Gemeinsamer Ministerrat, 28. 11. 1904
I. Die vom k. u. k. gemeinsamen Kriegsminister geplanten militärischen Sicherheitsvorkehrungen im Südwesten der Monarchie. Zu diesem Zwecke in Aussicht genommene Einberufung von 1626 Mann der Ersatzreserve aufgrund des Gesetzes vom 31. Mai 1888
Siehe PDF-Daten https://hw.oeaw.ac.at/ministerrat/serie-2/oe_hu_mrp_V/pdf/oe_hu_mrp_V_z59.pdf.
Nr. 59 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 28.11.1904 421 des Sperrgebietes ein normaler geworden. Natürlich müßten dann die Sperrmaßregeln für die noch verseuchten Gemeinden aufrechterhalten werden. Der Vorsitzende meint, der Schwerpunkt der ganzen Frage liege darin, ob deutscherseits die Viehkonventionsbestimmungen loyal werden erfüllt werden' Sollte dies der Fall sein, so werde eine Verständigung unschwer eintreten, andernfalls werde es schwer sein, zu einem befriedigenden Resultate zu gelangen. Nachdem der k.k. Sektionsrat Seidler noch Aufklärungen über die Modalitäten gegeben hat, welche in der Zoll- und Handelskonferenz bezüglich der Bestandsperre und bezüglich der Absperrung gewisser Gebiete der Monarchie festge¬ legt wurden, äußert sich der Ick. Ministerpräsident v. Koerber einiger¬ maßen pessimistisch über die Möglichkeit der Aufhebung der Viehsperre, solange in einem Gebiete noch eine Seuche herrsche. Er begreife vollkommen, daß die deutscher¬ seits gegenwärtig geübte Praxis in der Auslegung der Bestimmungen der Veterinärkon¬ vention Entrüstung hervorrufe, und schließt sich daher auch vollkommen den Anträgen an, welche diesbezüglich ungarischerseits gemacht wurden. Der Vorsitzende schließt hieraufdie Konferenz und hofft, daß es den Bemü¬ hungen der beiderseitigen Ressortminister ehestens gelingen werde, die auf den einzel¬ nen Gebieten bestehenden Differenzen befriedigend auszugleichen.9 Goluchowski [Ah. E. fehlt.] Nr. 59 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 28. November 1904 RS. (undRK.) Gegenwärtige: der k. k. Ministerpräsident v. Koerber (5.12.), der kgl. ung. Ministerpräsident GrafTisza, der k. u. k. gemeinsame Kriegsminister FZM. Ritter v. Pitreich, der k. u. k. gemeinsame Finanzminister Freiherr v. Buriän, der k. k. Landesverteidigungsminister FZM. Graf Welsetsheimb, der kgl. ung. Landes¬ verteidigungsminister GM. v. Nyiri (13.12.), der kgl. ung. Finanzministerv. Lukäcs, der k. k. Finanzminister Kosel (17.12.). Protokollführer Legationsrat Freiherr v. Gagem. Gegenstand: Die vom k. u. k. gemeinsamen Kriegsminister geplanten militärischen Sicherheitsvorkeh¬ rungen im Südwesten der Monarchie. Zu diesem Zwecke in Aussicht genommene Einberufung von 1626 Mann der Ersatzreserve aufgrund des Gesetzes vom 31. Mai 1888. KZ. 46-GMCZ.448 Protokoll des zu Wien am 28. November 1904 abgehaltenen Ministerrates für gemeinsame Angelegenheiten unter dem Vorsitz des k. u. k. gemeinsamen Ministers des Äußern Grafen Goluchowski. Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung mit der Bemerkung, daß, nachdem der Gegenstand der Beratung seitens der Kriegsverwaltung den beiden Regierungen 9 Siehe Anm. 6. <pb/>422 Nr. 59 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 28.11.1904 bereits mittelst Note dargelegt worden sei,1 er denselben bei den übrigen Konferenz¬ teilnehmern als bekannt voraussetzen dürfe, und richtet hierauf an den gemeinsamen Kriegsminister die Einladung, die von ihm beantragten müitärischen Maßnahmen zur Sicherung des Südwestgebietes der Monarchie begründen zu wollen. Der k.u.k. gemeinsame Kriegsminister FZM. Ritter v. Pit¬ reich kommt dieser Einladung nach, indem er zunächst auf seine diesfalls an die beiden Ministerpräsidenten sowie an die beiden Landesverteidigungsminister unter dem 21. November 1. J. gerichtete Note hinweist und anknüpfend hieran ausführt, daß infolge der in der zweiten Hälfte der 80er Jahre erfolgten Gruppierung der Armee gegen Rußland eine sehr bedeutende Restringierung der Kräfte an der Südwestgrenze stattgefunden habe, welche nach und nach zu einer bedenklichen Schwächung der müitärischen Stellung der Monarchie in jenen Gebieten geführt habe. Redner möchte im Hinblicke hierauf die von ihm in Antrag gebrachten äußerst bescheidenen müitäri¬ schen Vorkehrungen an der Südwestgrenze nicht so sehr als eine Verstärkung der dortigen müitärischen Steüung der Monarchie, denn als eine einfache Wiederherstel¬ lung des Status quo ante bezeichnen. Daß Redner sich gerade jetzt entschlossen habe, mit seiner Anregung hervorzutreten, habe verschiedene Ursachen, als welche er in erster Linie das Anwachsen der Irredenta sowie gewisse Vorkommnisse anführen möchte, welche sich nicht ohne Vorwissen und Zustimmung der italienischen Regie¬ rung hätten ereignen können,2 wie zum Beispiel die vorjährigen Vorfäüe in Udine,3 die unter verdächtigen Umständen erfolgte Annäherung italienischer Kriegsschiffe an die Kriegshäfen der Monarchie sowie namentlich die gegen jeden internationalen Ge¬ brauch verstoßende Durchfahrt der italienischen Torpedoflotte durch den Kanal von Fasana. Diese Unternehmungen hätten zweifelsohne einen gewissen Einfluß auf die irredentistische Bewegung in Italien ausgeübt und dieselbe ermutigt, in den von Italie¬ nern bewohnten österreichischen Landesteüen Verbindungen anzuknüpfen. Redner weist ferner auf den Umstand hin, daß die italienische Regierung unter dem Vor¬ wände der Wahlen 86 000 Reservisten einberufen und dieselben auch jetzt, obwohl die Wahlen nun schon vorüber seien, noch nicht entlassen habe. Nun habe die italienische Regierung sich zwar infolge einiger unbedeutender Meutereien unter den Reserve¬ mannschaften entschlossen, dieselben im Dezember zu entlassen, dafür aber seien die Rekruten, welche sonst stets erst im Frühjahr einberufen wurden, schon jetzt zu den Fahnen berufen worden. Redner wül über die von Italien an der Grenze angelegten 1 Note desgemeinsamen Kriegsministers v. 21.11.1904, Nr. 7541. EineAbschrift schickte er an Goluchowski, HHStA., PA. I, Karton 621,547/CdM. 2 Zum österreichisch-italienischen Verhältnis siehe GMR v. 15. 4.1904, GMCZ. 441; GMR. v. 23. 4. 1904, GMCZ. 444/a; GMR. v. 5.5.1904, GMCZ 445/a. GeneralstabschefBeck drängte schon seit 1903 auf die Verlegung von Truppen aus Galizien nach Südwest. Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte 395-396; Bridge, From Sadowa to Sarajevo 266-268. Zur weiteren Gestaltung der Beziehungen siehe die Zusammenkunft Goluchowski -Tittoni, Venedig, Mai 1905. Goluchowski an Aehrenthal v. 13. 5. 1905, HHSrA., PA. I, Karton 481, Liasse XXXV. 3 König Viktor Emmanuel III. empfing anläßlich eines Kriegsmanövers in Udine Vertreter der italienischen Irredenta-Bewegung in derMonarchie. Siehe Pitreichs Denkschrift v. 22.11.1905 über den Rüstungskredit, HHStA., PA. XL, Karton 304, fol. 430-446. <pb/>Nr. 59 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 28.11.1904 423 permanenten Befestigungen nichts sagen, da es füglich jedem Staate unbenommen bleiben müsse, seine Grenzen zu sichern. Dagegen könne Redner die Anlage von provisorischen Befestigungen hart an der österreichischen Grenze bei Chiusa Forte und Gemona nicht mit Stillschweigen über¬ gehen, da eine solche Maßnahme direkt eine feindselige Absicht gegen die Monarchie involviere. Dislokationsveränderungen seien in Italien zwar nicht vorgenommen worden, was übrigens auch nicht nötig sei, wenn man bedenke, wie günstig Italien in bezug auf einen Aufmarsch gegen Österreich-Ungarn gestellt sei, indem von den zehn bestehenden Korps sechs so aufgestellt sind, daß sie rasch und mit Leichtigkeit an die österreichische Grenze dirigiert werden könnten. Redner führt weiters eine Reihe von Maßnahmen der italienischen Heeresverwaltung an, welche sämtlich auf die eventuelle Absicht eines plötzlichen Überfalles sowie einer Störung des Aufmarsches der öster¬ reichisch-ungarischen Armee hindeuten. Redner habe es daher als seine Pflicht ange¬ sehen, Vorkehrungen ins Auge zu fassen, welche geeignet seien, die für den Aufmarsch einer österreichisch-ungarischen Armee in Frage kommenden Eisenbahnen sowie sonstige wertvolle Objekte vor einer überfallsweise bewerkstelligten Zerstörung zu schützen. Zu den von ihm in dieser Beziehung in Aussicht genommenen Sicherungs- maßnahmen rechnet Redner zunächst die übrigens auch von dem k. k. Ministerpräsi¬ denten angeregte Verstärkung der Garnison von Triest sowie die Stationierung eines Wachschiffes im dortigen Hafen zum Schutze des Stabüimento tecnico. Außerdem müsse Triest auch von der Landseite geschützt und zu diesem Zwecke ein Bataillon nach Monfalcone verlegt werden. Ebenso müßten die Wocheimer und die Pustertal¬ bahn gegen alle etwaigen italienischen Anschläge durch Translozierung von Infanterie¬ beziehungsweise Jägerbataillonen nach Tolmein und Kötschach geschützt werden. Besonders notwendig sei aber die Besetzung der in Pola und Cattaro befindlichen Geschütze mit den erforderlichen Artilleriemannschaften, was, da das Rekrutenkon¬ tingent seit dem Jahre 1889 nicht erhöht worden sei, jedenfalls nur durch Einberufung von Ersatzreservisten zum aktiven Präsenzdienste geschehen könne, nachdem alle in Galizien entbehrlichen Festungsartflleriemannschaften schon nach Tirol verlegt worden seien, und weitere Artilleriemannschaften von dort nicht mehr fortgenommen werden könnten. Ebensowenig sei es möglich, von Peterwardein Artilleriemannschaft wegzunehmen, da man füglich nicht vorhersehen könne, wie Serbien sich in der Zukunft verhalten werde. Redner weist in diesem Zusammenhänge auf die Schwierigkeit hin,, einerseits Dalmatien heutzutage zur See zu verteidigen, andererseits Truppen dorthin zu bringen, weshalb Redner dem Ausbau von Bahnen nach Dalmatien eindringlichst das Wort redet. Jedenfalls müsse mit Rücksicht auf dievorerwähnten Schwierigkeiten schon jetzt daran gedacht werden, eine wenn auch verhältnismäßig unbedeutende Verstärkung der Truppen in Dalmatien eintreten zu lassen, was Redner durch Versetzung eines Ihfan- teriebataillons (Budua) auf den erhöhten Stand3 zu bewerkstelligen gedenke. Redner führt weiters aus, daß mit Rücksicht auf das von ihm bereits Gesagte die für Pola und a-a Korrektur Pitreichs aus Verlegung eines Infanteriebataillons nach Budua. <pb/>424 Nr. 59 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 28.11.1904 Cattaro erforderlichen Festungsartilleriemannschaften in der Stärke von 800 Mann durch Einberufung von Ersatzreservisten aufgrund des Gesetzes vom 31. Mai 1888 beschafft werden müßten.4 Außerdem müßten aber auch die jetzt nach Tirol, Kärnten und dem Küstenlande zu verlegenden Bataillone auf den erhöhten Friedensstand gebracht werden, was ebenfalls nur durch Einberufung von Ersatzreservisten möglich sei, da aus Galizien bereits alle exterritorialen Infanterietruppen, das heißt nicht dort sich rekrutierenden Truppen, weggenommen worden seien und eine Entnahme von in die dortigen Territorialbereiche gehörigen Truppen mit Rücksicht auf die hiedurch sich sonst leicht ergebende Erschwerung der Mobüisierung nicht rätlich erscheine. Da ferner die Marine die für das Wachschiff in Triest erforderlichen 250 Mann wegen der Knappheit an Mannschaft, unter welcher dieselbe trotz des vor zwei Jahren um 750 Mann erhöhten Präsenzstandes infolge der Vergrößerung der an sie herantretenden Aufgaben ständig leide, nur dann würde beisteUen können, wenn ihr diese Mannschaf¬ ten vom Heere zugewiesen würden, so müsse der infolgedessen bei dem letzteren sich ergebende Ausfall ebenfalls durch Einberufung einer gleich großen Anzahl von Ersatz¬ reservisten zur aktiven Präsenzdienstleistung gedeckt werden. Redner führt aus, daß diese im Vorstehenden dargelegten Maßnahmen die Einberufung von 1626 Mann Ersatzreservisten und, von den Kosten der Stationierung eines Kriegsschiffes im Hafen von Triest abgesehen, einen Mehraufwand von 661 000 Kr. verursachen würden, welche er für das laufende Jahr im Wege seines Nachtragskredites anzufordem gedenke. Redner bezeichnet schließlich die vorerwähnten Maßnahmen als das Minimum dessen, was bereits in der allernächsten Zeit vorgekehrt werden müsse, weist aber zugleich auf die Möglichkeit hin, daß die im Limgebiete befindlichen Truppen, welche sich in einer exponierten Lage befinden und gegenwärtig nur 1800 Gewehre zählen, späterhin ebenfalls auf den erhöhten Friedensstand gebracht werden müssen. Der Ick. Ministerpräsident v. Koerber ergreift hierauf das Wort, indem er seinen Ausführungen die Bemerkung vorausschickt, daß man der österreichi¬ schen Regierung das Zeugnis gewiß nicht versagen könne, daß dieselbe allen auf die Sicherheit und Wehrhaftigkeit des Reiches abzielenden müitärischen Forderungen stets volles Verständnis entgegengebracht habe, wie sie denn auch den jetzt geplanten Vorkehrungen durchaus entgegenkommend gegenüberstehe. Wenn Redner gleichwohl im gegenwärtigen Falle die Einberufung einer gemeinsamen Ministerkonferenz bean¬ tragt habe,5 so habe er dies nur aus dem Grunde getan, weü er eine Klärung der Frage für wünschenswert angesehen habe, ob die Lage an der italienischen und montenegri¬ nischen Grenze tatsächlich eine solche ist, welche die von dem gemeinsamen Kriegsmi¬ nister beantragten Maßnahmen gerechtfertigt erscheinen läßt, und, bejahenden Falles, ob es mit Rücksicht auf den geringen Umfang dieser letzteren nicht möglich schiene, dieselben auf andere Weise durchzuführen. Redner möchte nämlich in letzterer Bezie¬ hung zu erwägen geben, ob es dem Geiste des Gesetzes vom 31. Mai 1888 entspricht, dasselbe wegen Einberufung von nur 1600 Mann der Ersatzreserve in Anwendung zu * Siehe GMSProt v. 29.11.1901, GMCZ. 434, Anm. 15 und 16; ferner GMR. v. 3. 4.1902, GMCZ. 438. 5 DieEinberufung des GMR. wurdevon Koerber angeregt. Siehe Koerber an Pitreichv. 23.11.1904, KA..KM., Präs. 25-9/4/1904; Pitreich an Gotuchowsld v. 24.11.1904, HHSxA, PA I, Karton 621,548/CdM. <pb/>Nr. 59 Gemeinsamer Ministenat, Wien, 28.11.1904 425 bringen, und gibt seiner Ansicht dahin Ausdruck, daß das Aufsehen, welches durch diese Maßregel hervorgerufen werden würde, in keinem richtigen Verhältnisse zu dem durch dieselbe zu erzielenden Effekte stehe. Redner glaubt, daß durch die Heranzie¬ hung von Ersatzreserve sowohl im In- als auch im Auslande das größte Aufsehen hervorgerufen werden würde, und daß es weder möglich noch zulässig erscheinen würde, diese Maßregel durch einen Hinweis auf die innere Lage zu motivieren. Ein solcher Hinweis würde höchstens bezüglich Triests plausibel erscheinen, die Unstich¬ hältigkeit desselben bezüglich der in Frage kommenden Gegenden von Tirol und Kärnten würde jedoch sofort in die Augen springen. Gerade letzterer Umstand würde aber die Deutung zulassen, ja sogar nahelegen, daß die wahre Ursache der erwähnten militärischen Sicherheitsvorkehrungen in den auswärtigen Beziehungen ihre Ursache haben. Der k.u.k. gemeinsame Kriegsminister FZM. Ritter v. Pit¬ reich erwidert hierauf, indem er auf seine zu Beginn der Sitzung gegebenen Darle¬ gungen verweist, welche er noch durch die Bemerkung ergänzt, daß er umso weniger in der Lage sei, sich die jetzt benötigten 1600 Mann auf andere Weise zu beschaffen, als in Galizien schon seit dem Jahre 1888 1500 Ersatzreservisten zum aktiven Präsenz¬ dienste bei der Artillerie ständig herangezogen werden, welche er mit Rücksicht auf die notwendige Instandhaltung des Materials und die Wartung der vorhandenen Pferde weder entlassen noch anderweitig verwenden könne. Redner leiht übrigens der Hoff¬ nung Ausdruck, daß die von ihm in allerbescheidenstem Umfange in Aussicht genom¬ mene Maßnahme nicht das vom Vorredner befürchtete große Aufsehen erregen werde. Der Vorsitzende führt sodann aus, daß er zwar nicht in der Lage sei, sich über die technische Seite der Frage zu äußern, vom Standpunkte der Führung der auswärti¬ gen Politik ihm aber eine Stärkung der Machtmittel der Monarchie an der Südwest¬ grenze im hohen Maße erwünscht erscheine. Die Beziehungen der Monarchie zu Italien hätten sich in den letzten Monaten Dank dem korrekten Verhalten des gegenwärtig am Ruder befindlichen Ministeriums Giolitti wesentlich gebessert, doch könne man nicht mit Bestimmtheit Vorhersagen, wie sich die Lage in Italien in den nächsten Monaten gestalten werde.6 Die letzten italienischen Wahlen seien zwar für die Regierung sehr günstig ausgefallen, immerhin sei es aber nicht ausgeschlossen, daß Herr Giolitti sich aus taktischen Gründen zurückziehen würde, in welchem Falle zu befürchten sei, daß demselben kein gleich korrekter Politiker nachfolgen werde. Redner erinnert in dieser Beziehung an die Verhältnisse, wie sie sich unter dem Ministerium Zanardelli entwik- kelt hatten, als man jeden Augenblick auf einen Putschversuch habe gefaßt sein müssen.7 Redner hält den gegenwärtigen Moment für eine Verstärkung der militäri¬ schen Stellung der Monarchie an der Südwestgrenze für günstig, da die beabsichtigten Truppenverschiebungen mit den Umtrieben dies- und jenseits der Grenze motiviert werden könnten, welche in den betreffenden Bevölkerungen Reflexe und Gegenreflexe und infolgedessen eine gewisse Aufregung hervorgerufen hätten. 6 GMRProt v. 5.5.1904, GMCZ. 445/a, Anm. 2 7 Giuseppe Zanardelli (1829 -1903), in den Jahren 1901 -1903 italienischer Ministerpräsident. <pb/>426 Nr. 59 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 28.11.1904 Was die Lage am Balkan betrifft, so könne mit Befriedigung konstatiert werden, daß der Stand der Reformfrage ein verhältnismäßig günstiger sei, und daß das Zusammen¬ gehen mit Rußland gut funktioniere. Nicht ebenso günstig könne Redner sich dagegen über die kleinen Balkanstaaten Serbien und Montenegro äußern, deren Verhalten der Monarchie vielfach Anlaß zu berechtigter Klage gebe, indem dieselben fortgesetzt gegen die letztere wühlen, wofür Redner unwiderlegliche Beweise in Händen habe. Speziell die gegen die Stellung der Monarchie in Bosnien und der Hercegovina gerich¬ teten Intrigen Serbiens und Montenegros in Konstantinopel seien so weit gegangen, daß - wie Redner streng vertraulich erwähnen wolle - der dortige k. u. k. Botschafter den Vorschlag gemacht habe, daß, falls in dieser Beziehung keine Änderung zum Besseren emtreten würde, seitens Österreich-Ungams erklärt werden solle, es werde seine Garnisonen im Limgebiete verstärken.8 Es müsse also in dieser Richtung vorgesorgt werden, und Redner finde die vom gemeinsamen Kriegsminister vorgeschlagenen Maßnahmen ganz geeignet, eine solche Aktion anzubahnen. Ohne sich auf Prophezei¬ ungen einlassen zu wollen, glaube Redner doch sagen zu können, daß die Gefahr nicht von der nördlichen Grenze der Monarchie drohe und man von Seite Rußlands für lange Zeit Ruhe und Frieden haben werde. Redner schließt seine Ausführungen mit der Bemerkung, daß er es zwar gleich dem k. k. Ministerpräsidenten vorziehen würde, wenn die von dem gemeinsamen Kriegsminister angeregten Maßnahmen ohne Heranziehung von Ersatzreserve durchgeführt werden könnten, daß er diese Vorkehrungen aber unbedingt für nötig halte und daher lieber das mehrerwähnte Gesetz zur Anwendung gebracht sehen, als auf die in Rede stehende Verstärkung an der Südwestgrenze verzichten möchte. Der kgl. ung. Ministerpräsident Graf Tisza wünscht auf einen Widerspruch aufmerksam zu machen, welcher seiner Ansicht nach darin gelegen sei, daß der gemeinsame Kriegsminister eine Reihe von Momenten aufgezählt habe, welche auf so umfangreiche Rüstungsmaßnahmen Italiens hindeuten würde, daß denselben gegenüber die in Vorschlag gebrachten konkreten Sicherheitsvorkehrungen kaum ins Gewicht fallen dürften. Redner glaubt daher, daß die Frage nicht unberechtigt er¬ scheint, ob es sich bei dieser SacUage überhaupt verlohne, verhältnismäßig so kleine Maßnahmen, wie die vom gemeinsamen Kriegsminister vorgeschlagenen, vorzukehren. Der k.u.k. gemeinsame Kriegsminister FZM. Ri 11er v. P it- reich gibt diesen Bemerkungen des Vorredners gegenüber zu, daß die von ihm angeregten Maßnahmen tatsächlich nicht bedeutend seien, und, wie er bereits früher zu betonen Gelegenheit gehabt habe, nur das Minimum dessen darstellen, was bereits in der allernächsten Zeit vorgekehrt werden müsse. Selbstverständlich müsse sich die Kriegsverwaltung für den Fall des Eintrittes schwierigerer Verhältnisse Vorbehalten, mit weitergehenden Vorschlägen hervorzutreten. Catice an Goluchowski v. 26.10.1904 (Insinuationen des montenegrinischen Geschäftsträgers gegen die k.u.k. Regierung), HHStA., PA. XII, Karton 186, Nr. 50; Calice an Goluchowski v. 2.11.1904 (beunru¬ higende Zustände in den montenegrinisch-serbischen Grenzgebieten; beiderseitige Bandeneinßlle und Verhetzungen; Notwendigkeit ernster Vermahnungen), ebd., Nr. 51. <pb/>Nr. 59 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 28.11.1904 AZ1 Der k. k. Ministerpräsident v. Koerber will die Notwendigkeit der von dem gemeinsamen Kriegsminister vorgeschlagenen Maßnahmen zwar durchaus nicht in Zweifel ziehen, doch könne Redner dessenungeachtet nicht umhin zu finden, daß die Aufwendung eines so großen Apparates, wie die Ein¬ berufung von Ersatzreservisten aufgrund des Gesetzes vom Jahre 1888, nicht im Einklänge mit der verhältnismäßigen Kleinheit der ins Auge gefaßten Maßnahmen stehe, und daß es sich empfehlen würde, sich der in dem erwähnten Gesetze ent¬ haltenen Ermächtigung nur in äußersten und sehr ernsten Fällen zu bedienen. Redner würde daher selbst vorziehen, wenn der durch die projektierten Maßnah¬ men der Kriegsverwaltung verursachte Mehrbedarf an Mannschaften durch Zu¬ rückbehaltung von ausgedienten Leuten gedeckt werden könnte. Redner kommt schließlich nochmals auf die Frage der Motivierung der erwähnten Maßnahmen zurück, wobei er die Untunlichkeit betont, diesfalls auf angeblich bestehende Schwierigkeiten der inneren Lage hinzuweisen. Nachdem sowohl der k. u. k. gemeinsame Kriegsminister FZM. Ritter v. Pitreich als auch der k. k. Landesverteidigungsmini¬ ster GrafWelsersheimb den von dem Vorredner angeregten Modus für die Beschaffung des infolge der projektierten Maßnahmen sich ergebenden Mehrbedarfes an Mannschaften als undurchführbar und eine große Härte für die eventueU davon Betroffenen in sich schließend bezeichnet haben, bemerkt der V ersitzende auf die Äußerungen des k. k. Ministerpräsidenten über die Frage der Motivierung reflek¬ tierend, daß es sich um eine zweifache Motivierung handeln werde, und zwar um jene dem Inlande gegenüber und um jene der italienischen Regierung gegenüber. Was die erstere anlange, so bleibe es selbstverständlich dem Ermessen des k. k. Ministerpräsi¬ denten überlassen, wie er die von dem gemeinsamen Kriegsminister beantragten Maßnahmen im Parlamente und vor der Öffentlichkeit des Inlandes begründen wolle. Dem italienischen Botschafter gegenüber, welcher ihn nach dem Bekanntwerden der in Rede stehenden militärischen Vorkehrungen gewiß aufsuchen und über die Bedeu¬ tung der letzteren befragen werde, gedenke Redner dieselben in der von ihm früher angedeuteten Weise zu begründen, wobei er, um der Sache ein für Italien weniger unfreundliches Aussehen zu geben, auch auf die innenpolitische Lage in den betreffen¬ den Grenzgebieten hinweisen werde, welche diese Truppenverschiebungen hätten wünschenswert erscheinen lassen. Auch werde Redner gegebenenfalls, um die Dinge auf das richtige Maß zurückzuführen, dem italienischen Botschafter sagen, daß es sich bei den im allerbescheidensten Umfange gehaltenen Maßnahmen keineswegs um eine Mobüisierung handle, sondern lediglich um die durch die gebesserten Beziehungen zu Rußland ermöglichte Wiederherstellung des Status quo vor dem Jahre 1887, welche in keiner Weise eine Bedrohung des Königreiches Italien involviere. Der kgl. ung. Ministerpräsident Graf Tisza stellt sodann die Frage, wie sich in praxi überhaupt der Vorgang bei Einberufung von Ersatzreser¬ visten zur aktiven Dienstleistung aufgrund des § 1 des Gesetzes vom 31. Mai 1888 gestalte. Der Ick. Landesverteidigungsminister FZM- Graf Welsers - heimb beantwortet diese Anfrage dahin, daß die Einberufung der Ersatzreserve <pb/>428 Nr. 59 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 28.11.1904 aufgrund des gedachten Gesetzes ohne irgendeinen weiteren Apparat, lediglich mittelst eines Ah. Befehles erfolge, nachdem die Regierung ihre Zustimmung zu dieser Maßnahme erteilt habe. Eine Publizierung des betreffenden Ah. Befehles sei nicht erforderlich, und es sei ausschließlich eine Frage der Erwägung, ob es zweckmäßig erscheine, den kaiserlichen Befehl zu verlautbaren oder nicht. Redner führt anschließend hieran aus, daß er seinerzeit an den Kommissionsberatungen für das Gesetz vom 31. Mai 1888 teilgenommen habe und sich von damals her noch sehr gut erinnere, daß die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes in der Kommission gerade damit motiviert worden sei, daß Verhältnisse eintreten könnten, welche es als wünschenswert erscheinen lassen könnten, einzelne Trup¬ penkörper in unauffälliger Weise zu verstärken. Redner sei seither in der Lage gewesen, anläßlich der Ausschußberatungen des Rekrutengesetzes die seit dem Jahre 1888 - allerdings unauffällig durch Rückbehaltung von in den 1. Reserve¬ jahrgang gelangender Mannschaft - eingeleitete Heranziehung und die spätere ständige Einberufung von galizischen Ersatzreservisten zum aktiven Präsenzdienste bei der Artillerie durch den Hinweis auf das eben Gesagte zu rechtfertigen, und seien seine bezüglichen Ausführungen von den Kommissionsmitgliedern, von welchen mehrere bereits an den Ausschußberatungen für das 1888er Gesetz teü- genommen hätten, akzeptiert worden. Redner glaubt daher, daß die Anwendbar¬ keit des letzteren Gesetzes in dem vorliegenden Falle außer allem Zweifel stehe. Was die Motivierung der von dem gemeinsamen Kriegsminister angeregten Ma߬ nahmen anbelangt, so gibt Redner seiner Ansicht dahin Ausdruck, daß es nicht tunlich sei, dieselben anders zu begründen, als durch die Anführung jener Ver¬ hältnisse, durch welche sie tatsächlich veranlaßt worden seien. Dies werde übri¬ gens umso leichter möglich sein, als die Annahme ja a priori als ausgeschlossen erscheinen müsse, daß man mit sechs Bataillonen einen Krieg zu beginnen beab¬ sichtigen könnte. Die Agitation in Italien würde die in so bescheidenem Umfange in Aussicht genommenen militärischen Sicherheitsvorkehrungen gewiß gerechtfer¬ tigt erscheinen lassen, und selbst die italienische Regierung würde das Berechtigte derselben anerkennen müssen. Lärm würde infolge des Bekanntwerdens der er¬ wähnten Maßnahmen wohl entstehen, dem würde dann aber durch entsprechende Aufklärungen entgegengetreten werden müssen. Der kgl. ung. Ministerpräsident Graf Tisza ergreift hierauf das Wort um auszuführen, daß er gegen die Art und Weise, wie die von dem gemeinsamen Kriegsminister angeregten Vorkehrungen durchgeführt werden sollen, nicht frei von Bedenken sei. Nachdem jedoch die maßgebenden müitäri- schen Faktoren diesen Durchführungsmodus als den einzig möglichen bezeichnet hätten, so bleibe nichts anderes übrig, als sich mit dem Gedanken, zu dem in Rede stehenden Zwecke Ersatzreservisten einzuberufen, vertraut zu machen, obwohl auch Redner es vorgezogen haben würde, wenn die Verstärkung der Truppen an der Südwestgrenze auf andere Weise bewerkstelligt werden könnte. Jedenfalls müsse, wenn man sich zu dieser Maßregel entschließe, getrachtet werden, daß die ganze Sache möglichst glatt und mit möglichst wenig Aufhebens durchgefürt werde. Redner bringt hierauf den Zeitpunkt der Durchführung der in <pb/>Nr. 59 Gemeinsamer Ministerrat, Wien, 28.11.1904 429 Aussicht genommenen militärischen Maßnahmen zur Sprache und äußert in dieser Beziehung den Wunsch, daß dieselben mit Rücksicht auf die politische Lage in Ungarn nicht vor dem 15.-20. Dezember verlautbart werden mögen.9 Nachdem der k. u. k. gemeinsame Kriegsminister FZM. Ritter v. P i t r e i c h die Erfüllung dieses Wunsches zugesagt hat,10 berührt der k g 1. u n g. Ministerpräsident Graf Tisza noch die Frage der durch die mehrer¬ wähnten Maßnahmen verursachten Kosten und bezeichnet es mit Rücksicht auf die politische Situation in Ungarn als in hohem Maße erwünscht, daß Ersparungen an der Nordgrenze vorgenommen werden mögen, damit von der Einbringung eines Nachtrags¬ kredits zu dem gedachten Zwecke abgesehen werden könne, was die Durchführung der ganzen Angelegenheit wesentlich erleichtern würde. Der k.k. Finanzminister Kosel schließt sich diesem Wunsche des Vor¬ redners an, indem er bemerkt, daß es sich im Hinblicke auf den Umstand, daß in dem österreichischen Parlamente die bekannte Refundierungsklausel ohnehin vielfach skeptisch beurteüt und angegriffen werde, dringend empfehlen würde, mit der Einbrin¬ gung von Nachtragskrediten soviel als nur irgend möglich zurückzuhalten. Redner glaubt übrigens auch der Befürchtung Ausdruck geben zu soüen, daß das Bekanntwer¬ den der in Aussicht genommenen müitärischen Maßnahmen einen ungünstigen Einfluß auf den Kurs der österreichischen Rente sowie überhaupt auf die von der österreichi¬ schen und ungarischen Finanzverwaltung für die nächste Zeit geplanten finanziellen Transaktionen ausüben werde, da es nur nachteüig wirken könne, wenn der öffentlichen Meinung Anlaß gegeben werde, an der ruhigen politischen Entwicklung zu zweifeln. Nachdem von den Konferenzteilnehmern niemand mehr eine Bemerkung zum Gegenstände der Beratung vorzubringen wünscht, schließt der Vorsitzende die Sitzung, indem er konstatiert, daß in der Konferenz über die Vorschläge des gemein¬ samen Kriegsministers Übereinstimmung erzielt worden sei und die kompetenten Faktoren der von demselben beantragten Einberufung von 1626 Ersatzreservisten aufgrund des § 1 des Gesetzes vom 31. Mai 1888 zugestimmt haben. Goiuchowski Ah. E. Ich habe den Inhalt dieses Protokolles zur Kenntnis genommen. Wien, 20. Dezember 1904. Franz Joseph. 9 Tisza sofrte am 5.11.1904 im Abgeordnetenhaus mit einemparlamentarischen Putsch eine neue Hausord¬ nung durch, um die Opposition zu brechen. Der Monarch vertagte dann die Parlamentssitzung aufden 13. Dezember. 10 Zur Einberufung der Ersatzreserve kam es erstAnfang 1905. Hierüber Pitreich an die beiden Ministerpräsi¬ denten und Landesverteidigungsminister v. 10.12.1904, KA., KM., Präs. 25-9/4/1904. <pb/>