. 21 Könyi, a.a.O. S. 448. Zitat aus dem Tagebuch Goroves. 22 Das Magnatenhaus hat den Adreßentwurf nur mit einer Mehrheit von 4 Stimmen ange¬ nommen; im Abgeordnetenhaus nahm Andrässy gegen den scharfen Ton Stellung (ebd. S. 463 und 468). 23 Text des Adreßentwurfs ebd. S. 452--463. 21 Hierüber ebd. S. 505--509. Siehe weiter I. Zolger: Der staatsrechtliche Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn. Leipzig 1911, S. 6--9. 25 Könyi, a.a.O. S. 519. 26 Ebd. S. 519. 27 Ebd. S. 520. 28 Ebd. S. 524. Hier soll -- wenn auch streng genommen nicht am Platze -- bemerkt wer¬ den, daß die wirtschaftlichen Fragen bei den Ausgleichsverhandlungen vom ersten Augen¬ blick an nur als zweitrangiges Problem fungierten, das später zu lösen sein wird. 29 Ebd. S. 524. 30 Ebd. S. 526. 107 || || 31 Der Herrscher bedeutete natürlich nicht nur die Person Franz Josephs selbst. Der Stand¬ punkt des Herrschers enthielt auch die Ansicht und die politische Zielsetzung eines Teiles der österreichischen herrschenden Klassen. Er enthielt aber bei weitem nicht die Ansicht all jener Klassen, die -- wie wir aus einigen weiter unten zitierten Aussprüchen österreichischer Politiker sehen werden -- selbst in diesem Parlament vertreten waren. Noch weniger natürlich jener, die im Laufe eines halben Jahrhunderts des Dualismus in den oft bis zum äußersten zugespitzten Debatten des österreichischen Reichsrats nicht zu Worte kommen konnten. Wenn ich also vom Herrscher spreche, denke ich über die Person Franz Josephs hinaus auch an jenen Teil der deutschösterreichischen herrschenden Klasse, dessen politische Zielsetzungen und Willen der Herrscher und die hinter ihm stehende und mit den ungarischen Staatsmännern verhandelnde Clique zum Ausdruck brachten. Eine derartige Konzipierung der Angelegen¬ heiten mag vielleicht als Vereinfachung der Frage erscheinen, doch kann ich, worauf ich wiederholt hinweisen werde, bei der Untersuchung der sekundären Erscheinungen die Zusam¬ menhänge nur in der Summierung der sich auch an der Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens (wie die politischen Kämpfe, die Erledigung der Angelegenheiten usw.) sich zeigenden Arbeit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte aufzeigen. 32 Ebd. Im weiteren wird der Antrag der Minderheit noch detaillierter behandelt werden. Daraus werden die Motive ihrer Stellungnahme klar ersichtlich sein. 33 Ebd. S. 542. 34 Ebd. S. 529 (Hervorhebung von mir -- M. K.). 35 Ebd. S. 529 (Hervorhebung von mir -- M. K.). 36 Worauf ich bereits hingewiesen habe, hat dies Deäk nur gesagt, richtiger verraten, weil sowohl Andrässy als auch Tisza und ihr Anhang entschlossen dagegen auftraten, die Beendi¬ gung des Ausgleichswerkes den Zufälligkeiten einer Parlamentsdebatte auszusetzen, deren Ausgang unabsehbar war. 37 Schon der Referent des österreichischen »Antrages«, Dr. Brestei hat am 12. November 1867 festgestellt, der zur Ausarbeitung der Vorlage entsandte »Ausschuss konnte jedoch nicht verkennen, dass bei der gegenwärtigen Sachlage von jeder Modification der einschlä¬ gigen Bestimmungen des ungarischen Gesetzartikels abgesehen werden müsse, soll anders der Ausgleich mit Ungarn und mit ihm die so dringend nothwendige Ordnung unserer staat¬ lichen Verhältnisse nicht gefährdet oder mindestens auf eine lange Zeit hinausgeschoben werden. Die fraglichen Bestimmungen wurden nämlich seinerzeit zwischen der Reichsregierung und Ungarn vereinbart und von Sr. Majestät in seiner Eigenschaft als König von Ungarn sanctioniert; so erübrigt doch angesichts der gewordenen Verhältnisse dem Reichsrathe nichts, als sich den Thatsachen fügend die Zwangslage, in der er sich befindet zu constatiren und die Verantwortlichkeit in Betreff der fraglichen Bestimmungen jenen zu überlassen, welche sie entworfen und vereinbart haben« (Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Reichsrathes. IV. Session. Bd. II. Wien 1869. S. 1320--1321). Auch nach den Worten des Abgeordneten Plener kann »... nur eine Zwangslage. .. uns vermö¬ gen ... unsere Zustimmung zu dem Schritte zu ertheilen, welcher heute vollzogen werden soll« (ebd. S. 1327). Der Abgeordnete Pratobevera sprach von einem Entschluß »de nobis sine nobis« (ebd. S. 1338). Abgeordneter Edler v. Mende sagte: »Einem Zwange aber, wie ich ihn berührt habe, müßte, glaube ich, jeder Politiker weichen und auch wir werden dem Zwan¬ ge, der thatsächlichen Verhältnisse ganz richtig weichen müssen.« (Ebd. S. 1330.) Auch Schmerling sagte: »wir wurden einem Fait accompli gegenübergestellt«. Baron Beust, der die Debatte im Namen der Regierung abschloß, war bestrebt, die Sache zu beschönigen, indem er erklärte, daß »die Tatsachen, auf die so oft hingewiesen wird, nicht aus dem freien Willen der jetzigen Regierung geschaffen wurden, sondern eine fast unausbleibliche Folge der stufenweisen Entwicklung der Dinge waren«. 38 Könyi, a.a.O. S. 341. In dieser Gegenüberstellung hat der für feine Distinktionen emp¬ findliche Eötvös auch unwillkürlich das ungarische Maximum des Ausgleichs beim Namen genannt: innere Selbstverwaltung, die er nicht einmal als Minimum ins Auge faßte; im End¬ ergebnis wurde aber nicht mehr erreicht. Im weiteren wird hiervon noch die Rede sein, wenn der ganze Ausgleich dem Urteil Kossuths unterworfen wird. 108 || || 39 Könyi, a.a.O. S. 333. 40 G. Värady schrieb in seinen »Orszdggyülesi Levelek« (Briefe aus dem Parlament) am 24. Mai 1866: »Bald . . . wird auch die Frage der so oft erwähnten 'Delegationen' aufs Tapet kommen . . .« Auch die Zeitgenossen fühlten, daß die scheinparlamentarische Institution, die berufen war, das gemeinsame Parlament der gemeinsamen Monarchie zu ersetzen, die Dele¬ gationen, den Eckpfeiler des Ausgleichswerkes bilden. Im weiteren werden österreichische Ansichten und das österreichische Gesetz zitiert. Aus diesen ist ersichtlich, daß auch in Zisleithanien die Frage so gesehen wurde. 41 Könyi, a.a.O. S. 530 (Hervorhebung von mir -- M. K.). 42 Ich möchte mich auch hier auf Feststellung des vorhergehenden Abschnitts über den sich in erster Linie mit Struktur- und Oberflächenerscheinungen befassenden Charakter der einführenden Studie berufen. Hier werden Tatsachen der geschichtlichen Entwicklung in Betracht gezogen, die Ausfluß der wirtschaftlichen Grundlage sind: wenn ich daher kausale Zusammenhänge feststelle, verweisen diese Zusammenhänge auf die Verbindung von Erschei¬ nungen auf der Oberfläche. Mit dem Zweck, in den Zusammenhängen der staatlichen Struktur die zur Bewertung des gemeinsamen Ministerrates und seiner Protokolle aus den Hilfs¬ wissenschaften der Geschichte (bis hinab zu den aktenkundlichen Beziehungen) heraus notwendigen geschichtlichen Elemente zu finden. 43 Ebd. S. 531. 44 Ebd. S. 532. 46 Ebd. S. 532 (nach dem Tagebuch Menyhert Lönyays). -- Andrässy, dem Deäk seine Vorstellungen detailliert auseinandergesetzt hatte, bezog sich im Laufe seiner Argumentation wiederholt darauf, daß sich durch gemeinsame Abstimmungen die Gefahr erhöhe, daß aus den Delegationen ein Reichsparlament werde: »Ich befürchte, daß im Falle, daß die 40 Deut¬ schen zusammenstehen, es nur eines einzigen Ungarn bedürfe, und wir geraten in Minderheit. Die Kroaten befinden sich in unseren Reihen, und es hängt von ihnen ab, ob sie uns in die Minderheit geraten lassen.« (Ebd. S. 547.) Schließlich nahm Andrässy von seiner Auffassung Abstand. 46 Ebd. S. 547. 47 Ja beim Endausgang, an der Schwelle des Weltkrieges hat der Minister des Äußern in seinem Wirkungsbereich eine Macht repräsentiert, die selbst die Spitzenregierung absorbiert hatte. 48 Ebd. S. 537. 49 Nyäry hat -- laut Lonyay (ebd. S. 540) -- die Sache auch beim Namen genannt, als er erklärte: »Eine Entscheidung durch Majoritätsbeschluß würde sie (d.h. die Delegationen) zum Reichsparlament machen.« 50 Den in Minderheit gebliebenen Antrag der Tisza-Fraktion s. bei Könyi, a.a.O. S. 564--570. 61 Im vorangehenden habe ich auf S. 10.8, in der Anmerkung 37 Meinungen von Reichsrats¬ abgeordneten zitiert, wonach sie bei der Behandlung ihres eigenen Ausgleichsgesetzes -- da das ungarische Ausgleichsgesetz bereits die Sanktionierung erhalten hatte -- in einer Zwangslage waren. 52 Das sagte Plener (Könyi, a.a.O. Bd. V, S. 285); laut Mende ist die Form unzulänglich (ebd. S. 287). Der Abgeordnete Skene (Mähren) meinte: ». . . so ist es eben gar nichts Anderes, als die ungarische Herrschaft verquickt mit dem alten Absolutismus« (StenographischeProtokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Reichsrathes, a.a.O. S. 1335. Hervor¬ hebungen von mir -- M. K.). Der Abgeordnete Pratobevera hegte ebenfalls alle bezüglich der Delegationen vorgebrachten Befürchtungen (ebd. S. 1338--1339). Selbst der Reichs¬ kanzler, Baron Beust, hielt die Institution der Delegationen nicht für ein Ideal parlamentari¬ scher Vollkommenheit (ebd. S. 1465--1467). 63 Klar wurde dieser Standpunkt der ungarischen staatsrechtlichen Auffassung im Lehr¬ buch von O. Eöttevenyi Nagy: Oszträk közjog (Österreichisches Staatsrecht). Budapest 1913 formuliert. Hiernach (S. 224 ff.) erklärt der diesbezügliche Abschnitt des österreichischen Ausgleichsgesetzes (§ 6 des Ges. vom 21. Dez. 1867) die Delegationen ausdrücklich für eine gesetzgebende Körperschaft, indem er besagt, daß die Delegationen von den legislatorischen Rechten der Parlamente der beiden Reichshälften jene ausüben, die sich auf die gemeinsamen 109 || || Angelegenheiten beziehen. Bewußt mit der Absicht, daß sich die Delegationen zu einem Zentralparlament entwickeln, wie dies die politische Praxis der letzten Jahre auch beweist, »denn«, heißt es bei Eöttevenyi Nagy, »in Österreich werden in den Delegationssitzungen auch solche Themen zur Sprache gebracht, die keinesfalls in die bei Budgetberatungen übli¬ chen Erörterungen eingereiht werden können, wie zum Beispiel die Nationalitätenfrage«. Mit Bedauern stellt hier Eöttevenyi Nagy fest, daß sich auch die Ungarn nicht immer auf die Erörterung der im Gesetz festgelegten Themen beschränken. Lediglich als Illustration der Behauptung Eöttevenyi Nagys möchte ich mich auf eine Bemerkung Kramafs berufen, die dieser in der österreichischen Delegation am 27. Febr. 1908 in der Debatte des Budgets der Kriegsmarine gemacht hat. Kramaf protestierte gegen den in der ungarischen Delegation vorgebrachten Wunsch, der angeblich die Aufstellung einer ungarischen Flottendivision bezweckte. Er protestierte scharf dagegen, daß in Ungarn mit ihrem Gelde magyarisiert werde (Stenographische Sitzungsprotokolle der Delegation des Reichsrathes. Wien 1908 S. 946). 54 Abgeordneter Edler v. Plener (Böhmen): »Die staatsrechtliche Abnormität, welche ich erwähnt habe, tritt aber durch die Betrachtung am allergrellsten hervor, dass die von den Delegationen bewilligten sogenannten gemeinsamen Auslagen keiner Votierung mehr in dem delegierenden Reichsrathe unterliegen, sondern dass für den Reichsrath nur das Gebot besteht, für die von der Delegation ihm zugewiesenen Auslagen die Bedeckung zu verschaffen, und dass sonach der eigentlich massgebende und bewilligende Körper und der die Mittel und Wege herbeischaffende Körper nicht mehr der nämliche ist.« (Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Reichsrathes, a.a.O. S. 1328). 55 Abgeordneter Freiherr v. Giovanelli: ». . . ich erblicke in den Delegationen die wichtigste politische Körperschaft des Reiches, denn sie ist jene Institution, welche die Einheit und Macht des Reiches vermittelt und in welcher die wichtigsten und notwendigsten Interessen der Gesammtmonarchie zum Ausdrucke kommen. Eben in Interesse der Macht und der Einheit Österreichs muß ich es wünschen und will es hoffen, dass in richtigem Verständnisse der gegenseitigen Verhältnisse allmälig eine Erweiterung des Wirkungskreises der Delegationen, ein besserer, mehr geeigneter Verhandlungsmodus der Geschäfte in den Delegationen eintreten werde«. (Ebd. S. 1341.) Abgeordneter Dr. Johann Nepomuk Berger (Niederöster¬ reich): »Das sind entwicklungsfähige Keime, Keime, die zu einer größeren Verallgemeinerung des Reichsgemeinsamen führen können.« »Allein, schon auf dem Gebiete der Natur ist es ein Gesetz, dass, je höher ein Organismus entwickelt ist, je grösser seine Aufgaben und Functio¬ nen sind, desto complicirter und nuancirter auch sein Organismus ist.« (Ebd. S. 1360). Im Herrenhaus argumentierte Schmerling, die Delegationen bildeten eine Institution, die Keim eines Zentral-, eines Reichsparlaments werden könne. Wir nehmen daher das Gesetz über die Delegationen in der Hoffnung an, daß sich aus diesen mit der Zeit eine Reichsvertretung entwickeln wird, die alle Teile des kaiserlichen Reiches zusammenfassen wird, und daß in dieser Reichsvertretung die einzelnen Rassen einander in einmütiger Tätigkeit die Hände reichen werden (Könyi, S. 318). 56 »Es ist nicht möglich, daß die kleinen Vertretungen einzelner Provinzen irgend eine Macht haben gegenüber der Krone und der Administration, nur dann ist ein Schwerpunct zu finden und möglich, daß er sich bewähre, wenn das ganze Volk Zusammentritt und durch seine Vertreter den Gegendruck auf die Krone und die Administration ausübt. Das ist jetzt gänzlich aufgegeben, wir haben keine Macht gegen die Regierung.« (Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des Reichsrathes, a.a.O. S. 1335. Hervor¬ hebung von mir -- M.K.) 57 Dies ist zweifellos in erster Linie eine Folge des Umstandes, daß das österreichische Gesetz auf Grund des ungarischen abgefaßt wurde; in Zisleithanien wurden nicht nur der für überflüssig gefundene politische Aufputz, sondern auch der stilistische Schwulst weggelas¬ sen. Übrigens fehlen im österreichischen Gesetz nicht nur im Abschnitt über die Delegationen, sondern auch in der Einleitung des Gesetzes die weitschweifigen, geschichtlich-politischen, Gedankengänge, die als detaillierte Begründung die einleitenden Paragraphen des ungarischen Gesetzes füllen. Der große Unterschied in der Abfassung der zwei Gesetze hat dann im Laufe der Zeit Grund zu sehr vielen Mißverständnissen, absichtlichen Mißdeutungen und Gekränkt- IIO || || sein Anlaß gegeben. Im Jahre 1908, als sich die schon in den Vorjahren über die Titel der Reichsminister geführte Debatte zwischen dem gemeinsamen Ministerium und der an die Regierung gekommenen ungarischen Opposition verschärfte, bezeichnete der ungarische Ministerpräsident Sändor Wekerle die abweichende Textierung des ungarischen und des österreichischen Gesetzes als Grund des Übels (Stenographische Sitzungsprotokolle der Delegation des Reichsrathes, S. 981 -- 982). 58 Eöttevenyi Nagy, a.a.O. S. 220. Eine eingehende Analyse der zwei Gesetze: I. Zolger, a.a.O. Am Ende des Werkes werden die beiden Gesetze parallel veröffentlicht. Die Paragraphen über die Delegationen auf S. 322 ff. 50 § 6 des Gesetzes vom 21. XII. 1867: »Das den Vertretungskörpern beider Reichshälften (dem Reichsrate und dem ungarischen Reichstage) zustehende Gesetzgebungsrecht wird von denselben, insoweit es sich um die gemeinsamen Angelegenheiten handelt, mittels zu entsenden¬ der Delegationen ausgeübt.« 60 Als im Jahre 1906 davon die Rede war, ob die Mitglieder der Delegationen als Gesetz¬ geber dem Herrscher in einer Audienz huldigen sollen, erklärte der ungarische Delegierte Hollö, er werde zwar daran teilnehmen, doch müsse man in Hinkunft alle Äußerlichkeiten vermeiden, die »den Delegationen den Schein oder den Charakter höherer Gesetzgebung verleihen würden«. Der Kommission für gemeinsame Angelegenheiten »komme kein Gesetzgebungs¬ recht zu«. Diese ist nur eine ebensolche Kommission wie die anderen Landeskommissionen (z.B. die Quotendeputation). »All das, was wir hier annehmen und bestimmen, erhält im Sinne unserer Gesetze durch die Annahme oder Ablehnung unserer Beschlüsse durch die Gesetzgebung die endgültige Sanktion.« Auch Emil Nagy ist der Meinung, »es müsse jede Verfügung vermieden werden, die den Anschein erwecken würde, die Landeskommission sei eine Körperschaft, der Gesetzgebungsrecht zukomme . . .« Közösügyi Bizottsäg Naplöja (Protokoll der Delegation für gemeinsame Angelegenheiten). Budapest 1906, Bd. I, Sitzung am 9. VI., S. 3 u. 5 (Hervorhebungen von mir -- M. K.). 61 Haus-, Hof- und Staatsarchiv (im weiteren HHStd) Min. d. Äuß. Pol. Arch. Delegations- Akten. Karton rot 563, fol. 52--53. Diese Lösung »hat sich«, wie der Brief Nr. 1199/1868 Beusts vom 18. Oktober an den Minister des Innern Dr. Giskra beweist (ebd.), »bewährt«. 62 Siehe die Zuschrift Beusts an das Präsidium der ungarischen Delegation: Er halte es für zweckmäßig, daß neben den Delegationen »je ein Hilfsbeamter aus dem Status der gemeinsa¬ men Ministerien tätig sei, dessen Aufgabe es wäre, den ordnungsgemäßen Verkehr der Dele¬ gationen untereinander, den Kontakt mit den gemeinsamen Ministerien, ferner die beim Präsidium der Delegation sich ergebenden und sonstigen Angelegenheiten, welche die Dele¬ gationen nicht durch ihre eigenen Mitglieder zu erledigen wünschen, abzuwickeln« (ebd. fol. 101 -- 102). Es ist kein Zufall, daß der konservative Graf Majläth in seinem am 31. Aug. 1869 an Beust gerichteten Schreiben diese Lösung mit besonderem Lob erwähnte (ebd. fol. 174-179). 63 Ebd. fol. 205 und 233-238. 61 Die bezüglichen Abschnitte des Ausgleichsgesetzes siehe bei Zolger, a.a.O. S. 329-- 330. -- Die Parität, als bei gemeinsamer Abstimmung zu befolgender Vorgang, kommt bezeich¬ nenderweise nur in der ungarischen Fassung vor; ebenso wird nur in dieser betont, daß der Zweck der gemeinsamen Sitzung nur die einfache Abstimmung sein könne. Diese Beschrän¬ kung der Tätigkeit der Delegationen war das Zugeständnis, das Deäk und seine Anhänger im Interesse der Annahme des Gesetzentwurfes denen machten, die das Entstehen eines Reichs¬ parlamentes befürchteten. Hingegen haben -- wie wir bereits bei der Behandlung der Debatte über den Ausgleichsgesetzentwurf im österreichischen Reichsrat gesehen haben -- die Öster¬ reicher eben in der Tatsache der gemeinsamen Abstimmung den Keim der Herausbildung eines gemeinsamen, eines Reichsparlamentes erblickt und sie haben ebendeshalb diesem -- ihrer Ansicht nach monströsen -- Gesetzentwurf zugestimmt. Unter den zahlreichen Wider¬ sprüchen der höchsten Regierungs-, Gesetzgebungs- und politischen Organisation der Habs¬ burgmonarchie ist einer der grundlegendsten der Umstand, daß die Funktion der Dele¬ gationen in der ungarischen und der österreichischen Fassung des Ausgleichsgesetzes einander widersprechend bestimmt wurde. 65 Dies, besonders das Verbot, daß sich die Delegationen in die inneren Angelegenheiten III || || der einzelnen Länder einmischen, wurde derart scharf schon von der ungarischen staats¬ rechtlichen Auffassung formuliert. S. K. Kmety: A magyar közjog tankönyve (Lehrbuch des ungarischen Staatsrechts). Budapest 1911, 5. Aufl. S. 516. Der diesbezügliche Paragraph (§ 37) des ungarischen Ausgleichsgesetzes (Ges, Art. XII. v. J. 1867) lautet folgendermaßen: »In den Wirkungsbereich dieser Delegationen können nur die Gegenstände gehören, die in diesem Beschluss als gemeinsame Angelegenheiten ausdrücklich den Delegationen zugewiesen werden. Die Delegationen können in ihren Verfügungen darüber nicht hinausgehen und können sich nicht in Angelegenheiten einmengen, die dem ungarischen Parlament und der ungari¬ schen Regierung Vorbehalten sind.« (Hervorhebungen von mir -- M.K.) Das österreichische Gesetz (Ges. vom 21. Dez. 1867) formuliert im ersten Teil des entsprechenden Paragraphen (§ 13) den Verhandlungsbereich der Delegationen nicht ausschließend, auch im zweiten Teil wird nicht konkret hervorgehoben, daß sich die Delegationen nicht in die Angelegenheiten der einzelnen Parlamente und Ministerien einmengen dürfen, die Rechtssphäre der Delegatio¬ nen wird negativ nur im allgemeinen abgegrenzt. »Der Wirkungskreis der Delegationen umfaßt alle Gegenstände, welche die gemeinsamen Angelegenheiten betreffen. Andere Gegenstände sind von der Wirksamkeit der Delegationen ausgeschlossen.« (Hervorhebungen von mir - M.K.) 66 Der ungarische Ministerpräsident Andrässy beantragt in seiner an den Reichskanzler und Minister am kaiserlichen Hoflager und des Äußern Beust am 13. August 1868 gerichteten Zuschrift (HHSta. Min. d. Äuß. Pol. Arch. Delegations-Akten, Karton rot 563, fol. 245 ff.), die erste Session der Delegationen nach Budapest einzuberufen, um auch dadurch »diese Institution, die sich in das ungarische Staatsrecht und in das Vertrauen des Volkes erst allmälig einzuleben haben wird, besonders in der ersten Zeit dem Lande erwünscht erscheinen zu las¬ sen«. Über die Formalitäten bei Einberufung der Delegationen, die im wesentlichen bis zum Zusammenbruch der Monarchie unverändert geblieben sind, siehe den Erlaß, den Franz Joseph auf Antrag des Reichskanzlers Beust am 11. Januar 1868 an den ungarischen Minister¬ präsidenten Andrässy und an den österreichischen Ministerpräsidenten Auersperg gerichtet hat: HHSta. Min. d. Äuß. Pol. Arch. Delegations-Akten, Karton rot 563, fol. 30--31. -- Zeitpunkt und Tagesordnung der Delegationssessionen wurden vom Reichskanzler (bzw. dem gemeinsamen Minister des Äußern) stets im Einvernehmen mit den Regierungen der einzelnen Länder bzw. den übrigen gemeinsamen Ministern bestimmt. Bezüglich der für den 12. November 1868 einzuberufenden Session der Delegationen spricht der Kanzler Beust bereits vom Gebrauch: »In formeller Beziehung dürfte sich die Einhaltung des bei der ersten Einberufung der Delegationen stattgefundenen Vorganges empfehlen...« (ebd. fol. 268-- 271). Ebenso im Jahre 1870: »In formeller Beziehung dürfte es angezeigt sein, bei der Ein¬ berufung und Eröffnung beider Delegationen wieder den im Vorjahre beobachteten Vorgang einzuhalten.« (Ebd. fol. 47--50.) 67 § 41 des ungarischen Gesetzes: »Das auf diese Weise festgestellte Budget kann von den einzelnen Ländern nicht mehr behandelt werden ...« Im österreichischen Gesetz wird hier¬ über detailhert und in bestimmter Form nicht gesprochen. »Da die Budget-Debatten unstreitig die wichtigsten Momente der legislativen Tätigkeit bilden«, schreibt Andrässy unter Nr. 322/ ME im Jahre 1869 an Beust, »so glaubt das ungarische Ministerium ein besonderes Gewicht darauf legen zu sollen, daß dieselben, indem sie alle Detailfragen der Gesamt-Administration berühren, sowohl im Reichstage, als auch in der Delegation in einer dem Zwecke entsprechen¬ den Weise stattfinden, und dies umsomehr, als die konstitutionelle Lebensfähigkeit der Institu¬ tion der Delegationen erst bei Festsetzung und genauer Beobachtung eines gewissen Systems an den Tag treten wird« (ebd. fol. 36--37. Hervorhebung von mir -- M.K.). Die Ordnung aber erforderte, daß die Delegationen bereits im Monat Januar zusammentraten und das Budget rechtzeitig bestimmten. So wird es den Parlamenten beider Länder ermöglicht, das Budget für das kommende Jahr schon im Februar oder März zu behandeln und zu votieren. Die Ordnung hätte natürlich auch erfordert, daß die Delegationen den Budgetvoranschlag recht¬ zeitig erhielten und dann gut vorbereitet zu demselben meritorisch Stellung nehmen konnten. Es ist kein Zufall, daß dies in den seltensten Fällen geschehen ist. Das ist eine Erscheinung der unklaren, zweideutigen Politik des Ausgleichs, die die parlamentarische Form der Erledi¬ gung der gemeinsamen Angelegenheiten von Anfang an nicht ernst genommen hatte. Der 112 || || ungarische Delegierte Rakovszky hat am 9. Juni 1906 das gemeinsame Ministerium leiden¬ schaftlich angegriffen, weil es trotz des in den letzten zwei Verhandlungen der Delegationen gegebenen feierlichen Versprechens den Budgetentwurf für die gemeinsamen Angelegenheiten nicht »rechtzeitig vor dem Zusammentreten der Delegationen« vorgelegt hatte. A Közösügyi Bizottsäg Naplöja, a.a.O. Sitzung am 9. Juni, S. 4. 68 Es wäre eine sehr anziehende und lohnende Aufgabe, über die Geschichte der Delegatio¬ nen einen möglichst vollständigen Überblick zu geben. Doch muß hier bemerkt werden (und dies gilt auch für das über die Delegationen bisher Gesagte), daß hier über diese Frage nur gesagt werden kann, was unbedingt notwendig ist, um diesen Teil der im Ausgleich geschaf¬ fenen, eigenartigen Staatskonstruktion im großen und ganzen verstehen zu können. Zur Bekräftigung der Behauptung, daß wiederholt versucht wurde, die Delegationen zu einem parlamentarischen Debattenforum auszuweiten, könnte viel Illustrationsmaterial angeführt werden. Wir müssen uns aber damit begnügen, einige Worte aus der am 27. Oktober 1908, also in einem kritischen Moment im Leben der Monarchie in der österreichischen Delegation von dem Abgeordneten Professor Oswald Redlich, einem vorzüglichen Kenner der Geschichte und der Struktur der Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehaltenen großen Rede zu zitieren. In dieser hatte er nur so beiläufig die Aufgabe der Delegierten bestimmt: »Für uns, die wir hier als verantwortliche Vertreter des Volkes, dem wir angehören, die Politik der gemeinsamen Regierung zu prüfen und zu beurteilen haben . . .« (Stenographische Sitzungspro¬ tokolle der Delegation des Reichsrathes, S. 66. Hervorhebung von mir -- M.K.). Vergeblich wurde in den ungarischen staatsrechtlichen Lehrbüchern betont, daß in den Delegationen nur über Fragen des Budgets verhandelt werden könne, es haben nicht nur die Österreicher, die in den Delegationen so etwas wie ein kleines Reichsparlament gesehen haben, sondern mit der Zeit auch die Ungarn bei Behandlung des Budgets die auswärtige Politik kritisiert. Auch hierfür ein Beispiel. Tivadar Batthyäny hat in der Sitzung der ungarischen Delegation am 25. Juni 1906 seine Rede mit folgenden Worten begonnen: »Bevor ich auf die Behandlung des Budgets des Ministeriums des Äußern bzw. auf die Kritik unserer Außenpolitik und des damit verbundenen Vorgehens des Herrn Ministers des Äußern übergehe . . .« (A Közösügyi Bizottsäg Naplöja, a.a.O. S. 57. Hervorhebung von mir -- M.K.). 69 Über die Quote siehe §§ 3 und 36 des österreichischen Gesetzes und §§ 18--22 des unga¬ rischen Gesetzes (Zolger, a.a.O. S. 318--319). Auch über die Regelung der Quote stimmen die österreichische und die ungarische Fassung des Ausgleichs nicht überein. Das österreichi¬ sche Gesetz statuiert z.B. die Deputationen nur alternativ, neben den einzelnen Parlamenten, als bei den Verhandlungen nur in zweiter Reihe in Frage kommende organische Form. 70 Redlich, a.a.O. Bd. II, S. 590. 71 So am 27. Januar (K.Z. 1472. - MR. § 48), am 9. April (K.Z. 1482 - M.R.Z. 58), am 17. Oktober (K.Z. 3901 - M.R.Z. 105), am 28. Oktober (K.Z. 3902 - M.R.Z. 106), am 29. Oktober (K.Z.3903 - M.R.Z. 107), am 23. Dezember (K.Z. 3915 - M.R.Z. 119). HHSta. Min. d. Äuß. Ministerr.-Prot. Karton 42--43. 72 Nach Kennenlernen des ungarischen Standpunkts hat der österreichische Ministerrat seine Ansichten in einer Schrift mit dem Titel »Einwendungen« niedergelegt. Darauf haben Andrässy und Lönyay geantwortet (»Erwiderung«), Im September 1866 wurden die Verhand¬ lungen wegen des Krieges zwischen Österreich und Preußen unterbrochen und erst im Januar 1867 wieder aufgenommen. Anfangs fungierte noch der von der österreichischen Regierung ausgearbeitete und 50 Paragraphen umfassende »Gesetzentwurf über die gemeinsamen Ange¬ legenheiten und deren konstitutionelle Behandlung« als Verhandlungsgrundlage (Zolger, a.a.O. S. 14-15). 73 So auch in dem oben angeführten Ministerrat vom 23. Dezember. Die wichtigsten Teile des Protokolls bringt auch Redlich, a.a.O. Bd. II, S. 537 ff. 74 Am Ministerrat vom 1. Februar, auf dem der Kaiser den Vorsitz führte, nahm Belcredi noch als Staatsminister teil, im Protokoll steht aber in der Rangliste der Minister Beust als Minister des kaiserlichen Hauses und des Äußern bereits vor ihm (K.Z. 320 -- M.R.Z. 125. HHSta. a.a.O.). Im Ministerrat vom 24. Januar (K.Z. 319 -- M.R.Z. 124) führte Staats¬ minister Belcredi den Vorsitz. Beust stand in der Rangliste damals natürlich noch weiter hinten (ebd.). 8 Komjäthy: Protokolle 113 || || 75 Über die äußere Geschichte des Ausgleichs siehe G. Gratz: A dualizmus kora (Das Zeit¬ alter des Dualismus). Budapest 1934, Bd. I, S. 12 ff, 38 ff. -- Von österreichischer Seite: R. Charmatz: Österreichs innere Geschichte von 1848 bis 1895. Bd. I. (Aus Natur und Geistes¬ welt, Bd. 651) Leipzig--Berlin 1918, S. 71 ff. -- Hantsch: a.a.O. Bd. II, S. 399 ff. -- M. Uhlirz: Handbuch der Geschichte Österreichs und seiner Nachbarländer Böhmen und Ungarn. Graz- Wien--Leipzig 1941, Bd. II, 2. Teil, S. 897 ff. beschreibt in lebhaftem, plastischem Vortrag die Entstehung des Ausgleichs, aber in stark deutsch-nationalistischem Sinne. Übrigens näherte sich keines der angeführten Werke der Frage mit der Absicht, die tieferen, sozialen Zusammenhänge aufzudecken. -- Eine fein nuancierte Charakterisierung der Rolle Belcredis und Beusts und eine Würdigung des Ausgleichs aus höherem Gesichtspunkt findet sich bei Redlich, a.a.O. S. 577, 592, 672 ff. Redlich hat in sein Werk den Text der Protokolle der entscheidenden Ministerratssitzungen eingeflochten (Ministerrat vom 1. Februar 1867: S. 559 ff. Ministerrat vom 14. Februar 1867: S. 828 ff.). 76 In der Weise, daß -- wie bereits wiederholt erwähnt -- die Notwendigkeit des Ausgleichs selbst damit unterstrichen wurde, daß auch die Völker jenseits der Leitha (nach österreichi¬ schem Wortgebrauch in Zisleithanien) eine Verfassung erhielten. 77 Der entsprechende Teil der beiden Gesetzestexte parallel nebeneinander in Zolger, a.a.O. S. 310--318. Es verdiente, gründlicher analysiert zu werden, daß die Pragmatische Sanktion, deren ungarische Fassung letzten Endes der verfassungsrechtliche Schlußstein der Niederschlagung des Freiheitskampfes unter Räkoczi war, in der ungarischen Fassung des Ausgleichs, der bestimmt war, die letzten Wellen des Freiheitskampfes 1848--49 zu glätten, eine so prädominante Rolle spielt zum Unterschied von der österreichischen Fassung. 78 Dieses erste Moment der Begrenzung des Wirkungsbereichs des zu schaffenden gemein¬ samen Ministeriums habe ich nur aus der im ungarischen Gesetz enthaltenen negativen Defini¬ tion der Aufgaben der Delegationen hervorgehoben (§ 28: ». . . für den Teil der gemeinsamen Angelegenheiten, der nicht rein in die Kompetenz der Regierung gehört. . .« Hervorhebung von mir -- M.K.). 79 Der entsprechende Paragraph des österreichischen Gesetzes vom 21. Dezember 1867 (§ 5) besagt wiederum wesentlich kürzer nur: »Die Verwaltung der gemeinsamen Angelegen¬ heiten wird durch ein gemeinsames verantwortliches Ministerium besorgt, welchem jedoch nicht gestattet ist, nebst den gemeinsamen Angelegenheiten auch die besonderen Regierungs¬ geschäfte einer der beiden Reichsteile zu führen.« (Die beiden Texte einander gegenübergestellt bei Zolger, a.a.O. S. 321.) 80 Das österreichische Gesetz (§ 28) drückt dies etwas prägnanter aus. Die beiden Texte siehe bei Zolger, a.a.O. S. 331 -- 332. Auf diese Frage werde ich im weiteren noch zurück¬ kommen. Die Ausgleichsgesetze waren auch in dieser Hinsicht nicht genügend konkret. Die Art der Verantwortlichkeit der gemeinsamen Minister war stets ein Problem. In dieser Frage mußten die Zuständigen von Zeit zu Zeit Stellung nehmen. So wird in der Zuschrift des Ministers des Äußern Gyula Andrässy an den gemeinsamen Kriegsminister vom 18. Okto¬ ber 1877 unter anderem festgelegt: »Aus dem ungarischen Gesetzartikel XII. von 1867 ergibt sich eine Verantwortlichkeit sowohl für das gemeinsame Ministerium, als auch für jedes Mitglied dieses Ministeriums.« (HHSta. Min. d. Äuß. Pol. Arch. Karton rot 566, fol. 69.) 81 Aus dem entsprechenden Abschnitt des österreichischen Gesetzes fehlt diese Bedingung. In diesem wird nur die parlamentarische Genehmigung der durch den Minister des Äußern geschlossenen internationalen Verträge gefordert: ». . . die Genehmigung der internationalen Verträge, in soweit eine solche verfassungsmäßig notwendig ist, den Vertretungskörpern der beiden Reichshälften (dem Reichsrate und dem ungarischen Reichstage) Vorbehalten bleibt«. (§ la) Zolger, a.a.O. S. 313. 82 Könyi, a.a.O. Bd. III, S. 530. 83 Ebd. S. 529. 81 Über die Registrierung der Protokolle, auf die wenigstens teilweise Kontinuität der laufenden Nummern verweise ich den Leser auf die am Ende der Einleitung befindliche Zu¬ sammenfassung (Formalitäten der Protokolle). 85 Daß nämlich die -- in Ermangelung eines besseren Ausdrucks könnte man sagen: vollberechtigten -- Mitglieder des Reichs- (später gemeinsamen) Ministerrates die Protokolle || || stets auf dem Mantelbogen (»zur Einsicht«) unterschrieben haben, während die Namen der zum Ministerrat geladenen Fachleute (in der Ministerratssitzung am 14. Februar 1867 die Mitglieder des künftigen ungarischen Ministeriums) nur unter den Anwesenden (»Gegen¬ wärtige«) aufgezählt wurden. 80 »Instruktion für das Gesamtministerium«. Den Text derselben mit einer eingehenden Analyse siehe bei Redlich, a.a.O. Bd. II, S. 408--409. Anmerkung. 87 Text der Rede bei Redlich, a.a.O. Bd. II, S. 406--408. Ebd. auch eine Analyse der poli¬ tischen Lage. 88 Über die Herkunft des Titels Reichskanzler und über die Bedeutung des Ausdrucks Reichsministerium wird später noch ausführlich die Rede sein. 89 »Eine Ausdrucksweise für das, was man 'gemeinsam' nennt.« 90 In der Sitzung am 30. Januar (K.Z. -- M.R.Z.9) betonte Andrässy einerseits, daß die Verleihung von Titeln souveränes Recht des Herrschers sei, also auch die Verleihung des Titels Reichskanzler. Andererseits: ». . . der ungarischen Delegation gegenüber erscheine der Reichskanzler nur als gemeinsamer Minister des Äußern und das genüge«. Auf der Ministerkonferenz vom 31. Januar (K.Z. -- M.R.Z. 10), als über die Beantwortung der Inter¬ pellation beraten wurde, legte er abermals fest, daß für Ungarn der Titel Reichsminister nicht gesetzlich sei, und wenn er auch mit dem Reichsministerium solidarisch ist, würde die unga¬ rische Regierung bei Gebrauch dieses Titels in Ungarn ihre Parlamentsmehrheit verlieren. Nach Beust sei »der Ausdruck 'Reichsminister' gewählt worden, um eine bestimmte Termino¬ logie in das Gesetz zu bringen, der Wesenheit nach sei er gleichbedeutend mit 'gemeinsam'«. Sehr charakteristisch ist auch, wie Andrässy die durch Ghyczys Interpellation geschallene schwierige Lage meisterte. Wenn schon im Parlament interpelliert wird, ist es besser, wenn in einer so heiklen Frage die Interpellation seitens der Regierungspartei erfolgt. -- Für die Regierungspartei sprach Kerkäpoly. Seine Rede deckte sich im Wesentlichen mit der Ghyczys, doch nicht mit jenen Forderungen Ghyczys, die Andrässy als absurd bezeichnete (Punkt 2 der Interpellation Ghyczys, in dem die Parität des ungarischen Elementes im gemeinsamen Ministerium gefordert wird, und Punkt 3, wo behauptet wird, das ungarische Ausgleichs¬ gesetz kenne keinen gemeinsamen Kriegsminister). -- Den Ministerratsprotokollen wurden die Interpellationen und der Text der vom Ministerrat genehmigten Antworten beigelegt. Von den Antworten zitiere ich nur, was sich streng genommen auf unseren Gegenstand bezieht: man wollte die ungarische Unabhängigkeit mit dem von der österreichischen Delega¬ tion gebrauchten Ausdruck »Reich« nicht verletzen. »Es wurde vielmehr in deutscher Sprache als gleichbedeutend mit den Worten 'beiden Teilen der Monarchie gemeinsame Angelegen¬ heiten' angenommen. Indem jede Absicht hiermit einen über die gemeinsamen Angelegen¬ heiten hinausreichenden Wirkungskreis anstreben zu wollen, entschieden in Abrede gestellt wird.« 91 Über die Formalität der Protokolle, über die aktenkundlichen Beziehungen der eigen¬ artigsten Schriftendenkmäler der Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates wird später noch die Rede sein. 92 Über die Ernennung und deren Formalitäten siehe S. 29. 93 Hierüber sowie über die Protokollierung, Numerierung der Protokolle wird der Leser in der Zusammenfassung orientiert. 94 Darüber, wie die tatsächlichen, unüberbrückbaren Gegensätze sich auf die staatsrecht¬ liche Struktur der Monarchie ausgewirkt haben und wie dieser so deformierte Apparat zum Untergang des Reiches beigetragen hat, wird bei Summierung der Erörterungen über die Struktur noch die Rede sein. 95 A Közösügyi Bizottsäg Naplöja, S. 73 -- 74 (Hervorhebungen von mir -- M.K.). Im Laufe dieser Debatte kam -- wie bereits früher und auch später wiederholt -- die Frage zur Sprache, wie das sog. »ungarische Element« zur Geltung kommen könne. Der ungarische Delegierte Imre Sziväk sah das größte Hindernis dafür, daß auch Ungarn in der Diplomatenlaufbahn zur Geltung kommen, in den antidemokratischen Vorbedingungen. In der Monärchie konnte nur Diplomat werden, der über ein Privateinkommen (sogenannte »Apanage«) von wenigstens 12 000 Kronen jährlich verfügte. Diese Vorbedingung konnten laut Sziväk die Österreicher viel leichter erfüllen als die Ungarn, weil in Österreich das Durchschnittseinkommen bedeutend 8» 115 || || höher war. »Ich aber... gebe keinerlei Klasse ein Privileg.« Er ersuchte die Delegierten und den Minister des Äußern, sie mögen »von dieser schweren Vorbedingung, die nur gewissen privilegierten gesellschaftlichen Klassen den Wettbewerb gestattet«, Abstand nehmen. Sziväk sagte dies in der Sitzung vom 26. Juni 1906 (ebd. S. 95). Tags darauf, am 27. Juni sagte er im Anschluß an seine Ausführungen vom Vortage weiter über den Antidemokratismus der gesamten auswärtigen Politik: »Im ganzen genommen verüble ich als einen der größten Fehler der auswärtigen Politik, daß sie der Gefühls-, Gedanken- und Interessenwelt der Nationen gänzlich fernesteht. Das ist es, was ich vorhin so ausdrückte, daß unsere Diplomatie demokrati¬ siert werden muß.« (Ebd. S. 100. Hervorhebungen von mir -- M.K.) Sziväks Stellungnahme und weitere ähnliche Äußerungen fanden kein Echo und hatten keinerlei Erfolg. Im weiteren, bei Summierung der Dinge, werden ähnliche Stellungnahmen in den Sitzungen der österrei¬ chischen Delegation zitiert. Das, was in diesen Interpellationen über den Antidemokratismus im diplomatischen Dienst gesagt wurde bzw. was als Grundlage für diese Interpellationen diente, entsprang letzten Endes dem Umstande, daß die Reichsregierungspolitik kein par¬ lamentarisches Gegengewicht hatte. Die auswärtige Politik wurde von einer über den Nationen der Monarchie stehenden, genauer: von denselben losgelösten herrschenden Klasse gelenkt. Die herrschende Klasse bzw. deren höchste, lenkende Schicht war den verfassungsmäßigen Vertretungsorganen im wesentlichen kaum, lediglich formal über die auswärtige Linien¬ führung verantwortlich. 96 A Közösügyi Bizottsäg Naplöja, a.a.O. Sitzungen vom 10. Juni S. 13 -- 14 (Hervorhebun¬ gen von mir -- M.K.). 97 Ebd. Sitzungen vom 26. Juni, S. 91. 98 Budapesti Közlöny (Ungarisches Amtsblatt) Nr. 116 vom 16. Mai 1895. mHHSta. Min. d. Äuß. Pol. Arch. Kab. d. Min. Karton rot 630. - Magyar Orszdgos Leveltdr (Ungarisches Staatsarchiv, im weiteren: OL.) Filmarchiv. W. 1957 Karton 218 Tit. 7, S. 113 ff. '' 100 »So ist es zum Beispiel nicht möglich, daß eine Appellation an den österreichischen Ver¬ waltungsgerichtshof gerichtet werde, auch wenn ein österreichischer Staatsbürger sich in seinen Rechten durch eine Entscheidung des gemeinsamen Ministeriums des Äußern verletzt glaubt« (ebd. S. 115). 107 »Erst alle drei Faktoren -- d.h. das ungarische, das österreichische und das gemeinsame Ministerium -- zusammengenommen, gaben die Gesamtexecutivgewalt der Österreichisch- Ungarischen Monarchie«. (Ebd. S. 116). 102 Wie dies festgestellt wurde bei E. Ivdnyi: Magyar minisztertandcsi jegyzökönyvek az elsö vildghäborü kordböl (Protokolle des ungarischen Ministerrates aus der Zeit des ersten Welt¬ krieges). Magyar Orszägos Leveltär Kiadvänyai. II. 8. Budapest 1960, S. 35. 103 So z.B. an einer der bedeutendsten Ministerkonferenzen während des Weltkrieges, am 18. »Mni 1915. Die Debatte über die Deckung der außerordentlichen Kriegsausgaben wurde mit Berufung auf den Vorschlag des ungarischen Finanzministers Teleszky eingeleitet, den dieser in der Sitzung des ungarischen Ministerrats vom 5. Juni 1915 vorgelegt hatte. 104 E- Ivdnyi: Magyar minisztertandcsi jegyzökönyvek az elsö vildghdborü kordböl (Ungari¬ sche Ministerratsprotokolle aus der Zeit des ersten Weltkrieges). Budapest 1960, S. 248 u. 502 (die ungarischen Ministerratsprotokolle beziehen sich übrigens irrtümlich auf das Datum der erwähnten gemeinsamen Ministerkonferenzen). 105 Eine aktenmäßige Spur des Kontaktes zwischen den zwei Ministerräten, die auch illu¬ striert, wie der gemeinsame Ministerrat -- wie oben festgestellt wurde -- fast zu einer gemein¬ samen Regierung wurde, ist folgende: Istvän Tisza ersuchte am 6. Juni 1915, im Sinne des tags zuvor im ungarischen Ministerrat gefaßten Beschlusses den gemeinsamen Finanzminister Buriän, den gemeinsamen Ministerrat einzuberufen (2771/ M.E. res. -- OL. Filmarchiv. W. 1957, Karton 218, Tit. 3, S. 682). Die Begründung des Beschlusses des ungarischen Minister¬ rates beleuchtet die eigenartige, im weiteren noch eingehender zu behandelnde Funktion des gemeinsamen Ministerrates, und die sich aus der Zusammenarbeit der drei Ministerräte ergebende Gesamtheit der Exekutivgewalt der Monarchie. Es war davon die Rede, daß durch die lange Dauer des Weltkrieges eine größere Anleihe erforderlich geworden war. Der ungari¬ sche Finanzminister war nur im großen und ganzen darüber informiert, daß die finanzielle || || Leistungsfähigkeit des österreichischen Staates die des ungarischen bedeutend übertraf. Der gemeinsame Kampf auf Leben und Tod, die gemeinsame Kraftanstrengung erfordere -- wie es darin heißt -- »die finanzielle und wirtschaftliche Lage und Leistungsfähigkeit der zwei Staaten der Monarchie zu 'erörtern'. Ebendeshalb hält es der referierende Herr Mini¬ ster für notwendig, daß diese Fragen in einer gemeinsamen Ministerkonferenz, ja wenn nötig, in einem Kronrat unter dem Vorsitz Seiner kaiserlichen undkönighchen apostolischen Majestät diskutiert werden«. Der ungarische Finanzminister beantragte, dieser auch den Chef des Generalstabs und den Gouverneur der Österreichisch-Ungarischen Notenbank beizuziehen. Es wäre schon früher notwendig gewesen, die außenpolitischen, volkswirtschaftlichen und finanziellen Gesichtspunkte einheitlich in Betracht zu ziehen, nunmehr kann aber die Einberu¬ fung eines mit Finanz- und Militärexperten ergänzten gemeinsamen Ministerrates nicht mehr hinausgeschoben werden, denn »wenn auch die Frage der Geldbeschaffung in sich eine Frage ist, die von der Regierung jedes Landes unabhängig, im eigenen Wirkungskreis zu lösen ist, kann diese Frage mit Rücksicht auf die volkswirtschaftlichen Rückwirkungen und infolge der Gemeinsamkeit der Notenbank und des Geldwesens -- insoferne es sich um die mit der Kriegführung in Zusammenhang stehenden großen Summen und die Inanspruchnahme außerordentlicher Mittel handelt -- nur im Einvernehmen der beiden Regierungen richtig gelöst werden . . .« (E. Ivänyi, a.a.O. S. 150). 106Zum Beispiel: Im Ministerrat vom 2. Mai 1864 (K.Z. 1526--864 -- M.R.Z. 1272) waren neben dem Minister des Äußern, dem Polizeiminister, dem Staatsminister und anderen Ministern noch folgende Personen anwesend: der Vorsitzende des Staatsrates, der kroatisch- slawonische Hofkanzler, der ungarische Vizekanzler. Am Ministerrat am 6. Februar 1865 (K.Z. 439/1865 -- M.R.Z. 1342) waren außer dem Minister des Äußern, dem Polizeiminister, dem Staatsminister usw. der ungarische Hofkanzler und der siebenbürgische Vizehofkanzler zugegen. Am 29. Juli 1865 (23441/1865 - M.R.Z. 1/1865) neben dem Minister des Äußern, dem Staatsminister usw. der ungarische Hofkanzler, der Leiter der Siebenbürgischen Hof¬ kanzlei. Redlich, a.a.O. passim, bringt (im Anhang) auch aus diesen Zeiten Ministerrats¬ protokolle mit Aufzählung sämtlicher Teilnehmer. 107 Dies kam auch im Verfahren der Registratur zum Ausdruck, indem die Namen der »vollberechtigten« Mitglieder der Ministerkonferenz nicht nur in der Liste der Anwesenden angeführt wurden, wo auch die »nicht vollberechtigten« figurierten, sondern auch auf dem Mantelbogen der Protokolle in der Rubrik »zur Einsicht«, wo sie die Kenntnisnahme des Protokolls mit ihrer Unterschrift bestätigten. Näheres hierüber findet der Leser zusammen¬ gefaßt am Ende dieser einleitenden Studie. 108». .. mit Euer Excellenz und den beiden anderen Herrn Reichsministern in einer ge¬ meinschaftlichen Konferenz näher besprochen werden, um auf kürzestem Wege die erwünschte Vereinbarung zu ermöglichen« (HHSta. Min. d. Äuß. Pol. Arch. Delegations-Akten, Karton rot 563, fol. 272--273. Datierung des Briefes Wien unter Nr. 807/M.P.). 109 ». . . in dem gemeinsamen Ministerrate mit Zuziehung der competenten Minister beider Reichshälften . . .« (ebd. fol. 184--185). 110 Über die Organisierung der Reichskanzlei wird später noch die Rede sein. 111 Diese eigenartige Form der Anerkennung wurde bereits kurz gestreift, wird aber im Zusammenhang mit den Formalitäten der Protokolle noch besprochen werden. 111 HHSta. Min. d. Äuß. F. 4. Generalia (1850--1870). Organisierung der Reichskanzlei und der Präsidialsektion. Karton rot 399, Konv. 2, fol. 12-18 (Konzept). 113 Beust war Protestant und beschäftigte sich nur mit großem Unbehagen mit den Reli¬ gionsangelegenheiten des katholischen Reiches. Er berief sich auch auf das Konkordat, in wel¬ chem die Besetzung dieses Amtes durch einen Nichtkathbliken ausgeschlossen wurde. In seinem Vortrag schreibt er: »Graf Taaffe gilt für aufgeklärt und doch nicht für antiklerikal « (Ebd.) 114 »... so halte ich es allerdings für geboten, daß ich schon jetzt in die Stellung des defini¬ tiven Reichsministers, die mit meinem Amte als Minister des Äußern verbunden sein wird .. « (ebd.). 115 Der Text des von unserem Standpunkt sehr bedeutenden allerhöchsten Handschreibens lautet folgendermaßen: »Lieber Freiherr von Beust! Indem ich Sie hiemit unter Belassung || || in Ihrem Amte als Minister des Kaiserlichen Hauses und des Äußern zu meinem Reichskanzler ernenne, haben Sie bis zu dem Zeitpunkte, wo die staatsrechtlichen Beziehungen zwischen den Ländern Meiner ungarischen Krone und Meiner übrigen Königreiche und Länder endgültig geregelt sein werden, das seither Ihnen übertragene Präsidium des Ministerrates fortzuführen. Zugleich ermächtige Ich Sie jedoch, Mir einen Stellvertreter für die Ausübung letztgedachter Funktion in Vorschlag zu bringen.« (Ebd. fol. 10.) 116 Graf Andrässy Gyula elete es kora (Leben und Zeitalter des Grafen Gyula Andrässy). Budapest 1910, Bd. I, S. 363--364. 117 HHSta. Min. d. Äuß. F. 4. Generalia. Karton rot 399, Konv. 2, Umschlag 9, fol. 18--19: Vortrag Buol-Schauensteins vom 15. Okt. 1855, die Resolution des Herrschers datiert vom 21. Oktober 1855. 118 Siehe unter anderem weiter oben auf S. 29 die Besprechung des im Zusammenhang mit der Ernennung Goluchowskis im Parlament entstandenen Sturmes und der im Laufe desselben gemachten Äußerungen. 119 HHSta. Min. d. Äuß. F. 4. Generalia. Karton rot, Umschlag 9, fol. 47--52. 120». . . diese Behörde war, bestimmten kaiserlichen Aussprüchen zufolge keine Hof- steile . . .« (ebd.). ^ ». . . die Staatskanzlei nur mehr die einzige Behörde sei, welcher die durch kaiserliche Resolutionen sanctionirte, exceptionelle Stellung noch gebühre, und umsomehr gebühren müsse, als sie fortfährt, nicht blos Ministerium des Äußern, sondern auch des Kaisers und seines Hauses Kanzlei zu sein« (ebd.). 122 Selbst einfache Ernennungen erfolgten unter Beachtung der vom Fürsten Schwarzenberg bestimmten Formen und Benennungen. So wurde z.B. am 1. Febr. 1849 der Freiherr von Werner »zum Unterstaatssekretär bei der Staatskanzlei (Ministerium des Äußern und des Kaiserlichen Hauses)« ernannt. (Ebd.) 123 Die Angelegenheit, die diese Debatte auslöste, will ich hier nicht eingehender behandeln, da ihr eigentlich bloß Titel- und Gehaltsprobleme von untergeordneter Bedeutung zugrunde¬ liegen. Mit solchen Problemen illustrierte auch Fürst Schwarzenberg seinen Standpunkt. In seiner obenerwähnten Zuschrift besagt er, daß S. Majestät keinesfalls die Absicht habe, »die Staatskanzlei als nicht mehr bestehend zu betrachten oder es von den bei derselben bisher üblich gewesenen Benennungen abkommen zu lassen, geht daraus hervor, daß S.M. mit a.h. Entschließung vom 1. Jänner 1849 den Freiherrn von Werner zum Unterstaatssekretär bei der Staatskanzlei (Ministerium des Äußern und des kaiserlichen Hauses) und mit der a.h. Ent¬ schließung vom 12. Februar 1849 die Freiherrn von Pflügl und Meyrenburg zu Hof- und Ministerialräthen, den gewesenen Hofsecretär von Hammer aber zum Staatskanzleirath . . . zu ernennen, geruht haben«. Wie wir gesehen haben, verweist Schwarzenberg auf die Dupli¬ zität des Amtes des Staatskanzlers nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft. Ich möchte hier darauf aufmerksam machen -- worüber auch noch später ge¬ sprochen werden soll --, daß die Verknüpfung des Amtes des Staatskanzlers bzw. des Ministers des Äußern mit dem Amte des Ministers des Kaisers und des kaiserlichen Hauses ein charak¬ teristischer Überrest des feudalen Absolutismus war. Inwieweit sich die letzten Außenminister der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (Berchtold, Buriän und Czernin) mit der Verwal¬ tung der Güter des kaiserlichen Hauses beschäftigt hatten, soll hier nicht untersucht wer¬ den. Tatsache ist, daß bis zum Zusammenbruch der Habsburgmonarchie in ihrem Titel der Ausdruck »Minister des kaiserlichen Hauses« beibehalten wurde. 124 F. Walter: Die österreichische Zentralverwaltung. II. Abtg. 1. Band, 2. Halbband, 2. Teil. Wien 1956, S. 203 ff. Wenn sich der Leser über die Beziehungen der die Außenpolitik len¬ kenden Organe zu anderen Organen der habsburgischen Staatsverwaltung informieren will, so geben die vorhergehenden Abschnitte des erwähnten Bandes Aufschluß. Hier kann ich nicht einmal auf kurze auszugsweise Besprechung dieser Zusammenhänge eingehen. 125 Bezüghch Colloredo siehe Walter, a.a.O. S. 36, 42 und 211, bezüglich Metternich S. 214. 128 Allerhöchstes Handschreiben vom 12. November 1866: »unter Anweisung in dieser Eigenschaft des ersten Platzes unter den Mitgliedern des Ministerrates«. HHSta. Min. d. Äuß. F.4. Generalia. Karton rot 399, Konv. 2, fol. 9. Ii8 || || 127 Hierauf sowie auf die anschließenden sonstigen Protokolle und Schriften hat mich während meiner Forschungen in Wiener Archiven im Sommer 1960 Herr Univ. Prof. Fr. Walter, der hervorragende Vertreter der österreichischen Verwaltungsgeschichte aufmerksam gemacht. Es sei mir gestattet, ihm hierfür sowie für die auch bei anderen Gelegenheiten gezeigte Hilfsbereitschaft an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank auszusprechen. na HHSta. Ministerratsakten, 125/1848. Ministerratsprotokoll vom 17. III. 1848. 129 Anwesend waren weiter: Erzherzog Ludwig, der Staats- und Conferenzminister Graf Kolowrat, der Staatsminister Graf Münch, der Sektionschef Graf Hartig und Feldmarschall¬ leutnant Fürst Windischgrätz. 130 »Es wurde übereinstimmend beschlossen, daß es mit Berücksichtigung des ah. Patentes vom 15. März d.J. unerläßlich sey, einen verantwortlichen Ministerrath zu bilden. Dieser Ministerrath hätte zu bestehen aus dem Minister der auswärtigen Angelegenheiten und des Hauses, aus dem Minister des Innern, aus dem Minister der Justiz, aus dem Minister der Finanzen und dem Minister des Krieges.« 131 »Der Vorsitz im Ministerrath hat ein von S.M. zu bestimmender Minister-Präsident zu führen.« 132 Hierzu kommt es erst zur Zeit des Absolutismus. Auf die Abgrenzung der Funktionen der Minister werde ich noch zurückkommen. 133 Im Kommunique werden im wesentlichen die Beschlüsse der Staatskonferenz wiederholt. 134 HHSta. Ministerratsakten, 12/1848. 135 »Der Ministerrat ist der Centralpunkt der Regierung, in welchem die Geschäfte aller Verwaltungszweige zusammenfließen.« 136 »... das engste Einvernehmen unter sich zu pflegen und sich gegenseitig auf dem kürzesten Wege alle ihren Wirkungskreis berührenden Wahrnehmungen, Ereignisse und Verfügungen mit¬ zuteilen«. 137 Aller Wahrscheinlichkeit nach ein Konzept, vielleicht eine Abschrift desselben. Auf dem Schriftstück befindet sich keinerlei Unterschrift und keinerlei Vermerk, der auf seine Expedie- rung hinweisen würde. 138 Noch ein weiteres Statut aus dem Jahre 1868 bezeichnet den Vorsitz im Ministerrat als separate Funktion des Reichskanzlers: der »Reichskanzler, welcher im Reichsminister- rathe den Vorsitz führt« {HHSta. Min. d. Äuß. Pol. Arch. Karton rot 558, Konv. 1, fol. 6). 139 Von den unzähligen Varianten einige Beispiele: Am 19. Juni 1875 adressiert das Reir'hs- kriegsministerium seine Zuschrift folgendermaßen: »Seiner des Herrn K. K. wirklich geheimen Rates, Vorsitzender im gemeinsamen Ministerrate, Ministern des kaiserlichen Hauses und des Äußeren etc . . . etc . . ., Julius Grafen Andrässy von Csik-Szent-Kiräly und Krasznahorka Excellenz« (HHSta. Min. d. Äuß. Pol. Arch. Delegations-Akten, Karton rot 566, fol. 25). Am 13. August desselben Jahres adressiert ebenfalls das Kriegsministerium folgendermaßen: »Seiner des Herrn Kaiserlich und Königlich wirklichen geheimen Rates, General Majors und gemeinsamen Minister Praesidenten usw.. . ., Graf Julius Andrässy Excellenz« (ebd. fol. 204). Die-Zuschrift des Kriegsministeriums vom 15. April 1899 ist gerichtet »an Seine Excellenz den Herrn k. und k. wirklichen Geheimen Rat und Kämmerer Agenor Graf Goluchowski... Minister des kaiserlichen und königlichen Flauses und des Äußern, Vorsitzender im gemein¬ samen Ministerrate« usw. 140 Die Abgrenzung des Wirkungsbereichs der Ministerien bezweckt der Vortrag des Mi¬ nisterpräsidenten Fürst Schwarzenberg vom 9. Januar 1852. Doch erst zur Zeit der Minister¬ präsidentschaft Buols, am 12. April 1852 genehmigte der Kaiser die Regelung des Aufgaben¬ kreises der einzelnen Ministerien. Im § 6 des »Besonderer Wirkungskreis des K.K. Ministeriums des Kaiserlichen Hauses« werden die Agenden dieses Ministeriums in 6 Paragraphen zusam¬ mengefaßt. Seine Hauptaufgabe ist (nach § 2) »die Rechte des Kaiserhauses und der Aller¬ höchsten Familie zu wahren und zu vertreten«. Das Statut »Besonderer Wirkungskreis des k.k. Ministeriums des Äußern« umfaßt 16 Paragraphen. In ihm werden die im engeren Sinne genommenen Obliegenheiten, die tägliche »Kleinarbeit« des Ministers des Äußern, richtiger des Ministeriums des Äußern aufgezählt. Dieses Statut ist für den Geschichtschreiber des Außenministeriums eine unentbehrliche Quelle, vom Gesichtspunkt unserer Untersuchungen besagt es nichts Wesentliches (HHSta. Min. d. Äuß. F. 4. Generalia. Karton rot 399, Konv. 9, || || fol. 2--3. Die gedruckten Exemplare der Statuten über den Wirkungskreis der Ministerien ebd., Beilagen des Aktenstückes). 141 Dazu s. S. 26, was über den Ministerrat gesagt wurde, der sich mit der Interpellation befaßt hatte. Übrigens wurden, wie im aktenkundlichen Teil bereits erwähnt, noch vor Ghyczys Interpellation in der Kanzleipraxis abwechselnd die Benennungen »Reichsministe¬ rium« und »gemeinsames Ministerium« benutzt. 142 »Als leitender Grundsatz wird dabei festzuhalten sein, daß alle jene Angelegenheiten, welche streng genommen weder mit dem Ministerium des Äußern, noch mit der Administration der cisleithanischen Länder in unmittelbarer Verbindung stehen, welche ferner einen wesent¬ lich politischen Caracter an sich tragen und gewisse Beziehungen zum Gesammtreiche haben, dem Wirkungskreise dieser Reichskanzlei werden zugewiesen werden müssen.« (HHSta. Min. d. Äuß. F.4. Generalia (1850--1870) Organisation der Reichskanzlei und der Präsidial¬ sektion. Karton rot 399, Konv. 2, fol. 20-27. Hervorhebungen von mir - M.K.) Im Anschluß an diesen Vortrag entstand das Statut »Punctationen zum organischen Statute der Praesidial- section des mit Ungarn gemeinschaftlichen (sic!) Ministeriums der auswärtigen Angelegen¬ heiten (Reichskanzlei)«, das im HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. Karton rot 558, Konv. 1, fol. 6--11 in vervielfältigtem Exemplar vorliegt. In diesem wird vor allem die Benennung des neuen amtlichen Organs festgestellt: »kaiserlich königlich österreichische Reichskanzlei«. (Schon die Benennung trägt stark den Charakter des österreichischen Gesamtreiches). Sodann wird der Wirkungskreis ausführlich definiert und dabei betont: »die Reichskanzlei besitzt keine Amtsgewalt nach Außen, sie ist weder administrative, noch executive Behörde, sondern bildet nur ein Kabinet des Reichskanzlers . . .« 143 Ihre Aufsaugung als Präsidialsektion begann bereits unter der Kanzlerschaft Beusts. In einem Vortrag vom 10. Januar 1868 (HHSta. Min. d. Äuß. Karton rot 563, fol. 27-34) spricht er über »den Aufwand des gemeinsamen Ministeriums des Äußern mit Einschluß der derselben als Präsidial-Section einverleibten Reichskanzlei...« 141 »Wenn ein Minister gegen einen im Wege der Kollegialberathung von der ihm unter¬ stehenden Hofstelle gefaßten Beschluß erhebliche Bedenken findet, so steht es ihm zu, die Ausführung desselben zu sistiren und in dringenden Fällen, selbst zu einer veränderten Rich¬ tung einzuleiten, in beiden Fällen ist jedoch dem Ministerrathe zur weiteren Erwägung davon die Anzeige zu machen.« - ad MR. 12/1848 (HHSta. Ministerratsakten, 12/1848). 145 Worin sich das Amt des die auswärtigen Angelegenheiten führenden Ministers, des Staatskanzlers von dem des Hofstellen-Präsidenten unterscheidet, ist am besten aus den mit dem Staats- und Konferenzministerium zusammenhängenden Weisungen und Aufzeichnun¬ gen Erzherzog Karls und Metternichs ersichtlich: die Hofstellen-Präsidenten waren Beamte, Vorsteher eines amtlichen Gremiums, die mit ihren Fachreferenten in gemeinsamer Arbeit die laufenden Angelegenheiten des auf sie entfallenden Sektors der Staatsverwaltung erledig¬ ten. Sie waren die höchsten Beamten eines aus Fachleuten bestehenden Gremiums. Demgegen¬ über hat, nach Meinung des Erzherzogs Karl, der die auswärtigen Angelegenheiten führende Minister »für sich selbst blos die meditirende partei der geschärten und die vorträge über die allerwichtigsten gegenstände« Vorbehalten. Laut Metternich fiel ihm »die nötige höchste Stufe der Responsibilität« zu (F. Walter: Die österreichische Zentralverwaltung. II. Abtg. 1. Band, 2. Halbband, 2. Teil, Wien 1956, S. 204). 146 Freih. v. Musulin: Das Haus am Ballplatz. München 1924, S. 178 ff. 147 Musulin erwähnt (a.a.O.), Berchtold habe, als ihn während der schweren Krankheit Aehrenthals und dann nach dessen Tod Franz Joseph aufgefordert hatte, das Amt des Ministers des Äußern anzunehmen, eben darum lange gezögert, weil er, der selbst längere Zeit hindurch am politischen Leben nicht teilgenommen hatte, die sich aus der eigenartigen Lage des Mini¬ sters des Äußern ergebende Isolierung in erhöhtem Maße verspürte und die daraus sich ergebenden Schwierigkeiten besser sah. 148 Der lebensnäheren Atmosphäre der parlamentarischen Kämpfe gegenüber waren die Debatten im gemeinsamen Ministerrat oft nur von akademischem Charakter, Treibhaus¬ pflanzen. Schon deshalb, weil unter den, der Verfassungsmäßigkeit nicht günstigen Verhält¬ nissen der Monarchie auch der gemeinsame Ministerrat dahinzusiechen begann, worüber in anderem Zusammenhang noch die Rede sein wird. 120 || || 1 9 Am Vorabend des Weltkrieges hatte auch seine Verantwortlichkeit dem Herrscher gegenüber eigentlich keine meritorische Bedeutung, denn die Tätigkeit des gealterten Monar¬ chen beschränkte sich nur mehr auf bürokratische Erledigung der Angelegenheiten. Auf den Gang der Dinge hatte Franz Joseph keinen ernsten Einfluß mehr. Ich muß jedoch betonen, daß sich diese Feststellung auf die Person des Herrschers bezieht und die Funktion des Monarchen in der dualistischen Staatskonstruktion nicht berührt. 159 Das Andenken der Funktion des gemeinsamen Außenministers als Reichs-Minister¬ präsident blieb bis zum Zusammenbruch der Monarchie in der Tätigkeit der Präsidialsektion des Ministeriums des Äußern erhalten. 151 Im weiteren wird ausführlicher davon die Rede sein, daß in der Position des Außen¬ ministers nicht die Macht einer einzelnen Person, sondern die Macht der die Führung der Monarchie in Händen haltenden Schicht der herrschenden Klassen zur Geltung kam. Der Minister des Äußern, so auch Berchtold, war lediglich ein Vertreter dieser Schicht. 152 Es wäre schwer, einen eindeutigeren Beweis als die im Protokoll verewigten Worte bzw. das Verhalten Andrässys dafür zu finden, wie sehr der Protest der den Ausgleich schließenden ungarischen Politiker gegen die Benennung Reichsministerium nur formal, und wie sehr das sogenannte gemeinsame Ministerium tatsächlich als Reichsministerium gedacht war. Ja, darüber hinausgehend war die Politik Andrässys auch im primären Sinne des Wortes eine Reichs-, d.h. imperialistische Politik. 153 Stenographische Sitzungs-Protokolle der Delegation des Reichsrathes, S. 28. »Sollte es eines Beweises bedürfen, um das Ansehen zu charakterisieren, welches die Delegationen und ihre Beratungen besitzen, so genügt es, auf die Einberufung der heurigen Delegationssession hinzuweisen, welche knapp vor Weihnachten erfolgt ist und darauf hindeutet, daß in den letzten Jahren die Delegationen zur reinen Formsache geworden sind und als solche mit kaum verhehlter Nonchalance behandelt werden« (Hervorhebung von mir -- M.K.). 154 Das über die Konferenz angefertigte einfache, von Außenminister Aehrenthal eigenhän¬ dig verbesserte Konzept unter dem Titel: »Besprechung der gemeinsamen Minister vom 1. De¬ zember 1907 über die Verhältnisse von Bosnien-Herzegowina« erliegt unter den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates der Jahre 1907--1908 (s. auch OL. Filmarchiv. Karton 1051). 165 Aehrenthal hat nicht nur Wörter und Ausdrücke durchgestrichen, sondern dieselben auch durch neue ersetzt und auch die Satzfügung geändert. So stammt z.B. im obigen Teil unter anderem der Passus »eine Besprechung der gemeinsamen Minister statt« aus der Feder Aehrenthals. Dabei war er nicht immer darauf bedacht, daß sich die Ergänzungen genau in den verstümmelten Text einfügen. So kommt das Wort »statt« zweimal vor, oder weiter unten im Teil »bei dem Herrn Minister des Äußern« der Artikel »dem« ebenfalls zweimal. (Auf diese Fehler habe ich nicht einmal mit »sic« aufmerksam gemacht, wie aus technischen Gründen auch nicht angeführt ist, welche Wörter Aehrenthal geschrieben hat. (So hat z.B. im Titel des Konzepts Aehrenthal statt »Berathungen« »eine Besprechung« gesetzt usw.) 156 Neben den Konzepten der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates erliegen fast ausnahmslos auch die Reinschriften in Original. Über die Besprechung vom 1. Dezember 1907 habe ich jedoch nur das vom Außenminister verbesserte Konzept gefunden. Ob die vier Abschriften angefertigt wurden und in welcher Form, darüber habe ich nicht eingehender nachgeforscht. 157 Selbst die nachträgliche Ankündigung hat bei einer gewissen Gruppe der Abgeordneten eine große Erregung hervorgerufen. B. Molden: Alois Graf Aehrenthal. Stuttgart--Berlin 1917, S. 68-72. 458 Siehe dazu: D. Angyal: A boszniai välsdg törtenete (Die Geschichte der bosnischen Krise) in: Jahrbuch des Ungarischen Historischen Instituts in Wien. Der erste Teil der Studie im Jg. I (1931) S. 343-354, der II. Teil im Jg. II (1932) S. 313-345. Besonders S. 322. 159 Über die am 1. Dezember 1907 abgehaltene Ministerbesprechung ist noch zu sagen, daß zuerst der Bericht des gemeinsamen Finanzministers Buriän über seine, zur Feststellung der Tatsachen kurz vorher unternommene Reise in Bosnien-Herzegowina angehört wurde, dann kam die Frage der Annexion zur Sprache. Einhellig war man der Auffassung, daß über die Annexion vor aller Welt erst dann gesprochen werden sollte, wenn dieselbe bereits erfolgt ist. Unter »alle Welt« verstanden sie den bosnisch-herzegowinischen Landtag und die Delega- 121 || || tonen. Es wurde ausgesprochen, der gemeinsame Finanzminister möge eventuell(!) während der Delegationssession eine Gelegenheit finden, um folgendes darzulegen: es muß anerkannt werden, daß die Annexion nicht als rechtmäßiger Schritt betrachtet werden kann, doch dürfe nicht vergessen werden, daß in diesen Provinzen die souveränen Rechte des Sultans nicht ausgeübt werden, die Souveränität gebühre dem Herrscher Österreich-Ungarns. -- Darüber, daß all jene, die der Annexion gegenüber mit Recht Bedenken hatten, von Aehrenthal vor vollendete Tatsachen gestellt wurden, siehe Angyals Studie, a.a.O. besonders S. 318 -- 319. -- Da es nicht mein Ziel sein kann, eine Geschichte der Okkupation und der Annexion zu schreiben, will ich die weiteren Ereignisse nicht erörtern. Ich habe den ganzen Fragen¬ komplex nur deshalb in den Kreis meiner Untersuchungen einbezogen, um die Tätigkeit des durch den Ausgleich geschaffenen Staatsapparates und die Funktion des gemeinsamen Ministers des Äußern zu illustrieren. 160 Im späteren versuche ich, diesen simplifizierten Gebrauch des Begriffes Technik prinzi¬ piell zu begründen. Hier soll nur betont werden, daß die Tatsache des Zusammenhanges und der Gesetzmäßigkeit solcher, in der Entwicklungskette so weit voneinander liegender Dinge wie die Änderung der Produktivkräfte und die Amtsorganisation, Gestaltung der Geschäftsführungs-methoden, Registraturverfahren usw. meiner Meinung nach nur durch Einschaltung solcher komprimierter Begriffsbehelfe aufgedeckt werden können, oder daß man zumindest auf diese Art dem Verständnis dieser Zusammenhänge näher gelangen kann. 161 Offen gestanden bin ich unschlüssig, ob die Ergebnisse meiner Untersuchungen selbst unter solchen Bedingungen (wie der Ausdruck »in den wesentlichsten Punkten«) in eingeengter Form formuliert werden können. Waren doch die gesellschaftlichen Verhältnisse der Öster¬ reichisch-Ungarischen Monarchie auch in den Jahrzehnten vor dem Weltkrieg nicht frei von feudalen Elementen. Wenn also die feudale Staatseinrichtung in ihren wesentlichsten Punkten das Zeitalter des Feudalismus überlebt hat, so folgt dies nicht nur aus der Starrheit der Insti¬ tutionen, genauer gesagt daraus, daß einige dieser überbauartigen Erscheinungen die Verände¬ rungen in der wirtschaftlichen Basis überlebten, es ist dies teilweise eine Folge der noch fort¬ lebenden feudalen gesellschaftlichen Verhältnisse. 162 Den Text des Protokolls siehe im vorliegenden Band unter Nr. 1. 163 In Form dieser Frage möchte ich diesen Abschnitt der Besprechung des Verhandlungs¬ materials des gemeinsamen Ministerrates in meine Untersuchung einbeziehen. Wurde doch der Text des Protokolls vom 7. Juli 1914 -- sozusagen -- in der ganzen Welt in erster Linie deshalb untersucht, um das Problem der Kriegsverantwortung, hauptsächlich der Tiszas, zu beleuchten. Obwohl es nicht Zweck dieser Zeilen sein kann, muß ich doch mit einigen Worten darauf hinweisen, denn ich möchte versuchen, die Kraft der aus ferner Vergangenheit ererbten Funktion des gemeinsamen Ministers des Äußern eben an der Person Istvän Tiszas abzu¬ messen. Die Person Tiszas war durch seine halsstarrige, ultrakonservative, ja sogar retrograde Innenpolitik den Massen und -- hauptsächlich durch die Propaganda der bürgerlichen Oppo¬ sition -- auch dem Auslande derart verhaßt, daß man in diesen Kreisen meinte, die Tatsache der Kriegserklärung nur mit ihm in Zusammenhang bringen zu können. Und zwar so, daß Tisza die Kriegserklärung in der bei ihm gewohnten Art und Weise ebenso erzwungen habe, wie er z.B. seinerzeit die parlamentarische Opposition mit roher Gewalt niedergeschlagen hatte. Demgegenüber besteht kein Zweifel, daß an der schicksalhaften Ministerkonferenz allein Tisza es war, der bis zum Schluß dagegen opponierte, daß die Monarchie eine unannehmbare Forderungen enthaltende Note an Serbien absandte. Es ist aber interessant zu beobachten, daß sein Standpunkt -- wahrscheinlich infolge des einhelligen Widerstandes seiner Minister¬ kollegen -- im Verlaufe der Beratungen nicht eindeutig war. Als er sich zum letztenmal zu Wort meldet, bekennt er selbst, er sei -- um sich dem Standpunkt der anderen zu nähern -- zu gewissen Konzessionen bereit. 164 Werke. Bd. IV, S. 2, 5-6. ^Diplomatische Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges. 1914. I, S. 41 -- 46. 166 Ebd. S. 62-67. 167 J. Horvath: Magyar diplomäcia (Ungarische Diplomatie). Budapest 1928, S. 89. 168 J. Horvath: Felelosseg a vildghaborüert es a bekeszerzödesert (Verantwortlichkeit für den Krieg und den Friedensvertrag). Budapest 1939, S. 192 ff. Ich will J. Horvath auf dem 122 || || Weg seiner weiteren Folgerungen nicht folgen. In meiner Argumentation, welche das Funktio¬ nieren der dualistischen Staatskonstruktion in einem kritischen Augenblick untersucht, ist die Frage des Zeitpunktes von Bedeutung. Daß Tisza ausgespielt bzw. vor vollendete Tatsachen gestellt wurde, verstehe ich in dem Sinne, daß Berchtold Tisza gegenüber, der den Zeitpunkt zur Kriegsführung für nicht geeignet hielt, der Meinung war, daß die gegebene Lage für die Entfachung des Krieges günstig sei und trotz des Protestes Tiszas in diesem Sinne gehandelt hat. Nebenbei bemerkt, illustrieren diese verhängnisvolle Tat und die Reihe der durch diese ausgelösten Ereignisse vorzüglich, wie sehr sich der Außenminister der Monarchie, wenn er es für gut fand, nicht an die Vorschriften der Ausgleichsgesetze gebunden fühlte, daß er nämlich die auswärtigen Angelegenheiten mit den zwei Regierungen bzw. den Chefs derselben im Einverständnis zu führen habe. 169 Die Geheimnistuerei Berchtolds bzw. der durch ihn vertretenen Kreise erstreckte sich natürlich nicht nur auf Tisza. Eine derartige Führung der Angelegenheiten hatte not¬ wendigerweise zur Folge, daß kein einziger maßgeblicher Sektor des Staatsapparates über die verhängnisvollen Folgen des an Serbien zu richtenden Ultimatums genau unterrichtet war. (Eine Ausnahme bildete, wie wir weiter unten sehen werden, die oberste militärische Führung.) Besonders gefahrvoll wurde für das Leben der Monarchie, daß es verabsäumt wurde, die führen¬ den wirtschaftlichen Kreise genau und rechtzeitig zu informieren. Alexander Popovics, der damalige Gouverneur der Österreichisch-Ungarischen Bank schreibt in seinem Werke [A penz sorsa a hdborüban (Das Schicksal des Geldes im Kriege). Budapest 1926, S. 39 ff.] klar, daß sie vom Ministerium des Äußern erst am 19. Juli 1914 mündlich dahingehend informiert wurden, daß am 25. Juli an Serbien im Zusammenhang mit dem Sarajevoer Attentat ein Ultimatum gerichtet werden würde. Die Mitteilung hatte nur informativen Charakter. Sie erweckte den Anschein, daß nach Ansicht verantwortlicher Kreise der Außenpolitik »die Überreichung des Ultimatums hoffentlich keine weiteren europäischen Verwicklungen nach sich ziehen werde«. TM Diplomatische Aktenstücke, a.a.O. S. 132. Giesl nennt in seinem Telegramm die Note ein Ultimatum. Dies wird von Berchtold in seinem Antworttelegramm rektifiziert. A.a.O. S. 132-133. 171 Ebd. II, S. 1. 172 Bittner--Uebersberger usw.: Österreich-Ungarns Außenpolitik. Bd. VIII. Wien 1930, Nr. 10396. 173 Diplomatische Aktenstücke, a.a.O. II, S. 25. 174 Feielösseg a viläghdborüert es a bekeszerzödesert, S. 210. 175 Es wäre eine sehr verlockende Aufgabe, sich etwas eingehender mit Istvän Tisza zu befassen. Er wurde von Gyula Szekfü nicht zufällig als Maßstab für die seiner Ansicht nach im Verfall begriffene Epoche hingestellt. Der ungarische Ministerpräsident, der später ein tragisches Ende nahm, ist tatsächlich ein geeigneter Maßstab. Wenn auch nicht so sehr für seine Epoche als eher zur Beurteilung jener Epoche, die in ihm -- begründet oder unbegründet, darüber wird die spätere Geschichtschreibung entscheiden -- ihr politisches Ideal gesehen hat. Leider hat ihm eben dieser Umstand, als Maßstab zu dienen, Züge beigelegt oder von seinem politischen Antlitz weggewischt. Auch in diesen Zeilen steht die Figur Tiszas als Maßstab. Nicht im Szekfüschen Sinn. Sondern in einer gegebenen, konkreten Lage, zur Beurteilung objektiver Faktoren, des Funktionierens des österreichisch-ungarischen Staatsapparates. Daß ich der Versuchung nachgebe, und mich eingehender mit der geschichtlichen Rolle Istvän Tiszas beschäftige, dem steht schon diese Tatsache, die Einengung der Probleme auf ein kleines Gebiet im vorhinein im Wege. Doch möchte ich dem Gesagten noch hinzufügen, daß diese scharfe Exponierung der Gestalt Tiszas, das Hinstellen seiner Figur als Maßstab nicht geschieht, weil der Verfasser einen ungarischen Politiker in den Vordergrund stellen wollte. Es hat dies seine objektiven Gründe. In Tisza sahen auch die Zeitgenossen die führende Gestalt der Politik der Monarchie während des Weltkriegs. Aus diesem Gesichtspunkt halte ich für sehr charakteristisch, was der Mörder Stürgkhs, der österreichische sozialdemokratische Abge¬ ordnete Adler bei der Gerichtsverhandlung sagte. Er habe eigentlich Tisza töten wollen, neben dem die Person Stürgkhs wie ein Schatten verschwinde. Er habe sich jedoch für die Tötung des österreichischen Ministerpräsidenten entschieden, weil er befürchtete, daß, falls er Tisza 123 || || tötet, seine Tat von einzelnen als österreichischer nationaler Racheakt gewertet werden würde. -- Auf das reiche Schrifttum über Berchtold und Tisza möchte ich mich hier nur im allge¬ meinen berufen. 176 Unter Staat und Gesellschaft verstehe ich, sofern nicht besonders erwähnt, den Staat und die Gesellschaft des bürgerlichen Zeitalters; die staatlichen und gesellschaftlichen Ver¬ hältnisse des Zeitalters des Feudalismus werden nur ausnahmsweise, wenn auf die, dem ge¬ schichtlichen Verständnis dienenden Antezendenzien hingewiesen wird, gestreift. 177 Ich kann, leider, die Fragen nicht so tiefgreifend analysieren, daß meine Zusammenfassung Anspruch erheben könnte, ein Abschnitt der Verwaltungsgeschichte zu sein. Es wäre auch eine Vermessenheit zu sagen, daß ich neue Methoden anzuwenden versuche, wenn ich fest¬ stelle, daß der allgemein wahrnehmbaren Entwicklung der Geschichtswissenschaft gegenüber, auf dem Gebiet der Hilfswissenschaften auch heute noch im wesentlichen jahrzehntealte Methoden angewendet werden. Meine einleitende Studie würde ich höchstens als ein Vor¬ fühlen in Richtung derartiger Methoden betrachten. Jedenfalls fühle ich, wie notwendig es wäre, in unseren hilfswissenschaftlichen Forschungen in erhöhtem Maße sozialgeschichtliche Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen. Eine Erneuerung unserer geschichtlichen Hilfs¬ wissenschaften ist, worauf ich auch in meinen Buchbesprechungen wiederholt hingewiesen habe, nur auf diesem Wege zu erreichen. Ich weiß, daß meine Erörterungen über die Geschichte des gemeinsamen Ministerrates und die Ministerratsprotokolle ein sehr bescheidenes Vorfühlen in dieser Richtung bilden. Übrigens möchte ich an dieser Stelle meinem Kollegen und Freund, Käroly Vörös, mit dem ich diese Probleme meiner Arbeit wiederholt fruchtbringend durch¬ gesprochen habe, meinen Dank aussprechen. 178 In der vorangehenden Anmerkung versuchte ich, den eigenartigen, vom sozialgeschicht¬ lichem Gesichtspunkt versuchsartigen Charakter meiner einleitenden Studie näher zu bestim¬ men. Aus ihrer Eigenart folgt, daß ich genötigt bin, komprimierte, manchmal von ihrem allgemeinen Sinn abweichende Begriffe zu benutzen, und deren Inhalt von Fall zu Fall zu bestimmen. An Stelle des Begriffs bewußtes, politisches Handeln z.B. benutze ich den Begriff Gebräuchlichkeit im eigentlichen Sinne des Wortes. Meist verstehe ich darunter eine bestimmte Amtspraxis, die -- mangels gesetzlicher Bestimmungen -- die Formen und die Art der Amts¬ führung bestimmt. Das Wort Technik gebrauche ich ebenfalls stellenweise als Notbehelf. Wenn sein Begriff nicht gesondert bestimmt wird, so als Begriff des sich raschest verändernden, beweg¬ lichsten Teiles der Produktivkräfte, in engerem Sinne aber, mit entsprechendem Attribut, als zusammenfassender Begriff der Art und der Formen der Amtsführung (Amtsführungstechnik). 179 Das Attribut »abgesondert« bedeutet lediglich eine formale, methodische Absonderung, was die technikgeschichtlichen Untersuchungen erleichtern soll. 180 Über den großen Einfluß der Technik auf die Amtsführung, besonders darüber, daß die Anwendung der modernsten Geräte der Fernmeldetechnik den stürmischen Gang der Dinge unter außergewöhnlichen Umständen, wie es die Kriegsverhältnisse waren, auch un¬ mittelbar aus ihrer ursprünglichen Richtung ablenken können, habe ich in meinen Arbeiten A bresztlitovszki beketdrgyaldsok anyaga a becsi Staatsarchivban (Das Material der Brest-Li- towsker Friedensverhandlungen im Wiener Staatsarchiv). Leveltäri Közlemenyek XXVIII (1958) S. 129--150 und Zur Untersuchung des geschichtlichen Quellenwertes des Telegramms, Nouvelles Etudes Historiques, Budapest 1965, S. 357--377, eingehender geschrieben. Zur Rolle der Fernmeldetechnik in der Amtsführung während des Weltkrieges s. J. Redlich, Österreichische Regierung und Verwaltung im Weltkriege, Wien 1925, S. 89. 181 In der Entwicklung der im weitesten Sinne genommenen menschlichen Beziehungen, der gesellschaftlichen Berührungsformen, der Beziehungen innerhalb der Klassen, im all¬ täglichen Zusammenleben hat sich im Verlaufe von Jahrhunderten kaum eine meritorische Veränderung gezeigt. Gemessen an dem riesigen Unterschied, der zwischen den Lebensver¬ hältnissen der altgriechischen Gesellschaft und der Welt der modernen bürgerlichen Gesell¬ schaft in technischer Hinsicht besteht, haben sich Art und Formen des menschlichen Zusam¬ menlebens seit dem Zeitalter des Perikies bis zum Zeitalter des ersten Weltkrieges im wesent¬ lichen kaum geändert. Diese Arbeit untersucht nur einen winzigen Bezug dieses kaum me߬ baren Gegensatzes. 182 Ich betone: bis zu einem gewissen Maße. Das sei besonders hervorgehoben, um den 124 || || Schein zu vermeiden, als wollte ich den Grund für den Zusammenbruch der Österreichisch- Ungarischen Monarchie in erster Linie in dem Umstand suchen, daß ihr Staatsapparat ver¬ altet war. Wie den Fokus einer Linse auf einen bestimmten Punkt, richte ich das Augen¬ merk unserer Untersuchungen auf die auf der Ebene der Hilfswissenschaften und der Amtsge¬ schichte wahrnehmbaren Daten und auf die in ihrem Spiegel sich zeigenden Erscheinungen. lm R. v. Kühlmann: Erinnerungen. Heidelberg 1948, S. 390: »Er legte sofort dar, wie die Mobilmachungsmaschinerie wie ein höchst genaues Uhrwerk, einmal in Bewegung gesetzt, automatisch weiterlaufe. Den rollenden Rädern in die Speichen zu fallen, sei ganz unmöglich..'. Für den Mann, der die gesamte Verantwortung für die Mobilmachung und damit auch im wesentlichen schon für den Ausgang des Feldzuges trug, müssen das furchtbare Stunden gewesen sein.« -- Im wesentlichen ebenso berichtet darüber B. Fürst von Bülow: Denk¬ würdigkeiten. Berlin 1931 Bd. III, S. 172. Die Zuspitzung, Dramatik der sich fast von Minute zu Minute verändernden Lage erhellt aus einer beiläufigen Bemerkung in Bülows Denk¬ würdigkeiten: der Kaiser empfing Moltke bei dieser kritischen Audienz in Unterhosen. 184 Das 19. und 20. Jahrhundert (Historia Mundi Bd. X) Bern--München 1961, S. 245. 185 Ich möchte den Leser an die Methode Istvän Hajnals erinnern. Meiner Meinung nach müssen wir die ersten Schritte zur Vertiefung der Hilfswissenschaften und amtsgeschichtlichen Arbeiten in die Gesellschaftsgeschichte im Lichte jener Lehren tun, die aus dem Studium seiner Methode gewonnen werden können. 186 Aus der eigenartigen Zusammensetzung dieser zwei Klassen fließend handelt es sich hier überwiegend um die Gegensätze zwischen Agrarwirtschaft und Industrie (hauptsächlich Schwerindustrie). Die starken agrarischen Charakter aufweisende ungarische herrschende Klasse hatte Verbindungen zur ungarischen Schwerindustrie. So nahm der Zusammenprall der österreichischen und ungarischen Schwerindustrie in den Debatten des gemeinsamen Ministerrates -- zumindest in seiner Phraseologie -- nicht selten den Schein eines Kampfes um die ungarische Unabhängigkeit, Selbständigkeit an. 187 Die Arbeit des gemeinsamen Ministerrates streift über die einfachen Debatten hinaus sogar schon die legislatorische Tätigkeit der Delegationen. In der Ministerkonferenz vom 6 15. September 1917, die sich unter anderem mit dem Schiffbauprogramm befaßte, wurde dies vom ungarischen Finanzminister zur Sprache gebracht: »Der gemeinsame Ministerrat sei nicht berechtigt, ein förmliches, baulich und finanziell auf mehrere Jahre, wahrscheinlicher¬ weise über die Dauer des Krieges sich erstreckendes Schiffsbauprogramm zu bewilligen, weil hiedurch den hiezu einzig und allein berufenen Delegationen vorgegriffen und den Volks¬ vertretungen Anlaß zu berechtigten Einwendungen geben würde.« (S. 572 des vorliegenden Bandes.) 188 S. dazu E. Hillebrand: Der Brückenkopf Wien im ersten Weltkriege. Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. 14. Bd. Wien 1961, S. 138--144. Der Text des Protokolls im vorliegenden Band S. 168--172. 189 »Seine k. und k. Apostolische Majestät geruhen den Ministerrat mit der Bemerkung zu eröffnen, die Versammlung sei einberufen worden, um den anwesenden Ministern Gelegen¬ heit zu geben, ihre Ansicht über die sehr wichtige Frage der Befestigung der beiden Haupt¬ städte Wien und Budapest, sowie der Donaubrücken auszusprechen.« (Ebd. S. 169.) 190».. . es liege Seiner Majestät angesichts der gefährlichen Situation sehr viel daran, die Ansichten der versammelten Herren über die Lage kennen zu lernen. Allerhöchstderselbe lege den größten Wert darauf, daß jeder Teilnehmer an der Conferenz seine Anschauung vollkommen aufrichtig und mit möglichster Präzision zum Ausdruck bringe...« (ebd. S. 216). 191 Zur Bezeichnung Kronrat komme ich im weiteren bei Behandlung der Formalitäten der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates noch zurück. 192 Protokoll des am 22. Januar 1917 in Wien abgehaltenen gemeinsamen Ministerrates (K.Z. 5 - G.M.K.P.Z. 532). Ebd. S. 192. 193 Siehe weiter oben auf S. 24. 194 Das Protokoll dieses Ministerrates wurde nämlich unter G.M.K.P.Z. 534, das Protokoll der am selben Tage abgehaltenen zweiten Sitzung aber unter G.M.K.P.Z. 535 registriert. Siehe S. 471 ff. des vorliegenden Bandes. 125 || || 195 Der genaue Zeitpunkt der Eröffnung und der Schließung der Sitzung wurde im Pro¬ tokoll nicht festgehalten. 196 Die eingehende Behandlung der Vorgeschichte gehört nicht hierher. Ich will nur das Ereignis erwähnen, das der unmittelbare Anlaß zu dieser hochbedeutenden Verhandlung war. Einige Tage vor dem Kronrat verhandelte der Reichskanzler Bethman Hollweg mit dem Minister des Äußern der Monarchie und anderen führenden Politikern über die Bedingungen, unter denen das Deutsche Reich und die Monarchie gleichzeitig und gemeinsam mit der Entente Frieden schließen könnten. Die Kräfte der Mittelmächte waren schon am Erschöpfen. Damals schien es, daß Frankreich, Italien und eventuell sogar Großbritannien geneigt wären, unter gewissen Bedingungen Frieden zu schließen. 197 Zu dieser Zeit hatte nämlich auch die deutsche Heeresleitung bereits eingesehen, daß die minimale Bedingung eines Friedensschlusses mit der Entente der Verzicht Deutschlands auf jeglichen Gebietsanspruch an Belgien und Frankreich war. Als Entschädigung für den Verzicht auf Eroberungen im Westen dachte sie an Gebiete im Osten. Bei der tatsächlichen militärischen und politischen Lage waren freilich beide Annexionsansprüche illusorisch. 198 »Die äußere Politik ist so zu leiten, daß soweit als möglich, Deutschland eine gewisse Haftung für die Integrität der Monarchie übernehme.« S. 491 dieses Werkes. 199 ». . . ich von diesen Vorgängen nicht nur nichts gewußt hatte, sondern gar nichts wissen konnte« -- schreibt Czernin in seinen Memoiren (Im Weltkriege. Berlin--Wien 1919, S. 221). 200 »Unsere verschiedenen Versuche, Friedensfäden anzuknüpfen, galten, soweit sie ihren Ausgangspunkt am Ballhausplatz hatten, stets unserer ganzen Mächtegruppe.« (Ebd. S. 224). 201 Dementsprechend wurden auch zahlreiche Versuche unternommen, den Wirkungskreis des gemeinsamen Ministerrates festzulegen. Später werden wir noch sehen, daß diese wieder¬ holten Versuche fast völlig ergebnislos geblieben sind. 202 Die Erweiterung der Dimensionen zeigte sich auch auf anderem Gebiete. Am besten läßt sich die Bedeutung dieses Problems an den Beziehungen der Monarchie zu Deutschland ermessen. 203 Erst am Ende des Krieges, im gemeinsamen Ministerrat vom 24. August 1918, als über die Verteilung der Kriegslieferungen im zweiten Halbjahr verhandelt wurde, gestand Kriegs¬ minister Stöger-Steiner ein, daß in den ersten drei Jahren des Krieges Ungarn an den Kriegs¬ lieferungen nicht entsprechend beteiligt worden war, wodurch das Wirtschaftsleben Ungarns einen Schaden von ungefähr 2 Milliarden Kronen erlitten hatte. Die Tatsache selbst wurde von niemanden angezweifelt und der österreichische Handelsminister gab nur eine Begründung -- und aus unserem Gesichtspunkte ist sie interessant -- und meinte, die »Überbeschäftigung« der österreichischen Industrie sei eine Folge der größeren Leistungsfähigkeit und entwickelteren Technik der österreichischen Fabriken gewesen. 204 Diese Frage wurde am schärfsten auf der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 18. Juni 1915 aufgeworfen. Mit der Problematik der Konferenz beschäftige ich mich aus mehreren Gesichtspunkten. Hier möchte ich den gemeinsamen Finanzminister Koerber zitieren. Um die Bedenken des ungarischen Ministerpräsidenten Tisza zu zerstreuen, in Österreich nehme der Gedanke der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reiche langsam politische Form an und habe zumindest die Zollunion zum Ziel, erklärte er, dafür fehlten die realen Vorbedingungen, man müsse jedoch vorsichtig sein, um die Beziehungen der Mon¬ archie zu den Deutschen nicht durch überflüssige Befürchtungen zu trüben, weil »Österreich- Ungarn zu seiner industriellen Entwicklung, insbesondere für Spezialisierung seiner Industrie das Kapital brauche und wir kaum, wie früher, von Frankreich, England u.s.w. solches erwarten dürfen«. (Siehe S. 261 dieses Bandes.) Eigentlich hätte Koerber sagen müssen: auch von Frankreich und England, denn die Rolle des deutschen Kapitals in der österreichi¬ schen Industrie schon geraume Zeit vor Kriegsausbruch ist allgemein bekannt. 205 Im Bericht vom 5. Juli (Österreich-Ungarns Außenpolitik. Bd. VIII, S. 306) steht unter anderem zu lesen: »Nach seiner (Kaiser Wilhelms) Meinung muß aber mit dieser Aktion (d.h. seitens der Monarchie gegenüber Serbien) nicht zugewartet werden. Rußlands Haltung werde jedenfalls feindselig sein, doch sei er hierauf schon seit Jahren vorbereitet, und sollte es sogar zu einem Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Rußland kommen, so könnten wir davon überzeugt sein, daß Deutschland in gewohnter Bundestreue an unserer Seite stehen werde. 126 || || Rußland sei übrigens keineswegs kriegsbereit und werde es sich gewiß noch sehr überlegen, an die Waffen zu appellieren.« In seinem Bericht vom 6. Juli schreibt Szögyeny (ebd. S. 320): ». . . auch Reichskanzler, ebenso wie sein Kaiserlicher Herr ein sofortiges Einschreiten unserer¬ seits gegen Serbien als radikalste und beste Lösung unserer Schwierigkeiten am Balkan ansieht. Vom internationalen Standpunkt hält er den jetzigen Augenblick für günstiger, als einen späteren«. 20C Österreich-Ungarns Außenpolitik. Bd. VIII, S. 344. -07 Zu der im wesentlichen richtigen Bemerkung Tiszas im gemeinsamen Ministerrat vom 20. September 1914, daß nämlich Rußlands militärische Kraft unterschätzt werde, sagte Kriegsminister Krobatin, der österreichisch-ungarischen Heeresleitung könne kein solcher Vorwurf gemacht werden. Der Generalstab habe nur nicht mit einem so schnellen Aufmarsch der russischen Armee gerechnet (s. S. 183 des vorliegenden Bandes). 208 Ebd. S. 160. In eine meritorische Erörterung der Geschichte des Kriegseintritts Italiens kann ich mich hier nicht einlassen, ebenso wenig kann ich hier untersuchen, inwiefern Tisza recht hatte, die Verletzung der Neutralität Belgiens habe das Verhalten Italiens derart beein¬ flußt. Auch soll hier nicht untersucht werden, ob es vom Gesichtspunkt der Zukunft der Monarchie eine richtige, kluge bzw. reale Politik war, sich den italienischen Gebietsansprüchen derart starr zu verschließen. Über die Tisza diametral entgegengesetzte Auffassung siehe: M. Erzberger: Erlebnisse im Weltkrieg. Stuttgart-Berlin 1920, S. 21 ff., besonders S. 40. 209 Siehe S. 195 des vorliegenden Bandes. 210 Ebd. S. 229. 211 Die bittere Rede Tiszas (die gleich mit einem Fortissimo beginnt: »der Gedanke, etwas aus dem eigenen Leibe abzutreten, sei ein so furchtbares Opfer, daß man das Menschen¬ mögliche zu tun verpflichtet sei.. .«) ist voll von Ausdrücken, die schon an sich ein offenes Eingeständnis sind, daß die Italienpolitik der Monarchie auf Illusionen aufgebaut war: ». . . man damals noch hoffen konnte«, »diese Hoffnung sei leider nicht in Erfüllung gegan¬ gen«, ». . . die berechtigte Hoffnung, daß die Einsicht der permanenten Interessen Italiens die italienischen Staatsmänner von einer Abenteuerspolitik zurückhalten werde . . . Leider habe man sich auch hierin getäuscht«. Die Zustimmung zur Überlassung des Trentino sei für den ungarischen Ministerpräsidenten »der schwerste Entschluß, den er in seinem ganzen öffentlichen Leben zu fassen genötigt gewesen sei« (s. S. 220--223 des vorliegenden Bandes). 212 M. Uhlirz: Handbuch der Geschichte Österreichs und seiner Nachbarländer Böhmen und Ungarn. Bd. III. Der Weltkrieg. Graz-Wien-Leipzig 1939, S. 64. Hier schreibt die Verfasse¬ rin, Feldmarschalleutnant Urbanski, der zur Zeit, da Redls Spionage aufgedeckt wurde, Chef des Evidenzbureaus war, habe ihr gesagt, der Verrat habe nur die allgemeinen Mobil¬ machungspläne betroffen. 213 S. Popovics, a.a.O. S. 28. 214 Ebd. S. 28-30. 215 Ebd. S. 36. Der ungarische Finanzminister Teleszky hat in der gemeinsamen Minister¬ konferenz vom 3. Februar 1915 den Gedanken, der Krieg könne noch 21 Monate dauern, als absurd bezeichnet. (Siehe S. 207 dieses Bandes.) 219 S. 230--231 des vorliegenden Bandes. 217 Teleszky sagte wörtlich: ». . . der Hauptzweck sei festzustellen, was für Folgen der Krieg in finanzieller Beziehung bis jetzt hatte, und ein klares Bild darüber zu gewinnen, was der Krieg für jeden weiteren Monat kosten werde«, (ebd. S. 244). 218 Ebd. S. 243. 218 Ebd. S. 390. 220 Ebd. S. 269. 221 Ebd. S. 436 und 476. 222 Ebd. S. 255. 223 Im gemeinsamen Ministerrat vom 6. Mai 1917 sagte Tisza: »...wenn Deutschland auf dem Standpunkte stehe, daß die beiden verbündeten Mächte sich gegenseitig wirtschaftlich aushelfen und Zusammenhalten sollen, um ihre wirtschaftlichen Kräfte gemeinsam zu ent¬ falten, es für Deutschland keinen anderen Weg gebe, als Österreich-Ungarn sowohl bezüglich 127 || || der Beschaffung ausländischer Zahlungsmittel, als auch zur Hebung seines Kredites behilflich zu sein« (ebd. S. 505. Hervorhebungen von mir -- M.K.). 224 Den Text siehe nach dem Protokoll des gemeinsamen Ministerrates vom 6. Oktober 1915 als dessen Beilage. S. 308 -- 314 des vorliegenden Bandes. 225 Ebd. S. 259 (Hervorhebungen von mir -- M.K.). 226 Hervorhebungen von mir -- M.K. -- Stürgkh beantwortete Tiszas Ausführungen sofort. Er gab zu, daß in Österreich tatsächlich für eine Zollunion mit Deutschland agitiert werde, ja in dieser Angelegenheit sogar zahlreiche Politiker nach Deutschland gereist seien. Er meinte jedoch, »man könne ein Abflauen konstatieren . . .« Es besteht kein Zweifel, daß Tisza das Wesen der Dinge klarer sah, daß nämlich im Falle eines Sieges der Zentralmächte Deutschland die Österreichisch-Ungarische Monarchie vorerst wirtschaftlich, dann politisch verschlungen hätte. Stürgkh sah nicht oder wollte nicht sehen, daß sich bereits die frühen Symptome des später tatsächlichen erfolgten Anschlusses zeigten. Der gemeinsame Finanz¬ minister Koerber verwies auf die wirtschaftliche Grundlage der politischen Agitation (s. Anm. 204). Doch vor einer Zollunion warnte auch er. S. 261 des vorliegenden Bandes. 227 Ebd. S. 388 (Hervorhebungen von mir -- M.K.). 228 Als sich Österreich-Ungarn im Jahre 1916 wiederholt an Deutschland wandte, um in seiner schwierigen Versorgungslage Getreidelieferungen zu erhalten, hat der Minister des Äußern laut Protokoll des gemeinsamen Ministerrates vom 16. Oktober 1916 unter anderem gesagt: ». . . werde man sich doch der Notwendigkeit nicht entziehen können, der deutschen Regierung einen sehr klaren Einblick in die Verhältnisse in Österreich und in Ungarn zu geben . . .« (ebd. S. 411. Hervorhebungen von mir -- M.K.). 229 Nach dem Hinweis auf die Gefahren einer deutschen Wirtschaftshilfe erklärte Tisza: »Andererseits sei aber nicht zu verkennen, daß ein enges Zusammenhalten der beiden Mittel¬ mächte in ihrem beiderseitigen Lebensinteresse liege.« (Ebd. S. 504.) 230 d ... seitens der deutschen Delegierten der Versuch gemacht worden sei, einen engeren Anschluß, als das bloße Präferenz-System herbeizuführen.« Der ungarische Handelsminister Graf Serenyi war der Ansicht, dieser Versuch gehe auf das Konto des inzwischen zurück¬ getretenen stellvertretenden Staatssekretärs Richter. Doch meinte Seidler, »es scheine dies nicht bloß die Absicht einzelner Delegierter, sondern die Auffassung der deutschen Regierung zu sein« (ebd. S. 576. Hervorhebungen von mir -- M.K.). 231 »Sie (d.h. die Schwierigkeiten) seien eine Folge dessen, daß die Anforderungen, die an Österreich-Ungarn in militärischer Hinsicht und in Betreff der auswärtigen Politik herange¬ treten seien, so große seien, daß sie nicht in Harmonie mit seinen wirtschaftlichen Kräften stehen . . . die Monarchie vor Aufgaben stehe, welchen sie allein wirtschaftlich nicht gewachsen ist. Zufolge der Überlastung ihrer Volkswirtschaft während des Krieges werde die Monarchie auch nach dem Kriege in einem sehr großen Maße auf Deutschland angewiesen bleiben.« (Ebd. S. 384. Hervorhebungen von mir -- M.K.) 232 Die gefährlichen Folgen des von Czernin als falsch gebrandmarkten, eigentlich jedoch die Wirklichkeit getreu widerspiegelnden Eindrucks hat der Außenminister richtig erkannt (ebd. S. 500. Hervorhebungen von mir -- M.K.). 233 Ebd. S. 501 und 504 (Hervorhebungen von mir -- M.K.). 234 J. Redlich: Österreichische Regierung und Verwaltung im Weltkriege, S. 84. Dem ent¬ sprach in Ungarn der Ges. Art. LXVIII. v. J. 1912, der zusammen mit den Ges. Artikeln Nr. XXX, XXXI, XXXII, XXXIII und LXIII aus demselben Jahre der ungarischen Regierung weitgehende Machtbefugnisse sicherte, für den Kriegsfall die notwendigen militärischen Schritte zu unternehmen, die zivile Wirtschaft auf Kriegswirtschaft umzustellen, dann bei Ausbruch des Krieges fast diktatorische Maßnahmen zu treffen. (S. E. Ivänyi: Magyar minisz- tertanäcsi jegyzökönyvek az eisö viläghdborü koräböl, besonders auf S. 39.) 235 Redlich, a.a.O. S. 88. 236 Ebd. S. 89. 237 Ebd. S. 91 (Hervorhebung von mir -- M.K.). 288 Vielleicht der nachteiligste der die Aktionsfähigkeit der Monarchie lähmenden Struktur¬ fehler war die Zergliederung der Heeresverwaltung des Reiches. Neben dem die Angelegen¬ heiten des gemeinsamen Heeres verwaltenden Kriegsministerium hatten das sich mit den 128 || || Angelegenheiten der ungarischen Honved befassende ungarische Landesverteidigungsministe¬ rium, das der österreichischen Landwehr übergeordnete Landwehrministerium, auf parla¬ mentarischer Ebene die zwei Delegationen und der dieselben entsendende ungarische Reichs¬ tag und der österreichische Reichsrat, bei Beschaffung der für die Kriegsausgaben notwendigen Gelder der ungarische, der österreichische und der gemeinsame Finanzminister, in militäri¬ schen, besonders in Personalfragen, manchmal auch in prinzipiellen Fragen der Herrscher, zu Lebzeiten Franz Ferdinands auch die Militärkanzlei des Thronfolgers und nicht zuletzt in strategischen und allgemeinen militärischen Fragen der Chef des Generalstabes, also eine ganze Reihe der verschiedensten Foren mehr oder weniger Einfluß bei Entscheidung militäri¬ scher Fragen. Man kann sich vorstellen, welche Kompromisse aus dem Kampf dieser, einander oft scharf gegenüberstehenden Interessen dienenden Faktoren zustande kamen. Dieses an Anarchie grenzende Kunterbunt der Heeresorganisation der Monarchie ist ein fast adäquater Ausdruck jenes verhängnisvollen Widerspruchs, der im halb parlamentarischen, halb absolu¬ tistischen Staatsleben Österreich-Ungarns seit dem Ausgleich grundlegend dominierte. In keinem anderen Sektor des politischen Lebens war diese Zerrissenheit und Widersprüchlich¬ keit des dualistischen Staatsapparates derart ins Auge springend. Sie war jedoch ein allge¬ meines Symptom der dualistischen Staatseinrichtung. Im Weltkrieg entstanden dann eben durch diese Kompliziertheit der Heeresverwaltung und die besonderen Anforderungen der Kriegsverhältnisse nacheinander Situationen, in welchen selbst Staaten mit minder schwer¬ fälligem Staatsapparat wie die Monarchie dem Tempo der Ereignisse nicht hätten folgen können. 239 Siehe S. 172 des vorliegenden Bandes. 240 Die Debatte s. ebd. S. 201 --208. 241 Im weiteren werde ich im Zusammenhang mit diesem Prozeß eingehender besprechen, worin die Funktion des gemeinsamen Ministerrates bestand. 242 Siehe S. 236--247 des vorliegenden Bandes. 243 Ebd. S. 336. 241 Ebd. S. 385 (Hervorhebung von mir -- M.K.). 245 Nicht uninteressant ist, worin der ungarische Ministerpräsident den Grund für diese mißliche Lage sah: »Der Grund hierfür liege in dem Umstande, daß bei allen Fragen, bei wel¬ chen eine Verknüpfung hochwichtiger industrieller und militärischer Interessen bestehe, Ungarn sich stark in der Hinterhand befinde. Das Kriegsministerium habe seinen Sitz in Wien, wo sich auch die leitenden Persönlichkeiten der österreichischen Industrie befinden, welche ihre Wünsche direkt durch Vermittlung der ihrem Stande angehörigen zahlreichen, wegen ihrer Fachkenntnisse zur Dienstleistung im Kriegsministerium einberufenen Reserve¬ offiziere verbringen können.« Die Verbesserung der nachteiligen Lage Ungarns dachte sich Tisza durch Abkommandierung entsprechend qualifizierter ungarischer Offiziere ins Kriegs¬ ministerium (ebd. S. 386). 246 Ebd. S. 463 (Hervorhebung von mir -- M.K.). 247 Ebd. S. 464 (Hervorhebung von mir -- M.K.). 248 Dies geschah übrigens gewöhnlich im gemeinsamen Ministerrat. Worüber später noch eingehender gesprochen wird, war ein wesentliches Element der Funktion des gemeinsamen Ministerrates die Debatte, in der der Kriegsminister die Zustimmung der beiden Regierungen zu Investitionen über den Plan erkämpfte. 249 »Eine gesonderte Erörterung der einzelnen Fälle im normalen Verhandlungswege, nament¬ lich für die Geschütz- und Munitionserzeugung, könnte ein gefährliches Hemmnis werden . . . Der Beschluß des gemeinsamen Ministerrates vom 24. Februar 1917 fordere zu jeder neuen Investition die Einholung der Zustimmung der beiden Regierungen. Die hiedurch bedingte unver¬ meidliche Verzögerung berge die Gefahr der völligen Preisgabe des aufgestellten Programmes, mindestens aber eine bedeutende Verschiebung in seiner Durchführung in sich.« (Ebd. S. 530. Hervorhebungen von mir -- M.K.) 269 Dieses Suchen einer Formel will keine Vereinfachung sein, sondern soll lediglich dazu dienen, die Zusammenhänge leichter und klarer zu erkennen, um die Probleme auf der Ebene der geschichtlichen Hilfswissenschaften und der Amtsgeschichte an den Änderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse abzumessen. Die äußerste Kompliziertheit, Komplexität der 9 Komjäthy: Protokolle 129 || || sozialen Verhältnisse erfordert fast notwendigerweise, derartige zweit- oder dritt rangige Erscheinungen des Überbaues, wie die Amtsführung, gewisse Strukturelemente des Staats¬ apparates und des Regierens durch Formeln mit den auch deren Rolle, Bewegung determinie¬ renden sozialen Verhältnissen in Verbindung zu bringen. Sollte das Experimentieren, das meine Ausführungen skizzieren als übermäßige, schon beinahe auf Kosten der Rekonstruktion der Wirklichkeit gehende Vereinfachung erscheinen, so ist zu bedenken, daß meines Wissens bisher nicht der Versuch unternommen worden ist, die Zusammenhänge im gesellschaftlichen Leben auf der Ebene der geschichtlichen Hilfswissenschaften und der Amtsgeschichte zu erschließen. 251 Um aus den ungarischen Gesetzen Beispiele anzuführen: Ges. Art. XLVII. vom Jahre 1868 über die gemeinsamen Pensionen: über die Pensionen jener Personen, die bei solchen vor 1867 bestehenden Zentralbehörden angestellt waren, deren Tätigkeit sich auch auf Ungarn erstreckt hatte, wie der Ministerrat, der Staatsrat, die k.k. Ministerien des Innern, der Justiz, der Polizei usw.; ähnlich der Ges. Art. IX. v. J. 1870 »über die Pensionen von Organen der von 1849 bis 1867 faktisch bestandenen Zentralregierung«; § 3 des Ges. Art. XIX. v. J. 1878 über den Prozentsatz, in welchem die Länder der ungarischen Krone zu den Lasten der im Ges. Art. XII. v. J. 1867 als gemeinsam anerkannten Staatsangelegenheiten beitragen. Dann gab es noch Gesetze, die den Kreis der gemeinsamen Angelegenheiten nur in gewisser Bezie¬ hung berührten, wie z.B. der Ges. Art. XXIV. v. J. 1901 über die Inkompatibilität der Mitglieder gesetzgebenden Körperschaften; § 15 dieses Gesetzes definiert den Begriff »Regierung« fol¬ gendermaßen: Unter Regierung »sind zu verstehen sowohl die ungarischen wie auch die gemeinsamen Minister, sowie die Leitung sämtlicher zur Vertragschheßung berechtigten staathchen Behörden oder Ämter, staatlichen Betriebe, unter staatlicher Verwaltung stehen¬ den Fonde, Stiftungen, Institute«. 252 Auf Ersuchen Nr. 3996/RFM. HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. Gesammelte Akten, Karton rot 558, fol. 249--258. -- Ebd.: Aktenkonzept der Präsidialsektion des Ministeriums des Äußern Nr. 508/1871, nach welchem die strittige Frage zu einem Buchungsproblem zusammenschmolz und auf kurzem Wege zwischen den beiden Ministern erledigt wurde. Dadurch entfiel die Notwendigkeit, den gemeinsamen Ministerrat einzuberufen. 253 »Hierher gehören«, heißt es weiter, »solche einzelne Anlagen und Ausgaben der Heeres¬ leitung, die über das in engerem Sinne genommene Kriegsziel hinausgehen und berufen sind, nicht so sehr den Interessen des derzeitigen Krieges als der späteren Kampfbereitschaft zu dienen.« Bauvorhaben, die noch vor Kriegsausbruch beschlossen wurden, deren Wirkung aber während des Krieges noch nicht spürbar ist, sind bis ans Kriegsende zu vertagen (HHSta. Min. d. Äuß. Pol. Arch. I. Kab. d. Min. III/15, Karton rot 624. -- OL. Filmarchiv. W. 1957, Karton 218, Tit. 9, S. 567). 254 HHSta. ebd. - OL. Fümarchiv. W. 1957, Karton 218, Tit. 4 u. 5, S. 569, 1027 f. 255 Das Material der Debatte: HHSta. ebd. -- OL. Filmarchiv W. 1957, Karton 218, Tit. 3, S. 567-631. 256 Die Ministerratsprotokolle zeugen davon, daß oft sogar Formalitäten, ja Stimmungs¬ elemente hierauf verweisen. Als z.B. Istvän Tisza in der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 6. Oktober 1915 den Anspruch Ungarns auf Bosnien-Herzegowina anmeldete, war der österreichische Ministerpräsident Stürgkh hiervon peinlich überrascht. Als ob er in der Hitze von Parlamentsdebatten Kenntnis von dieser unerwarteten Anzeige erhalten hätte und nicht am Verhandlungstisch der mit vorbereiteter Tagesordnung arbeitenden Regierung (s. S. 308 des vorliegenden Bandes). 267 Der gemeinsame Ministerrat vom 18. Juni 1915 befaßte sich unter anderem auch mit der Frage des Budgets. Da der österreichische Reichsrat vertagt wurde und so auch die Dele¬ gationen nicht einberufen werden konnten, entstand Verwirrung über die Genehmigung des Budgets. Es hat sich die Ansicht herausgebildet, daß im Falle der Notwendigkeit außer¬ ordentlicher Kredite die Angelegenheit den beiden Regierungen vorzulegen sei, die die Kredite wahrscheinlich bewilligen werden. »Bei einer Meinungsverschiedenheit hätte die gemeinsame Ministerkonferenz zu entscheiden.« Im wesentlichen wurde also unter den außerordentlichen Verhältnissen ein bedeutender Streifen des Aufgabenkreises der Delegationen vom gemeinsa¬ men Ministerrat übernommen. Sehr lehrreich ist, was in diesem Zusammenhang Istvän Tisza 130 || || gesagt hat. Er berief sich auf den Präzedenzfall vom Jahre 1897 als es ebenfalls schien, die österreichischen Delegationen könnten nicht zur Votierung des Budgets einberufen werden. Stürgkh protestierte zur gleichen Zeit dagegen, daß Tisza die Dinge so hingestellt habe, als ob die Delegationen nur deshalb nicht tagen könnten, weil das österreichische parlamentari¬ sche Leben in eine Sackgasse geraten sei. »Wir leben im Kriegszustände, wo die Erörterung der auswärtigen Politik in einer Körperschaft, welcher die Kritik derselben ex professo zustehe, nicht zulässig sein könne... Das Hindernis liege in der Sache selbst.« (S. 264 des vorliegen¬ den Bandes.) Die Verzerrung der Funktion des gemeinsamen Ministerrates im Weltkriege hat auch eine Funktionsbeschränkung, eine Verminderung seines Machtgewichtes gezeitigt. Als im gemein¬ samen Ministerrat vom 6. Oktober 1915 davon die Rede war, daß die ungarische Opposition die Einberufung der Delegationen verlangen könne, eben weil sie -- falls die Delegationen nicht tagen -- eine parlamentarische Kontrolle der in den Wirkungskreis des gemeinsamen Ministeriums gehörenden Angelegenheiten nicht ausüben könne, erklärte Tisza, daß die ungarische Regierung »die gemeinsame Regierung mit ihrer Verantwortung decke« (ebd. S. 286). 258 Dieser Standpunkt war freilich nur in bezug auf die verfassungsrechtliche Empfindlichkeit elastisch. Von den politischen Grundsätzen ungarischer Ausgleichspolitiker, besonders Gyula Andrässys, dem Reichsgedanken, der Sicherung der Großmachtstellung der Monarchie, also dem großen, unvereinbaren Gegensatzpaar: Imperialismus des Habsburgreiches und relative ungarische Selbständigkeit war für Tisza ersterer maßgebend. 259 Unter Nr. 2657-res. I.M.E. Im weiteren wird angegeben werden, wo das ganze Material der Debatte zu finden ist. 260 Das Material der Debatte HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. I. Kab. d. Min. III/15, Karton rot 624. -- OL. Filmarchiv. W. 1957, Karton 218, Tit. 3, S. 567--632. 261 In seinem Schreiben Nr. 4320/res. ME. I. Archivdaten siehe weiter unten. 262 Nr. 4724/res. ME. I. HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. I. Kab. d. Min. IH/15, Karton rot 624. - OL. Fümarchiv. W. 1957, Karton 218, Tit. 3, S. 710 ff. 264 Unter Nr. 2828/res. ME.: HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. I. Kab. d. Min. III/15. - OL. Filmarchiv. W. 1957, Karton 218, Tit. 5, S. 753 ff. 265 In der Zuschrift Nr. 4678/PM. vom 30. November 1910 (HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. 1. Kab. d. Min. III/17, Karton rot 625. -- OL. Filmarchiv W 1957, Karton 218, Tit. 5, S. 628). 266 Die Angelegenheit wirft übrigens auch auf die widerspruchsvolle und gespaltene Struktur der dualistischen Monarchie ein grelles Licht. Es lohnt sich daher, auch die weiteren Details der Erörterungen des ungarischen Finanzministers zu rekapitulieren. Diese Zuschrift -- stellt Läszlö Lukäcs fest -- bestärkt augenfällig den Schein und die Praxis, »als ob in Angelegen¬ heiten der Kriegsmarine nicht der Herr k. und k. gemeinsame Kriegsminister zuständig wäre, sondern die Marinesektion des Kriegsministeriums eine selbständige Zentralbehörde wäre... Ich beehre mich, festzustellen, daß unsere Gesetze die gemeinsame Marinesektion als separaten, selbständigen, gemeinsamen Faktor bzw. zentrale Behörde nicht kennen ... Die Marinensektion ist nur ein Organ des gemeinsamen Kriegsministeriums, das ebensowenig ein Recht auf selbständige Verfügung und Stellungnahme und als Ergänzung derselben eine verfassungsmäßige Verantwortlichkeit hat wie die übrigen Organe und Sektionen der gemein¬ samen Ministerien«. Er ersucht, die Marinesektion solle in Zukunft den Gesetzen entsprechend nach außen hin nur als eine Sektion des Ministeriums fungieren. Der Zuschrift war eine Abschrift seines Schreibens an den Kriegsminister Baron Franz Schönaich beigeschlossen, in welchem er ihm den Inhalt des vom Leiter der Marinesektion erhaltenen Briefes mitteilt und in welchem es unter anderem heißt: »Ich muß auf das entschiedenste dagegen Stellung nehmen, daß trotz und entgegen den Vereinbarungen, die auf der eingangs erwähnten gemein¬ samen Ministerkonferenz unter was immer für einem Titel den festgestellten jährlichen Kredit¬ betrag übersteigende Nachtrags- oder außerordentliche Kredite angefordert werden.« 267 HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. I. Kab. d. Min. III, Karton rot 624. -- OL. Film¬ archiv W. 1957, Karton 218, Tit. 3, S. 632. 9* 131 || || 268 Daß nämlich die Österreichisch-Ungarische Monarchie im Kriege keinerlei bedeutendere territoriale Forderungen an Serbien stelle. 269 )>... mangels eines neuerlichen Beschlusses noch zu Recht bestehe ...« Den Text siehe auf S. 154 des vorliegenden Bandes. 270 Um nur aus dem Weltkriege ein diesbezügliches Beispiel zu zitieren: Am 8. Juli 1915 »entspinnt sich nun eine längere Diskussion«. Und »auf Grund der durchgeführten Diskussion einigt sich der Ministerrat dahin . . .« (ebd. S. 274). Als Zweck der gemeinsamen Minister¬ konferenz vom 7. Januar 1916 wurde von Buriän folgendes bezeichnet: »Aussprache über die politische Lage . . . und über die Kriegsziele« (ebd. S. 353). Als über Tiszas Stellungnahme gegen Annexionen debattiert wurde, heißt es dann weiter: ». . . die Konferenz einigt sich . . . nach eingehender Erörterung der Frage« (ebd. S. 374). In bezug auf die im gemeinsamen Ministerrat vom 10. Januar 1917 zur Sprache gekommenen Frage heißt es: »auf Grund der gegebenen Darlegungen beschließt die Konferenz dahin . . .« (ebd. S. 435) usw. 2.1 Am 7. Januar 1916: ».. . eine Aussprache über die politische Lage . . . und über die Ziele, welche durch den gegenwärtigen Krieg erreicht werden sollten« (ebd. S. 353). 2.2 Am 12. Dezember 1915: ». . . neue Lage . . . den Anlaß zur Einberufung der Konferenz gegeben habe« (ebd. S. 317). 273 Auch in Berchtolds Stellungnahme kommt der Gedanke zum Ausdruck, solche Angele¬ genheiten, die die ganze Monarchie betreffen, gehörten vor den gemeinsamen Ministerrat. 274 Wenn die Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates selbst über den Aufgaben- und Wirkungsbereich des gemeinsamen Ministerrates sprachen, so sagten sie -- locker gefaßt --, sehr wichtige Fragen gehörten hierher und seine Aufgabe sei es, prinzipielle Beschlüsse zu fassen und dem Minister des Äußern prinzipielle Vollmachten zu geben, ohne jedoch seine Hände in den Einzelheiten zu binden. Am 31. Juli 1914: »...der Ministerrat erteilt... dem Vorsitzenden die prinzipielle Ermächtigung« (ebd. S. 158). Am 8. August 1914, als von eventuellen Gebietsabtretungen an Italien die Rede war, sagte Berchtold, daß »... diese Angelegenheit eine so wichtige sei, daß nur der Ministerrat Beschlüsse fassen könne« (ebd. S. 160). Im Protokoll des Ministerrates vom 2--5. Juli 1917 steht: »... die Entscheidung in allen wichtigen Fragen müsse jedenfalls dem gemeinsamen Ministerrate Vorbehalten bleiben« (ebd. S. 532). Im gemeinsamen Ministerrat vom 6. Oktober 1915 brachte Istvän Tisza die Massendesertion der Soldaten tschechischer Nationalität zu den Russen mit der Begründung zur Sprache, daß diese Frage, obzwar sie eine charakteristisch innere Angelegenheit Öster¬ reichs sei, infolge ihrer Dimensionen schon vor den gemeinsamen Ministerrat gehöre (ebd. S. 300). 275 Vgl. ebd. S. 184. 276 Eben infolge der erwähnten persönlichen Umstände wurden Machtbereich und Macht¬ befugnis des Herrschers auf die Person des Ministers des Äußern bzw. auf die durch ihn ver¬ tretene Clique transponiert. 277 Obwohl eine Untersuchung das Bild von der Funktion des gemeinsamen Ministerrates vervollständigen würde, muß ich davon absehen. Ich hätte im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, im Schriftenmaterial des Kabinetts des Herrschers weiter forschen müssen, um Maß und Art der Einflußnahme des Herrschers von Fall zu Fall abzumessen, ob die Dinge nun an der Person des Kaisers und Königs selbst oder an dem Minister des Äußern als dem gelegentlichen Vertreter der Rechtssphäre des Herrschers gelegen waren. 278 vgl. s. 153 des vorliegenden Bandes. 279 Ebd. S. 298. 280 Ebd. S. 301. 284 Ebd. S. 487. 282 »Seine k.u.k. Apostolische Majestät geruhten die Besprechung mit dem Hinweis zu eröffnen, daß es ein Lebensinteresse der Monarchie sei, unsere Volkswirtschaft vor einer Katastrophe zu retten. Es herrsche eine allgemeine Unzufriedenheit und die hohen Preise erzeugten überall böses Blut.« Siehe S. 511 des vorliegenden Bandes. 283 Ebd. S. 514. 284 Ebd. S. 516 und 587. 285 Ebd. S. 486. 13-2 || || 486 Ebd. S. 683. 287 Ebd. S. 694. 288 Es gibt Angaben dafür (über diese wird bei Besprechung der Formalitäten noch die Rede sein), daß die gemeinsame Ministerkonferenz noch ein weiteres Mal zusammengetreten ist. Über die Beratungen derselben wurde jedoch kein Protokoll mehr abgefaßt. za» ygi s. 699 des vorliegenden Bandes. 280 Ebd. S. 142 und 194. 291 Ebd. S. 699. 292 Die fast einer Lähmung gleichkommende Hilflosigkeit und Aktionsunfähigkeit der Führer der in ihre Bestandteile zerfallenden Monarchie -- geschichtliche Rolle der Bewußt¬ seinerscheinungen! -- kann zu einem geringen Teile vielleicht auch hierdurch erklärt werden. 293 Die Vorlage der Protokolle beim Kaiser und König wird vom Legationsrat i. P. Joseph Walterskirchen, der im Weltkrieg selbst Schriftführer in gemeinsamen Ministerratssitzungen war, in einer für das Staatsarchiv (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Nr. 1678/1940) angefertigten Aufzeichnung beschrieben. Diesen Text hat mir Herr Amtsrat A. Nemeth zur Verfügung gestellt und mich damit zu großem Dank verpflichtet. 294 Auch diese Form der Kenntnisnahme durch den Herrscher, die von einem der besten Kenner der zeitgenössischen Praxis beschrieben wurde, beweist, daß dieser Herrscherakt keinerlei meritorische Stufe im Geschäftsgang des gemeinsamen Ministerrates darstellte. 295 Zitierte Aufzeichnung Walterskirchens. Der »Kaiserstrich« kommt nach 1904 in den Protokollen sehr oft, vor 1904 kaum vor. Nachdem laut Walterskirchen der Herrscher sämtliche Protokolle, die ihm auf kurzem Wege vorgelegt wurden, mit diesem Strich versehen hat, kann das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des »Kaiserstrichs«, zumindest nach 1904, also auch in Verbindung mit den Protokollen aus dem Weltkriege als verläßliche Angabe verwertet werden. 296 Nach einer brieflichen Mitteilung des Herrn Amtsrats A. Nemeth, die mich zu auf¬ richtigem Dank verpflichtet: »In der Präsidialkanzlei des Ministeriums des Äußern wurden der Index und die Protokollbücher des gemeinsamen Ministerrates geführt, welche heute im Politischen Archiv XL, Interna, Band 278 'Ministerraths-Protokoll für gemeinsame Angele¬ genheiten Nr. 1--220: 31. Dezember 1867--11. Oktober 1878'; Band 279 'Gemeinsame Mini- sterrats-Protokolle Nr. 221 -- 553 (17. Oktober 1878--22. Oktober 1918)' und Band 280 'Ministerraths-Protokoll-Index für gemeinsame Angelegenheiten' hinterlegt sind. Die Proto¬ kollbücher haben 7 Spalten mit folgender Einteilung: Spalte 1: Nummer des Ministerraths- Protokolles; Spalte 2: Tag der Sitzung; Spalte 3: Gegenstand; Spalte 4: Anwesende bei der Ministerraths-Sitzung; Spalte 5: Hat zu circulieren bei...; Spalte 6: An Se. k.k. Apost. Majestät; Spalte 7: Anmerkungen. Die Spalten 5 und 6 wurden sehr mangelhaft oder gar nicht ausgefüllt. In der Spalte 'Anmerkungen' wurde regelmäßig die Resolution des Kaisers eingetragen. In dem Indexband sind nur 2 Spalten: Gegenstand und Nummer des Sitzungs¬ protokolls.« 297 HHSta. Min. d. Äuß. F.4. Generalia. Karton 399. Konv. 2, fol. 103--104. Punkt 10 der Verordnung besagt: »Die Reichskanzlei besitzt keine Amtsgewalt nach Außen, sie ist weder administrative, noch exekutive Behörde, sondern bildet nur ein Kabinet des Reichskanzlers, unter dessen Namen alle Ausfertigungen und Correspondenzen zu geschehen haben.« Über die Änderung ihrer Funktion s. HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. Ges. Akten. Liasse II/5, Karton rot 558, fol. 427-430. 298 Ebd. schreibt Beust über die früheren Zustände: mit einem kaiserlichen Handschreiben vom 8. Oktober 1858 »war die frühere Minister-Conferenz-Canzlei, welche einen Teil der Geschäfte der Kais. Kabinets-Kanzlei zu besorgen hatte, aufgelöst und sind für Führung der Protokolle der Minister-Conferenzen zwei Protokollführer bestimmt worden«. 2" Protokollführer im Ministerrat vom 22. März 1917 war Generalkonsul Joannovics, in dem am selben Tag abgehaltenen Kronrat Legationssekretär Colloredo. -- Kronrat (eine Bennennung übrigens, die nur als halbamtlich betrachtet werden kann) wurde eine Minister¬ konferenz unter dem Vorsitz des Herrschers genannt. Auf dem Mantelbogen der Protokolle kam diese Benennung niemals vor. Über die Protokollführer schreibt Freiherr v. Musulin, a.a.O. S. 135. 133 || || 300 Ein Beispiel: Der Minister des Äußern Czernin hat mit seinem im Hofzug datierten Chiffretelegramm vom 25. Oktober 1917 das gemeinsame Ministerium des Äußern angewiesen, einen der beiden Ministerpräsidenten zu ersuchen, an der gemeinsamen Ministerkonferenz in Budapest am 28. Oktober den Vorsitz zu übernehmen, da er an der Teilnahme verhindert sein wird (HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. Kab. d. Min. III/15, Karton rot 624, S. 1022). 301 Auf das von Kriegsminister Stöger-Steiner am 5. November 1917 unter Nr. Abtg. 9/V. G.M. 5688 an den Minister des Äußern gerichtete Schreiben, in welchem zur Erörterung gewisser Fragen der Militärverwaltung die Einberufung eines gemeinsamen Ministerrates erbeten wird (HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. Kab. d. Min. III/15, fol. 1036), wurde über die Erledigung der Angelegenheit im Kabinett folgende Aufzeichnung gemacht: »... diese Angelegenheit wurde im Gemeinsamen Ministerrate vom 3. Dezember 1917 besprochen. Vide Prothokoll No . . . (die Nummer fehlt), somit a.a.« (Ebd.) Ministerpräsident Sändor Wekerle ersuchte (ebd. fol. 1042) den Minister des Äußern Czernin, die Angelegenheit der auf Wunsch des Kriegsministers aufzustellenden zwei Eisenbahnregimenter auf die Tages¬ ordnung des nächsten gemeinsamen Ministerrats zu setzen. Im Kabinett wurde, der vorer¬ wähnten Erledigung ähnlich, auf dem Schreiben oben vermerkt, daß die Angelegenheit im gemeinsamen Ministerrat vom 3. Dezember 1917 behandelt wurde, das Ansuchen also ad acta gelegt werden kann. 302 Als Beispiel zitiere ich die Einladung des Ministers des Äußern Czernin an den ungari¬ schen Ministerpräsidenten Istvän Tisza zum gemeinsamen Ministerrat vom 10. Januar 1917 in Form eines Privatbriefes auf Briefpapier mit Trauerrand wegen des Hinscheidens Franz Josephs. »Hochgeborener Graf! Ich beehre mich, Euer Exzellenz zu ersuchen, sich zu einer am Mittwoch, 10. 1. M. um 10 Uhr vormittags stattfindenden gemeinsamen Ministerkon¬ ferenz, deren Tagesordnung Euer Exzellenz mit h. a. Note Nr. 118.305/9 de dato 7. v. M. bereits mitgeteilt wurde, im Ministerium des Äußern einfinden zur Teilnahme an derselben auch die in Betracht kommenden Herren Ressort-Minister, sowie den Herren Präsidenten des Emährungsamtes einladen zu wollen.« Als Kleinigkeit in der Amtsführung erwähne ich, daß auf der Rückseite von Czemins Schreiben von unbekannter Hand mit Bleistift auf¬ gezeichnet steht: »sürgös (dringend)«, dann von derselben Hand mit unleserlicher Unter¬ schrift: »r. u. mär megtörtent, I. 6. (auf kurzem Wege bereits geschehen. 6. I.)«. Zwischen den beiden Aufzeichnungen die eigenhändige, mit Bleistift geschriebene Anweisung Tiszas: »földmüv.-, penz-, belügym., br. Kürthy ertesitendö. Sürgös. (Ackerbau-, Finanz-, Innen¬ minister, Baron Kürthy zu verständigen. Dringend.)« Die Bezeichnung »auf kurzem Wege« bedeutet offenbar telephonische Verständigung. 3m HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. Kab. d. Min. III/5, Karton rot 624, S. 567: Tisza ersucht in seinem Schreiben 453/res. M.E. vom 27. Januar 1915 den Außenminister Buriän, zur Behandlung schwerwiegender Finanz- und Wirtschaftsfragen eine gemeinsame Minister¬ konferenz einzuberufen »und zu derselben außer den Mitgliedern der gemeinsamen Regierung und des Vertreters der Kriegsmarine die beiden Ministerpräsidenten, die beiden Finanz-, Landesverteidigungs- und Handelsminister einzuladen. -- Übrigens wurzeln die Art und Weise der Einberufung des gemeinsamen Ministerrates, der Bestimmung des zu behandelnden Materials, der Führung des Protokolls über die Verhandlungen, alle Formalitäten der Funktion des gemeinsamen Ministerrates überhaupt letzten Endes in dem von Ferdinand V. im Jahre 1848 erlassenen Statut (HHSta. Ministerratsakten 12/1848 -- Beilage). 304 Vgl. S. 635 des vorliegenden Bandes. 305 HHSta. Min. d. Äuß. Pol. Arch. Ges. Akten. II/3, Karton rot 558, fol. 382--385. 306 Ebd. fol. 395--397. befindet sich Andrässys Antwort (der Briefkopf des Aktenstückes lautet: »Präsidial-Section des Ministeriums des Äußern« und trägt die Nummer: 160/1876. Departement I.): »Es ist selbstverständlich, daß diesem Wunsche in jedem Falle entsprochen werden wird und sind die diesbezüglichen Anordnungen bereits getroffen worden.« Im Ab¬ schnitt über die Funktion des gemeinsamen Ministerrates habe ich mehrere Fälle behandelt, die beweisen, daß sich auf Grund der Verfügungen Andrässys nicht die von Kälmän Tisza gewünschte Praxis herausgebildet hat und daß sich daraus auch im Weltkrieg unzählige Mi߬ verständnisse ergaben. Unter anderem kam auch in dieser Tatsache das Zurückbleiben der Amtsführung der Monarchie hinter den Ereignissen zum Ausdruck. 134 || || 307 HHSta. Min. d. Äuß. Pol. Arch. Ges. Akten. II/3, Karton rot 558, fol. 391 -- 394. 308 Fast jede Phase und Spielart des mit den Protokollen zusammenhängenden Amts¬ mechanismus kann in Verbindung mit dem Protokoll des gemeinsamen Ministerrates vom 24. Februar 1917 (G.M.K.P.Z. 533. - HHSta. XXX. - 313. - PA. - Interna - Ministerrat -- im Konvolut 1916/17. III) beobachtet werden. Von diesem Protokoll sind drei Exemplare erhalten geblieben. Die drei Exemplare sind Abzüge des gleichen, mit Schreibmaschine angefertigten Textes. Auf dem einen Abzug befinden sich nur Korrekturen des ungarischen Finanzministers Teleszky und des ungarischen Handelsministers Harkänyi (Bl. 184--207). Auf dem zweiten Abzug (Bl. 160--183) sind keine Korrekturen, doch befindet sich auf diesem die Unterschrift des Protokollführers Joannovics. Auf dem Mantelbogen mit Blaustift: »gesehen, Czernin«, unten: »Kopf. Sch.«. Abgesehen vom »Einsicht«-Mantelbogen entspricht der dritte Abzug dem »Originalexemplar« (Bl. 210--232); auf der inneren Seite des Mantel¬ bogens steht oben mit Bleistift geschrieben: »gelesen. Karl«. Auf diesem Exemplar befinden sich vom ungarischen Ministerpräsidenten Tisza stammende Korrekturen, die jedoch von einer dritten Person eingetragen wurden. Auf demselben Exemplar befinden sich auch die vom österreichischen Finanzminister Spitzmüller eigenhändig gemachten Korrekturen, die mit »Sp.« signiert sind. Das Exemplar mit den eigenhändigen Korrekturen Tiszas ist verloren¬ gegangen. Unter den Exemplaren des Protokolls befindet sich ein vom 4. April 1917 datierter Brief des Ministerialrats im ungarischen Ministerpräsidium Alfred Drasche-Läzär, in welchem er entweder Colloredo oder Joannovics mitteilt, daß er das Protokoll des gemeinsamen Mini¬ sterrats vom 24. Februar von Tisza unterfertigen ließ und daß er den Ministerpräsidenten »über die näheren Umstände..., unter denen das von ihm bereits Unterzeichnete andere Exemplar des Protokolles in Verstoß geraten ist« orientierte. Ebendort befindet sich ein Brief des Ministerpräsidenten Tisza an den Generalkonsul Joannovics vom 30. März 1917, mit dem er das Protokoll vom 24. Februar zurücksandte, und in dem er ersucht, die Korrekturen der ungarischen Minister ins »Originalexemplar« zu übertragen. 309 Auf dem Mantelbogen Nr. 1548 des Protokolls vom 15. Februar 1918 steht eine paarzei¬ lige Anmerkung, wonach das Konzept des Protokolls noch im Februar dem ungarischen Ministerpräsidenten Wekerle zugesendet worden war, der es erst im September zurücksandte. Deshalb konnte es das Kabinett erst nachträglich mit einer Nummer versehen. (Ein Beispiel, wie lange die Protokolle bei den einzelnen Foren liegen blieben. Daraus ist auch verständlich, daß diese, besonders am Ende des Krieges leicht auch verloren gingen, wie auch das Protokoll des letzten gemeinsamen Ministerrates vom 30. Oktober 1918 verlorengegangen ist, falls es überhaupt abgefaßt wurde.) 310 Schicksalsjahre Österreichs 1908--1919. Das politische Tagebuch Josef Redlichs. II. Bd. Graz-Köln 1954, S. 311. 311 Das »niemals« stammt von derselben Hand, die die ganze Aufzeichnung gemacht und aus derselben das »noch nicht« und das Originaldatum (22/2. 1919) gestrichen hat. 313 Kaiser Karl. Zürich--Leipzig--Wien 1929, S. 336. 313 Ff. O. Meisner: Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit. 2. Aufl. Leipzig 1952, S. 48. 314 Aus dem Munde eines ungarischen Historikers kann diese Feststellung keinesfalls eine kritische Spitze gegen die derzeit in Umlauf befindlichen Aktenlehren haben, denn es gibt bisher keine ungarische Aktenlehre, weder bürgerlicher noch marxistischer Anschauung. K.G. Mitajew schreibt in seinem von I.L. Majakowski redigierten Werk (ungarische Über¬ setzung, als Manuskript erschienen in Budapest i. J. 1954 auf S. 9): ». .. die geschichtlichen Hilfswissenschaften wurden hauptsächlich von bürgerlichen Historikern und Archivaren ausgearbeitet und diese müssen vom Gesichtspunkt der marxistisch-leninistischen Methodo¬ logie noch überprüft werden.« 315 Weiter oben war bereits die Rede davon, daß vertraglich verpflichtete Stenographen im Dienste des gemeinsamen Ministeriums des Äußern standen und daß bereits geraume Zeit vor dem Kriege die Aufzeichnungen über die verschiedenen Beratungen von diesen gemacht wurden. 316 Aus dem einschlägigen Schriftenmaterial ist ebenfalls ersichtlich, daß die Korrekturen im allgemeinen sorgfältig gemacht wurden. Im Zusammenhang mit einem derartigen Fall schrieb Istvän Buriän dem Minister des Äußern Czemin: »Mit Bezug auf die geschätzte Note 135 || || vom 5. Dezember 1917. Zahl: 544/K.d.M. beehre ich mich mitzuteilen, daß ich mit der Aufnahme des mir bekanntgegebenen Passus in das Prothokoll der gemeinsamen Minister¬ konferenz vom 6. und 15. September nach den Ausführungen des kgl. ung. Ministers für Über¬ gangswirtschaft vollkommen einverstanden bin. .. Das oberwähnte Prothokoll der gemein¬ samen Ministerkonferenz folgt im Anschluß mit.« (HHSta. Min. d. Äuß. Polit. Arch. I. Kab. d. Min. III/15, Karton rot 624. - OL. Filmarchiv. W. 1957, Karton 218, Tit. 3, Bl. 939.) Derartige Daten sind m.E. vom Gesichtspunkt der formellen Glaubwürdigkeit der Protokolle als geschichtliche Quellen, bis zu einem gewissen Grad auch der inhaltlichen Zuverlässigkeit beruhigend. 317 Auch diese Kleinigkeit illustriert meine Ansicht, daß noch so bedeutungslos erscheinende Feststellungen der Aktenlehre, der Quellenkritik ebenfalls auf die Analyse jener gesellschaft¬ lichen Verhältnisse aufgebaut werden müssen, unter denen die untersuchte Quelle zustande¬ gekommen ist. Die von Tisza vorgenommene Korrektur wird nur verstehen, bzw. sie wird nur dem etwas besagen, der die besondere Stellung des ungarischen Ministerpräsidenten in der Monarchie Franz Josephs kennt. (Hier denke ich nicht nur an seine politische Position, sondern auch an seine Klassenzugehörigkeit.) So wie er geschrieben hat, so wie ihn diese Korrektur im Protokoll zeigt, konnte nur ein, den Schein der Selbständigkeit Ausgleichsungarns auf jede Weise zu wahren bestrebter, ungarischer Politiker schreiben. -- Vielleicht kann ich mit diesem kleinen Beispiel am besten beleuchten, was ich sagen wollte, als ich über eine sich in die Gesellschaftsgeschichte vertiefende Quellenkritik sprach. Eine solche Analyse ist eine Quellenkritik, die bestrebt ist, jeden wesentlicheren Punkt der untersuchten Quelle auf Grund der konkreten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen Verhältnisse zu verstehen. 318 Unter anderem hat er seine oft verkündete Überzeugung hier am prägnantesten for¬ muliert: »... die unversehrte Aufrechterhaltung des festen Gefüges des ungarischen National¬ staates eine Lebensfrage für die Großmachtstellung der Monarchie ist«. 319 Vgl. S. 490 des vorliegenden Bandes. 320 Es sei mir gestattet, den Leser abermals auf das in den vorhergegangenen Abschnitten dieser Arbeit Gesagte zu erinnern. Jetzt daran, daß sich bereits in den ersten Jahren des duali¬ stischen Staatsapparates die Notwendigkeit ergeben hat, das Zirkulieren der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates entsprechend zu regeln und wirksam dafür zu sorgen, daß die im Protokoll enthaltenen Beschlüsse des Ministerrates den zuständigen Ministern zur Kenntnis gebracht werden sowie daß sich über die von den Ministern bzw. den Teilnehmern des Mini¬ sterrates vorgenommenen nachträglichen Korrekturen sämtliche Teilnehmer orientieren können. Das oben skizzierte kleine Detail der zwischen Tisza und Clam-Martinitz am 22. März 1917 stattgefundenen Auseinandersetzung beweist ebenfalls, daß es -- wie bereits früher festgestellt -- zu dieser Regelung niemals gekommen ist. Das Ausbleiben einer solchen Regelung führte zweifellos zu einer Verminderung des Quellenwertes der Protokolle. (Davon ganz abgesehen, daß mangels einschlägiger entsprechender Verfügungen die Proto¬ kolle in der alltäglichen Praxis des politischen Lebens ihre Funktion nicht erfüllen konnten. Die Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates standen -- denken wir z.B. an das wiederholte energische Auftreten Tiszas in der Angelegenheit des galizischen Petroleums, der Versorgung der Kriegsmaterialfabriken mit entsprechenden Bestellungen usw. -- ,eben weil sie nicht in Form von in der Staatsverwaltung überall gebräuchlichen Protokollauszügen den Zuständigen zur Kenntnis gebracht wurden, weil sie nicht zu Papier gebracht wurden, eben nur auf dem Papier.) 321 Die auf einem gesonderten Blatt geschriebenen, nachträglichen Bemerkungen des gemeinsamen Finanzministers Spitzmüller zu dem Teil des Protokolls, der seine Stellung¬ nahme in der gemeinsamen Ministerkonferenz vom 2. Oktober 1918 wiedergibt, verdienen schon wegen ihres leidenschaftlichen Tones besondere Aufmerksamkeit (Vgl. S. 695 des vor¬ liegenden Bandes). Diese Korrektur mit dem Grundtext des Protokolls vergleichend sowie die damalige Lage in Betracht ziehend getraue ich mich auch ohne eingehenderer, obzwar in einer gesellschaftsgeschichtlich anspruchsvollen Quellenkritik unerläßlicher Analyse ruhig zu behaupten, daß in diesem Falle die nachträgliche Ergänzung Spitzmüllers die Wirklichkeit getreuer widerspiegelte als der vom Protokollführer stammende Text. 136 || || 3"2S7. Buriän: Drei Jahre. Berlin 1923, S. 19 ff. Jene Fragen, über die im weiteren gespro¬ chen wird, auf S. 31 -- 32. 323 O. Czernin: Im Weltkriege. Berlin--Wien 1919, S. 301: ». . . die alten Zeiten kommen nie mehr wieder. Eine neue Weltordnung wird unter Krämpfen und Schmerzen geboren.« 324 A.a.O. S. 301 z.B.: »Über die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk lasse ich mein Tagebuch sprechen.« 325 Demgegenüber fehlt im Ministerratsprotokoll jede Spur eines nicht gerade unwesentli¬ chen Zwischenrufes Wekerles, über den noch Czernin in seinen Memoiren schreibt. Als von Österreichs katastrophaler Ernährungslage die Rede war, ». .. Dr. Wekerle mir bei diesen Ausführungen widersprechend ins Wort fiel. . .« -- heißt es in den Memoiren (a.a.O. S. 329). 326 Laut Protokoll hat Czernin erklärt: ». . . befinde er sich in der Situation eines Mannes, welcher sich im dritten Stocke eines brennenden Hauses befindet und als einzige Rettungs¬ möglichkeit aus dem Fenster herausspringt. Der Mann wird in diesem Augenblicke nicht daran denken, ob er sich beim Rettungssprung auch die Beine bricht«. Der entsprechende Passus der Memoiren (S. 329) lautet: ». . . befänden wir uns in der Situation eines Mannes, welcher im dritten Stock eines brennenden Hauses sei, und, um sich zu retten, aus dem Fenster herausspringe. Der Mann werde in diesem Augenblicke nicht daran denken, ob er sich die Beine breche oder nicht, er werde den möglichen Tod dem sicheren vorziehen«. 327 Czernin ist auch in der Wiedergabe der Dinge, sogar auch vom Gesichtspunkt der Reihenfolge genauer, konsequenter als Buriän. In seinen Memoiren gibt es weniger Spuren von Umfärbungen, Umschattierungen, Ummotivierungen als bei Buriän. Gleichzeitig über¬ geht er aber mehr Dinge stillschweigend. Natürlich darf nicht vergessen werden, daß über die Verschiedenheit ihrer Persönlichkeit hinaus auch die unterschiedliche geschichtliche Lage, in der sie seinerzeit im gemeinsamen Ministerrat gesprochen hatten bzw. in der ihre Memoiren in endgültige Form gegossen wurden, mitgespielt hat. 328 Über prinzipielle und Schwierigkeiten allgemeinen Charakters hinaus wurde der Ver¬ fasser in dem Bestreben, die Glaubwürdigkeit der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates mit gesellschaftsgeschichtlicher Vertiefung festzustellen, in nicht geringem Maße dadurch gehindert, daß es ihm bei seinen Forschungen in Wien an Zeit mangelte, jene ganze Schriften¬ masse genau zu durchforschen und zu analysieren, mit welcher die Ministerratsprotokolle in organischem Zusammenhang entstanden sind. 329 Vgl. S. 45--46 des vorliegenden Bandes. 137 || || || ||