Gemeinsamer Ministerrat, 19. 8. 1908
I. Die Frage der Rückwirkung der neuen Ära in der Türkei auf Bosnien und die Herzegowina beziehungsweise der Annexion dieser Provinzen bei gleichzeitiger Zurückziehung der k. u. k. Garnisonen aus dem Sandschak von Novipazar
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180 Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. August 1908 RS. (und RK.) Gegenwärtige: der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle, der k. k. Ministerpräsident Dr. Frei¬ herr v. Beck, der k. u. k. Reichskriegsminister FZM. Schönaich (30. 8.), der k. u. k. Reichsfinanz¬ minister Freiherr v. Buriän, der k. u. k. Chef des Generalstabes FML. Conrad v. Hötzendorf (23. 9.). [Auszugsweise publiziert in: Österreich-Ungarns AUSSENPOLITIK, Band 1, Nr. 40.] Protokollführer: Gesandter Freiherr v. Gagem Gegenstand: Die Frage der Rückwirkung der neuen Ära in der Türkei auf Bosnien und die Her¬ zegowina beziehungsweise der Annexion dieser Provinzen bei gleichzeitiger Zurückziehung der k. u. k. Garnisonen aus dem Sandschak von Novipazar. KZ. 34 - GMCPZ. 467 Protokoll des zu Wien am 19. August 1908 abgehaltenen Ministerrates für gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitze des Ministers des k. u. k. Hau¬ ses und des Äußern Freiherm v. Aehrenthal. Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung, deren Gegenstand er bei den Konferenzteilnehmern als bekannt voraussetzen zu dürfen glaubt, und geht sodann zur Besprechung der internationalen Lage über, wie sich dieselbe infolge des Sie¬ ges der jungtürkischen Bewegung gestaltet hat.1 In dieser Beziehung führt Redner aus, daß hiedurch eine Veränderung des Verhältnisses der Mächte zueinander her¬ beigeführt worden und eine gewisse Detente eingetreten sei. Die von den Mächten verfolgte Reformaktion sei jedenfalls als gescheitert zu betrachten; denn entweder erfolge durch das jungtürkische Regime eine Konsolidierung der Türkei aus sich selbst heraus, und dann seien Reformen überflüssig, oder es würden grundstürzen¬ de Veränderung dort selbst eintreten, und dann sei ebenfalls nicht an die Einfüh¬ rung von Reformen zu denken. Die Mächte hätten sich übrigens rasch in die neue Situation gefunden. England und Rußland hätten ihre letzten Reformvorschläge einstweilen zurückgezogen, und man habe sich allerseits geeinigt, dem konstitu¬ tionellen Experimente in der Türkei gegenüber eine sympathisch abwartende Hal¬ tung einzunehmen. Redner habe es für richtig gehalten, dem St. Petersburger Ka¬ binette vorzuschlagen, den von Österreich-Ungarn und Rußland bezüglich ihrer Haltung zur Türkei bisher beobachteten Prinzipien des Desinteressements und der Nichtintervention bis zur Erzielung einer neuen Verständigung treu zu bleiben, welchem Vorschläge Herr Iswolskij zugestimmt habe. Durch den Umschwung in der Türkei hätten nun für die Monarchie zwei Fra¬ gen die größte aktuelle Bedeutung erlangt, zu welchen ohne Zeitverlust Stellung genommen werden müsse. Die eine dieser Fragen sei die der Monarchie von den 1 Über die jungtürkische Revolution aus der Sicht des österreichisch-ungarischen Botschafters in Konstantinopel Pallavicini siehe Bridge, Die jungtürkische Revolu¬ tion 23-52. <pb/>Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 181 Mächten im Berliner Vertrage übertragene Besetzung und Verwaltung von Bosni¬ en und der Herzegowina, die zweite die ebenfalls auf Grund des genannten Trak¬ tates erfolgte Besetzung des Sandschaks von Novipazar. Was die Besetzung die¬ ses Sandschaks gemeinsam mit der Türkei betrifft, so habe Graf Andrässy mit derselben einerseits bezweckt, die Solidarität der Monarchie mit der Türkei und den Wunsch Österreich-Ungams nach Erhaltung dieser letzteren zu markieren, andererseits aber den Zusammenschluß Serbiens und Montenegros zu einem großserbischen Reiche zu verhindern. Seit 29 Jahren halte nun Österreich-Ungarn Garnisonen im Sandschak, doch habe die Politik, welche hierin zum Ausdracke gelangt, der Monarchie sehr viele Schwierigkeiten bereitet, da infolge der Beset¬ zung dieses türkischen Gebietsteiles die Legende von dem beabsichtigten Vor¬ marsche Österreich-Ungams nach Saloniki entstanden sei und stets neue Nah- rung erhalten habe. Redner hält nun den Augenblick für gekommen, diese Politik zu revidieren, und hat in Beantwortung gewisser mssischer Vorschläge ein Memorandum aus¬ arbeiten lassen,2 von welchem er jedem der Konferenzteilnehmer ein Exemplar zur Verfügung stellt und in welchem die Frage einer Prüfung unterzogen wird, ob die Besetzung des Sandschaks von Novipazar weiter aufrecht erhalten, bezie¬ hungsweise ob dieser türkische Gebietsteil speziell im Falle des Zusammenbru¬ ches der Türkei zu annektieren wäre. Redner gelangt in diesem Memoire aus politischen, militärischen und finanziellen Erwägungen zur Verneinung dieser Frage und betont überdies, daß Österreich-Ungarn, solange es seine Brigade im Sandschak stehen habe, an der bisher befolgten und auch für die Zukunft beab¬ sichtigten Politik der Nichtintervention ä la longue nicht festzuhalten in der Lage sein werde, da dort jeden Augenblick Zwischenfälle eintreten könnten, welche die dortige österreichisch-ungarische Garnison in eine äußerst schwierige Lage zu bringen geeignet wären und die Monarchie eventuell zu einer höchst uner¬ wünschten Machtentfaltung zwingen könnten. Redner weist in diesem Zusam¬ menhänge auf Mitteilungen des Reichskriegsministers hin, wonach das bisherige sehr gute Verhältnis zwischen der österreichisch-ungarischen und der türkischen Besatzung im Lim-Gebiete schon kein mehr ganz befriedigendes sei und sich zu einem gespannten zu gestalten beginne. Was die Rückwirkung der in der Türkei angebrochenen konstitutionellen Ära aufBosnien und die Herzegowina betrifft:, so bemerkt Redner, daß die Monarchie dort zwar eine große Kulturarbeit geleistet habe, daß aber die Einführung einer Provinzialverfassung noch nicht erfolgt sei. Mit der Einführung einer Konstituti¬ on in der Türkei werde diese Frage aber von der größten Aktualität werden, wäh- Russisches Aide-Memoire v. 2. 7. 1908, überreicht am 6. 7. 1908 und das ausgearbeitete Memorandum (zum eigenen Gebrauch), Aide-Memoire v. 9. 8. 1908, HHStA., PA. I, Gehei¬ me Akten, Liasse XXXVII: Verhandlungen mit Rußland 1906-1912, fol. 192r-196v und 241 r-245v, publiziert in Österreich-Ungarns Aussenpolitik, Bd. 1, Nr. 9 und Nr. 32. <pb/>182 Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 rend andererseits die Schaffung einer Provinzialverfassung in Bosnien und der Herzegowina ohne gleichzeitige Annexion dieser Provinzen nicht denkbar sei. Redner habe daher Sr. Majestät vorzuschlagen sich gestattet, in Befolgung des Prinzipes der Nichtintervention und um mit den anderen Mächten auf die gleiche Linie zu kommen, die k. u. k. Garnisonen aus dem Sandschak zurückzuziehen und gleichzeitig zur Vornahme der Annexion mit der Motivierung zu schreiten, daß die Monarchie sonst nicht ihre Mission in Bosnien und der Herzegowina er¬ füllen könnte.3 Se. Majestät habe diesem Vorschläge mit dem Aufträge Ag. zuzu¬ stimmen geruht, behufs Vorbereitung dieser Aktion mit den beiden Ministerprä¬ sidenten das Einvernehmen zu pflegen, und erbitte sich Redner hiemit deren Unterstützung bei Durchführung dieser für die Monarchie so hochwichtigen und bedeutungsvollen Angelegenheit. Redner behält sich vor, über die diplomatische Durchführung der Annexion sowie über den hierfür zu wählenden Zeitpunkt nä¬ here Mitteilungen zu machen und bezeichnet es als die wichtigste Vorbedingung für die Vornahme der Annexion, daß vorerst über die mit derselben im Zusam¬ menhänge stehenden staatsrechtlichen Fragen zwischen den Regierungen eine interne Einigung erzielt werde. Sei dies einmal erreicht, so wäre die Bestimmung des Zeitpunktes für die Durchführung der betreffenden Aktion dem Minister des Äußern zu überlassen. Der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck richtet hierauf an den Vorsitzenden das Ersuchen, sich bereits jetzt über das ge¬ genwärtige Verhältnis der Monarchie zu den in Betracht kommenden Mächten sowie darüber zu äußern, wie er sich die diplomatische Durchführung der Anne¬ xion denke. Der Vorsitzende erwidert hierauf, daß er in dieser Frage mit den Mächten bisher noch keine Verhandlungen eingeleitet habe und solche auch inso- lange als verfrüht ansehen würde, als diesfalls nicht eine interne Einigung zwi¬ schen den Regierungen der Monarchie zustande gekommen sei. Was die voraussichtliche Haltung der Mächte im Falle der Umwandlung der Okkupation in eine Annexion anbelangt, so bemerkt Redner zunächst, daß man Deutschlands wohl unbedingt sicher sein könne, da diese Macht jetzt auf Öster¬ reich-Ungarn allein angewiesen sei, zumal nach dem Refus, welchen Kaiser Wil¬ helm dem Könige von England in Cronberg auf dessen Anwurf, den bereits ge¬ setzlich festgelegten deutschen Flottenbauplan zu restringieren, erteilt habe.4 Rußland habe der Monarchie den Besitz der okkupierten Provinzen mehrfach in geheimen Verträgen zugesichert, so unter anderen im Drei-Kaiser-Bündnisse vom Der Vortrag konnte in den Beständen des HHStA., Kab. Kanzlei und PA. I nicht gefunden werden. Vermutlich teilte Aehrenthal sein Memoire (K.) v. 9. 8. 1908 Franz Joseph mit. Dies Memoire in HHSxA., PA. I, Geheime Akten, Liasse XXXVII, Verhandlungen mit Rußland 1906-1912, Karton 483, fol. 225r-240r. Siehe hierzu die Telegramme Kaiser Wilhelms II. an den deutschen Reichskanzler Bülow v. 12. 8. 1908 über sein Gespräch mit Sir Charles Hardinge, der mit König Edward VII reiste, publiziert in Grosse Politik, Bd. 24, Nr. 8225 und 8226. <pb/>Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 183 Jahre 1881, welches bis zum Jahre 1887 Giltigkeit hatte. Als eine solche Zusiche- rung könne speziell auch die im Jahre 1884 vom russischen Botschafter in einer im Aufträge seiner Regierung an den Minister des Äußern Grafen Kälnoky gerichte¬ ten Note ausgesprochene Erwartung angesehen werden, ,,que le Gouvernement autrichien n`apportera aucune modification ä Tetat de choses existant dans les deux provinces occupees aussi longtemps que des circonstances imprevues ne l'exigeront pas imperieusement". Seitdem habe Rußland sich auf den Standpunkt gestellt, daß die definitive Regelung der bosnisch-herzegowinischen Frage ebenso wie die Frage des Besitzes von Konstantinopel einer europäischen Entscheidung vorgehalten bleiben müsse, welcher Gedanke im Jahre 1897 anläßlich des Besu¬ ches Sr. Majestät in St. Petersburg zum Ausdruck gebracht wurde.5 Anfangs Juli habe die russische Regierung in einem Memoire den Vorschlag gemacht, die Frage der Annexion Bosniens und der Herzegowina sowie des San- dschaks von Novipazar bis über Mitrovitca hinaus unter Voraussetzung gewisser - allerdings einigermaßen disproportionierter - Kompensationen zum Gegenstän¬ de eines freundschaftlichen Gedankenaustausches mit dem Wiener Kabinette zu machen. Die Absicht des Redners gehe nun dahin, dieses zur Zeit noch nicht be¬ antwortete Memoire zum Ausgangspunkte zu nehmen, um mit Rußland vor Durch- fiihrung der Annexion der okkupierten Provinzen zu einem Übereinkommen zu gelangen, wobei Redner bereit wäre, dem St. Petersburger Kabinette, falls dassel¬ be in der Annexionsfrage eine der Monarchie freundliche Haltung beobachte, eine ebenso freundliche Haltung für den Fall zuzusichem, daß Rußland die Frage der Durchfahrt durch die Dardanellen auf das Tapet bringen sollte.6 Italien könne auf Gmnd des Dreibund-Vertrages keine Kompensationsansprüche erheben, wenn die Monarchie zur Annexion Bosniens und der Herzegowina schreiten würde. Italien könne nur dann eine Kompensation verlangen, wenn Österreich-Ungarn über die auf Gmnd des Berliner Vertrages okkupierten Provinzen hinaus von türkischen Gebietsteilen Besitz ergreifen sollte. Frankreich sei zur Zeit zu sehr in Marokko beschäftigt, als daß es daran denken könnte, bezüglich der Balkanhalbinsel aktiv aufzutreten, und auch von England sei kein Widerspmch zu besorgen. Dagegen müsse allerdings mit dem Widerstande der Türkei gerechnet werden, doch werde auch diese zur Zurückhaltung genötigt sein, da sie schweren Zeiten entgegengehe. Über das Ergebnis der Verständigung zwischen Österreich-Ungarn und Rußland während der Reise Franz Josephs nach St. Petersburg Ende April 1897 siehe Schreiben (K.) Goluchowskis an Szögyeny - Botschafter in Berlin - v. 5. 5. 1897, HHStA., PA. I, Geheime Akten, Liasse XXXII, Verständigung mit Rußland 1895-1899, Karton 474, fol. 82r-85r. Der konkrete Vorschlag Goluchowskis in seinem Schreiben (K.) an Liechtenstein - Botschafter in St. Petersburg-v. 8. 5. 1897, ebd. fol. HQr-WSr sowie die Antwort des russischen Außenmi¬ nisters Mouraviov an Liechtenstein v. 5. 5. 1897 (nach julianischem Kalender) ebd., fol. 161r-163v. Zur österreichisch-ungarischen-russischen Entente von 1897 sie auch Bridge Francis Roy, Österreich(-Ungam) unter den Großmächten 292 ff. Aide-Memoire Aehrenthals für die russische Regierung v. 27. 8. 1908 publiziert in Öster¬ reich-Ungarns Aussenpolitik, Bd. 1, Nr. 48. <pb/>184 Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 Redner bemerkt schließlich noch, daß er die russische Zirkulamote, womit die Suspendierung der Reformvorschläge angezeigt wurde, beantwortet und bei die¬ ser Gelegenheit dem St. Petersburger Kabinette zugleich mitgeteilt habe, daß er die österreichisch-ungarischen Reformoffiziere beurlaubt habe, wobei er sich von der Erwägung habe leiten lassen, daß es nicht angezeigt sei, dieselben unangeneh¬ men Eventualitäten auszusetzen und sie überdies in ständigem Kontakte mit revol¬ tierenden Offizieren einer fremden Macht zu lassen.7 Der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle spricht dem Vorsitzenden für die soeben vernommenen Ausführungen, welche er als beruhi¬ gend bezeichnet, seinen Dank aus. Redner müsse übrigens auch in der Tat vorausset¬ zen, daß die Durchführung derAnnexion von seiten der Mächte keinem Widerstande begegnen werde, da seiner Ansicht nach weder die militärische noch die finanzielle Situation der Monarchie es derselben gestatte, sich einem Konflikte mit einer frem¬ den Macht auszusetzen. Dies vorausgeschickt, spricht Redner sich entschieden für die Annexion aus, da durch dieselbe dem Auslande gegenüber eine klare Situation geschaffen und durch die Zurückziehung der österreichisch-ungarischen Garnisonen aus dem Sandschak von Novipazar speziell Italien und den Balkanstaaten gegenüber bekundet werden würde, daß die Monarchie keine weitergehenden Aspirationen auf türkische Gebietsteile habe. Auch die Lage in den jetzt bloß okkupierten Provinzen werde sich durch die Vornahme derAnnexion nicht nur entschieden bessern, sondern es könne sogar gesagt werden, daß eine Konsolidierung der Zustände dortselbst sich ohne Annexion nicht werde erreichen lassen. Davon abgesehen sei die Annexion aber auch die unerläßliche Vorbedingung für die Einführung einer Provinzialverfas¬ sung im gegenwärtigen Okkupationsgebiete, bezüglich welcher nunmehr ein be¬ schleunigtes Tempo eingeschlagen werden müsse, welche aber ohne vorherige An¬ nexion zu geradezu unhaltbaren Zuständen führen würde. Ebenso werde auch nur nach durchgeführter Annexion und erfolgter Regelung der Souveränitätsfrage die Frage der Staatsbürgerschaft der Einwohner Bosniens und der Herzegowina geregelt werden können. Redner gibt weiters seiner be¬ stimmten Überzeugung Ausdruck, daß, solange die Annexion nicht erfolgt sei, die subversiven Bewegungen in den südslawischen Ländern nicht aufhören wer¬ den. Speziell Serbien, dessen schamlose Umtriebe gegen die Stellung der Monar¬ chie in Bosnien und der Herzegowina bis nun künstlich übersehen wurden, wür¬ de, wenn der bisherige ungeklärte Zustand dortselbst weiter bestehen sollte, mit seinen Agitationen in einer Weise fortfahren, welche die Monarchie zwingen würde, gegen das Savekönigreich energisch einzuschreiten. Redner wirft hierauf die Frage auf, ob es nicht möglich wäre, das Besatzungs¬ recht der Monarchie bezüglich der Sandschaks in der Weise aufzugeben, daß das 7 Russische Zirkularnote v. 25. 7. 1908 (fulianischer Kalender), überreicht in Wien am 11. 8. 1908, HHStA., PA. XII, Liasse XXXV/12, Karton 343, fol. 374-379. Aehrenthal antwortete mit dem Schreiben (K.) v. 17. 8. 1908, ebd., fol. 428-431. <pb/>Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 185 Wiederaufleben dieses Rechtes für den Fall stipuliert würde, daß die Türkei nicht imstande wäre, dieses Gebiet zu behalten. Der Vorsitzende bemerkt dem gegenüber, daß ein solcher Vorbehalt wohl nicht gemacht werden könnte, da durch die Annexion der Berliner Vertrag zerrissen werden würde, und gerade auf diesem ja das Besatzungsrecht der Mon¬ archie im Sandschak beruhe. Wenn mm durch die Annexion § 25 des Berliner Vertrages abgeändert würde, so könne man sich auf der anderen Seite nicht auf eben denselben Paragraphen berufen. Der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle führt des weiteren aus, daß ungarischerseits die Zustimmung zur Annexion an gewisse Bedingungen werde geknüpft werden müssen, und bezeichnet als eine Hauptbe¬ dingung, daß die Annexion sich innerhalb des Rahmens der dualistischen Staats¬ form der Monarchie vollziehe und eine trialistische Gestaltung durch Zusammen¬ schluß der südslawischen Länder der Monarchie ausgeschlossen bleibe. Bosnien und die Herzegowina müßten auch nach der Annexion als Corpus separatum ver¬ waltet werden. Redner geht sodann auf den Rechtstitel über, auf Grund dessen die Annexion vorzunehmen wäre und bezeichnet als solchen das Recht der heiligen ungari¬ schen Krone auf die ehemals in ihrem Besitze gewesenen Provinzen Bosnien und Herzegowina.8 Redner weist darauf hin, daß es sich diesfalls um ein stets aufrecht erhaltenes Recht handle, was auch dadurch zum Ausdruck gelange, daß die ungarischen Kö¬ nige diese Provinzen in ihrem Titel, in ihrem Wappen und auf Fahnen führen. Redner verweist des weiteren auf den ungarischen Krönungseid, in welchem die Könige schwören, daß sie Kraft des Rechtes der heiligen ungarischen Krone die vormals zu Ungarn gehörigen Provinzen zurückerobem und an die ungarische Krone anschließen werden. Auch bei früheren Annexionen sei, wie zum Beispiel im Falle Dalmatiens, jener Rechtstitel geltend gemacht worden. Was die Thron¬ folge für diese Provinzen betrifft, so müsse dieselbe auf Grund der ungarischen Pragmatischen Sanktion erfolgen, da in derselben die Zusammengehörigkeit der Länder der ungarischen Krone mit den österreichischen Ländern Sr. Majestät zum Ausdruck kommt, während in der österreichischen Pragmatischen Sanktion nur die Zusammengehörigkeit dieser letzteren untereinander ohne Bezug aufUn¬ garn statuiert wird. Redner führt sodann in betreff der Annexion aus, daß dieselbe von Sr. Majestät in einer Proklamation ausgesprochen, notifiziert und danach zu dieser vollendeten Tatsache die Zustimmung der beiden Legislativen eingeholt werden solle. Zum ungarischen Rechtsanspruch auf Bosnien-Herzegowina siehe Beilage zum Schreiben Wekerles an Aehrenthal v. 17. 8. 1908, Aus dem Nachlass Aehrenthal, Teil 2 1907-1912, herausgegeben und eingeleitet von Salomon Wank, Nr. 453, sowie Komlössy Franz v., Das Rechtsverhältnis Bosniens und der Herzegowina zu Ungarn (Budapest 1909). <pb/> 186 Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 Redner bringt diesfalls einen nur aus drei Paragraphen bestehenden Gesetzent¬ wurf in Vorschlag, in dessen erstem ausgesprochen zu werden hätte, daß Bosnien und die Herzegowina mit Ausschluß des Sandschaks von Novipazar kraft des Rechtes der heiligen ungarischen Krone an dieselbe angeschlossen werde. Im zweiten Paragraph würden die Bestimmungen der Gesetzartikel I und II vom Jah¬ re 1723 auf diese Provinzen ausgedehnt, was nötig sei, um die Thronfolge auch rechtlich zu sichern und um das unzertrennliche Land, welches einerseits zwi¬ schen den Ländern der heiligen ungarischen Krone, andererseits zwischen diesen und den übrigen Königreichen und Ländern Sr. Majestät besteht, auch gesetzlich festzustellen. Im § 3 würde die Ermächtigung erteilt, daß Bosnien und die Herze¬ gowina einstweilen im Sinne des Gesetzes vom Jahre 1880 verwaltet werden. Der Vorsitzende macht, was den vom kgl. ung. Ministerpräsidenten für die Annexion in Vorschlag gebrachten Rechtstitel anlangt, darauf aufmerk¬ sam, daß in diesem Falle die Frage gestellt werden könnte, weshalb dieser Rechts¬ titel nicht schon im Jahre 1878 anläßlich der Übernahme des Okkupationsmanda¬ tes seitens der Monarchie geltend gemacht worden sei. Weiters weist Redner darauf hin, daß in dem Inauguraldiplome des Königs von Ungarn auch Ansprü¬ che auf Rumänien, Serbien und Bulgarien erhoben werden. Würde nun die Annexion Bosniens und der Herzegowina unter Geltendma¬ chung des Rechtstitels der heiligen ungarischen Krone erfolgen, so würde der Anschein erweckt werden, als behielte sich Ungarn vor, auch diese Länder kraft seines historischen Rechtes gegebenen Falles zu revindizieren. Der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle erwi¬ dert hierauf, daß zur Zeit der Ausstellung des letzten Inauguraldiplomes im Jahre 1867 Rumänien, Serbien und Bulgarien noch keine selbständigen Staaten gewe¬ sen seien und deren internationale Stellung noch nicht geregelt gewesen sei. In künftigen Inauguraldiplomen würden daher auch Ansprüche auf diese Länder nicht mehr erhoben und die Fahnen derselben dem Könige auch nicht mehr vor¬ angetragen werden können. Der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck leitet seine Ausführungen mit der Bemerkung ein, daß die heute zur Diskussion stehende Frage eines der größten und schwierigsten Probleme für die Monarchie beinhalte. Redner gibt ohne weiteres zu, daß der heutige Zustand in Bosnien und der Herzegowina nicht den Charakter des bleibenden und dauernden tragen und die Entwicklung der Dinge auf dem Balkan möglicherweise eine solche Wen¬ dung nehmen könne, daß von derselben eine sehr nachteilige Rückwirkung auf die Monarchie mit Rücksicht auf ihren Besitz dieser Provinzen zu gewärtigen sei. Die Erwägung sei daher gewiß naheliegend, daß durch die Annexion der beiden Provinzen eine klare Situation geschaffen werden müsse. Die heutige, auf dem Berliner Vertrage beruhende Lage der Dinge auf der Balkanhalbinsel sei aus dem Zusammenwirken der Mächte hervorgegangen. Die Annexion Bosniens und der Herzegowina würde eine vollständige Zerreißung des Berliner Vertrages bedeu¬ ten, welcher zwar schon heute zahlreiche Löcher aufweise, dessen Gerippe aber <pb/>Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 187 immerhin noch bestehe. Redner bezeichnet die vom Vorsitzenden in der heutigen Konferenz erteilten Aufschlüsse als sehr interessant und dankenswert; gleichwohl hätten dieselben aber nicht alle Bedenken zerstreut, welche er bezüglich der di¬ plomatischen Durchführung der Annexion hege. Die Tatsache, daß Rußland seine Zustimmung zur eventuellen Annexion der okkupierten Provinzen mit gewissen weitgehenden Kompensationsforderungen seinerseits verquickt habe, lasse die Annahme vielleicht als nicht ganz ungerechtfertigt erscheinen, daß jede der Mächte als Preis für ihre Zustimmung irgendwelche Forderungen anmelden wer¬ de. Dies gelte in erster Linie von Italien, welches bekanntlich seine Blicke auf Albanien richte. Die Gefahr eines Zusammenstoßes mit einer europäischen Macht als Folge der Annexion könne daher nach Ansicht des Redners keineswegs als gänzlich ausge¬ schlossen betrachtet werden, und selbst wenn eine solche würde vermieden wer¬ den können, würde man sich immerhin auf einen Konflikt mit der Türkei und mit dem einen oder anderen Balkanstaate gefaßt machen müssen. Eine andere Seite der Frage betreffe die Rückwirkung, welche die Annexion Bosniens und der Herzegowina auf die inneren politischen Verhältnisse der Mon¬ archie ausüben werde. In dieser Beziehung müsse zunächst in Betracht gezogen werden, daß der Berliner Vertrag in Österreich gesetzlich rezipiert sei und daß eine diesen Vertrag abändemde Neuordnung der Dinge ebenfalls ihren gesetzli¬ chen Ausdruck finden müsse. Die staatsrechtliche und administrative Stellung Bosniens und der Herzegowina müsse geregelt und ebenso das Verhältnis der Dynastie zu diesen Ländern festgestellt werden. Redner erinnert sodann daran, daß die ungarische Herrschaft in Bosnien und der Herzegowina sehr weit zurückdatiere und auch nur von ganz kurzer Dauer gewesen sei. Österreich könne jedenfalls nicht zugeben, daß dieser Länderkom¬ plex, der mit dem Gut und Blut seiner Staatsbürger miterworben worden sei, an Ungarn angeschlossen werde, da hiedurch eine Verschiebung des Kräfteverhält¬ nisses zwischen den beiden Staaten der Monarchie zu ungunsten Österreichs ein- treten würde. Es könne daher höchstens theoretisch von der Zugehörigkeit Bos¬ niens und der Herzegowina zu Ungarn gesprochen werden, praktisch aber müßten diese beiden Provinzen als corpus separatum verwaltet werden. Im Falle Ungarn den Anspruch auf faktische Angliederung der genannten beiden Provinzen an die Länder der ungarischen Krone aufrecht erhalten sollte, könnte daher die Annexi¬ on derselben leicht zu einem Konflikte zwischen Österreich und Ungarn führen. Die Annexion Bosniens und der Herzegowina könne aber auch im Hinblick auf die speziell in der Fiumaner Resolution zum Ausdruck gebrachte Tendenz der Vereinigung Dalmatiens mit Kroatien zu einem innerpolitischen Konflikte füh¬ ren, zumal wenn diese Tendenz durch Inkorporierung weiterer südslawischer Ländergebiete neue Nahrung erhalte. Redner kommt hieraufaufden für die Annexion geltend zu machenden Rechts¬ titel zu sprechen und bezeichnet die historischen Ansprüche Ungarns aufBosnien und die Herzegowina als für einen solchen keineswegs geeignet, da hiedurch dem <pb/> 188 Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 Auslande gegenüber der Anschein hervorgerufen werden würde, als ob Ungarn mit Beihilfe Österreichs die Annexion vollziehen würde, während tatsächlich doch nur die Monarchie als solche die Annexion vornehmen könne. Redner würde, was die internationale Seite der Frage betrifft, es als gefährlich ansehen, bloß angesichts des Vorhandenseins einer Gefahr, wie sie ja allerdings infolge des Gamisonierens österreichisch-ungarischer Truppen im Lim-Gebiete bestehe, zur Schaffung eines fait accompli zu schreiten. Anschließend hieran gibt Redner der Ansicht Ausdruck, daß die aus der Annexion eventuell resultierenden Gefahren jedenfalls wesentlich vermindert werden würden, wenn die Monarchie sich zu diesem Schritte erst infolge des Eintrittes einer Zwangslage entschlösse. Wenn man unter dem Drucke einer Zwangslage zur Annexion schreiten würde, würde man sogar überhaupt keines Rechtstitels hiezu bedürfen, da eine solche Lage ihre innere Rechtfertigung in sich trage und man sich auf dieselbe nicht nur dem Auslande, sondern auch den eigenen Legislativen gegenüber berufen könnte. Die erforderliche Zwangslage könne eventuell durch einen die kaiserlichen und königlichen Truppen im Sandschak betreffenden Zwischenfall oder auch durch den Eintritt anarchischer Zustände in der Türkei entstehen. Vielleicht würde es sogar möglich sein, den Eintritt einer Zwangslage zu fördern oder hervorzurufen. Redner schließt seine Ausführungen, indem er nochmals betont, daß er es für nicht unbedenklich halten würde, ohne weitausgreifende diplomatische Vorberei¬ tung an die Annexion heranzutreten, da sonst leicht Komplikationen entstehen könnten, für welche die Monarchie weder militärisch noch finanziell entspre¬ chend gerüstet sei. Redner schlägt vor, daß die beiden Regierungen, welche un¬ terdessen seitens des Ministers des Äußern über den weiteren Gang der interna¬ tionalen Politik im Hinblicke auf die Annexion auf dem Laufenden zu erhalten wären, mit einander in Fühlung treten sollen, um über die Modalitäten der Inkor¬ porierung Bosniens und der Herzegowina innerhalb des Rahmens der dualisti¬ schen Staatsform schlüssig zu werden. Der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle be¬ merkt zunächst, indem er auf eine Äußerung des k. k. Ministerpräsidenten reflek¬ tiert, daß die Annexion nicht etwa im Namen Ungarns zu erfolgen hätte, sondern nur unter Berufung auf den der heiligen ungarischen Krone zustehenden Rechts¬ titel. Der Ansicht des k. k. Ministerpräsidenten, wonach erst der Eintritt einer Zwangslage abgewartet werden solle, um zur Annexion zu schreiten, kann Red¬ ner nicht beipflichten, sondern gibt vielmehr der Meinung Ausdruck, daß ein sol¬ ches Abwarten sehr gefährlich wäre. Heute könne man noch ohne Schlappe und ohne Schädigung des Prestiges der Monarchie die österreichisch-ungarischen Garnisonen aus dem Sandschak zurückziehen, was sogar auf Italien, die Türkei und die Balkanstaaten eine beruhigende Wirkung ausüben würde. Sei dagegen einmal durch irgendeinen bedauerlichen Zwischenfall die militä¬ rische Ehre der österreichisch-ungarischen Truppen im Lim-Gebiete engagiert, so würde sich deren Zurückziehung nicht mehr so leicht undjedenfalls nicht ohne Einbuße an Prestige bewerkstelligen lassen. <pb/>Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 189 Der k. u. k. Chef des Generalstabes FML. Conrad v. Hötzendorf ergreift hierauf das Wort, um seiner Ansicht dahin Aus¬ druck zu geben, daß die von dem k. k. Ministerpräsidenten als Vorbedingung für die Vornahme der Annexion bezeichnete Zwangslage durch die Ereignisse in der Türkei eigentlich ja schon gegeben sei. Redner glaubt, daß das Abwarten eines Ereignisses, welches die Räumung des Sandschaks seitens der k. u. k. Truppen als erzwungen erscheinen ließe, in Bosnien und der Herzegowina den aller¬ schlechtesten Eindruck hervorrufen würde und sogar einen Aufstand dortselbst hervorrufen könnte. Auch in den Augen der Balkanstaaten würde durch das Zu¬ rückziehen der Garnisonen nach Eintritt eines Zwischenfalles das Prestige der Monarchie schwer geschädigt werden. Im übrigen möchte Redner daraufhinwei¬ sen, daß die Auftnerksamkeit nicht nur den Gefahren zugewendet werden sollte, welche aus der Annexion entstehen könnten, sondern, daß es mindesten ebenso geboten erscheint, die ungleich größeren Gefahren ins Auge zu fassen, welche sich ergeben würden, wenn man sich nicht rechtzeitig zur Annexion entschlösse. Der Vorsitzende stimmt mit dem k. k. Ministerpräsidenten darin über¬ ein, daß die diplomatische Vorbereitung der Annexion jedenfalls eine sehr gründ¬ liche sein müsse. In dieser Beziehung hält Redner es jedoch für ausreichend, wenn man mit Rußland zu einem accord gelange und sich der Zustimmung dieser Macht versichere, denn dann sei die Annexion durchführbar. Dagegen würde Redner, wie bereits früher bemerkt, es nicht für opportun halten, auch mit den übrigen Mächten in betreff der Annexion in Verhandlung zu treten. Redner ist im Gegensätze zu der Anschauung des k. k. Ministerpräsidenten der Ansicht, daß für die Monarchie so¬ wohl nach innen wie nach außen eine Zwangslage vorhanden sei. Redner legt in dem gegenwärtigen Augenblicke das Hauptgewicht aufdie Not¬ wendigkeit, daß man sich zunächst darüber einige, wie die staatsrechtlichen Ver¬ hältnisse Bosniens und der Herzegowina im Falle der Annexion zu regeln wären. Die ihm von Sr. Majestät erteilte Ermächtigung, mit den beiden Ministerpräsi¬ denten wegen Vorbereitung der Annexion in Fühlung zu treten, beziehe sich denn auch darauf zu trachten, daß die mit dieser Frage verbundenen inneren Schwie¬ rigkeiten erkannt und gelöst werden, damit, wenn der Moment für die Vornahme der Annexion eintritt, sich nicht etwa die innere Frage als Hindernis in den Weg stelle. Damit solle übrigens keineswegs gesagt sein, daß, wenn die innere Frage geklärt sein werde, dann auch gleich zur Annexion geschritten werden müsse. Der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck will im allgemeinen nicht in Abrede stellen, daß unter Umständen die Nichtanne¬ xion größere Gefahren im Gefolge haben kann als die Annexion. Trotzdem müs¬ se Redner darauf zurückkommmen, daß eine Zwangslage in dem Sinne, daß man unter Berufung auf dieselbe vor die Legislativen treten könnte, noch nicht vor¬ handen sei. Auch die Lage im Sandschak könne seiner Ansicht nach nicht als eine solche angesehen werden. Redner weist neuerlich aufdie großen Schwierigkeiten der staatsrechtlichen und innerpolitischen Durchführung der Annexion hin und erinnert an die großen Schwierigkeiten, welche seinerzeit die Annahme der Ok- <pb/> 190 Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 kupationsvorlage im österreichischen Parlamente begegnet sei. Um wieviel schwieriger werde sich erst die parlamentarische Erledigung einer auf die Anne¬ xion bezüglichen Vorlage gestalten. Was die diplomatische Durchführung der Annexion anlangt, so könne Redner sich dieselbe nur auf Grund eines Einverneh¬ mens mit der Türkei, mit Rußland, Italien und auch mit England denken. Anknüpfend an die von dem kgl. ung. Ministerpräsidenten angeregte Durch¬ führung der Annexion im Wege einer den Mächten zu notifizierenden Proklamati¬ on schlägt der Vorsitzende vor, daß die beiden Ministerpräsidenten sowie die ge¬ meinsamen Minister sich über den Inhalt einer solchen einigen und deren Text feststellen sollten. Der Redner richtet in diesem Zusammenhänge an den kgl. ung. Ministerpräsidenten die Frage, ob die betreffende Proklamation dem ungarischen Parlamente zu unterbreiten sein werde, welche Frage seitens des kgl. ung. Mini¬ sterpräsidenten Dr. Wekerle mit dem Bemerken verneint wird, daß die Proklama¬ tion Sr. Majestät keiner Kritik im Parlamente ausgesetzt werden dürfe und in dem letzteren nur eine darauf bezügliche Gesetzvorlage einzubringen sein werde. Der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck gibt gleichfalls seiner Ansicht dahin Ausdruck, daß, wenn die Dinge einmal so weit gediehen sein sollten, die Proklamation im Parlamente nicht unterbreitet werden dürfe, wohl aber ein die staatsrechtlichen Verhältnisse der annektierten Provinzen regelnder Gesetzentwurf. Der Vorsitzende bringt hierauf den im Jahre 1897 als Ergebnis der damaligen gemeinsamen Ministerkonferenzen für den Fall der Annexion Bosni¬ ens und der Herzegowina festgestellten Gesetzentwurf zur Sprache, welcher je¬ doch, wie Redner bemerkt, in manchen Punkten nicht mehr den heutigen staats¬ rechtlichen Anschauungen entspricht.9 Der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle be¬ zeichnet den betreffenden Entwurf als kein geeignetes Substrat für weitere ein¬ schlägige Verhandlungen, zumal in demselben die zu annektierenden Provinzen implicite als ein Reichsland hingestellt werden, was vom ungarischen Stand¬ punkte nicht akzeptiert werden könne, da es nicht angehe, Provinzen, auf welche Ungarn einen historischen Anspruch erhebt, als ein Reichsland anzusehen. Es ergreift sodann der k. u. k. R e i c h s f i n an z m i n i s t e r Frei¬ herr v. Buriän das Wort, um sich zur Frage des Maßes der Dringlichkeit der Durchführung der Annexion zu äußern. Redner erinnert zunächst daran, daß er schon lange vor derjungtürkischen Umwälzung in einem Sr. Majestät im April 1. J. unterbreiteten Memoire zur Frage der Annexion Stellung genommen und sich für deren baldige Inswerksetzung ausgesprochen habe.10 Die Ereignisse in der Türkei hätten ihn seither in dieser Überzeugung nur bestärkt und hätten seiner Ansicht nach tatsächlich eine Zwangslage geschaffen. Diese Zwangslage ergebe 9 GMR. v. 31. 1. 1897UI, Gmr. V, Nr. 13. 10 Buridns II. Denkschrift über Bosnien und die Hercegovina von April 1908, HHStA., Kab. Kanzlei, Korrespondenzakten, 714/1908. <pb/>Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 191 sich zunächst aus dem politisch-psychischen Zustande der Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina, wo eine dreißigjährige Okkupation diese Bevölkerung gänzlich verändert habe und wo eine unter dem Einflüsse der Okkupationsmacht erzogene Generation mit neuen Anschauungen herangewachsen sei. Redner habe schon seit langem ein Programm für die Errichtung von Vertretungskörpem in den okkupierten Provinzen fertiggestellt, und dieses Programm brauche auch in¬ folge der jüngsten Ereignisse in der Türkei nicht abgeändert zu werden, wohl aber müsse bezüglich dessen Durchführung ein bescheunigtes Tempo eingeschla¬ gen werden. Diese Vertretungskörper seien dreierlei Art: 1. Bezirksausschüsse, 2. Kreisvertretungen, und 3. ein Provinziallandtag nach Art und mit dem ungefäh¬ ren Kompetenzkreise der österreichischen Landtage. Für die Beschleunigung der Einführung namentlich des letzterwähnten Vertre¬ tungskörpers seien vornehmlich zwei Termine von besonderer Wichtigkeit, näm¬ lich der Termin des Zusammentrittes der Delegationen Ende September und der Zeitpunkt des Zusammentrittes des türkischen Parlamentes. In den Delegationen würden an die gemeinsame Regierung gewiß Anfragen über ihre Pläne hinsicht¬ lich Bosniens und der Herzegowina gerichtet werden und müsse dieselbe gerüstet sein, auf solche Anfragen klare Antworten zu erteilen. Die Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina werde jedenfalls, wie bereits anläßlich früherer Sessionen, mit Mitgliedern beider Delegationen in Verbindung treten und so einen Druck auf diese letzteren ausüben. Noch wichtiger sei der Termin für den Zusammentritt des türkischen Parlamentes, denn man dürfe sich keiner Täuschung darüber hin¬ geben, daß die erste Tat dieses Parlamentes eine Deklaration bezüglich der Inte¬ grität des türkischen Reiches sowie das Verlangen sein werde, daß das Okkupati¬ onsmandat der Monarchie von den Mächten als erloschen erklärt werde, und zwar werde dieses Verlangen mit der Motivierung gestellt werden, daß die Monarchie entweder ihre Mission in jenen Provinzen erfüllt habe und sich daher nunmehr aus denselben zurückziehen müsse, oder daß sie die übernommene Mission nicht zu erfüllen imstande gewesen sei, und daß in diesem Falle keine raison d`etre mehr für ihr weiteres Verbleiben dortselbst vorhanden sei. Die Beschleunigung der Einführung verfassungsmäßiger Einrichtungen in Bosnien und der Herzego¬ wina werde aber auch mit Rücksicht auf die dortige Bevölkerung erfolgen müs¬ sen, welche niemals zugeben werde, daß sie hiefür weniger reif sei als die Bevöl¬ kerungen der angrenzenden Länder, welche sämtlich unter verfassungsmäßigem Regime leben. Von dem Momente an aber, wo eine Landesvertretung in Bosnien und der Herzegowina eingeführt werde, sei auch bezüglich der Durchführung der Annexion eine Zwangslage geschaffen, denn die Einführung eines Provinzial¬ landtages sei ohne gleichzeitige Annexion nicht denkbar. Die Annexion würde von der Bevölkerung, welche nach der Herstellung eines Definitivums förmlich lechze, ruhig hingenommen werden. Einzelne Proteste würden wohl von Anhän¬ gern der Idee eines großserbischen Reiches sowie von zum Teile in serbischem Solde stehenden Mohammedanern erfolgen. Im allgemeine könne aber eher be¬ hauptet werden, daß Erstaunen darüber herrsche, daß die Monarchie nicht schon <pb/>192 Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 längst die Annexion durchgeführt habe. Der Moment für eine große Tat sei jetzt gekommen. Die Annexion würde auch fremden Agitationen eine Riegel vorschie¬ ben, welche gegenwärtig vielfach ein leichtes Spiel haben, da die Leute in den okkupierten Provinzen oft nicht recht wüßten, wohin sie gehören. Die Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina werde durch die Annexion und die als Konsequenz derselben erfolgende Regelung des staatsrechtlichen Verhältnisses dieses Länderkomplexes in die Lage versetzt werden müssen, ihre politischen Rechte in einem Vertretungskörper der Monarchie auszuüben. Zwi¬ schen der Errichtung eines Provinziallandtages und der Ausübung der politischen Rechte seitens der Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina dürfe womöglich kein Spatium offen bleiben, oder dasselbe müsse möglichst kurz bemessen wer¬ den, um dem türkischen Parlamente keine Zeit zu lassen, einen schlechten Ein¬ fluß auf die Bevölkerung der okkupierten Provinzen auszuüben. Redner gelangt zu dem Schlüsse, daß eine die Annexion dringend erheischende Zwangslage im Okkupationsgebiete gegeben sei und daß die Gefahren, welche mit der Durchfüh¬ rung der Annexion möglicherweise verbunden seien, im Verhältnisse zu den Ge¬ fahren, welche aus dem Fortbestände des gegenwärtigen Zustandes resultieren würden, verhältnismäßig gering seien. Anknüpfend an den Gedanken des kgl. ung. Ministerpräsidenten, daß der den Legislativen in betreff der Armexion vorzulegende Gesetzentwurfmöglichst kurz sein soll, schlägt der Vorsitzende folgenden Text eines solchen Entwur¬ fes vor, welchen er der Erwägung der beiden Ministerpräsidenten empfiehlt: § 1. Bosnien und die Herzegowina werden mit den unter der Herrschaft Sr. Majestät des Kaisers und Königs stehenden beiden Staatsgebieten der öster¬ reichisch-ungarischen Monarchie vereinigt. § 2. Erbfolge § 3. Die definitive Regelung des staatsrechtlichen Verhältnisses Bosniens und der Herzegowina bleibt der Gesetzgebung Vorbehalten. Bis dahin werden die bei¬ den Provinzen wie bisher gemäß dem Gesetze vom Jahre 1880 von dem gemein¬ samen Ministerium verwaltet werden. § 4. Bosnien und die Herzegowina erhalten eine Provinzialverfassung mit ei¬ nem zur Beratung der Landesangelegenheiten berufenen Landtage. Der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck erklärt sich bereit, in betreff der Konstruktion einer solchen Gesetzvorlage mit dem kgl. ung. Ministerpräsidenten in Verhandlung zu treten, legt aber Wert darauf, ausdrücklich zu betonen, daß er heute nicht einmal für seine Person in der Lage sei, sich mit der Vornahme der Annexion Bosniens und der Herzegowina einver¬ standen zu erklären. Um dies seinerzeit eventuell im Namen der österreichischen Regierung tun zu können, werde er die Sache überhaupt im österreichischen Mi¬ nisterrate zur Sprache bringen und seine Ministerkollegen einweihen müssen.11 11 Das Thema der Annexion Bosnien-Herzegowinas wurde im cisleithanischen Ministerrat am 3. 10. 1908/1, MRZ. 19/1908, behandelt. Das Protokoll liegt nicht mehr ein. <pb/>Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 193 Redner fragt, wie der kgl. ung. Ministerpräsident sich diesfalls seinen Kolle¬ gen gegenüber zu verhalten und ob er dieselben mit der Annexion etwa vor ein fait accompli zu stellen gedenke. Der kgl. ung. Ministerpräsident Dr. Wekerle erwi¬ dert hierauf, daß auch er heute nicht in der Lage sei, namens der Regierung, an deren Spitze er stehe, der Annexion zuzustimmen und dies einstweilen nur für seine Person tue. Auch er behalte sich vor, im gegebenen Momente seinen Kolle¬ gen von der Sache Miteilung zu machen, werde aber, falls dieselben in dieser Frage einen entgegengesetzten Standpunkt einnehmen sollten, aus dieser Haltung för seine Person die Konsequenzen ziehen, da er entschlossen sei, mit dieser von ihm bereits jetzt persönlich übernommenen Verpflichtung zu stehen oder zu fal¬ len. Der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck macht seine weitere Stellungnahme in dieser Angelegenheit davon abhängig, ob er bezüglich der Regelung des staatsrechtlichen Verhältnisses der zu annektieren¬ den Provinzen mit dem kgl. ung. Ministerpräsidenten zu einem Einverständnisse gelangen sowie ob er die Überzeugung von dem tatsächlichen Vorhandensein einer Zwangslage gewinnen werde. Redner richtet sodann an den Reichskriegs¬ minister die Anfrage, welche Maßnahmen getroffen werden müßten, um die An¬ nexion militärisch vorzubereiten. Der k. u. k. Reichskriegsminister FZM. Freiherr v. Schönaich erwidert hierauf, daß es in dieser Beziehung genügen wer¬ de, adie Stände der Truppen im Okkupationsgebiete zu erhöhen und3 die Truppen in Bosnien und der Herzegowina um die aus dem Sandschak zurückzuziehende Brigade zu verstärken. Der k. k. Ministerpräsident Dr. Freiherr v. Beck stellt des weiteren die Frage, wie es mit der militärischen Bereitschaft der Mon¬ archie im Falle eines Konfliktes mit einer europäischen Macht stehe. Der k. u. k. Chef des Generalstabes FML. Conrad v. Hötzendorf beantwortet diese Anfrage dahin, daß nach seiner Kennt¬ nis der Sachlage Rußland gegenwärtig nicht in der Lage sei, einen Krieg zu füh¬ ren, und daß auch die militärische Situation der Türkei dermalen keine solche sei, daß von derselben ein Angriff zu befürchten wäre. Deutschland komme wohl überhaupt nicht in Frage, es bleibe somit von den Großmächten nur Italien übrig, gegen welches die Monarchie militärisch bereit sei. Vom rein militärischen Standpunkte des gegenseitigen Stärkeverhältnisses wäre ein Krieg mit Italien im gegenwärtigen Augenblicke sogar beinahe wün¬ schenswert, da die Monarchie derzeit noch die militärische Superiorität über Ita¬ lien habe. Auf ein seitens des k. k. Ministerpräsidenten in bezug auf die mögliche Hal¬ tung Italiens neuerlich geäußertes Bedenken reflektierend, bemerkt der Vor- a-a Einfügung Schönaichs. <pb/>194 Nr. 3 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 19. 8. 1908 sitzende, daß infolge der Annexion in Italien zwar einiger Lärm entstehen werde, daß sich diese Macht aber im übrigen ruhig verhalten werde. Kraft der Allianz sei Italien eigentlich sogar verpflichtet, Bosnien und die Her¬ zegowina zu verteidigen. Wie bereits früher bemerkt, könne Italien nach dem Dreibundvertrage nur dann einen Anspruch auf Kompensation erheben, wenn der Status quo auf der Balkanhalbinsel, am ägäischen Meere oder am Mittelmeere eine Modifikation erfahre. Für einen solchen Fall sei für Italien Tripolis als Kom¬ pensationsobjekt ins Auge gefaßt. Überdies sei mit Italien vereinbart worden, daß weder Österreich-Ungarn noch Italien sich in Albanien festsetzen sollte. Was Bosnien und die Herzegowina be¬ trifft, so habe Graf Gohichowski Herrn Tittoni anläßlich der Entrevue von Abba- zia im Jahre 1904 erklärt, daß diese Provinzen überhaupt ein Objekt seien, wel¬ ches der Monarchie aufdem Berliner Kongresse bedingungslos anvertraut worden sei und welches also von keiner Seite als ein zu Kompensationsforderungen be¬ rechtigender Gegenstand angesehen werden könne.12 Herr Tittoni habe von dieser Erklärung, wenn auch nur mündlich, Akt genom¬ men. Eine Sondierung des italienischen Ministers des Äußern bezüglich seiner Haltung gegenüber den Annexionsabsichten der Monarchie würde Redner ent¬ schieden nicht ratsam finden. Jedenfalls könnte eine einschlägige Mitteilung an denselben nur ganz kurz vor der Proklamierung der Annexion erfolgen, wenn deren Termin schon ganz bestimmt festgesetzt sei. Nachdem noch die Frage einer eventuellen kurzen Hinausschiebung des Ter¬ mines für den Zusammentritt der Delegationen erörtert worden war, ohne daß jedoch diesfalls ein Beschluß gefaßt worden wäre, richtete der Vorsitzende noch einen dringenden Appell an die beiden Ministerpräsidenten, über die Frage der künftigen staatsrechtlichen Gestaltung der zu annektierenden Provinzen mög¬ lichst bald zu einem Einverständnisse zu gelangen, und macht den von den übri¬ gen Konferenzteilnehmern akzeptierten Vorschlag, am 10. September in Buda¬ pest abermals eine gemeinsame Ministerkonferenz abzuhalten, um dort von dem Ergebnisse der Verhandlungen zwischen den beiden Ministerpräsidenten Kennt¬ nis zu nehmen und über die Frage der Durchführung der Annexion weiter zu be¬ raten und diesfalls womöglich zu einer endgiltigen Schlußfassung zu gelangen.13 Hierauf schließt der Vorsitzende die Sitzung. Aehrenthal. Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen. Budapest, am 30. September 1908. Franz Joseph. 12 Zum Treffen in Abbazia siehe GMR. v. 15. 4. 1904, Gmr. V, Nr. 52. 13 Fortsetzung des Gegenstandes in GMR. v. 10. 9. 1908, GMCPZ. 468. <pb/>