Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)
EINLEITUNG Die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates 1883-1895 I. Historischer Hintergrund (9) - II. Die Außenpolitik (35) - III. Das Kriegs¬ wesen (48) - IV. Die strategischen Eisenbahnen (102) - V. Die Wirtschaftsge¬ meinschaft und der Außenhandel (116) - VI. Die staatsrechtlichen Fragen (132) - VII. Die Funktionsbedingungen (154) - VIII. Protokolle (185) I. Historischer Hintergrund Der gemeinsame Außenminister Graf Gustav Kälnoky diktierte 1888 ein um¬ fangreiches Memorandum. Er saß damals bereits seit sieben Jahren am Schreib¬ tisch Metternichs und verfügte über Erfahrungen, die verallgemeinert werden konnten. Die wichtigste Erfahrung faßte er in einem Satz mit negativem Aus¬ klang zusammen. Die Freiheit der außenpolitischen Entscheidungen hängt von der Stärke der inneren Gewalt ab. Und seines Erachtens waren es gerade diese Gewalt und Stärke, die der Monarchie fehlten. Sie fehlten, weil die einzelnen Nationen in Richtung der Staaten jenseits der Grenzen gravitierten. Den ge¬ meinsamen Außenminister beunruhigte besonders das Verhalten der Rumänen in Ungarn und der Ukrainer in Galizien, er konstatierte aber auch die bei den Deutschösterreichern zutage tretenden zentrifugalen Strömungen mit großer Besorgnis. Die Konklusion der Analyse war teils das Drängen auf eine duldsa¬ mere Regierungspolitik, die einer weiteren Entfremdung der Nationen Einhalt gebieten sollte, teils eine Stärkung der nationalen Basis der Außenpolitik. Kälnoky schloß seine Erörterungen damit, daß die Außenpolitik auch weiterhin aufjenen beiden Nationalitäten fußen müsse, die ihre politische Bedeutung von der Monarchie erhalten und über den stärksten nationalen Hintergrund verfü¬ gen: also auf der ungarischen und der österreichischen.1 1 Memorandum. Die Nationalitätenfrage in Österreich-Ungarn und ihre Rückwirkung auf die äußere Politik der Monarchie. Nach Diktaten Sr. E. des Herrn Grafen Kälnoky, Minister des kais. Hauses und des Äußeren, HHSxA., PA. XL, Interna, Karton 316 || || 10 Einleitung Die inneren und äußeren Gegebenheiten Das Memorandum des gemeinsamen Außenministers verwies auf die idivi- duelle und wesentlichste Eigenart der Monarchie: die mögliche Disharmonie der nationalen Interessen und des Staatsinteresses. Für die Nationalstaaten des Westens, deren Außenpolitik eine direkte Widerspiegelung des nationalen Inter¬ esses war, existierte dieses Problem ebensowenig wie für das multinationale Rußland, dem das zahlenmäßige Übergewicht der russischen Bevölkerung die nötige Einheit garantierte. Für Franzosen und Deutsche ebenso wie für die Russen war es eine Selbstverständlichkeit, daß sie innerhalb des Rahmens des gegebenen Staates leben, eine andere Lebensform kam für sie gar nicht in Betracht. Diese objektive Koinzidenz des nationalen und Staatsinteresses ge¬ währleistete die Existenz des Staates und zugleich auch die Wirksamkeit seiner Manifestationen nach außen. Für die elf Nationen der Monarchie bestand diese objektive Koinzidenz der Interessen nicht, die Beziehung zwischen Nation und Staat hing von den subjektiven Faktoren Einsicht und Erfahrung ab. Freilich konnte auch aus Einsicht und Erfahrung ein gemeinsames Interesse entstehen, und es entstand auch tatsächlich. Die Mehrzahl der Nationen der Monarchie nahm aus politischer Überlegung Abstand vom naturgemäßen Ziel des Natio¬ nalismus, vom selbständigen Staat, und suchte ihr Fortkommen innerhalb der Grenzen des multinationalen Staatsgebildes. Dieses Verhalten entsprang teils einer Beurteilung der internationalen Lage, teils der Erwägung der Zukunfts¬ möglichkeiten innerhalb des Reiches. Bei Beurteilung der äußeren Lage stand das Bewußtsein der Gefährdung im Vordergrund. Die in der Monarchie leben¬ den Völker fürchteten sich vor der Expansion der umgebenden Mächte und gelangten zu der Überzeugung, selbständig, außerhalb des Rahmens der Mon¬ archie, der Expansion nicht standhalten zu können. Ihre Hoffnung auf nationa¬ les Überleben innerhalb der Monarchie begründeten sie mit der spezifischen ethnischen Zusammensetzung, mit einem gewissen Kräftegleichgewicht zwi¬ schen den Nationen, das ihrer Ansicht nach keine Nation von der Möglichkeit der Ausübung einer beschränkten Souveränität ausschloß. Die zur Interessen¬ vereinbarung inspirierenden subjektiven Faktoren Einsicht und Erfahrung kön¬ nen sich jedoch mit der Zeit auch wandeln und führen dann eventuell nicht zur Kooperation, sondern zur Trennung der Interessen. Für die Generation der Jahrhundertwende stellte die bisher geltende Meinung über die Notwendigkeit der Monarchie oder über die Möglichkeit eines Fortkommens innerhalb der Monarchie keineswegs mehr ein Axiom dar. Was Kälnoky im Falle der Rumä¬ nen, Ukrainer und Deutschösterreicher mit Besorgnis konstatierte, war die Folge dieser beginnenden Metamorphose. Er hätte den Kreis ohne weiteres noch ausdehnen können. Im folgenden Jahr erwies sich bei der Parlamentsde¬ batte über das Wehrgesetz, daß auch die ungarische Loyalität keine Selbstver¬ ständlichkeit mehr war. Die Disharmonie zwischen nationalen und Staatsinter¬ essen war perspektivisch ein katastrophales Symptom, hatte aber auch unmittel¬ bar schwerwiegende Auswirkungen: sie verminderte die Wirksamkeit der Mani¬ festationen des Staates nach außen. || || Einleitung 11 Der Außenpolitik der Monarchie mangelte es schon infolge sonstiger Ursa¬ chen an der erforderlichen Wirkung. Franz Joseph kritisierte gelegentlich im gemeinsamen Ministerrat verärgert, daß man die Außenpolitik - wie er sagte -mit allzugroßer Vorsicht handhabte.2 Der Monarch suchte die Ursache freilich nicht in der Disharmonie von nationalen und Staatsinteressen - die Kategorie der Nation war ihm im Grunde fremd sondern einfach in der Schwäche der Armee. Er war der Meinung, daß es der Außenpolitik infolge der ungenügenden Entwicklung der Armee an einem der Großmachtstellung der Monarchie ge¬ bührenden Einfluß mangele. Diese Diagnose des Herrschers war jedoch ziemlich oberflächlich. Es mag sein, daß man von den Kraftquellen etwas mehr für die Entwicklung der Armee hätte aufwenden können, doch existierte die Gro߬ machtstellung als solche nur in der Gedankenwelt des Monarchen und nicht in der Wirklichkeit. Die Monarchie war nur an den traditionellen Maßstäben der Machtstellung gemessen eine wirkliche Großmacht. Ihre Grenzen umfaßten ein größeres Gebiet als das vereinigte Deutschland, ihre Bevölkerungszahl war höher als die Englands oder Frankreichs. Die modernen Kennzeichen der Macht gestalteten sich aber keineswegs so günstig. Ende des 19. Jahrhunderts konnte sich eine dauernde und intensive internationale Aktivität ausschließlich auf der Grundlage einer an der Weltproduktion in bedeutendem Ausmaß beteiligten, industrialisierten Volkswirtschaft entwickeln. Die Monarchie kam diesem Maßstab nicht einmal nahe. Seit dem Ausgleich hatte sich zweifellos eine bedeutende Entwicklung vollzogen, jedoch nur gegenüber dem Ausgangs¬ niveau; im Vergleich mit anderen Ländern war eher eine Verschlechterung zu verzeichnen. Die Vergleichszahlen der Pro-Kopf-Produktion waren Ende des Jahrhunderts ungünstiger als um die Mitte des Jahrhunderts. In der Industrie betrug sie beispielsweise in Deutsch-Österreich Mitte des Jahrhunderts noch drei Viertel von jener in Deutschland, am Ende des Jahrhunderts nur noch kaum die Hälfte. Beim Vergleich der Gesamtmonarchie mit Deutschland war die Differenz zu Lasten der ersteren noch größer. Und das verhältnismäßig niedrige Niveau der Pro-Kopf-Produktion vermochten auch die sich aus den mächtigen Dimensionen ergebenden globalen Zahlen nicht auszugleichen, wie dies in Rußland der Fall war. Die Monarchie war an der Weltindustrieproduktion auch am Ende des Jahrhunderts nur in einem unbedeutenden Ausmaß beteiligt. Der gerade den inneren Akkumulationsbedarf befriedigende österreichisch-ungari¬ sche Kapitalismus erzeugte noch keinen nennenswerten Kapitalüberschuß, wes¬ halb die Monarchie nach wie vor keinen für die moderne außenpolitische Aktivität unerläßlichen Kapitalexport verwirklichen konnte. Da sie sich müh¬ sam auf ein agrarisch-industrielles Niveau hinaufgearbeitet hatte, galt sie unter den Industriemächten fast als Entwicklungsland, und weil sie mit ihnen nicht Schritt halten konnte, verlor sie viel von ihrer Machtstellung. Die Disharmonie der nationalen und Staatsinteressen sowie die zurückgegan¬ gene Machtposition hätten sich weniger fühlbar ausgewirkt, wenn sich die Monarchie auf einer einsamen Insel oder an der Peripherie Europas befunden 2 GMR V. 29. 11. 1901. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates 1896-1907, 271. || || 12 Einleitung hätte. Ihre geopolitische Lage war aber alles eher als günstig, vor allem infolge der ganz spezifischen Verteilung der in der Monarchie lebenden Nationalitäten. Von den elf Nationen der Monarchie lebten nur fünf insgesamt oder mit dem größeren Teil ihres ethnischen Bestandes innerhalb der Grenzen des Reiches: Ungarn, Tschechen, Slowaken, Slowenen und Kroaten. Die übrigen - Deutsch¬ österreicher, Polen, Ukrainer, Rumänen, Serben und Italiener - gehörten zur ethnischen Gemeinschaft der benachbarten Nationalstaaten oder multinationa¬ len Reiche. Die Grenzen durchschnitten kompakte ethnische Einheiten in der Weise, daß der größere Teil des ethnischen Bestandes sich jenseits der Grenzen befand. Welche Folgen eine derartige Situation im Jahrhundert des Nationalis¬ mus haben kann, das zeigte schon der deutsche und italienische Vereinigungs¬ prozeß, als Österreich aus Deutschland verdrängt wurde und die Lombardei und Venetien verlor. Die umgebenden Staaten waren freilich durch ihre Interes¬ sen gewissermaßen mit der Monarchie verbunden. Serbien und Rumänien erhofften sich Unterstützung gegen die türkische bzw. russische Bedrohung, Deutschland erblickte in ihr seinen zukünftigen und später tatsächlichen Ver¬ bündeten, Rußland aber verband samt Deutschland die sich aus der gemeinsa¬ men Aufteilung Polens ergebende Interessengemeinschaft mit der Monarchie. Was die Dauerhaftigkeit dieser Bande betrifft, vermochte sich niemand in eine Prophetie einzulassen, daß sie sich aber nicht kräftigten, sondern vielmehr schwächten, das bewiesen die selbst die Regierungsebene erreichende italieni¬ sche Irredenta sowie die gegen die Monarchie gerichteten wiederholten serbi¬ schen und rumänischen Pressekampagnen. Als der österreichische Ministerprä¬ sident Taaffe 1883 anläßlich de Trauerfeierlichkeiten zu Wagners Begräbnis dem Herrscher darüber Bericht erstattete, daß eine vieltausendköpfige Menge Bismarck und Moltke hochleben ließ, war er trotz der wiederholten Beruhigun¬ gen aus Berlin gewiß nicht grundlos besorgt.3 Und unabhängig davon, ob deren Interessen die umgebenden Staaten nun kräftig oder schwach mit der Monar¬ chie verbanden, lag die Gefahr in der Situation selbst verborgen. Die mögliche Staatenbildung an den Grenzen der Monarchie nach italienischem Muster berührte infolge der spezifischen ethnischen Verteilung die lebenswichtigen Gebiete des multinationalen Staatsgebildes und setzte damit seine Existenz aufs Spiel. Die geopolitische Lage der Monarchie war auch unabhängig von der drohen¬ den Bildung von Nationalstaaten außerordentlich ungünstig. Von ihren acht Nachbarn waren nur vier kleine Länder: Rumänien, Serbien, Montenegro und die Schweiz; vier hingegen - Rußland, Deutschland, Italien und die Türkei - galten als Großmächte. Theoretisch ist freilich auch eine schwache Nachbar¬ schaft nicht eindeutig günstig, können doch die angrenzenden Kleinstaaten unter den Einfluß expansiver Mächte geraten und dadurch die Gefährdung steigern. Die Nachbarschaft von Großmächten hingegen ist mit der Gefahr selbst identisch, in dieser Beziehung verursachte allein die mit einer inneren Krise kämpfende Türkei keine Sorgen, sie war nicht nur unfähig zur Expansion, 3 Taaffe an Kaiser Franz Joseph v. 11. 3. 1883, HHStA, Kab. A., Geheimakten, Karton 19. || || Einleitung 13 sondern sogar zur Selbstverteidigung. Demgegenüber stellte Italien, das 1890 30 Millionen Einwohner zählte und über eine mobilisierbare Armee von nahezu 2 Millionen Mann verfügte, schon eine ernste Gefahr dar, vorerst allerdings nur, wenn es zum Verbündeten einer gegen die Monarchie auftretenden Großmacht würde. Die beiden benachbarten Großmächte, Deutschland und Rußland, waren demgegenüber jede für sich um das Vielfache stärker als die Monarchie! Deutschland mit seinen 50 Millionen Einwohnern verfügte über ein mobilisier¬ bares Heer von fast 3 Millionen und Rußland mit 100 Millionen Einwohnern über ein solches von fast 4 Millionen. Demgegenüber vermochte die Monarchie mit ihren 40 Millionen Einwohnern nur ein Heer von weniger als 2 Millionen zu mobilisieren. Darüber hinaus verfügte Deutschland über ein größeres Indu¬ striepotential und eine höher entwickelte Infrastruktur. Aber dank der Eisen¬ bahnbauten in den 70er und 80er Jahren war auch Rußland in der Lage, seine größere Streitmacht rascher als die Monarchie zu konzentrieren.4 Dabei machte sich Rußland die sich aus seiner gewaltigen Bevölkerung ergebenden Möglich¬ keiten noch nicht völlig zunutze. Laut Berechnungen des österreichisch-ungari¬ schen Generalstabschefs erreichte Rußland seine Kriegsstärke von fast 4 Millio¬ nen durch Inanspruchnahme von 3,8% seiner Gesamtbevölkerung, Deutschland nahm für den gleichen Zweck 6,5% und Frankreich 10,4% der Bevölkerung in Anspruch.5 Es war vorauszusehen, daß die begonnene Modernisierung die Kriegsstärke der russischen Armee innerhalb kurzer Zeit verdoppeln würde. Ungeachtet dessen war nichts davon zu bemerken, daß die angrenzende Gro߬ macht die Absicht hätte, ihr bedrückendes Übergewicht der Monarchie gegen¬ über geltend zu machen. Im Gegenteil, beide Mächte hielten die Aufrechterhal¬ tung der Monarchie und ihrer Großmachtstellung für notwendig - Bismarck teils gezwungen, teils aus Berechnung. Der Kanzler erklärte bereits 1867, daß eine durch die Annektierung österreichischer Gebiete erzielte Gebietsvergröße- rung für Preußen das größte Unglück wäre,6 gegen eine französische Revanche wegen der Annektierung von Elsaß-Lothringen aber hielt er das Dreikaiser¬ bündnis für die beste Garantie.7 Auch war ihm klar, daß die Existenz der Monarchie Deutschland größere Bewegungsfreiheit gegenüber einem allzu star¬ ken Rußland sichere. Die Gesichtspunkte und Motive der zaristischen Außen¬ politik gegenüber der Monarchie wurden nicht so klar formuliert. Daß für Rußland die Existenz der Monarchie, und gerade die in einer dualistischen staatsrechtlichen Form bestehenden Monarchie, nicht ohne Nutzen sei, hat man wiederholt zum Ausdruck gebracht. Der Dualismus war eine Garantie gegen¬ über dem Föderalismus, der auch die polnischen Interessen Rußlands verletzt 4 K. k. Chef des Generalstabes. Memoire betreffend den Ausbau des Eisenbahnnetzes zur Be¬ schleunigung des Aufmarsches der Armee im Kriegsfall gegen Rußland August 1887 KA. MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 12. 5 Denkschrift über die allgemeinen militärischen Verhältnisse Ende 1882 mit einem Anhänge Darstellung der russischen Kriegsvorbereitungen seit dem Jahre 1886. Zum reservierten Dienst- gebrauche als Manuskript gedruckt, 38-41, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 90 Nr 3 Die auswärtige Politik Preussens 1858-1871 Bd. VIII, 547-548. 7 Bismarck, Die gesammelten Werke 6/b, 506. || || 14 Einleitung hätte,8 zugleich stellte er infolge seines österreichisch-ungarischen Charakters für die slawischen Bewohner auf dem Balkan keine wirkliche Konkurrenz dar.9 Aber daß man in Petersburg überhaupt am Bestehen der Monarchie festhielt, das entsprang in erster Linie einem Unsicherheitsgefühl. Gortschakow erklärte 1864, daß Rußland durch die Existenz Österreichs vor der anarchistischen Unruhe geschützt werde.10 Alexander II. aber äußerte 1870 im Gespräch mit dem österreichisch-ungarischen Gesandten Chotek über die Türkei, daß diese für sie eine gelöste Chiffre sei, aber alles, was nachher folge, neuerliche Kompli¬ kationen in sich berge." Diese Worte bezogen sich wahrscheinlich auch auf Österreich. Das durch die Auflösung der Monarchie entstehende Vakuum vermochten nur zwei Großmächte auszufüllen: Deutschland oder Rußland. Aus russischer Sicht wäre ersteres zu gefährlich gewesen, letzteres aber hätte ein solches Risiko bedeutet, das Rußland damals noch nicht auf sich nehmen wollte. - Es bestand also weder in Berlin noch in Petersburg die Absicht, das erdrückende Übergewicht gegen die Monarchie geltend zu machen. Die zwi¬ schenstaatlichen Beziehungen werden letztlich aber nicht von den Absichten, sondern den Fähigkeiten gestaltet. Und daß sowohl Deutschland wie auch Rußland fähig waren, die Monarchie zu vernichten, konnte im letzten Drittel des Jahrhunderts in Österreich niemand mehr bezweifeln. Die außenpolitische Strategie: die Verteidigung gegenüber Rußland und die Expansion auf dem Balkan In jenen anderthalb Jahrzehnten zwischen 1881 und 1895, als Graf Gustav Kälnoky am Schreibtisch Metternichs saß, waren die äußeren Umstände der Monarchie im wesentlichen die gleichen wie zu Beginn der 70er Jahre, als die außenpolitische Strategie ausgearbeitet wurde. Man mußte nach wie vor mit der benachbarten Großmacht, mit dem drohenden russischen Übergewicht, sowie damit rechnen, daß an den südöstlichen Grenzen eine nationale Staatenbildung vor sich gehen könne, die zahlreiche Unsicherheitsfaktoren in sich barg. Für die Anwendung der außenpolitischen Strategie standen schon reichlich positive und negative Erfahrungen zur Verfügung. Die Gedanken der Entscheidungsträger drehten sich in diesen Jahren, gleichsam als adäquate Widerspiegelung der Situation, fast ausschließlich um Rußland. Früher hatte Rußland nur Andrässy Tag und Nacht beschäftigt, jetzt belastete der Koloß im Norden das Bewußtsein aller. Nun bekannten sie einmütig, daß die Bedrohung nur von Rußland ausge¬ hen könne, höchstens die Motivation war unterschiedlich. Andrässy meinte, die russische Politik sei traditionell expansiv, also unabhängig von der Person des 8 Novicow ä Westman, le llj24 octobre 1871, AVPR., Fond Kanceljarija, 1871, d. 121. 9 Novicow ä Westman, le 16/28 octobre 1871, AVPR., Fond Kanceljarija, 1871, d. 121. 10 Platzhoff, Die Anfänge des Dreikaiserbundes 283 ff. " Conversation du Comte Chotek avec S. M. de toutes les Russies ä Peterhof, le 14 aoüt 1870, HHStA., PA. X, Karton 62. || || Einleitung 15 Zaren, Franz Joseph hingegen leitete die mögliche russische Aggression - seiner konservativen Ideenwelt entsprechend - von etwaigen inneren Veränderungen ab. Er befürchtete schon 1876, daß sich der Krieg gegen die Türkei dadurch, daß der Zar übergangen worden sei, in einen slawischen Revolutionskrieg verwandeln könnte.^ Als dann Alexander II. das Opfer eines Attentats wurde, sah er seine Besorgnis bestätigt. Im Sommer 1884 schrieb er seinem Außenmini¬ ster, sein Mißtrauen gegenüber den russischen inneren Verhältnissen wurzele so tief, daß er einer Dauerhaftigkeit der friedlichen Verhältnisse nicht traue.13 Der Generalstabschef Feldmarschalleutnant Beck war über das russische militäri¬ sche Übergewicht besorgt. Im Kriegsfall konnte Rußland doppelt so viele Divisionen marschbereit machen wie die Monarchie, und dies stellte letztere vor fast unlösbare Aufgaben. Der Generalstabschef gab der Monarchie im Falle einer militärischen Konfrontation keinerlei Chance. Selbst eine noch so ausge¬ zeichnete und gut geführte Armee würde -- schrieb er in einem seiner zahlreichen Situationsberichte -- bei solchen Kräfteverhältnissen schließlich doch unterlie¬ gen.14 Der ungarische Ministerpräsident Kaiman Tisza wurde vom gleichen Verdacht und von der gleichen Sorge gequält wie Andrässy, von der Zwangsvor¬ stellung einer russischen Expansion und dem die Monarchie umgebenden slawi¬ schen Ring.15 Er machte so wenig Hehl aus seiner Ansicht, daß er 1884 im ungarischen Parlament einen ausgesprochen russenfeindlichen Adreßentwurf verabschieden ließ, an dem er trotz vorheriger Verwahrung des gemeinsamen Außenministers nicht bereit war, etwas zu ändern.16 Der gemeinsame Außenmi¬ nister Kälnoky teilte die aus konservativen Wurzeln genährte Sorge des Monar¬ chen, aber ihn, der als Botschafter zwei Jahre in Petersburg verbrachte, beein- druckten besonders die russischen Dimensionen und Ambitionen. Er gewann die Überzeugung, Rußland sei unermeßlich groß, seine Kraftquellen seien uner¬ schöpflich und die Russen von einer uferlosen Herrschersucht und einem gren¬ zenlosen Glauben an die Zukunft getrieben.17 Aufgrund seiner in Petersburg gewonnenen Eindrücke hielt er einen eventuellen Krieg mit Rußland für das größte Unglück. Die aus unterschiedlichen Wurzeln genährte Angst vor dem zaristischen Rußland führte auch in den 80er Jahren nicht dazu, daß man in Wien von den Großmachtambitionen Abstand genommen und auf die Möglichkeiten auf dem Balkan verzichtet hätte. Zudem war es schließlich doch nicht gelungen, Bosnien- Herzegowina zu annektieren, die österreichisch-ungarischen Truppen konnten sich nur unter dem Titel einer unbefristeten Okkupation in den beiden Balkan- 17 Diöszegi, Die Außenpolitik der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 334. 3 Kaiser Franz Joseph an Graf Kälnoky v. 26. 7. 1884, HHStA., PA. I, Karton 460. Über die militärisch-politische Lage v. 1. 12. 1886. Beck FZM., KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 29. 15 GMR. v. 24. 2. 1878, HHStA., PA. LX, Karton 290. Telegramm in Ziffern an den kgl. ung. Ministerpräsidenten von Tisza v. 12. 10. 1884, HHStA., PA. I, Karton 471 - Telegramm des Ministerpräsidenten von Tisza v. 13. 10. 1884, ebd. Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 61 bzw. 66. || || 16 Einleitung Provinzen aufhalten. In den führenden Kreisen war man sich darüber einig, daß die Einverleibung früher oder später erfolgen müsse, und das hätte eine Gebiets¬ vergrößerung bedeutet, selbst wenn man die Annexion in die Fiktion der Recht¬ mäßigkeit gehüllt hätte.18 Die Ambitionen beschränkten sich auch nicht auf die Annexion. Die Idee eines Vordringens bis zum Ägäischen Meer, die in den 70er Jahren formuliert wurde, war im Denken der militärischen Kreise, einem unte¬ rirdischen Gewässer gleich, weiterhin lebendig und trat bei gegebener Gelegen¬ heit auch an die Oberfläche.19 Kälnoky stimmte diesen extremen Ansichten nicht bei. Die Idee eines Vordringens bis Saloniki hielt er noch viele Jahre lang für ebenso undurchführbar wie gefährlich.20 Der Gedanke eines schrittweisen Vor¬ dringens war aber auch ihm nicht fremd, und dabei hatte Serbien für ihn eine Schlüsselstellung. Noch als Botschafter in Petersburg schrieb er, daß die Monar¬ chie sich ihrer Stellung auf dem Balkan nur dann sicher sein könne, wenn sie Serbien unter ihre Herrschaft bringe.21 Und als zu Beginn seiner Amtszeit als Außenminister das Memorandum fertiggestellt wurde, das die Aufgaben der Ostpolitik beschreibt, finden sich darin die schon aus den 70er Jahren wohlbe¬ kannten Gedanken wieder, da die Monarchie ihre Stellung in Deutschland verloren habe und auch Italien weiterhin nicht mehr das Ventil für eine westeu¬ ropäische Expansion sein könne, bleibe nur der Osten übrig. Die Monarchie könne es nicht dulden, daß man ihr den natürlichen Weg einer Expansion versperrt.22 Die Mittel der Außenpolitik: die Bündnispolitik und die bewaffnete Macht Die zum Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre ausgebauten Bündnisbe¬ ziehungen sollten der Monarchie, unter Berücksichtigung der nicht ausreichen¬ den inneren Kraft, ihre außenpolitischen Ziele zu erreichen helfen. Da sich aber die Monarchie bei den Abschlüssen ihrer Verträge nicht in einer starken Posi¬ tion befand, enthielten diese zahlreiche innere Widersprüche, förderten die Expansion keineswegs und dienten auch der Verteidigung nur zum Teil. Der Zweibund enthielt den Casus foederis für den Fall eines österreichisch-ungari- schen-russischen Balkankonfliktes nicht, und im Dreibund erwiderte man italie- nischerseits die durch Österreich-Ungarn in Aussicht gestellte bewaffnete Hilfe¬ leistungsverpflichtung nur mit der Neutralität. Dessenungeachtet maß man in Wien den Bündnisbeziehungen, namentlich aber dem Vertragsverhältnis mit 18 Kälnoky an Kaiser Franz Joseph v. 22. 10. 1884^ HHStA., PA. I, Karton 471. 19 Beiträge zur Klarstellung der bei einer etwaigen Änderung des Status quo auf der Balkanhalbin¬ sel in Betracht zu ziehenden Verhältnisse v. 14. 4. 1897, HHStA., PA. I, Karton 474. 20 Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 57. 21 Kälnoky an Haymerle v. 7. 9. 1880, HHStA., PA. I, Karton 455. - Aehrenthal legte das so aus, daß Kälnoky die Annektierung von Serbien wünschte. Denkschrift des Freiherrn von Aehrenthal. September 1895, HHStA., PA. I., Karton 461. 22 Denkschrift des Grafen Teschenberg über die Orientpolitik Österreich-Ungarns. Darlegung der gegenwärtigen Situation v. 2. 9. 1884, HHStA., PA. I, Karton 469. || || Einleitung 17 Deutschland, außerordentliche Bedeutung bei, Kälnoky erblickte im engen Bündnis mit Deutschland jenen Rückhalt, ohne den er es für unvorstellbar hielt, daß die Monarchie überhaupt gegen Rußland bestehen könne.23 Es ist daher natürlich, daß, als sich Deutschland geneigt zeigte, den Zweibund zu erneuern, dies von Österreich-Ungarn mit Freuden aufgenommen wurde und es am \2. März 1883 zu einer Verlängerung des Vertrages auf weitere fünf Jahre kam.24 Die Monarchie schloß jedoch nicht nur ein Schutzbündnis, sondern war schon auf deutschen Druck im Jahr 1881 auch mit dem großen Rivalen, Rußland, eine Vertragspartnerschaft eingegangen. Haymerle zögerte damals, diesen Vertrag zu unterzeichnen, aber schließlich tat er es doch, in der Hoffnung, daß die Monarchie als Gegenleistung für den im nordöstlichen Teil der Balkanhalbinsel entstandenen russischen Einfluß im südwestlichen Teil der Halbinsel freie Hand bekommen werde.25 Die Ostrumelien und Bosnien-Herzegowina betreffenden Paragraphen des Vertrages von 1881 richteten sich tatsächlich auf die Begren¬ zung der Interessensphären.26 Kälnoky maß Verhandlungen eine andere Bedeu¬ tung bei. Schon als Petersburger Botschafter schrieb er an Haymerle, gegenüber Rußland gebe es allein die Alternative, entweder mit ihm zu verhandeln oder es nach Asien zurückzudrängen. Da letzteres gar nicht in Betracht kommen konnte, blieb seines Erachtens nichts anderes übrig als eine Vereinbarung, welche die östlichen Interessen der Monarchie gewährleistete und die Gefahr eines Krieges in Grenzen hielt.27 Als die Frist des für drei Jahre abgeschlossenen Dreikaiserbündnisses ablief und beide Partner dessen Erneuerung beantragten, nahm er das Angebot deshalb wieder günstig auf, weil er in diesem Vertrag eine relative Garantie für die Monarchie erblickte.28 Am halsbrecherischen Unter¬ nehmen einer Abgrenzung der Interessensphären - wie er sich ausdrückte - wollte er sich nicht als Partner beteiligen.29 Es liege nicht im Interesse der Monarchie, den Zerfall der Türkei zu beschleunigen, und im übrigen zeigten die Erfahrungen, daß Rußland die übernommenen Pflichten nicht immer einhalte.30 Das Dreikaiserbündnis wurde schließlich am 27. März 1884 in im wesentlichen unveränderter Form erneuert.31 Die Möglichkeit eines Positionsgewinnes auf dem Balkan ließ freilich auch den in Kategorien der Großmachtpolitik denken¬ den Außenminister nicht völlig kalt. Die Möglichkeit einer Vereinbarung über die österreichisch-ungarischen und die russischen Interessensphären, an der Deutschland nur als Garantiepartei teilnehmen würde, erwog er im späteren wiederholt.32 23 Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 63. Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879-1914 28-29 Die grosse Politik III, 149. 26 Pribram, Die politischen Geheimverträge 14. 27 Kälnoky an Haymerle v. 18. 2. 1881, HHStA., PA. I, Karton 456 Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 591. 29 Ebd. 597. 30 Ebd. 605. 31 Pribram, Die politischen Geheimverträge 35-36. 32 Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 637. || || 18 Einleitung Das zu Beginn der 80er Jahre entstehende Bündnissystem trug zweifellos viel zur Sicherheitsgarantie der Monarchie bei. In Wien führte es aber keineswegs zu einem Gefühl der Beruhigung. Es ist ein Dilemma jedes Bündnisvertrages, ob die Vertragspartner gegebenenfalls die übernommenen Verpflichtungen ein- halten werden, und dieses Dilemma war in der Monarchie stärker als anderswo. Ein Gefühl vollkommener Sicherheit vermochte nur das Bewußtsein der eigenen Stärke zu erwecken. Und diese Stärke konnte die rechte Hand der Außenpolitik, die bewaffnete Macht, sein. Im militärischen Denken standen im vorigen Jahr¬ hundert - in Adaptierung der napoleonischen Grundsätze - zwei Gesichtspunk¬ te im Vordergrund: die Truppenstärke und die Beweglichkeit. Gegen Rußland erstere einzusetzen, dazu gab es eigentlich keine Möglichkeit. Dies verhinderte bereits die gegenüber Rußland viel geringere Bevölkerungszahl der Monarchie, aber auch das Wehrgesetz, das durch Begrenzung des Kriegsstandes die konse¬ quente Durchsetzung der allgemeinen Wehrpflicht erschwerte. Unter solchen Bedingungen war es jedoch keineswegs gleichgültig, ob man im eventuellen Krieg den entsprechenden Kriegsstand würde halten und die Verluste ersetzen können. Das war nur möglich, wenn entsprechend ausgebildete Reserven zur Verfügung stünden, und laut Berechnungen des Generalstabs gab es in dieser Beziehung schwere Mängel: Ein erheblicher Teil der Wehrpflichtigen hatte keine Ausbildung genossen, die kurze Zeit der Wehrpflicht aber beraubte die Armee eines wertvollen Teiles der noch wehrfähigen männlichen Bevölkerung. Zu Beginn der 80er Jahre wurden bedeutende Kraftanstrengungen zur Behe¬ bung dieser Mängel unternommen. Man beabsichtigte, die im Wehrgesetz enthaltenen verschiedenen Freistellungen einzuschränken und neue Muste¬ rungsnormen anzuwenden.33 Um den Kreis der Reservisten zu erhöhen, sollte der Landsturm per Gesetz institutionalisiert werden, was zur Verlängerung der Wehrpflicht um zehn Jahre geführt hätte.34 Zwar herrschte im Kreise der militä¬ rischen Führung über die geplanten Maßnahmen nicht völliges Einvernehmen, und auch von seiten der Regierungen war mit dem Widerstand staatsrechtlichen Charakters zu rechnen, dennoch näherten sich die Vorstellungen der Verwirkli¬ chung. Der tatsächliche Trumpf gegenüber Rußland war freilich nicht die Truppen¬ stärke, sondern die Beweglichkeit. Die militärische Führung Österreich- Ungarns sah in einem Krieg gegen Rußland nur dann eine Chance für die Monarchie, wenn sie rascher mobilisieren und mit ihren Einheiten den Kriegsschauplatz erreichen konnte, noch bevor Rußland seine vielfache Über¬ macht zur Geltung brachte. Anfang der 80er Jahre konzentrierte sich der Generalstab dementsprechend darauf, die Bedingungen der Mobilisierung und des strategischen Aufmarsches zu verbessern. Zwischen 1881 und 1883 be- 33 Memoire über die ungünstigen Verhältnisse der Ergänzung der bei der mobilen Armee entste¬ henden Abgänge, dann über die zu diesem Zwecke höchst wünschenswerten Verbesserungen des Wehrgesetzes und der Durchführungsbestimmungen zu demselben. (Ohne Datum, vermut¬ lich Mai 1885), KA., MKSM. 20-1/10-3 de 1885. 34 Landsturmfrage v. Dezember 1883. Popp GM., KA., MKSM. 20-1/1-2 de 1883. || || Einleitung 19 kämpfte er den nicht unbedeutenden konservativen Widerstand innerhalb der Armee und setzte im System der Heeresergänzung die Anwendung des moder¬ nen Territorialprinzips durch. Die Rekruten und im Mobilisierungsfall die Reservisten mußten von da an nicht zu den „Nationalregimentern", sondern zu der ihrem Wohnort nächstgelegenen Einheit einrücken.35 Die Anwendung des Territorialprinzips verkürzte die Mobilisierungsdauer um drei bis fünf Tage. In der österreichisch-ungarischen Militärdoktrin stand seit dem Zeitpunkt, als die Möglichkeit eines Krieges gegen Rußland aufgetaucht war, stets die strategische Offensive im Vordergrund. So war es auch 1872, als die russenfeind¬ liche außenpolitische Strategie erarbeitet wurde,36 1876, als man mit der Mög¬ lichkeit eines russischen Krieges rechnete,37 und auch 1878, als wegen des russischen Vertragsbruches die Chancen eines Krieges erwogen wurden.38 Die österreichisch-ungarische strategische Planung hielt auch zu Beginn der 80er Jahre am Grundsatz einer strategischen Offensive fest,39 aber teils wegen der zu erwartenden mehrseitigen Inanspruchnahme der Wehrmacht (die sich aus einem eventuellen italienischen Angriff und aus den Unruhen auf dem Balkan ergeben könnte), teils wegen der raschen Aufstockung der russischen Streitmacht40 tauchten damals auch defensive Vorstellungen auf. Der im September 1881 erstellte Aufmarschplan legte den Nachdruck deshalb auf die Verteidigung Westgaliziens, um das Vordringen der Russen in Richtung Wien zu verhin¬ dern.41 Der Gedanke einer strategischen Offensive gewann seine frühere Bedeu¬ tung wieder, als sich der Standpunkt des deutschen Generalstabs änderte und an der Ostfront eine wesentlich stärkere Beteiligung deutscher Kräfte zu erwar¬ ten war, als bis dahin angenommen. Der deutsche Generalstab rechnete ur¬ sprünglich mit keinem Zweifrontenkrieg, er gedachte seine Hauptkräfte gegen Frankreich einzusetzen und sich an der Ostfront defensiv zu verhalten. Moltke und Waldersee beurteilten die Lage jetzt so, daß die forcierte Entwicklung der russischen Armee die Vorteile, die sich aus der rascheren Mobilmachung des deutschen Heeres ergeben, in wenigen Jahren zunichte machen könnte, daher wollten sie in Änderung der ursprünglichen Reihenfolge an der Ostfront größere Kräfte einsetzen, ja befaßten sich sogar mit dem Gedanken eines Präventivkrie¬ ges, um der russischen militärischen Übermacht zuvorzukommen.42 Der öster¬ reichisch-ungarische Generalstabschef Beck erhielt im Sommer 1882 Kenntnis von der neueren deutschen strategischen Konzeption43 und beantragte in mehre¬ ren Memoranden die Abänderung des österreichisch-ungarischen Aufmarsch- 35 HlavaC, Die Armeeorganisation der Jahre 1881-1883 238-275. 36 Lutz, Politik und militärische Planung in Österreich-Ungarn 35. 37 Diöszegi, Die Außenpolitik der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 339. 38 Kurzgefaßtes Resümee der am 15. Jänner 1878 unter Ah. Vorsitze stattgehabten Konferenz, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 70, Nr. 39. 39 Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 199. Zajontschkowskij, Vojennüje reformü 1860-1870 godov v Rossii 352. Aufmarschelaborat für den Kriegsfall mit Rußland, KA., MKSM. 69-3/1 ex 1881. Canis, Bismarck und Waldersee 85. Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 211. || || 20 Einleitung planes. In diesen handelte es sich wieder um den raschen Aufmarsch und eine strategische Offensive.44 Die Grundprinzipien genehmigte der Monarch Anfang Januar 1883, dementsprechend erstellte der Generalstabschef im April 1883 das endgültige Elaborat, in dem unter anderem festgelegt wurde, daß am dreißigsten Tag der Mobilisierung alle drei österreichisch-ungarischen Armeen zur Aufnah¬ me der Kriegshandlungen bereit sein müßten.45 Dies alles brachte natürlich nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Wünsche zum Ausdruck. Damit der Aufmarsch tatsächlich rechtzeitig erfolgen und die drei Armeen wirklich kampf¬ bereit sein konnten, mußten noch zahlreiche Bedingungen erfüllt werden. Der Generalstabschef bezeichnete den weiteren Ausbau der nach Nordosten führen¬ den strategischen Eisenbahnlinien, die Sicherstellung des Pferdebestandes und der Gespanne als die wichtigsten Aufgaben. Die Verwirklichung der Vorschläge gehörte nicht mehr zum militärischen, sondern zum politischen Aufgabenbe¬ reich und war unter den gegebenen staatsrechtlichen Verhältnissen kein leicht zu lösendes Problem. Ein Teil der Vorschläge wurde dessenungeachtet fortlau¬ fend realisiert, und Mitte der 80er Jahre konnte der österreichisch-ungarische Generalstab schon mit größerer Zuversicht einem stets befürchteten östlichen Krieg entgegenschauen. Die bulgarische Krise In den Beziehungen zwischen der Monarchie und Rußland kam nicht zum Ausdruck, daß man in Wien Rußland als potentiellen Feind betrachtete und der gesamte Staatsapparat in den Dienst der Erfordernisse eines möglichen Krieges gegen Rußland gestellt wurde. Anläßlich der Erneuerung des Dreikaiserbünd- nisses stattete Franz Joseph 1884 einen Besuch in Rußland ab, den Alexander III. mit einem Besuch in Österreich erwiderte. Von beiden Seiten erklangen freundliche Äußerungen über die Vorteile einer auf konservativer Grundlage beruhenden Zusammenarbeit. Obzwar die Besorgnis über die inneren Zustände Rußlands nach wie vor bestand (der Monarch schrieb gerade damals von einem eigenen, tief wurzelnden Mißtrauen)46, verhielt sich auch Kälnoky zu dieser Zusammenarbeit wie Andrässy in den 70er Jahren: er erblickte in ihr ein Mittel zur Vorbeugung von Komplikationen.47 Der wirkliche Prüfstein der Zusam¬ menarbeit war wie in den 70er Jahren, so auch jetzt, der Balkan. Ein Problem ergab sich durch die am 18. September 1885 in revolutionärer Weise erfolgte Vereinigung von Bulgarien und Ostrumelien. Die Lage war viel komplizierter als in den 70er Jahren, als man gegen den unter russischem Einfluß stehenden „großen südslawischen Staat" auftreten mußte. Jetzt aber war die 44 Umarbeitung des Aufmarschelaborates für den Kriegsfall gegen Rußland. Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 21. 12. 1882, KA„ MKSM. 69-2/1 ex 1883. 45 Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 29. 4. 1883 hinsichtlich des Aufmarschelaborates für den Kriegsfall gegen Rußland, KA., MKSM. 69-2/1-3 ex 1883. 46 Kaiser Franz Joseph an Grafen Kälnoky v. 26. 7. 1884, HHSxA., PA. I, Karton 460. 47 Rutkowski, Gustav Graf Kalnoky 591. || || Einleitung 21 Monarchie vertraglich dazu verpflichtet, die Union anzuerkennen, falls diese „infolge Kraft der Dinge erfolgte.48 Eine Änderung des im Berliner Vertrag vorgeschriebenen Status cjuo, die slawische Staatenbildung und die Schwächung der türkischen Positionen standen aber auch jetzt nicht auf der Liste der wün¬ schenswerten Entwicklungen. Die bulgarische Union hatte im Gegensatz zu der Situation vor sieben Jahren eine ausgesprochen russenfeindliche Spitze: Die Vereinigung vollzog sich trotz des Verbotes und der Mißbilligung des Zaren. Letztere sprach wiederum dafür, das „fait accompli" zur Kenntnis zu nehmen, konnte dies doch zum völligen Aufhören des russischen Einflusses auf Bulgarien führen. Die Vergrößerung Bulgariens war hingegen nicht hinzunehmen, ohne daß Serbien, das zur Interessensphäre der Monarchie gehörte, eine territoriale Kompensation erhalte. Im übrigen war die Monarchie zur Unterstützung der serbischen Territorialansprüche vertraglich verpflichtet.49 Solche gegensätzlichen Überlegungen und der Mangel entsprechender Infor¬ mationen erschwerten natürlich eine Entscheidung, und der Monarch selbst hielt die Wiederherstellung des Status quo für ebenso vorstellbar wie die Aner¬ kennung der Union.50 Als aber der Wiener russische Botschafter „den ostrumeli- schen revolutionären Putsch" im Auftrag des Zaren zum offenen Vertragsbruch erklärte und die Wiederherstellung des Status quo als einzig möglichen Ausweg bezeichnete, war die Alternative schon unangebracht: Kälnoky verpflichtete sich an der Seite Rußlands zur Wiederherstellung des Status quo.51 Über die Ursache der Entscheidung bekam der russische Botschafter nur Phrasen vom schlechten Beispiel des Vertragsbruches und vom Ansehen der Mächte zu hören; die wirklichen Motive des gemeinsamen Außenministers lagen jedoch tiefer. Nach wie vor bereitete ihm die Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit Rußland Sorgen. Seinem Bruder schrieb er, für einen ähnlichen Staat wie den ihren sei es ein Glück, wenn er mit Rußland in gutem Verhältnis lebt, ein schlechtes Verhältnis sei ein Unglück und ein Krieg geradewegs eine fürchterli¬ che Kalamität.52 Daraus folgte logischerweise, daß die Angelegenheit der bulga¬ rischen Union dem Verhältnis zu Rußland untergeordnet wurde; wenn der Zarismus restaurieren wollte, mußte man ihm auf diesem Weg folgen. Die Entscheidung stimmte zweifellos mit der außenpolitischen Wertordnung der Monarchie überein, indem die Priorität des russischen Verhältnisses von nie¬ mandem bezweifelt wurde. Ihr Schönheitsfehler war nur, daß sie der benachbar¬ ten Macht, deren Übermacht man so sehr fürchtete, bei der Rückgewinnung ihrer verlorenen Position behilflich war. Andrässy, der die Priorität der russi¬ schen Beziehungen nicht automatisch mit dem guten Verhältnis zu Rußland gleichsetzte, gelangte zu einer völlig anderen Konklusion und war der Meinung, Pribram, Die politischen Geheimverträge 14 49 Ebd. 20. 50 Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 284-295. ?^iZ,ZLZWeier Unterredungen des Grafen Kälnoky mit dem Fürsten Lobanow v. 10. und 11. J2 D. 1885, HHStA., Kab. A., Geheimakten, Karton 19. Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 332. || || 22 Einleitung daß man sich im Konflikt zwischen Rußland und Bulgarien entschieden auf die Seite des letzteren stellen müsse.53 Sehr bald erwies es sich jedoch, daß die Erklärung der von Furcht geleiteten österreichisch-ungarischen Kooperationsbereitschaft allein zur Sicherung der Harmonie zwischen den beiden Mächten nicht ausreichte. Das ungeduldige Serbien griff im November 1885 Bulgarien an, und nachdem es eine schwere Niederlage erlitten hatte, verhinderte nur eine österreichisch-ungarische diplo¬ matische Intervention die Besetzung Belgrads. In Wien war man der Meinung, daß man eine Zertrümmerung des Schützlings Serbien nicht zulassen dürfe - eine an sich wohl logische Vorstellung, die aber mit der Hauptzielsetzung, der Zusammenarbeit mit Rußland, nicht harmonierte. Selbstverständlich rief das einseitige österreichisch-ungarische Vorgehen in Rußland Kränkung und Zorn hervor, zumal die in Aussicht gestellte österreichisch-ungarische Unterstützung Rußland letztlich gar nichts nützte. Umsonst erklärte die Botschafterkonferenz von Konstantinopel die Union für nichtig, niemand vermochte dem Beschluß Geltung zu verschaffen, und schließlich war der Zar gezwungen zuzustimmen, daß der Sultan im April 1886 den bulgarischen Fürsten zum Regenten von Ostrumelien ernennt. Diese Zustimmung dürfte aber nur eine scheinbare gewe¬ sen sein. Die einstige Befreiungsmacht Rußland konnte und wollte nicht aner¬ kennen, daß in Bulgarien nicht ihr Wille zur Geltung komme. Im August 1886 stürzten russenfreundliche bulgarische Offiziere Alexander Battenberg, und im September erschien ein russischer General in Sofia, um Ordnung zu machen. Kälnoky war im Interesse der weiteren Zusammenarbeit mit Rußland geneigt, dem Zarismus auch bei diesen groben Aktionen zu assistieren, doch sah er sich gezwungen, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten. Die russischen Aktionen in Bulgarien verursachten im ungarischen Parlament große Aufregung,54 und Kalman Tisza erklärte in Beantwortung der Interpellationen, daß er eine Poli¬ tik, die auf die russische Besetzung Bulgariens gerichtet sei, nicht vertreten könne.55 Für Kälnoky wurde die innere Situation kritisch. Noch im Jahr 1880 hatte Andrässy gegen eine Erneuerung des russischen Bündnisses argumentiert und Haymerle mitgeteilt, zur Zeit des russisch-türkischen Krieges habe es ihm übermenschliche Anstrengungen gekostet, die Zusammenarbeit mit Rußland aufrechtzuerhalten, obwohl er, als Ungar, nicht verdächtigt werden konnte, eine russische Politik zu betreiben. Er fügte noch hinzu, daß es Haymerle, als Deutscher, in einer ähnlichen Lage keine acht Tage hätte aushalten können, und ein Ministerium tschechischer Färbung hätte eine solche Politik keine vierund¬ zwanzig Stunden durchgehalten. Es hätte nämlich den Verdacht nicht abwehren können, die Interessen der Monarchie zugunsten einer rassischen oder Kamaril¬ la-Politik aufgeopfert zu haben.56 Kälnokys Lage war im September 1886 53 Andrässy an Kaiser Franz Joseph v. 24. 11. 1885, HHStA., Kab. A., Geheimakten, Karton 18. 54 Az 1884. EVI SZEPTEMBER HÖ 2I-ERE HIRDETETT ORSZAGGYÜLES KEPVISELÖHAZÄNAK NAPLÖJA 7-11. 55 Dm grosse Politik V., 126-127. 56 Haymerle an Kaiser Franz Joseph v. 21. 2. 1880, HHStA., Kab. A., Geheimakten, Karton 18. || || Einleitung 23 gespenstisch der ähnlich, wie sie Andrässy über ein eventuelles früheres Ministe¬ rium tschechischer Färbung zeichnete. Der einer parlamentarischen Basis und der nationalen Unterstützung entbehrende gemeinsame Außenminister hatte nur die Wahl zwischen Demission57 und einer Änderung der Außenpolitik. Er entschied sich für letztere. Im Budgetausschuß der Delegation erklärte er offen: Eine auch nur vorübergehende russische Okkupation Bulgariens würde eine Verletzung der bestehenden Verträge bedeuten, was die Monarchie nicht dulden würde.58 Der Außenminister versuchte sich freilich auf diplomatischem Wege zu rechtfertigen,59 doch wurde durch alle seine Äußerungen deutlich, daß mit jener Politik, die aus Furcht vor einem Zusammenstoß mit Rußland die Auf¬ rechterhatung des guten Verhältnisses mit diesem um jeden Preis in den Vorder¬ grund stellte, Schluß gemacht wurde. Der Vorfall von 1886 hat die internen Zusammenhänge der außenpolitischen Entscheidungen - unabhängig von den personellen Konsequenzen - von einer neuen Seite beleuchtet. Es erwies sich, daß auch in der multinationalen Monarchie die Außenpolitik nicht auf Dauer das nationale Allgemeinbefinden ignorieren konnte. Die beiden kriegerischen Spannungen Als Kälnoky auf ungarischen Druck hin mit der Politik eines um jeden Preis guten Verhältnisses zu Rußland Schluß machte, strebte er keineswegs einen Konflikt mit der zaristischen Großmacht an. Dem neuernannten österrei¬ chisch-ungarischen Sofioter Generalkonsul sagte er noch im August, daß die Monarchie eine freie und glückliche Entwicklung Bulgariens wünsche, sich aber mit Rußland wegen Bulgariens in keinen Konflikt einlassen werde.60 Aus der Änderung der österreichisch-ungarischen Außenpolitik entstand dennoch ein Konflikt, und zwar von derartiger Intensität, daß auch ein bewaffneter Zusam¬ menstoß der beiden Großmächte auf der Tagesordnung stand. In der über ein Jahr dauernden Krisenperiode war Rußland die initiative Partei, geleitet von einem ziemlich anachronistischen, aber immerhin schwerwiegenden Motiv: der Verletzung des Prestiges. Für die in Bulgarien erlittene Serie von Mißerfolgen mußte auf irgendeine Weise Genugtuung verschafft werden, und es lag auf der Hand, den untreu gewordenen Verbündeten verantwortlich zu machen. Ende 1886 sandten der Petersburger österreichisch-ungarische Botschafter und der Militärattache alarmierende Berichte nach Wien über die gegen die Monarchie gerichteten Kriegsvorbereitungen.61 Prestigeverletzung an sich ist freilich kein ausreichender Grund für den Die Möglichkeit eines auf inneren Druck erfolgenden Abdankungszwanges erwähnte Kälnoky gegenüber dem Wiener russischen Botschafter schon ein Jahr früher. Vgl. Anm. 51. Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 407. 59 Ebd. 408-409. Tagebuch des österreichisch-ungarischen Generalkonsuls in Sofia Istvän Buriän, Eintragung vom 9. 8. 1886. Das Tagebuch befindet sich im Privatbesitz. Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 418. || || 24 Einleitung Beginn eines Krieges. Das laute Säbelgerassel in Petersburg galt auch eher den panslawistischen Kreisen als der Monarchie, man wollte mit dieser Geste die Kritiker der vom Mißerfolg verfolgten bulgarischen Politik besänftigen. In Wien erinnerte man sich aber noch zu gut daran, daß der Zar auch 1877 keinen Krieg gewollt und der exaltierte Patriotismus dennoch dahin geführt hatte, weshalb die alarmierenden Nachrichten aus der russischen Hauptstadt sehr ernst genommen wurden. Die Kriegsgefahr konnte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen. Seit dem Abschluß des Zweibundes galt es in Wien als Axiom, daß man gegen Rußland nur an der Seite Deutschlands Krieg führen könne. Die neuentstandenen deutsch-französischen Spannungen bewogen aber nun den deutschen Generalstab, sich im wesentlichen abermals auf die West¬ grenze zu konzentrieren und im Osten die Monarchie im Grunde im Stich zu lassen. In Erwägung der sich so gestaltenden Kräfteverhältnisse gelangte der österreichisch-ungarische Generalstabschef zu der deprimierenden Folgerung, daß die österreichisch-ungarische Armee gegen die doppelt so starke russische Kriegsmacht unbedingt unterliegen werde.62 Was konnte man tun? Es wäre logisch gewesen, in der für die Monarchie drittrangigen bulgarischen Frage dennoch Rußland nachzugeben. Das wäre aber innenpolitisch nicht nur unmög¬ lich, sondern auch unzweckmäßig gewesen. So sehr das ungarische Veto auch die Ausgestaltung eines aus Machtgesichtspunkten optimalen Verhaltens ver¬ hinderte, kam der vom Allgemeinbefinden isolierten Außenpolitik der plötzlich entstandene nationale Eifer im Endergebnis doch zugute. Aehrenthal, der viel von der nationalen Basis der Außenpolitik hielt, schrieb später, daß die Ungarn in der Krise der 80er Jahre einem feurigen Rosse gleich die Monarchie mit sich gerissen hätten,63 und auch der sich über den Einfluß des Parlaments häufig beklagende Kälnoky gestand ein, daß es ohne die ungarische Unterstützung keine wirksame Außenpolitik gebe.64 Und da ein Zurückweichen nicht mehr möglich war, blieb nichts anderes übrig, als die militärischen und politischen Voraussetzungen eines für das nächste Frühjahr befürchteten Krieges zu verbes¬ sern. Der Generalstabschef beantragte die Einrichtung der jüngst verabschiede¬ ten Landsturm-Institution65 sowie die Einleitung jener Maßnahmen, die den Aufmarsch beschleunigten und die Wirksamkeit der Verteidigung steigerten, und nahm auch die Vorbereitung zur Mobilmachung in Aussicht.66 In der militärischen Konferenz unter Vorsitz des Monarchen wurden die Konzeptio¬ nen des Generalstabschefs gutgeheißen.67 Der gemeinsame Ministerrat gab seine 62 Über die militärisch-politische Lage v. 1. 12. 1886. Beck FML., KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 29. 63 Hantsch, Außenminister Alois Lexa Graf Aerenthal 523. 64 Vgl. Anm. 1. 65 Vorsorgen hinsichtlich des Landsturmes als Vorbereitung für den Krieg mit Rußland v. 11. 12. 1886. Beck FML., KA., MKSM. 20-1/11-2 de 1886. 66 Vorbereitungsmaßnahmen für den Krieg mit Rußland, KA., MKSM. 20-1/12-2 de 1886. 67 Protokoll der am 17. 12. 1886 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät stattgehabten kommissioneilen Beratung überjene Maßnahmen, welche behufs Formation von Landsturmab¬ teilungen im Falle eines im Frühjahre 1887 eingetretenen Krieges, in nächster Zeit zu treffen || || Einleitung 25 Zustimmung zur Beschaffung der benötigten Finanzmittel,68 die die außeror- dentiiche Session der Delegationen im März 1887 verabschiedete.69 Für ver¬ schiedene Zwecke und mit gewissen Vorbehalten wurden dem gemeinsamen Kriegsminister insgesamt 52,5 Millionen Gulden zur Verfügung gestellt, die noch durch die von den Parlamenten der beiden Reichsteile genehmigten Beträ¬ ge in Höhe von 19,5 Millionen Gulden ergänzt wurden.70 Dies war kein unbe¬ deutender Betrag, er machte fast die Hälfte des ordentlichen jährlichen Heeres¬ budgets aus, dennoch änderte er an den Kräfteverhältnissen im wesentlichen nichts. Die Wehrmacht der Monarchie war auch damit kaum größer als die Hälfte der russischen, und die zur Beschleunigung des Aufmarsches aufgewen¬ deten Beträge erhöhten ihre Mobilität nicht wesentlich. An den Kräfteverhält¬ nissen änderte auch die Bündnispolitik nichts. Bei der Erneuerung des Dreibun¬ des im Februar 1887 übernahm die Monarchie die Verantwortung dafür, daß der Status quo auf dem Balkan ohne Zustimmung Italiens nicht geändert würde,71 und dann schloß sie sich dem Übereinkommen Italiens mit England an, das die Bewahrung des Status quo am Mittelmeer proklamierte.72 Diese Bindungen bedeuteten jedoch nicht mehr Divisionen gegen Rußland. So ist es sehr verständlich, daß der besorgte Kälnoky im Mai 1887 die Botschaft nach Petersburg sandte, es sei die unveränderte Absicht der Monarchie, die auf friedlicher und konservativer Grundlage beruhende Bündnispolitik mit Ru߬ land fortzusetzen.73 Dieses Amerbieten hätte aber in Petersburg nur dann einen Wert gehabt, wenn es mit einer Unterstützung der russischen Bestrebungen in Bulgarien emhergegangen wäre. In der russischen Hauptstadt hatte man den Eindruck, daß nach wie vor das Gegenteil der Fall war. Die bulgarische Nationalversamm¬ lung wählte im Sommer 1887 Ferdinand von Coburg zum Fürsten, der bald danach den Thron bestieg. Obwohl Wien mit dieser Wahl tatsächlich nichts zu tun und Ferdinand sogar von der Annahme seiner Wahl abgeraten hatte,74 war man in Petersburg der Meinung, der neue Fürst sei ein Mann Österreichs, was den Zorn über die Monarchie weiter schürte. Ohnehin hatte man die im Laufe des Frühlings getroffenen österreichisch-ungarischen Militärmaßnahmen als Manifestation der russenfeindlichen Angriffsabsicht betrachtet; nun, nach den Ereignissen in Bulgarien, mußte eine Antwort erfolgen. Es kam zu einer Eskala¬ tion, wie sie schon früher und auch später häufig Krisensituationen unsteuerbar wären. KA., MKSM. 20-1/11-2 de 1886. - Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr k u k apost. Majestät am 21. Dezember stattgehabte Konferenz, betreffend „Vorbereitungsmaßnah- men für den Krieg mit Rußland", KA., MKSM. 20-1/12-2 de 1886 68 GMR. v. 5. 1. 1887, RMRZ. 335. 7o Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich IV, 52-54. Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 429. Pribram, Die politischen Geheimverträge 42-43 72 Ebd. 52-53. 73 Kälnoky an Wolkenstein v. 7. 5. 1887, HHSxA., PA. I, Karton 460. Denkschrift des Freiherm von Aehrenthal im Mai-Juni 1895 über die Beziehungen Österreich- Ungarns zu Rußland, HHStA., PA. I, Karton 474. || || 26 Einleitung werden ließ. Der militärische Sektor trat aus seiner politischen Subordination heraus und begann selbständig zu agieren. Der russische Generalstab war sich des Vorteils des österreichisch-ungarischen (und des deutschen) Gegners durch dessen rascheres Mobilisierungstempo bewußt und fürchtete, nach erneuten österreichisch-ungarischen Truppenkonzentrationen in eine noch nachteiligere Lage zu geraten.75 Die Antwort konnte nur eine weitere TruppenVerstärkung sein: Im November 1887 wurde eine Reiterdivision an die galizische Grenze verlegt. Dem österreichisch-ungarischen Generalstab war die marschbereite russische Macht ohnehin schon zu stark, und als noch eine Reiterdivision hinzukam, kam der Generalstabschef zu der Überzeugung, die Russen könnten den österreichisch-ungarischen Aufmarsch leicht verhindern, und dadurch mü߬ te die Monarchie schwere Verluste hinnehmen, noch bevor sie die Kampfhand¬ lungen beginnen könnte.76 Im Gegenzug beantragte auch er, zwei Divisionen nach Galizien zu verlegen. Darauf hätte eine weitere russische TruppenVerstär¬ kung und dieser wieder eine österreichisch-ungarische folgen und schließlich aufgrund der beiderseitigen Angst der Krieg beginnen können, ohne daß dies die Politiker auf der einen oder anderen Seite gewollt und im voraus beschlossen hätten. Die politische Führung in allen drei Hauptstädten stand vor der Frage, ob sie der militärischen Logik einer Eskalation der Kräfte folgen oder die Priorität der Politik wiederherstellen sollte. Der tatsächliche Schauplatz des Konfliktes zwischen politischer und militäri¬ scher Führung war freilich nicht Wien, sondern Berlin. Moltke und Waldersee übten ungemein starken Druck auf Bismarck aus, der militärischen Entfaltung der östlichen Großmacht zuvorzukommen und einen Präventivkrieg gegen Rußland zu beginnen.77 Der österreichisch-ungarische Generalstab hatte Vorbe¬ halte hinsichtlich eines Winterfeldzuges. Da er aber eine weitere Verstärkung der russischen Kräfte befürchtete und auch selbst mit dem Gedanken eines im Frühjahr zu beginnenden Präventivkrieges sympathisierte, wurde er schließlich zum Sprachrohr des deutschen Generalstabs bei seiner eigenen Regierung.78 Und obwohl er keinen solchen Druck auf die politische Führung ausübte, wie dies in Deutschland der Fall war, hatte sein Standpunkt schon deshalb Gewicht, weil er von der stärksten außenpolitischen Strömung innerhalb der Monarchie gestützt wurde. Kaiman Tisza erklärte, wenn man mit Sicherheit auf Deutsch¬ land rechnen könne, liege kein Grund vor, dem Krieg durch Inanspruchnahme künstlicher Mittel aus dem Wege zu gehen.79 Kälnoky lag jedoch nichts ferner, als sich ohne triftigen Grund mit Rußland in einen Krieg einzulassen, und er 75 Der russische Generalstab machte sich schon ein Jahrfrüher darüber Sorgen. PalotaS, Osztrak- magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 421. 76 Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 3. 12. 1887. Unsere militärische Lage in Galizien, KA., MKSM. 20-1/10-2 ex 1887. 77 Canis, Bismarck und Waldersee 220. 78 Protokoll der am 8. 12. 1887 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in der Hofburg zu Wien stattgehabten kommissionellen Beratung über die eventuell in Galizien zu ergreifenden Maßnahmen, KA., MKSM. 20-1/10-2 ex 1887. 79 GMR. v. 18. 12. 1887, RMRZ. 348. || || Einleitung 27 bestand hartnäckig auf der Priorität der Politik. Sein Standpunkt war der gleiche wie vor vier Jahren: In einem Krieg gegen Rußland sei nur das Elend selbst vorhersehbar, das auf das Volk zukäme, die Folgen wären unermeßlich.80 Von dieser Grundstellung aus glaubte er nicht und wollte nicht glauben, daß die Truppenkonzentrationen den Prolog des Krieges bildeten, und warnte von vornherein davor, daß man über die allernotwendigsten militärischen Vorkeh¬ rungen hinaus den Russen Grund zu neuen Gegenmaßnahmen gebe.81 Und er tat, was in einer solchen Situation die erste Pflicht jedes Staatsmannes ist, er holte Informationen ein, und die Nachrichten rechtfertigten ihn. Der am 16. Dezember eintreffende Bericht des Petersburger österreichisch-ungarischen Bot¬ schafters besagte, die russischen Truppenbewegungen dienten keinem offensiven Zweck, viel wahrscheinlicher sei, daß man mit ihnen in der bulgarischen Frage einen Druck auf die Monarchie ausüben wolle.82 Im Besitz dieser Information teilte er am 17. Dezember dem Wiener deutschen Militärattache entschieden mit, daß er einem Präventivkrieg gegen Rußland, den auch die österreichisch¬ ungarischen Militärkreise befürworten, nicht zustimme.83 Tags darauf erklärte er im gemeinsamen Ministerrat dem ungarischen Ministerpräsidenten, der eben¬ falls mit Krieg rechnete, daß für Deutschland der Casus foederis nur im Falle eines russischen Angriffs auf die Monarchie in Kraft trete.84 Sein Auftreten zeigte in beiden Richtungen Wirkung: Die Militärs waren wohl nach wie vor besorgt, ihre Gesichtspunkte wurden jedoch wieder der Politik untergeordnet, und auch die Kriegslust des ungarischen Ministerpräsidenten ebbte in Ermange¬ lung der deutschen Unterstützung ab. Es war nur noch ein Nachspiel, daß der russische Botschafter am 23. Dezember am Ballhausplatz erschien und den gemeinsamen Außenminister der friedlichen Absichten des Zaren versicherte.85 Durch die Veröffentlichung des Zweibundes im Februar 1888 trat auch eine Ernüchterung der ungarischen Öffentlichkeit ein. Die durch militärische De¬ monstrationen und Gegendemonstrationen entstandene Krise wurde somit dank einer Gewährleistung des Primats der Politik ohne bewaffneten Zusam¬ menstoß gelöst. Der Fall enthielt jedenfalls eine Art Mahnung, die später nicht immer entsprechend beherzigt wurde. Er zeigte, daß in der Zeit der Massenar¬ meen die Truppenbewegungen allein Ursache von Konflikten und dadurch auch eines Krieges sein können. Die mit der ostrumelischen Revolution begonnene und in kriegerischen Span¬ nungen mündende Krise nahm für die außenpolitische Führung der Monarchie kein ungünstiges Ende. Das Vertragsverhältnis mit Rußland, das sich auf die Balkanangelegenheiten bezogen, aber auch auf anderen Gebieten die Gegensät¬ ze moderiert hatte, bestand zwar nicht mehr, aber das Vertragsnetz, mit dem 80 Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 300. 81 Vgl. Anm. 78. 82 Vgl. Anm. 74. 83 Kälnoky an Szechenyi v. 17. 12. 1887, HHStA., PA. I, Karton 534. 84 Vgl. Anm. 79. 85 Kälnoky ä Wolkenstein le 23 decembre 1887. Zitiert von Aehrenthal in der in Anm. 74 erwähnten Denkschrift. || || 28 Einleitung sich die Monarchie umgeben hatte, blieb erhalten, ja wurde sogar dichter geflochten. In den folgenden Jahren kam es zur Erneuerung des Vertrages mit Serbien (1889),86 mit Deutschland (1889),87 mit Italien (1891)88 und mit Rumä¬ nien (1892),89 ja in den kritischen Tagen vom Dezember 1887 wurde durch den Abschluß des Orientdreibundes auch das schon stets erwünschte und vermißte Vertragsverhältnis mit England gesichert.90 Rußland wurde gleichzeitig für lange Zeit aus Bulgarien verdrängt und stand, nachdem 1890 auch sein Ver¬ tragsverhältnis zu Deutschland abgebrochen war, in der internationalen Politik völlig isoliert da. Zur Zeit der Krise hielt die außenpolitische Führung auch dem Druck der inneren Kräfte erfolgreich stand. Die ungarische Ungeduld erzwang wohl den Abbruch der Zusammenarbeit mit Rußland, konnte aber die Annah¬ me des Programms einer kriegerischen Lösung der Krise nicht durchsetzen. Und noch wichtiger war, daß Kälnoky den Primat der Politik auch gegenüber dem Generalstab mit seiner simplen militärischen Logik durchzusetzen vermochte. Die Folgen der Krise Dessenungeachtet scheinen die Argumente der Befürworter eines Präventiv¬ krieges nicht ganz ohne Einfluß auf den gemeinsamen Außenminister geblieben zu sein. Namentlich zwei Argumente machten ihn nachdenklich. Der ungarische Ministerpräsident gab seiner Ansicht Ausdruck, daß die verschiedenen Natio¬ nen der Monarchie wohl ihre Pflicht erfüllen würden. Ob sich aber die Lage nicht doch infolge der russischen Machinationen innerhalb der nächsten Jahre ändern würde, schien ihm zumindest fraglich.91 Der Generalstabschef aber betonte ständig, daß die russischen Truppenkonzentrationen entschiedene Ma¬ nifestationen der Angriffsabsicht seien.92 Kälnoky ließ im gemeinsamen Ministerrat die Fragestellung Kalman Tiszas unbeantwortet, diktierte aber danach ein langes Memorandum, in dem er anscheinend mit dem ungarischen Ministerpräsidenten polemisierte.93 Durch die Betonung der ungarischen Staatsidee entfremde die ungarische Regierung gerade die in Ungarn lebenden Rumänen und trage damit dazu bei, daß sie in Richtung eines rumänischen Nationalstaates gravitierten. Kritik richtete er aber auch an die österreichische Regierung, der er vorwarf, daß sie durch die Favori- sierung des polnischen „Elementes" nicht nur die Zusammenarbeit mit Deutsch¬ land und Rußland erschwere, sondern auch die Ukrainer den slawischen subver¬ siven Tendenzen ausliefere. Er äußerte sich auch besorgt darüber, daß die 86 Pribram, Die politischen Geheimverträge 57-60. 87 Ebd. 29. 88 Ebd. 64-69. 89 Ebd. 69-73. 90 Ebd. 51-56. 91 GMR. v. 18. 12. 1887, RMRZ. 346. 92 VgL Anm. 76. 93 Vgl. Anm. I. || || Einleitung 29 Regierung mit ihrer ständigen Umwerbung der Tschechen die deutsche Bevöl¬ kerung Österreichs entmutige. Die Therapie, die der gemeinsame Außenminister empfahl, war recht widerspruchsvoll. Einerseits stellte er fest, daß die Außenpo¬ litik nach wie vor auf den Österreichern und Ungarn aufgebaut werden müsse, andererseits setzte er sich für die Stärkung des Gesamtmonarchie-Bewußtseins ein, um die innere Basis der Außenpolitik zu erweitern. Beides ließ sich kaum miteinander vereinen. Das wirkliche Problem lag aber nicht in der widersprüch¬ lichen Beschaffenheit der Therapie, sondern darin, daß der gemeinsame Außen¬ minister keinerlei Einfluß auf die Regierungspolitik der beiden Länder hatte. Kälnoky machte Taaffe einige Jahre später Vorwürfe, im Zusammenhang mit der geplanten Wahlrechtsreform seine Meinung nicht eingeholt zu haben.94 Das Memorandum über die Zusammenhänge von Nationalitätenfrage und Außen¬ politik besitzt somit bloß ideengeschichtliche Bedeutung. Es weist darauf hin, daß sich der gemeinsame Außenminister dessen bewußt war, wie überladen das Schiff war, das er auf den Gewässern der internationalen Politik zu steuern hatte. Viel größer war die praktische Bedeutung jener Denkschrift, in der der gemeinsame Außenminister - vermutlich unter dem Eindruck der Argumenta¬ tionen militärischer Kreise - die Ursachen der kriegerischen Spannung und deren internationale politischen Tendenzen analysierte.95 Schon die Fragestel¬ lung selbst weist auf eine Annäherung an den Standpunkt seiner Diskussions¬ partner hin: Woher kam diese Strömung, die den Zaren fast in einen Krieg gegen seine friedlichen Nachbarn hinriß? Die Antwort formulierte aber schon der Politiker. Kälnoky sah die Ursache weder in der an sich unbedeutenden bulgarischen Angelegenheit noch im sogenannten Ostproblem, da man in Pe¬ tersburg sehr gut wußte, daß zu dessen Lösung die damalige Situation nicht geeignet war. Die einzige und ausschließliche Ursache war Deutschland mit seinem militärischen Übergewicht in Europa, welches den Zweibund für Ru߬ land unannehmbar machte. Rußland wurde nämlich dadurch aus Europa ver¬ drängt, und es drohte die Gefahr, daß es auch seinen östlichen Einfluß verlor. Wo gab es einen Ausweg aus dieser Lage? Kälnoky hielt es nicht für ausge¬ schlossen, daß es gelingen werde, den Zaren gegenüber den inneren russischen Strömungen wieder zur Politik der Zusammenarbeit zu bewegen, oder aber Frankreich von Rußland zu trennen, was die panslawischen Ambitionen abküh¬ len würde. Zu diesen Möglichkeiten äußerte er sich jedoch recht skeptisch. Seine Erörterungen schloß er damit, daß ein bewaffneter Zusammenstoß Deutsch¬ lands und der Monarchie mit Rußland früher oder später unvermeidlich sei und die Frage, ob das slawische Rußland auf dem europäischen Kontinent herrschen werde oder nicht, allein durch das Schwert entschieden werde. An dieser Denkschrift für den Herrscher ist vor allem interessant, wie sich die Ansichten Kälnokys gewandelt hatten. Der gemeinsame Außenminister war 94 Abschrift eines Privatschreibens an den k. k. Ministerpräsidenten Taaffe v. 15.10.1893 HHStA PA. I, Karton 469. 95 Geheim v. 1. 1. 1888, HHStA., PA. I, Karton 469. || || 30 Einleitung aufgrund seiner Erfahrungen dorthin gelangt, wo für Andrässy der Ausgangs¬ punkt war: Rußland habe die Fähigkeit und auch die Absicht, die Monarchie von der Landkarte verschwinden zu lassen. Ob tatsächlich eine solche Absicht bestand und ob der Zarismus aus Angst vor der deutschen Übermacht und dem Zweibund seine auf die Konservierung der mitteleuropäischen Verhältnisse gerichtete Politik tatsächlich aufgegeben hätte, ist auch heute nicht mit Sicher¬ heit zu entscheiden. Aus der damaligen Analyse, die russische hegemonistische Bestrebungen und eine Aggressionsabsicht voraussetzte, folgte jedenfalls, daß eine um jeden Preis konfliktvermeidende Politik ihren Sinn und ihre Aktualität verloren hatte. Demgegenüber schien eher der Standpunkt aktuell, der mit dem Krieg nicht als „fürchterlicher Kalamität", sondern als Realität rechnete und sich nicht auf die Suche nach Modalitäten der Kriegsvermeidung, sondern nach einer Verbesserung der Bedingungen für den Waffengang konzentrierte. Dies aber war im Endergebnis der Standpunkt von Kälnokys Gegenspielern. Der gemeinsame Außenminister setzte allerdings in den Krisentagen die Priorität der Außenpolitik vor den inneren Strömungen und das Primat der Politik über die militärische Logik durch, doch mußte er - da er in der Zukunft gleichfalls mit der Gewißheit des Krieges rechnete - in der praktischen Politik die Meinung des ungarischen Ministerpräsidenten und des Generalstabschefs adaptieren. Der stets vorsichtige Kälnoky blies freilich auch nachher nicht die Kriegsfan¬ fare, aber bei der für sicher gehaltenen Kriegsperspektive mußte er sich sowohl der Bündnispolitik als auch den militärpolitischen Fragen in anderer Weise nähern. Das neue Verständnis der Bündnispolitik wurde schon 1889 beim Berliner Kaisertreffen ersichtlich. Gegenüber seinen inneren Gegenspielern hat¬ te Kälnoky bisher immer betont, daß sich der Casus foederis im Zweibund nicht auf den Balkan beziehe und der Vertrag einen ausgesprochen defensiven Cha¬ rakter habe. In der Denkschrift für den Monarchen96 stellte er nun die Frage, ob Deutschland wohl jetzt, da sich Rußland offensichtlich auf die Eroberung Konstantinopels vorbereitete, in der Ostfrage auch weiterhin gleichgültig blei¬ ben könne? Die Fragestellung enthielt schon die verneinende Antwort und gleichzeitig den Wunsch, daß der Casus foederis auch auf den Balkan ausge¬ dehnt werde, also genau das, was Kalman Tisza dem gemeinsamen Außenmini¬ ster gegenüber ständig, aber bisher erfolglos betont hatte. Der gemeinsame Außenminister gab in seinem Memorandum auch dem Charakter des Zweibun¬ des eine neue Deutung. Wegen der russischen Truppenkonzentrationen könne der Krieg jederzeit ausbrechen, und wenn die Monarchie mit Rußland in einen Krieg gerate, müsse Deutschland unbedingt an der Seite der Monarchie stehen. Das „unbedingt" konnte auch heißen: selbst wenn der defensive Charakter des Krieges nicht eindeutig ist. Dies aber war der Standpunkt des österreichisch¬ ungarischen Generalstabschefs, gegen den sich Kälnoky bisher entschieden verwahrt hatte. Jetzt hielt er es ebenfalls für notwendig, daß es zwischen den beiden Generalstäben zu vorherigen Besprechungen komme und die Bedingun¬ gen der militärischen Zusammenarbeit rechtzeitig geklärt würden. (Bekanntlich % Kälnoky an Kaiser Franz Joseph v. 31. 7. 1889, HHSxA., Kab. A., Geheimakten, Karton 79. || || Einleitung 31 war er im Dezember 1887 ebenso wie Bismarck gegen eine unmittelbare Fühlungnahme der beiden Generalstäbe.) Zu den Verhandlungen kam es dann in Berlin, und Kaiser Wilhelm II. sagte Generalstabschef Beck zur höchsten Befriedigung des gemeinsamen Außenministers, wenn die Monarchie aus wel¬ chem Grund auch immer mobilisiere, werde der Tag der österreichisch-ungari¬ schen Mobilisierung zugleich auch der Tag der deutschen Mobilmachung sein.97 Für die Entwicklung des Heeres zeigte der gemeinsame Außenminister im allgemeinen großes Verständnis, und über die Notwendigkeit einer Verstärkung der Wehrmacht der Monarchie bestand im Grunde genommen kein Gegensatz zwischen der außenpolitischen und der militärischen Führung. Beachtenswert ist aber, daß Kälnoky, wenn er von den inneren Mängeln der Außenpolitik der Monarchie sprach, die Armee niemals erwähnte und bei kritischen Gelegenhei¬ ten immer vor militärischen Schritten warnte, die als provokativ qualifiziert werden könnten. Selbst im Bewußtsein eines unvermeidbaren Krieges war er dagegen, daß der militärische Gesichtspunkt Vorrang gegenüber den politischen Überlegungen gewönne. Als der Monarch 1891 davon sprach, es sei zweckmä- ßig, für die Aufrüstung eine ausländische Anleihe in Anspruch zu nehmen, äußerte Kälnoky ebenso wie die anderen Minister eine gegenteilige Meinung. Die Monarchie werde im Falle der Aufnahme einer Anleihe durch den Wider¬ stand im Lande zur Kapitulation gezwungen, noch bevor sie sich in einen Krieg eingelassen hätte.98 Trotzdem maß der gemeinsame Außenminister nach 1888 den militärischen Gesichtspunkten sichtlich eine viel größere Bedeutung bei. Der Generalstabschef fertigte 1892 eine umfangreiche Studie über die Entwick¬ lung des europäischen Kriegswesens in den letzten fünfundzwanzig Jahren99 mit der Schlußfolgerung an, daß die Monarchie sowohl im. Stand der Ausgebildeten und des stehenden Heeres als auch in der Ausrüstung der Armee weit hinter den übrigen Großmächten zurückgeblieben war. Dementsprechend formulierte er zahlreiche Anträge, unter anderem wünschte er Erhöhungen bei der Anzahl der Berufsoffiziere, beim Personalstand der Kompanien, beim Pferde- und Waffen¬ bestand sowie den weiteren Ausbau des Festungssystems. Darüber hinaus ver¬ langte er beträchtlich mehr Finanzmittel: von 1894 an wollte er über das jährliche Kriegsbudget hinaus binnen fünf Jahren 94 Millionen Gulden für die Streitkräfte aufwenden. Kälnoky setzte sich im gemeinsamen Ministerrat ent¬ schieden für den Antrag des Generalstabschefs ein und empfahl wärmstens, den Mehrbetrag ins Budget aufzunehmen. Seiner Argumentation hätte sich auch ein Soldat nicht zu schämen brauchen. An der Grenze stehe eine riesige Berufsar¬ mee, die wann immer in Aktion treten und die Grenze durchbrechen könne. Daran ändere die Tatsache nichts, daß die politische Lage jetzt günstiger sei als früher. Die militärische Lage Rußland gegenüber sei nicht minder gefährdet.100 97 Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte 338. 98 GMR. v. 21. 9. 1891, RMRZ. 377. Denkschrift über die allgemeinen militärischen Verhältnisse Ende 1892 mit einem Anhänge Darstellung der russischen Kriegsvorbereitungen seit dem Jahre 1886. Zum reservierten Dienst- gebrauche als Manuskript gedruckt, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 90 Nr 3 100 GMR. v. 2. 2. 1893, RMRZ. 377. || || 32 Einleitung Die Schritte im Bereich der Bündnispolitik und die Maßnahmen zur Entwick¬ lung des Heeres sind Beweise dafür, daß sich um die Wende von den 80er zu den 90er Jahren nicht nur die Auffassung des gemeinsamen Außenministers geändert hat, sondern auch die Außenpolitik selbst. Die Bemühungen um die Ausweitung und Konkretisierung des Casus foederis und die Maßnahmen zur Erhöhung des Personalstandes der Armee waren praktische Manifestationen der einen bewaffneten Zusammenstoß mit Rußland perspektivisch für unver¬ meidlich haltenden politischen Konzeptionen. Widersprüchlich daran war nur, daß diese Schritte die Wahrscheinlichkeit des Krieges, der für die Monarchie nach wie vor unerwünscht war, noch erhöhten. Der Wunsch nach Ausweitung des Casus foederis war dabei weniger gefahrvoll, da die Entscheidung nicht allein von Wien abhing und der neue Kaiser in Berlin trotz seiner großsprecheri¬ schen Äußerungen schließlich doch an der Bismarckschen Vorsicht festhielt. Die Verstärkung des Personalbestandes besonders der Einheiten in Galizien repro¬ duzierte und stabilisierte hingegen jene Situation, die im Dezember 1887 aus rein militärischen Gründen schon einmal fast zum Krieg geführt hätte. Zudem war die Monarchie infolge ihrer beschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten im Bereich der Aufrüstung nicht wirklich konkurrenzfähig, und die teuflische Spirale der Aufrüstung konnte dahin führen, daß die die militärische Logik adaptierende politische Führung in einer erneuten kritischen Lage die Freiheit ihrer Entscheidungen verlieren konnte. Die Zunahme beunruhigender Symptome In der ersten Hälfte der 90er Jahre gingen im internationalen Leben zahlrei¬ che für die Monarchie nachteilige Änderungen vor sich, die vor allem die Bündnispolitik betrafen. Die Zurückweisung der Erneuerung des Rückversiche¬ rungsvertrages veranlaßte Rußland im Juni 1890, sich auf Frankreich zu orien¬ tieren und den Abschluß eines russisch-französischen Bündnisses zu erwägen. Die Folge dieser Neuorientierung war der Abschluß eines Konsultativpaktes im August 1891 und eines Militärabkommens im August 1892, das die Vertrags¬ partner zur Hilfeleistung bei einem Angriff Deutschlands auf Frankreich bzw. bei einem solchen Deutschlands oder Deutschlands und Österreich-Ungarns auf Rußland verpflichtete. Für die Monarchie bedeutete der Vertrag einerseits, daß ein Krieg im Westen automatisch den Beginn eines Krieges im Osten auslöse, und andererseits, daß die Vertragspartner im Falle eines Krieges im Osten unter allen Umständen mit der Einmischung Frankreichs rechnen mu߬ ten. Daß ersteres nicht bloß eine theoretische Möglichkeit darstellte, hatte der Wiener russische Militärattache dem österreichisch-ungarischen Generalstabs¬ chefmit zynischer Offenheit bestätigt, in dem er erklärte, im Falle eines Konflik¬ tes werde Deutschland im Westen sofort angegriffen, und natürlich auch die Monarchie.101 Der Schutzschirm des Zweibundes war damit eigentlich zu einem 101 Die grosse Politik VII, 223. || || Einleitung 33 magnetischen Pol geworden, der das in der Ferne, am Firmament des internatio¬ nalen Lebens zuckende Wetterleuchten gefährlich anzog. Auch die militärischen Kräfteverhältnisse versprachen der Monarchie im Falle eines im Westen und Osten gleichzeitig aufflammenden Krieges nichts Gutes. Der deutsche General¬ stab hatte bisher in der Frage geschwankt, ob der Schwerpunkt im Westen oder im Osten liegen werde, und wollte bald die französische, bald die russische Front bevorzugen. Nach dem französisch-russischen Militärbündnis hörte dieses Schwanken auf, für den deutschen Generalstab wurde die Priorität der West¬ front eindeutig. Der neue Generalstabschef Schlieffen teilte 1892 Beck offen mit, er werde im Kriegsfall die Mehrheit der deutschen Wehrmacht im Westen konzentrieren und im Osten insgesamt nur 16 Divisionen stationieren. Mit voller Kraft wolle er sich gegen Rußland erst nach einem Sieg über Frankreich wenden.102 Damit würde Österreich-Ungarn gezwungen, sich gegen die 88 russi¬ schen Divisionen auf seine 43 Divisionen zu verlassen. Das waren schlechte Bedingungen für einen Krieg, da selbst die Mittel für eine erfolgreiche Verteidi¬ gung fehlten. Mit Recht stellte der österreichisch-ungarische Generalstabschef 1894 fest, daß die Armee der Monarchie der Lösung einer derartigen Aufgabe nicht mehr gewachsen sein werde. Der besorgte Generalstabschef stellte im Blick auf die Zukunft auch die Frage, was denn geschehen würde, wenn Italien aus einer verbündeten zu einer neutralen oder gar feindlichen Macht werden sollte? Dann, so lautete seine entmutigende Antwort, werde bei derart veränder¬ ten Kräfteverhältnissen das Heer nicht in der Lage sein, die Sicherheit der Monarchie zu gewährleisten.103 In der ersten Hälfte der 90er Jahre veränderte sich auch das Verhältnis der Monarchie zu England nachteilig. Zwar hatte der Inselstaat niemals als ganz sicherer Partner der Monarchie gegolten, aber unbezweifelbar wahrte England die Unversehrtheit des Türkischen Reiches und schützte Konstantinopel vor einer Expansion Rußlands. Eine Meinungsverschiedenheit konnte nur über die Mittel entstehen, mit denen dieses gemeinsame Ziel erreicht wurde. Die macht¬ politischen Veränderungen bewogen nun die Lenker der englischen Außenpoli¬ tik dazu, die Splendid Isolation stufenweise aufzugeben und zu versuchen, die Anzahl der Gegner zu verringern. Da unter den Kolonialmächten Frankreich als gefährlichster Rivale galt, schien es notwendig, den jahrzehntelangen Span¬ nungszustand zu Rußland zu entschärfen. Damit sank der Wert der Meerengen und Konstantinopels erheblich, und die seit hundert Jahren verfolgte Politik der Integrität der Türkei verlor ihren früheren Sinn. Vor diesem Hintergrund mußte die Argumentation Kälnokys für eine weitere Zusammenarbeit sich in London als völlig wirkungslos erweisen.104 Wie sich die Zeiten gewandelt hatten, war daran zu erkennen, daß auch der für seine Türkenfreundschaft bekannte kon¬ servative Politiker Salisbury (seit 1895 abermals Premierminister) es für zulässig hielt, wenn die strategisch wichtigen Punkte in russischem Besitz verblieben. Die 102 Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte 346. 103 Au. Vortrag v. 23. 1. 1894, Beck FZM., KA., MKSM., Archiv Beck-Rzikowsky, Nr. 226. 104 Bridge, From Sadowa to Sarajevo 196. || || 34 Einleitung Führer der Monarchie mußten früher oder später zur Kenntnis nehmen, daß der Beitritt zum östlichen Dreibund das letzte Aufflammen der traditionellen britischen Ostpolitik gewesen war. Die Lage verschlimmerte weiter, daß die unter österreichisch-ungarischem Einfluß stehenden Balkanstaaten allmählich der Monarchie entglitten. In Bul¬ garien wurde im Mai 1894 der seit sieben Jahren regierende österreichfreundli¬ che Ministerpräsident Stambulow gestürzt, und bald danach folgte die aus den bulgarischen inneren Verhältnissen heraus fällige bulgarisch-russische Versöh¬ nung. In Serbien brachen im Sommer 1894 Unruhen aus, und die wiederholten Regierungskrisen wiesen stark österreichfeindlichen Charakter auf. Es schien sehr zweifelhaft zu sein, ob der im Jahr 1895 ablaufende Vertrag Österreich-Un¬ garns mit Serbien erneuert werden konnte. Nur Rumänien schien weiterhin ein verläßlicher Partner zu bleiben, aber in Sofia und in Belgrad war der österrei¬ chisch-ungarische Einfluß mit russenfeindlichem Inhalt kaum aufrechtzuerhal¬ ten. Beunruhigende Symptome zeigten sich aber nicht nur jenseits der Grenzen, sondern auch in der Monarchie selbst. Die drohende Disharmonie der nationa¬ len und Staatsinteressen, die infolge der spezifischen multinationalen Struktur stets bestanden hatte, begann zu Beginn der 90er Jahre gefährliche Gestalt anzunehmen. Die Deutschösterreicher, die zahlenmäßig stärkste Volksgruppe, hatten sich bisher schon als recht gleichgültig gezeigt, ihre letzte entschiedene Aktion war im Jahr 1871 die Erzwingung der Versöhnung mit Deutschland gewesen. Seither zeichneten sie sich durch hochgradige Interessenlosigkeit aus, in der Außenpolitik der Monarchie wollten und konnten sie auch nicht rich¬ tunggebend sein. Der desorientierte deutschösterreichische Nationalismus raffte sich zu Beginn der 80er Jahre zwar wieder auf, erweckte jedoch nicht die Konzeption eines „anderen Deutschlands" zu neuem Leben, sondern identifi¬ zierte sich mit dem tatsächlich bestehenden Deutschland. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Monarchie steigerte sich vom Anfang der 90er Jahre noch weiter, und andererseits nahm der Separationsgedanke Ausmaße an, die allmählich auch die Existenz des Reiches gefährdeten. Im Verhältnis zwischen ungarischer Nation und Reich kam es ebenfalls zu nachteiligen Änderungen. Statt der Treue zur Monarchie drangen immer mehr nationale Sonderinteressen in den Vorder¬ grund. Die Beziehungen zwischen Ungarn und dem Reich wurden für überflüs¬ sig und die dualistische Einrichtung für schädlich erklärt, erstere, weil man meinte, daß im konsolidierten Europa der eine Sicherheit bietende Rahmen der Monarchie weniger nötig sei, letztere in der Ansicht, daß die Zollunion die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns hemme und das gemeinsame Heer ebenso wie die gemeinsame Außenpolitik die ungarische Souveränität unzulässig ein¬ schränkten. Von den 90er Jahren an mußte der gemeinsame Außenminister nicht mehr befürchten, daß seine Politik in der Delegation angegriffen wurde und der ungarische Ministerpräsident im gemeinsamen Ministerrat ein außen¬ politisches Programm vorlegte, das die ungarischen Vorstellungen zum Aus¬ druck brachte. Diese Erscheinung wurde in Wien anfangs mit Befriedigung zur Kenntnis genommen. Sehr bald kam man aber darauf, daß infolge der ungari- || || Einleitung 35 sehen Gleichgültigkeit der stärkste Motor der Politik der Monarchie auszuset¬ zen begann. Im Verhalten der übrigen Völker der Monarchie war keine der österreichischen und der ungarischen ähnliche Veränderung zu bemerken. Die Tschechen blieben trotz der ungünstigen Erfahrungen austrophil, die Kroaten nährten ihre großkroatischen Illusionen weiter, und die Polen wußten ihre gegenüber der russischen und der deutschen günstigere Stellung zu schätzen. Die Loyalität dieser Völker war ein wichtiger Faktor, doch vermochte sie die zuneh¬ mende Gleichgültigkeit der Österreicher und der Ungarn nicht auszugleichen. Durch die Veränderung der nationalen Standpunkte wurde die innere Kohäsion der Monarchie weiter geschwächt, und zwar gerade zu einer Zeit sich steigern¬ den Nationalbewußtseins, als der Nationalismus in ganz Europa die breitesten Gesellschaftsschichten erfaßt hatte. Unter solchen inneren und äußeren Verhältnissen hatten jene, denen das Geschick des Reiches am Herzen lag, wenig Grund zur Hoffnung. In den inneren Verhältnissen trat keine Klärung ein, beide Teile der Monarchie versan¬ ken in aussichtslose nationale und staatsrechtliche Streitigkeiten. Die äußeren Umstände begannen sich allmählich tatsächlich zu bessern, und entgegen den pessimistischen Prognosen folgte eine anderthalb Jahrzehnte währende Ruhe¬ periode. Die verhältnismäßige Ruhe ergab sich teils daraus, daß die Nationalbe¬ wegungen auf dem Balkan nach dem großen Anlauf der 70er und 80er Jahre vorläufig an Intensität verloren, teils daraus, daß sich das zaristische Rußland vom Nahen Osten ab und dem Fernen Osten zuwandte und seine Machtambi¬ tionen in Asien befriedigen wollte. In Wien befreite man sich immer mehr vom Druck der slawischen Umklammerung, und Goluchowski, der neue gemeinsa¬ me Außenminister, erklärte sogar schon, daß eine Gefahr nicht mehr von den nördlichen Grenzen her drohe und die Monarchie seitens der zaristischen Macht auf Ruhe und Frieden rechnen könne.105 Und wenn sich diese Diagnose auch als übertrieben optimistisch erwies, gewann die Monarchie zweifellos ein histori¬ sches Moratorium von anderthalb Jahrzehnten zur Regelung ihrer Verhältnisse. II. Die Außenpolitik Ein Forscher, welcher sich die Zeit vom Herbst 1883 bis zum Herbst 1885 über die Außenpolitik der Monarchie aufgrund der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates informieren will, muß sich mit ziemlich spärlichen Informationen zufriedengeben. Daß diese Politik im Grunde genommen auf die Verteidigung gegenüber Rußland ausgerichtet war, geht aus den Protokollen wohl hervor, aber welche Mittel und warum gerade diese in einer bestimmten Weise zur Erreichnung ihrer Ziele in Anspruch genommen werden sollten, darüber schwei¬ gen die Dokumente. Der Forscher erfahrt nichts darüber, ob man sich diese Verteidigung an der Seite Deutschlands vorgestellt hat oder eventuell bereit war, zur Vermeidung der Konfrontation auch mit Rußland einen Vertrag zu schlie- 105 GMR. v. 28. 11. 1904. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates 1896-1907 426. || || 36 Einleitung ßen. Selbst darüber erhält er keinerlei Information, daß die Monarchie eine spezifische Interessensphäre hatte, nämlich den Balkan, der auf der Liste der außenpolitischen Prioritäten an vorderer Stelle stand. Am ehesten bekommt er noch Auskunft über ein Mittel der Außenpolitik, die Armee, aber die Konzep¬ tionen diesbezüglicher Initiativen bleiben, wenn man nur den Text der Protokol¬ le liest, im Dunkel. Im Lichte anderer Dokumente werden die Protokolle jedoch sofort gesprächiger und verleihen den bisherigen Kenntnissen einen tieferen Inhalt. Der Monarch eröffnete den gemeinsamen Ministerrat vom 4. Februar 1883 mit der Betonung, daß, obwohl kein unmittelbarer Grund zur Beunruhigung bestehe, ein Krieg gegen Rußland im Laufe der Zeit unvermeidlich sein werde und man sich auf diesen nach Möglichkeit vorbereiten müsse.106 Dieser Mini¬ sterrat und vier weitere verliefen im Zeichen dieser Vorbereitung. In jedem wurden Themen militärischen Charakters erörtert, was außer den Punkten der Tagesordnung auch die archivalische Hinterlegung der Protokolle veranschau¬ licht : alle wurden im Archiv der Militärkanzlei des Herrschers untergebracht. Vier von diesen erhielten eine regelrechte RMRZ-Nummer und einen Vermerk¬ zettel im Karton der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates,107 für das fünfte fehlen - obwohl es sich inhaltlich wie formal um einen regelrechten gemeinsa¬ men Ministerrat handelte - auch diese Archiv-Signaturen.108 In den Beratungen herrschte - obwohl der Monarch nur von einem möglichen Krieg sprach - eine ziemlich gespannte und nervöse Atmosphäre. Generalstabschef Beck beschrieb am 4. April die Schwierigkeiten eines Aufmarsches gegen Rußland und bean¬ tragte den Bau der den Aufmarsch beschleunigenden und sonstigen militäri¬ schen Zwecken dienenden Eisenbahnlinien. Bei gleicher Gelegenheit urgierte der österreichische Landesverteidigungsminister Welsersheimb die Schaffung des Landsturms, wobei er betonte, daß die an zwei oder eventuell drei Fronten kämpfende Monarchie ohne den Landsturm nicht genügend Soldaten bereitstel¬ len könne. Der Vertreter des gemeinsamen Kriegsministers trug vor, daß die Armee in Ermangelung des Kriegsleistungsgesetzes im Falle einer Mobilisierung nicht über genügend „Landesfuhren" verfügte, und sprach sich für eine tunlichst baldige Verabschiedung eines solchen Gesetzes aus. Am 6. Februar kamen zwei neue Themen zur Sprache: das Pferdestellungsgesetz und der Zustand der Karpatenstraßen, ferner wurde erneut die Frage des Eisenbahnbaues behandelt. Der Generalstabschef betonte abermals, daß er ohne den Bau der beantragten Eisenbahnlinien den Erfolg des militärischen Aufmarsches nicht garantieren könne.109 Die Angelegenheit des Eisenbahnbaus, das Pferdestellungsgesetz und die Gesetze über die Kriegsleistung sowie über den Landsturm standen auch auf 106 GMR. v. 4. 2. 1883, RMRZ. 311, KA., MKSM. 20-1/6-4 von 1883. 107 GMR v. 4. 2. 1883, RMRZ. 311 - GMR. v. 6. 2. 1883, RMRZ. 312 - GMR. v. II. 11. 1883, RMRZ. 316 - GMR. v. 23. 11. 1883, RMRZ. 317. 108 Gern. Beratung v. 20. 11. 1884, KA., MKSM. 20-1/12-2 de 1884. 109 Protokoll der unter Ah. Vorsitze am 6. 2. 1883 stattgehabten Konferenz, KA., MKSM. 20-1/6-7 von 1883. || || Einleitung 37 der Tagesordnung des gemeinsamen Ministerrates vom 11. und 25. November, und da seitens der Regierungen der beiden Staaten verschiedene Einwände vorgebracht wurden, argumentierten die Militärs immer nervöser und ungedul¬ diger für ihre Anträge - durchaus begründet, wie die Tatsache beweist, daß die Sitzung vom 20. November 1894 die Angelegenheit des Landsturmes und der Kriegsleistung immer noch als in Vorbereitung befindliche Gesetzentwürfe behandelte. Der Historiker kann ohne Zuhilfenahme sonstiger Schriften, allein aus dem Text der Protokolle, feststellen, daß die beantragten Maßnahmen berufen wa¬ ren, die beiden Grundvoraussetzungen einer modernen Kriegsführung, die Truppenstärke und die Mobilität, besser zu sichern. Der Landsturm sollte im Falle einer Mobilmachung zusätzliche Kräfte teils zum unmittelbaren Einsatz in der Armee, teils zu ihrer Ergänzung zur Verfügung stellen, der Eisenbahnbau, die ausgehobenen Pferde und die Landesfuhren sollten den möglichst schnellen Transport des Heeres an den Kriegsschauplatz sichern. Warum dies alles gerade im Laufe des Jahres 1883 aktuell wurde, beleuchten andere Schriften. Der Generalstabschef kehrte teils aufgrund der eingeführten Heeresreformen und teils der vom deutschen Generalstab erhaltenen Informationen wieder zu der vorübergehend inaktuell gewordenen Konzeption der strategischen Offensive gegen Rußland zurück.110 Es handelt sich freilich nicht darum, daß der General¬ stab einen Präventivkrieg gewollt oder die politische Führung mit einem baldi¬ gen Krieg gerechnet hätte. Die rasche Vorbereitung war dazu nötig, daß wenn es aus irgendeinem Grund doch zum Zusammenstoß käme, die Monarchie sich die Vorteile einer deutschen Schwerpunktbildung im Osten nutzbar machen und die militärische Initiative an sich reißen könne. Die militärische Planung erfolgte in Unterordnung unter die Politik, und obwohl sich der gemeinsame Außenmi¬ nister außerordentlich reserviert verhielt, war es bei diesen Beratungen immer fühlbar, daß das Militär für sich kein Entscheidungsrecht beanspruchte. Kälno- ky erklärte gelegentlich, er lege aus seiner Sicht der Dinge Gewicht darauf, daß die galizischen Befestigungen so bald wie möglich den Zustand der totalen Verteidigungsfähigkeit erreichen.111 Seine Bemerkung läßt die völlige Harmonie der politischen und militärischen Führung ebenso empfinden wie seine Mei¬ nung, daß die außenpolitische Führung in dem Bewußtsein, ein starkes Heer hinter sich zu haben, über größere Bewegungsfreiheit verfüge. In den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates ist ein ganzes Jahr lang keine Spur davon zu finden, daß im September 1885 durch die Vereinigung von Bulgarien mit Ostrumelien eine internationale Krise begann, die sowohl die Stellung der Monarchie auf dem Balkan als auch ihr Verhältnis zu Rußland sehr empfindlich berührte. Der Forscher erfährt aus anderen Quellen, daß sich die Monarchie nach einigem Schwanken zur Wiederherstellung des Status quo an der Seite Rußlands verpflichtet hatte und an dieser Politik trotz des im Novem¬ ber 1885 ausgebrochenen serbisch-bulgarischen Krieges auch festhielt. Kälnoky 110 Vgl. Anm. 44. 111 GMR. v. 26. 9. 1884, RMRZ. 320. || || 38 Einleitung war der Überzeugung, daß es für die Monarchie ein Glück sei, wenn sie zu Rußland gute Beziehungen pflegte - und er wollte einem Krieg, dieser fürchterli¬ chen Kalamität, unter allen Umständen aus dem Wege gehen. Dafür war er sogar zur Kenntnis zu nehmen bereit, daß russenfreundliche Offiziere im August 1886 den bulgarischen Fürsten Alexander Battenberg, der die Vereinigung durchgeführt hatte, stürzten und im September ein russischer General unter dem Vorwand in Bulgarien erschienen war, Ordnung zu schaffen. Mit seiner Politik, die Zusammenarbeit mit Rußland in den Vordergrund zu stellen, isolierte er sich völlig gegenüber den führenden Nationen der Monarchie, in welch großem Maße, darüber unterrichtet unter anderem das Protokoll der Sitzung des ge¬ meinsamen Ministerrates vom 25. September 1886.112 Die Unzufriedenheit gegenüber der Außenpolitik brachte das Mitglied der österreichischen Regierung, Finanzminister Dunajewski zum Ausdruck. Erst verlangte er nur Aufklärung über die außenpolitische Lage der Monarchie, mit der Begründung, in der Bevölkerung herrsche große Unruhe, sodann erklärte er, wenn die Einzelaggressionen Rußlands weiter geduldet würden, werde man schließlich an einen Punkt geraten, wo bereits die vitalen Interessen der Monar¬ chie verletzt werden. Der ungarische Ministerpräsident Kaiman Tisza sprach zwar nicht über ähnliche Unruhen in Ungarn, aber daß im ungarischen Abge¬ ordnetenhaus mit der Außenpolitik zusammenhängende Interpellationen einge¬ bracht wurden, war den Mitgliedern des gemeinsamen Ministerrates bekannt, ja wahrscheinlich sogar deren Inhalt. Der ungarische Ministerpräsident ließ nur über die deutsche Außenpolitik dahingehend kritische Bemerkungen fallen, daß Deutschland jetzt einen geringeren Druck auf Rußland ausübe als früher. Aber im Endergebnis war auch diese Kritik Tiszas gegen Kälnoky gerichtet, weil seines Erachtens aufgrund der Gegenseitigkeit ein anderes deutsches Verhalten begründet gewesen wäre. Gegen die Kritik nahm auch der gemeinsame Außen¬ minister Argumente für seine eigene Politik in Anspruch. Vor allem äußerte er sich beruhigend über die russischen Absichten in Bulgarien, indem er sagte, daß sich der Zar an die Vereinbarungen halten werde, Bulgarien nicht okkupieren wolle, und obwohl die panslawische Presse dauernd agitiere, sei ein militärisches russisches Auftreten nicht zu erwarten. Im weiteren sprach er von der ungünsti¬ gen Position der Monarchie. Deutschland konzentriere sein Augenmerk auf seine Westgrenze, im Sinne des Zweibundes sei es auch nicht verpflichtet, die Monarchie in Bulgarien zu unterstützen, England beginne seinen Standpunkt aufzugeben, daß man Indien in Konstantinopel verteidigen müsse. Die Türkei hingegen sei derzeit eher russenfreundlich als russenfeindlich. Wollte die Mon¬ archie in dieser Situation eine Aktion beginnen, würde sie sicherlich allein bleiben. Die Anwesenden konnten aus diesen Worten folgern, daß die bisherige Politik richtig war, sie konnten ihnen aber auch entnehmen, daß künftig ein ebensolches reserviertes Verhalten zweckdienlich sei. In Wirklichkeit ergab sich keine derartige Konklusion, vielmehr näherte sich der Außenminister dem Standpunkt seiner Kritiker. So sehr er die gefährliche Beschaffenheit der russi- 112 GMR. r. 25. 9. 1886, RMRZ. 331. || || Einleitung 39 sehen Absichten bestritt und so unvorteilhaft er die Position der Monarchie beurteilte, erklärte er doch selbst, daß die Zeit kommen könne, da die Monar¬ chie aus ihrer zurückhaltenden Stellung heraustreten müßte. Wenn Rußland einen Vertragsbruch begehe und in Bulgarien Gewalt anwende, dann hätte die Monarchie keine Wahl mehr. Diese Äußerung ließ die Absicht einer Änderung der bisherigen Politik ahnen, und daran änderte auch nichts, daß der Außenmi¬ nister noch im gleichen Zusammenhang die Kontinuität der Außenpolitik be¬ tonte. Obwohl der gemeinsame Ministerrat der bulgarischen Krise keine Aufmerk¬ samkeit schenkte, behandelte er an der Jahreswende 1886/87 um so mehr deren Folgen. Die in den oben erörterten Beratungen schon angedeutete Änderung der Außenpolitik der Monarchie trat tatsächlich ein, Rußland konnte künftig nicht mehr mit der Unterstützung seines Vertragspartners rechnen. Und da die Kraftanstrengungen des sich selbst überlassenen Rußland am Widerstand Bul¬ gariens zerschellten, wandte sich der Zorn der in ihrem Ansehen verletzten zaristischen Großmacht gegen die Monarchie. Bekanntlich rechnete man in Wien im Dezember 1886 ernstlich damit, daß es im Frühling 1887 zu einem Krieg mit Rußland kommen wird. Dementsprechend arbeitete man eifrig daran, die militärische Ausgangslage für den bevorstehenden Zusammenstoß zu ver¬ bessern. Die Protokolle der Beratungen an der Jahreswende 1886/87 bieten einen Einblick in die militärischen Planungen und Budgetvorbereitungen. Von den militärischen Konferenzen, die sich teils mit der Errichtung des Landsturmes,113 teils mit den vorbereitenden Maßnahmen befaßten,114 darf man schon deshalb keine außenpolitischen Situationsanalysen erwarten, weil diese in Abwesenheit des gemeinsamen Außenministers stattfanden. Aus der Denkschrift des Gene¬ ralstabschefs geht jedenfalls hervor, daß die ungünstige militärpolitische Situa¬ tion, die sich aus der zu erwartenden Inanspruchnahme Deutschlands im We¬ sten ergab, dringende Kraftanstrengungen erforderte.115 Bemerkenswert ist aber, wie wenig in den vier Beratungen116 vom Januar 1887 über die infolge der politischen Lage zu treffenden militärischen Vorkehrungen von der politischen Lage selbst gesprochen wurde. Man debattierte darüber, auf welche Weise die entstehenden Kosten gedeckt werden können. Über die politische Lage sagte Kälnoky in der Beratung vom 5. Januar nur, daß man im Frühjahr oder Herbst mit dem Ausbruch des Krieges rechnen müsse. Warum, wo und wie dies geschehe, darüber blieb er die Antwort schuldig. Aus der Vorgeschichte kann man folgern, daß er ein russisches militärisches Auftreten gegen Bulgarien erwartete. Diese Annahme wird durch seine Äußerungen in der Beratung bestä¬ tigt, daß die über die bulgarische Frage begonnenen Verhandlungen in Kon- 113 Vgl.Anm.67. 114 Vgl. Anm. 67. 115 Vgl. Anm. 62. 116 GMR. v. 5. 1. 1887, RMRZ. 335 - GMR. v. 7. 1. 1887, RMRZ. 336 - GMR. v. 29 1 1887 RMRZ. 337 - GMR. v. 30. 1. 1887, RMRZ. 338. || || 40 Einleitung stantinopel die im Osten bestehende Gefahr vermindern. Gleichzeitig erwähnte er aber auch die Eskalation der Spannungen im Westen und einen möglichen deutsch-französischen Krieg, der durch Rußlands unberechenbares Verhalten auch im Osten zu einem Konflikt führen könnte. Tags darauf wiederholte er seine Äußerungen über die Gefahr eines Krieges im Westen und fügte hinzu, die Ungewißheit und Gefahr seien aus der allgemeinen europäischen Lage und der kolossalen Aufrüstung der Großmächte entstanden. Die Teilnehmer an der Beratung fügten den Ausführungen des gemeinsamen Außenministers keine Bemerkungen hinzu und unterbrachen ihn auch nicht durch Fragen. Dies waren Anzeichen des Einverständnisses sowohl mit der Kriegsprognose des Situations¬ berichts als auch mit den beantragten militärischen Maßnahmen, wie sie anders gar nicht zu erwarten waren, hatten doch wenige Monate früher sowohl die Österreicher als auch die Ungarn ein energischeres Verhalten des damals noch unsicheren gemeinsamen Außenministers reklamiert. Wenn somit die Protokol¬ le des gemeinsamen Ministerrates vom Januar 1887 auch sehr spärliche Infor¬ mationen über die Außenpolitik liefern, demonstrieren sie doch gut den zwi¬ schen den beiden Regierungen und dem gemeinsamen Außenminister bestehen¬ den Gleichklang der Anschauungen. Der Konsens bestand auch in der ersten Phase der praktischen Durchführung der Beschlüsse. Als Ergebnis der Beratungen im Januar berief der Monarch die außerordentliche Session der Delegationen ein, der der gemeiname Kriegsmini¬ ster sein Ansuchen bezüglich der Gewährung eines außerordentlichen Kredits in der Höhe von 52,5 Millionen Gulden vorlegte. Als Ergebnis der Anstrengun¬ gen beider Regierungen faßten die Delegationen am 7. März 1887 einen positi¬ ven Beschluß: 24 Millionen stellten sie dem gemeinsamen Kriegsminister sofort und 28 Millionen für den „Fall einer unvermeidlich dringenden Notwendigkeit" zur Verfügung."7 Der Vorbehalt bedeutete, daß die 28 Millionen nur in An¬ spruch genommen werden dürften, wenn sich die außenpolitische Lage weiter verschlimmert und die Kriegsgefahr steigt. Und an diesem Punkt endete das Einvernehmen zwischen den beiden Regierungen und den gemeinsamen Mini¬ stern. Der gemeinsame Kriegsminister ersuchte Mitte April die beiden Regie¬ rungen, auch vom Eventualkredit 9 Millionen verwenden zu dürfen,"8 worüber der gemeinsame Ministerrat im gleichen Monat in drei Sitzungen beriet.119 Zur außenpolitischen Lage führte Kälnoky aus, daß die Kriegsgefahr jetzt geringer geworden sei als zwei Monate früher, er betonte jedoch, daß die Quellen der Beunruhigung nach wie vor vorhanden seien und sich die Armee daher aufjede Eventualität vorbereiten müsse. Der gemeinsame Finanzminister Källay wies auf die Ungewißheit der russischen und bulgarischen Lage hin, der gemeinsame 117 Kolmer, Parlament und Verfassung IV, 52-54. 118 12/MT. Ung.MR. v. 17. 4. 1887. 1. Über die Inanspruchnahme eines Teiles des für den außerordentlichen Kriegsbedarf votierten Kredites, OL., K. 27, Karton 42. - Siehe auch den Brief Kälnokys v. 25. 4. 1887, HHSxA., PA. I, Karton 562. 119 GMR. v. 16. 4. 1887, RMRZ. 339 - GMR. v. 19. 4. 1887, RMRZ. 340 - GMR. v. 20. 4. 1887, RMRZ. 341. || || Einleitung 41 Kriegsminister Bylandt-Rheidt hingegen sprach von den großen russischen Militärlieferungen in Polen. Die anwesenden Mitglieder der beiden Regierungen entnahmen dem allem nur, daß gegenwärtig keine Kriegsgefahr bestehe, und waren nicht bereit, auch die weiteren Folgen zu berücksichtigen. Der österrei¬ chische Ministerpräsident Taaffe erklärte, daß man das Vertrauen der Vertre¬ tungskörperschaften in die Regierung nicht erschüttern dürfte, der ungarische Ministerpräsident Kaiman Tisza aber sprach offen aus, daß man einen Eventu¬ alkredit nur in Anspruch nehmen dürfte, wenn sich die Lage tatsächlich wieder verschlechtert. Nach langen Auseinandersetzungen beschloß man endlich doch, 6 von den verlangten 9 Millionen dem gemeinsamen Kriegsminister zur Verfü¬ gung zu stellen. Der Fall zeitigte jedenfalls eine Lehre und veranschaulichte die Widersprüche, die in der inneren Basis der Außenpolitik zutage traten. Die gleichen Personen, die einen energischeren Schutz der Interessen der Monarchie reklamierten, stellten - wenn es sich um materielle Opfer handelte - die nationa¬ len Sonderinteressen vor das Reichsinteresse. Die Verschlimmerung der außenpolitischen Lage, von der Kalman Tisza nur als theoretische Möglichkeit sprach, wurde nur zu bald Wirklichkeit. In Peters¬ burg wollte man sich nicht damit zufriedengeben, daß im Sommer 1887 Ferdi¬ nand von Coburg, der als österreichisch-ungarischer Schützling galt, den bulga¬ rischen Fürstenthron bestieg, und traf Maßnahmen, die den Nachbarn Grund zur Beunruhigung boten. Der Generalstabschef Beck legte in einer langen Denkschrift im August dar, nachdem sich ein Viertel der russischen Armee schon zu Friedenszeiten in den europäischen Grenzprovinzen aufhalte, bestehe die Gefahr, daß sie im Falle eines Konfliktes in Ausnützung ihrer Übermacht in Galizien eindringe und den Aufmarsch der österreichisch-ungarischen Armee verhindern könne. Dieser katastrophale Folgen zeitigenden Gefahr könne man nur Vorbeugen, wenn die Kriegsführung der Monarchie in der Lage wäre, innerhalb kürzester Zeit Truppen in das gefährdete Gebiet zu senden. Eine Konzentration werde ausschließlich durch den weiteren Ausbau der strategisch wichtigen Eisenbahnlinien möglich, dementsprechend legte er konkrete Vor¬ schläge für die wichtigsten Eisenbahnbauten vor.120 Im gemeinsamen Minister¬ rat vom 26. September sagte Kälnoky -- vermutlich unter dem Eindruck der beginnenden neuerlichen Dislokation der russischen Armee -, daß die Kriegsge¬ fahr jetzt größer sei als im Frühjahr.121 Dessenungeachtet verhandelte die Kon¬ ferenz vom 30. Oktober, die das Memorandum des Generalstabschefs erörterte, noch in einer ruhigen Atmosphäre und behandelte den weiteren Ausbau der strategisch wichtigen Eisenbahnlinien unter dem Aspekt eines möglichen, nicht aber eines auf der Tagesordnung stehenden Krieges.122 Der gemeinsame Außen- K. k. Chef des Generalstabes. Memoire betreffend den Ausbau des Eisenbahnnetzes zur Be¬ schleunigung des Aufmarsches der Armee im Kriegsfall gegen Rußland im August 1887, KA. MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 12. 121 GMR. v. 26. 9. 1887, RMRZ. 343. 122 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 30. 10. [1887] in Wien stattgehabte Konferenz betreffend den Ausbau des Eisenbahnnetzes zur Beschleunigung des Aufmarsches der Armee im Kriegsfälle gegen Rußland, KA., MKSM. 20-1/9-2 ex 1887. || || 42 Einleitung minister meldete sich bei den wiederholten Beratungen kein einziges Mal zu Wort. Die Lage wurde kritisch, als im Dezember in Wien bekannt wurde, daß die russische Militärführung eine ganze Reiterdivision an die galizische Grenze verlegt hatte. Generalstabschef Beck wandte sich in einem dringenden Memo¬ randum an den Monarchen, in dem er seiner Meinung Ausdruck verlieh, daß die russischen Vorbereitungen auf einen baldigen Krieg hinwiesen. Die militäri¬ sche Lage der Monarchie in Galizien erachtete er für unhaltbar und beantragte eine sofortige Truppenverstärkung.123 Daraufhin berief der Monarch für den 8. Dezember eine Kommissionsberatung ein,124 zu der außer den militärischen Führern auch der gemeinsame Außenminister eingeladen wurde. Kälnoky wu߬ te davon, daß der deutsche Generalstab einen Präventivkrieg gegen Rußland betrieb und daß man mit diesem Gedanken auch in österreichisch-ungarischen Militärkreisen sympathisierte. Da er seiner bisherigen Politik entsprechend einem bewaffneten Zusammenstoß mit Rußland auch weiter aus dem Wege gehen wollte, legte er in der Beratung in seinem außenpolitischen Situationsbe¬ richt die Argumente so an, daß aus diesen die Zweck- und Sinnlosigkeit eines Präventivkrieges hervorgehen sollten. Er wies darauf hin, daß man an der deutschen Bündnistreue wohl nicht zweifeln könne, machte jedoch darauf auf¬ merksam, daß sich der Casus foederis nicht auf den Balkan bezog. Das Verhält¬ nis zu Rußland könne als völlig normal bezeichnet werden und sei in letzter Zeit unverändert geblieben. Die in Russisch-Polen erfolgten Truppenkonzentratio¬ nen dürften nicht als politische Frage betrachtet werden, sondern seien einzig die Durchführung einer schon längst geplanten Dislokation. Seine Situations¬ analyse schloß er damit, daß die in Polen stehenden Kräfte seines Erachtens keineswegs dazu ausreichten, Rußland einen Angriffskrieg zu ermöglichen. Die an der Beratung teilnehmenden Militärs fügten den Ausführungen des Außen¬ ministers keine Bemerkungen hinzu, so daß die Konferenz nicht zum Schauplatz eines Zusammenstoßes zwischen der politischen und militärischen Führung wurde. Erzherzog Albrecht, der Generalinspektor der Armee, beschrieb die Schwierigkeiten eines von den Deutschen gewünschten Winterfeldzuges, mit dem sich auch Generalstabschef Beck einverstanden erklärte. Gleichzeitig stellte dieser fest, wenn die Russen die Truppenkonzentrationen fortsetzten, wäre die Monarchie gezwungen, sich trotz des ungünstigen Zeitpunktes in einen Krieg einzulassen. Damit brachte er zum Ausdruck, daß er hinsichtlich der Lage anderer Meinung war als der gemeinsame Außenminister. Bemerkenswerterwei¬ se äußerte auch der Herrscher wiederholt seine Meinung, im Grunde überein¬ stimmend mit der des gemeinsamen Außenministers, daß man einen baldigen russischen Angriff nicht befürchten müsse. Er hielt es jedoch nicht für ausge- 123 Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 3. 12. 1887. Unsere militärische Lage in Galizien, KA., MKSM. 20-1/10-2 ex 1887. 124 Protokoll der am 8. 12. 1887 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in der Hofburg zu Wien stattgehabten kommissionellen Beratung über die eventuell in Galizien zu ergreifenden Maßnahmen militärischer Natur, KA., MKSM. 20-1/10-2 ex 1887. || || Einleitung 43 schlossen, daß auf dem Balkan weitere diplomatische und eventuell sogar militärische Konflikte entstünden. Die Konferenz einigte sich schließlich darauf, mit den Vorbereitungen für eine TruppenVerstärkung in Galizien zu beginnen und sich wegen der Deckung der entstehenden Mehrausgaben an den gemeinsa¬ men Ministerrat zu wenden. Zur Besprechung dieser militärischen Vorbereitungen trat der gemeinsame Ministerrat im Dezember zweimal zusammen.125 Kälnoky bot am 18. Dezember einen Überblick über die außenpolitische Lage. Daß er mit dem Gedanken der militärischen Kreise eines Präventivkrieges nicht einverstanden war, sprach er dabei offener aus als in der militärischen Konferenz, da er aber die Notwendig¬ keit der entstehenden Kosten begründen mußte, malte er die außenpolitische Situation in weit düstereren Farben. Er berichtete, daß Rußland allmählich drei Viertel seiner Armee in die westlichen Grenzprovinzen verlegt hatte, was bedeu¬ tete, daß diese Anzahl jener gleichkam, die die beiden Nachbarn nach erfolgter Mobilisierung erreichen konnten. Dies alles bedeutete für die Nachbarn einen unerträglichen Druck und zwang sie, darauf früher oder später zu reagieren. Das Bild schien offenbar sehr düster ausgefallen zu sein, denn Kalman Tisza, der als erster das Wort ergriff, drängte sofort auf energische Gegenmaßnahmen und schloß, auf die russischen Machinationen auf dem Balkan verweisend, damit, man könne dem Krieg nicht durch Inanspruchnahme künstlicher Mittel entgehen. Da der österreichische Ministerpräsident Taaffe seine Übereinstim¬ mung mit Kalman Tisza erklärte, war nun der gemeinsame Außenminister gezwungen, sich auf jene Position zurückzuziehen, die er auch in der militäri¬ schen Konferenz eingenommen hatte: daß der mit den Deutschen geschlossene Vertrag ausschließlich defensiven Charakter habe und man mit dem Einver¬ ständnis der Bevölkerung nur im Falle eines Defensivkrieges rechnen könne. Im zweiten Teil der Beratung mußte er dann wieder einen harten Ton anschlagen. Kalman Tisza beantragte nämlich, während er auf einen Krieg drängte, in einer jeder Logik entbehrenden Weise die Verminderung der vorgesehenen Militär¬ ausgaben. Kälnoky sprach nun von einer ausgesprochenen Kriegsgefahr und von den Kriegsvorbereitungen Rußlands und antwortete dem ungarischen Mi¬ nisterpräsidenten mit einer an ihm ungewohnten Ironie, daß ohne Ausgaben weder die Beibehaltung der bisherigen Politik noch die militärischen Vorberei¬ tungen möglich seien. Darauf vermochte auch Kalman Tisza nichts zu antwor¬ ten und stimmte samt den übrigen dem außerordentlichen militärischen Kredit von 16 Millionen zu. Der gemeinsame Außenminister erklärte sich gleichsam als Entgegnung damit einverstanden, daß die außenpolitische Lage Anfang Januar neuerlich besprochen werde. Bis zu dieser Beratung hatten sich wesentliche Veränderungen vollzogen. Kälnoky konnte dem gemeinsamen Ministerrat mitteilen, daß der Zar seinen friedlichen Absichten Ausdruck verliehen und die weiteren Truppenkonzentra¬ tionen eingestellt, während in Berlin der Reichskanzler endgültig das Überge¬ wicht über den Generalstab erlangt habe, der einen Krieg urgierte. Zur Ände- 1-5 GMR. v. 18. 12. 1887, RMRZ. 346 - GMR. v. 19. 12. 1887, RMRZ. 347. || || 44 Einleitung rung des russischen Standpunktes aber fügte er den Kommentar, daß vermut¬ lich die Entschiedenheit der benachbarten Mächte ernüchternd gewirkt habe. Dabei wußte er sicherlich, daß eher die Zurückhaltung mit militärischen Gegen¬ aktionen zum Erfolg geführt hatte. Diese Informationen mußten auf die Anwe¬ senden überraschend gewirkt haben, da Kaiman Tisza sofort sein Bedauern darüber ausdrückte, daß man in Berlin vom Präventivkrieg Abstand genommen hatte. Aber der Meinungsaustausch nahm im weiteren einen recht akademi¬ schen Charakter an. Man erörterte, was in dem Fall geschehen würde, daß die eintretende relative Ruhe zu Rußlands Vorteil ausfiele und der Zarismus die Aufrüstung so lange fortsetze, bis er gegenüber der Monarchie zu einem unauf- holbaren Vorteil käme, und die Minister beider Regierungen sprachen darüber, daß es vielleicht doch gut wäre, in Berlin im Interesse eines eventuellen Sommer¬ krieges zu intervenieren. Gegenüber diesem Ansuchen konnte sich der gemein¬ same Außenminister fest im Sattel fühlen. Er wiederholte seine früheren Argu¬ mente, für Deutschland trete der Casus foederis nur im Falle eines russischen Angriffs in Kraft, und betonte wiederholt, in Deutschland wolle nur das Militär einen Krieg und auch die dortigen Voraussetzungen im Personalstand seien nicht dazu geeignet, sich zu einem Schritt so großer Tragweite zu entschließen. Außerdem arbeite die Zeit nicht unbedingt für Rußland. Und als beide Regie¬ rungen immer wieder ungeduldig auf Taten drängten, schloß er die Debatte mit den Worten ab, die Situation sei wohl nicht günstig und die Ursachen des Übels bestünden noch immer, doch es bleibe momentan nichts anderes übrig, als sie zu ertragen. Da infolge der veränderten Umstände ein sachlicher Beschluß nicht gefaßt werden konnte, schien der gemeinsame Ministerrat die Entschlußlosig- keit mit Ersatzhandlungen kompensieren zu wollen. Auf Antrag Kalman Tiszas wurde die Verfahrensweise der Beschaffung von Kriegskrediten beschlossen, um im Falle der Mobilmachung die erforderlichen Beträge so bald wie möglich beschaffen zu können.126 Daß die unmittelbare Kriegsgefahr beseitigt schien, ist auch an der Arbeits¬ ordnung des gemeinsamen Ministerrates in den folgenden Jahren ersichtlich. Das oberste Regierungsforum der Monarchie hat mehrmals im Laufe der Jahre 1886-1887 die außenpolitische Lage in außerordentlichen Sitzungen erörtert und auf Antrag des Vertreters des Kriegsressorts bei mehreren Gelegenheiten außerordentliche Maßnahmen getroffen. Nach dem 5. Januar 1888 wurden geraume Zeit keine solchen außerordentlichen Sitzungen abgehalten; der ge¬ meinsame Ministerrat trat nur zusammen, wenn die Genehmigung des den Delegationen zu unterbreitenden gemeinsamen Budgets fällig wurde. Die Kriegsangst hatte dessenungeachtet tiefe Spuren hinterlassen. Daß der Generalstabschef im März in der Konferenz über die militärisch-politische Lage von weiteren zu erwartenden russischen Truppenkonzentrationen sprach und wirksame Gegenmaßnahmen forderte,127 kann nicht überraschen, weil er schon 126 GMR. V. 5. 1. 1888, RMRZ. 348. 127 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 10. 3. 1888 in Wien stattgehabte Konferenz. Gegenstand der Beratung waren: a) Die Anträge des Chefs des Gene¬ ralstabes zur Steigerung der Wehrkraft der Monarchie, b) Die Anträge des Reichskriegsministe¬ riums für das Heeresbudget pro 1889, KA., MKSM. 20-1/1-2 ex 1888. || || Einleitung 45 immer der Überzeugung war, der russischen militärischen Übermacht nur be¬ gegnen zu können, wenn die Monarchie schon vor der Mobilisierung in Galizien rechtzeitig über eine beträchtliche Kriegsmacht verfüge. Und normal war auch, daß Kälnoky im gemeinsamen Ministerrat vom 29. April 1888 unter anderem damit für die Annahme des Kriegsbudgets argumentierte, daß in Rußland die bereits begonnenen Truppenverlegungen fortgesetzt würden.128 Ein beachtens¬ wertes neues Moment war, welchen Sinn der gemeinsame Außenminister diesen Truppenverlegungen gab. Im Dezember des Vorjahres, auf dem Gipfelpunkt der Krise, hatte er sie bekanntlich als Durchführung des schon seit langem vorgesehenen Diskolationsplanes bezeichnet, der als solche keinen politischen Inhalt hätte. Jetzt erklärte er hingegen entschieden, daß es der Zweck der Trappenverlegungen sei, den politischen Aktionen der russischen Regierung militärischen Nachdruck zu verleihen. An welche politische Aktionen er dachte, geht aus anderweitigen Äußerungen des gemeinsamen Außenministers hervor. Kälnoky setzte voraus, daß sich Rußland infolge des drückenden deutschen Übergewichts und des Zweibundes früher oder später zu einem Angriff ent¬ schließen würde.129 Bei einer solchen Voraussetzung mußte er aber anerkennen, daß der Generalstabschef Recht hatte, wenn er eine beschleunigte Armee-Ent¬ wicklung und eine Truppenkonzentration in Galizien verlangte. Dem Vorschlag des Generalstabschefs entsprechend wurden im Laufe des Jahres zwanzig Ba¬ taillone nach Galizien verlegt, und es fehltjede Spur davon, daß der gemeinsame Außenminister dagegen Einwand erhoben hätte. Dann mußte er aber damit rechnen, daß Rußland die TruppenVerstärkung mit Truppenverstärkungen be¬ antworten und so schließlich unabhängig von der Politik die Aufrüstung selbst zur Quelle des Konflikts würde. Daß der gemeinsame Außenminister unter dem Eindruck der großen Krise diesen gefährlichen Weg betrat, beweisen unter anderem die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates. Die Tendenz, daß sich die Außenpolitik den militärischen Gesichtspunkten unterordnete, trat in den Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates im folgen¬ den Jahr klar zutage. Kälnoky erklärte in der Sitzung vom 30. April 1889, daß sich die politische Lage beruhigt habe. Da aber Massenarmeen einander gegen¬ überstanden, konnte ein unerwarteter Zwischenfall in jedem Augenblick eine Entscheidung erfordern.130 Es mag freilich sein, daß er nur im Interesse des zu genehmigenden Budgets für das Kriegsressort so scharf formulierte, aber mit dieser Erklärung hatte er anerkannt, daß der Krieg nicht nur ein Mittel der Politik war, sondern sich auch verselbständigen konnte. Die besagte Tendenz war nicht geradlinig, es gab auch Anzeichen für die Wiederherstellung des natürlichen Verhältnisses zwischen Politik und Kriegswesen. Im gemeinsamen Ministerrat vom 26. April 1890 sprach Kälnoky abermals vom Kriegswesen in Abhängigkeit von der politischen Lage und erklärte, wenn Entspannung einträ- 128 GMR. V. 29. 4. 1888, RMRZ. 352. 129 Vgl. Anm. 95. 130 GMR. v. 30. 4. 1889, RMRZ. 358. || || 46 Einleitung te, werde das Kriegsressort seine Finanzansprüche mäßigen können.131 Der gemeinsame Außenminister hielt eine Entspannung deshalb für wahrscheinlich, weil seines Erachtens die inneren und sozialen Probleme die kriegerischen Ambitionen überall abgekühlt hatten und die Staaten künftig gezwungen sein würden, ihre Kraftanstrengungen auf die Lösung dieser Probleme zu konzen¬ trieren. Auf die Wiederherstellung der ursprünglichen Beziehungen zwischen Politik und Kriegswesen verwies auch die Äußerung des Monarchen, eine energische Außenpolitik sei nur mit einem starken Heer möglich.132 Der Herr¬ scher meinte diese Äußerung natürlich ganz anders, als sie der gemeinsame Außenminister verstand; er beanstandete gerade eine eventuelle Kürzung des Militärbudgets, die ja zumindest möglich schien, da sich die beiden Regierungen unter Berufung auf die Mehrausgaben der letzten Jahre jedweder Erhöhung des Militärbudgets verschlossen. Ihre Argumentation hatte rein finanziellen Cha¬ rakter, die Finanzminister beriefen sich auf die Notwendigkeit des Gleichge¬ wichts im Staatshaushalt, dem gemeinsamen Außenminister aber blieb es Vorbe¬ halten, sie - wenn er wollte - zur Positionsverbesserung der Politik zu verwen¬ den. Es scheint, daß er dies bis zu einem gewissen Grad auch tat. In der Sitzung des gemeinsamen Ministerrates am 18. September 1891, in der ebenfalls das gemeinsame Budget besprochen wurde, gab er einen viel detaillierteren Über¬ blick über die außenpolitische Lage.133 Dabei wiederholte er abermals, daß die Kriegsvorbereitung leicht zu einer Konflagration führen könne, und deutete auch die Möglichkeit weiterer russischer Aktivitäten an. Dennoch müsse bei Bestimmung des Militärbudgets auch das finanzielle Gleichgewicht der Monar¬ chie berücksichtigt werden, die Konferenz habe die Aufgabe, den Mittelweg zwischen den militärischen Bedürfnissen und den finanziellen Möglichkeiten zu finden. Den Krieg hielt er nicht für so nahe und wahrscheinlich wie bisher und widersprach der Meinung des gemeinsamen Kriegsministers Bauer, daß der Krieg mit Rußland 1894 ausbrechen werde. Anscheinend sympathisierte er eher mit dem österreichischen Finanzminister Steinbach und dessen Warnung, sich nicht in ein Wettrüsten mit Rußland einzulassen, denn wenn letzteres in dieser Beziehung seine demographischen Gegebenheiten voll ausnütze, käme die Mon¬ archie in eine noch ungünstigere Lage. Als einige Tage später der Monarch die Inanspruchnahme eines großen Auslandskredits zur Aufrüstung beantragte, war jedenfalls Kälnoky samt einigen anderen Mitgliedern des gemeinsamen Mini¬ sterrates entschieden gegensätzlicher Meinung.134 Sein Schwanken zwischen den Finanz- und den Kriegsgesichtspunkten fand ein Ende, als der Generalstabschef Ende 1892 in einer umfangreichen Denkschrift anhand konkreter Angaben nachwies, daß die Monarchie in der Heeresentwicklung wesentlich hinter den anderen Mächten zurücklag.135 In den drei Sitzungen des gemeinsamen Mini- 131 GMR. v. 26. 4. 1890. RMRZ. 362. 132 GMR. v. 5. 5. 1890. RMRZ. 367. 133 GMR. v. 18. 9. 1890, RMRZ. 368. 134 GMR. v. 21. 9. 1891. RMRZ. 372. 135 Vgl. Anm. 99. || || Einleitung 47 sterrates im Februar und Marz 1893, die zur Erörterung des vom Generalstab- schef verlangten ^atzkredrts einberufen wurden, setzte sich der gemeinsame Außenminister eindeutig für den militärischen Standpunkt ein.136 Er argumen- tierte mcht md den außenpolitischen Beziehungen, sondern damit, daß in Anbetracht der militärischen Vorbereitungen der Großmächte der Krieg jeder¬ zeit ausbrechen konnte. In der Beratung äußerte nur der österreichische Finanz- TMmsfteJj.ei,ne" mentorischen politischen Einwand, der ungarische Ministerprä- sident Wekerle und der österreichische Ministerpräsident Taaffe erklärten sich Maßnahmen grundsätzlich einverstanden. Und wenn der tur fünf Jahre m Aussicht gestellte zusätzliche Kredit von 94 Millionen an sich auch nicht eindeutig beweist, daß der Militarismus die Oberhand gewonnen hatte dlustneren die Argumentation und der Beschluß immerhin, daß sich in der Monarchie die Neigung verstärkte, die Außenpolitik den militärischen Ertordermssen anzupassen. · foI,genden Jahr wurde im gemeinsamen Ministerrat über Außenpolitik nicht viel und zumeist auch nur im Zusammenhang mit anderen Problemen gesprochen. In der Beratung vom 4. März 1894 über den Handelsvertrag mit Rußland argumentierte Kälnoky für eine Erneuerung, weil ein eventueller Zollkrieg unerwünschte politische Folgen haben könnte.137 Die Erörterung des Budgets der Kriegsmarine bot dem gemeinsamen Außenminister Gelegenheit von der sich in der russischen Außenpolitik zeigenden neuen Aktivität im Mittelmeer zu sprechen.138 Danach mag es einigermaßen überraschen, daß er am 1 /. April 1895, bei der Besprechung des Staatshaushaltes für das folgende Jahr einen ausführlicheren außenpolitischen Überblick gab als je zuvor,139 an dem nicht allein der Umfang, sondern auch der Ton verwundern konnte. Der stets besorgte gemeinsame Außenminister beurteilte die europäische Lage in jeder Beziehung als ungefährlich, indem er bemerkte, die Monarchie könne mit relativer Beruhigung in die Zukunft blicken. Seine optimistische Prognose beruhte auf drei Faktoren: auf dem auf internen Gründen basierenden Frie¬ denswillen der Regierungen, auf der Unerfahrenheit des neuen deutschen Kai¬ sers und darauf, daß sich der Schwerpunkt des internationalen Lebens auf den Kolonialraum verlagert hatte. In seiner Zuversicht ging er so weit, wenn auch nicht m absehbarer Zukunft, so doch grundsätzlich die Möglichkeit einer Sen¬ kung des Militärbudgets in Aussicht zu stellen. Kälnoky hatte sich bisher in seiner fast anderthalb Jahrzehnte währenden Tätigkeit immer vor perspektivi¬ schen Prognosen gehütet, und die späteren Ereignisse erbrachten zudem den Beweis, daß seine frühere Vorsicht nicht unbegründet war. Die internen Ursa¬ chen hielten die Regierungen nicht davon ab, das Risiko eines Krieges auf sich zu nehmen, der neue deutsche Kaiser zeichnete sich keineswegs durch Zurück- GRMRZ 3792' 1893' RMRZ' 377 ~ GMR- v- 19 2- 1893 RMRZ- 378 - GMR. v. 28. 3. 1893, 137 GMR. v. 4. 3. 1894. RMRZ. 383. 138 GMR. v. 28. 3. 1894, RMRZ. 384. 139 GMR. v. 17. 4. 1895, RMRZ. 386. || || 48 Einleitung haltung, sondern durch unüberlegte Unternehmungslust aus, und die Monar¬ chie begann statt einer Kürzung des Militärbudgets eine Heeresentwicklung in größerem Tempo als je zuvor. Die Prognose bewahrheitete sich allein darin, daß sich die kolonialen Aktivitäten steigerten und daß namentlich infolge der Bin¬ dung Rußlands im Fernen Osten für die Monarchie eine längere Ruhepause eintrat. Man kann es vielleicht als persönliches Mißgeschick betrachten, daß nicht mehr Kälnoky in dieser ruhigeren Periode nach so vielen bestandenen Stürmen die auswärtigen Angelegenheiten der Monarchie lenken konnte. III. Das Kriegswesen Die obige Feststellung, daß die Protokolle des gemeinmen Ministerrates über die Außenpolitik ziemlich spärliche Informationen liefern, gilt für die Belange der Wehrmacht keineswegs. Ihre Ausrüstung und Versorgung, ihre Ergänzung im Frieden wie im Krieg sowie ihre Inanspruchnahme bei gegebenen und möglichen Gelegenheiten und noch viele andere Beziehungen wurden vom gemeinsamen Ministerrat derart intensiv behandelt, daß der Eindruck entstehen könnte, er sei als Körperschaft zur Erledigung der Wehrmachtsangelegenheiten ins Leben gerufen worden. In den neunundsiebzig Beratungen während der hier behandelten Periode waren in sechzig Fällen Wehrmachtsfragen das eigentliche Thema des Gedankenaustausches. Sonstige Probleme wie die Außenpolitik und der später zu erörternde Eisenbahnbau wurden zumeist nur im Zusammenhang mit dem Kriegswesen besprochen. Dessen Prädominanz ergab sich aus der Struktur des Verfassungs- und des Staatsrechtes. Der Befehl über die Armee und innere Heeresorganisation blieb auch nach 1867 in der Befugnis des Monarchen, die Genehmigung der Ausgaben für die Wehrmacht sowie die Schaffung von Gesetzen im Zusammenhang mit dem Verteidigungssystem gingen dagegen in die Kompetenz der Parlamente über. Der gemeinsame Ministerrat war jenes Forum, das die regulären und außerordentlichen Finanzansprüche der Militär¬ führung erwog und über deren Weiterleitung an die parlamentarischen Körper¬ schaften, die Delegationen, entschied sowie die mit der Wehrmacht verbunde¬ nen Gesetzentwürfe - den Ansprüchen der Militärführung entsprechend - veranlaßte und mit den Regierungen abstimmte. Das Jahresbudget der Wehr¬ macht war - abgesehen von Mehransprüchen aufgrund außerordentlicher Son¬ derfalle - im allgemeinen mit 20% des Staatshaushalts dessen größter Posten. Diese Größe allein war Grund genug, daß der militärische Budgetvoranschlag bei jeder Gelegenheit Gegenstand einer eingehenden Debatte wurde. Die mit der Wehrmacht verbundene Gesetzgebung betraf so viele Interessen, daß jede Aus¬ weitung oder Modifizierung der Rechtsnormen langwierige Vorbereitungen und einen gründlichen Meinungsaustausch erforderte. Diese Debatten, namentlich die Verschleppungen des Militärbudgets, sind für die Nachwelt nicht immer interessant. Nichtsdestoweniger beleuchten die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates viele eigentümliche Beziehungen der Behandlung und Verwaltung des Kriegswesens, die von der Geschichtsschreibung bisher nicht entsprechend berücksichtigt und gewürdigt wurden. || || Einleitung 49 Die Wehrmacht zu Beginn der 80er Jahre Den staats- und verwaltungsrechtlichen Regelungen sowie der im Laufe der Jahre ausgestalteten Praxis entsprechend, fielen in die Kompetenz des gemeinsa- men Ministerrates nur der Finanzvoranschlag des Wehrressorts und die mit der Wehrmacht verbundene Gesetzgebung. Unvermeidbar kamen jedoch im Laufe der Verhandlungen auch die inneren Organisationsprobleme der Wehrmacht zur Sprache, weshalb es sinnvoll erscheint, vor der Funktionsbeschreibung des gemeinsamen Ministerrates einen kurzen Überblick über das gesamte Militär¬ wesen zu geben, dem - stellenweise unter Zuhilfenahme eines historischen Rückblicks - die Verhältnisse zu Beginn der 80er Jahre zugrunde liegen. Die Wehrmacht war eine Institution der Monarchie mit langen und bewähr¬ ten Traditionen. Dennoch erfuhr sie in den Jahren vor und nach dem Ausgleich aufgrund der gewonnenen militärischen Erfahrungen und der politischen Ver¬ hältnisse zahlreiche wesentliche Veränderungen. Dies bezieht sich vor allem auf die oberste Führung der Wehrmacht. Franz Joseph übte in den ersten Jahrzehn¬ ten seiner Regierungszeit die Rechte des obersten Kriegsherren unmittelbar aus, er war der Armeeoberkommandant. Die operative Sachbearbeitung zwischen dem Armeeoberkommando und dem Monarchen versah die Militärzentral¬ kanzlei, die dem Herrscher unmittelbar unterstellt war. Als Folge der militäri¬ schen Niederlage in der Lombardei im Jahr 1859, die das Prestige der Dynastie verletzt hatte, legte der Monarch das Amt des Armeeoberkommandanten nie¬ der, das 1860 auf das Kriegsministerium bzw. den Kriegsminister überging. Im Herbst 1866 wurde es neu errichtet, doch als dem Kriegsministerium beigeord¬ netes Armeeoberkommando, an dessen Spitze Erzherzog Albrecht, der Sieger von Custozza, berufen wurde. Die Funktion des Armeeoberkommandanten erwies sich mit den 1867 geschaffenen konstitutionellen Verhältnissen als unver¬ einbar, daher wurde das Armeeoberkommando im Februar 1868 aufgelöst. Erzherzog Albrecht erhielt im März 1869 einen neuen Titel, er wurde zum Generalinspektor der Armee ernannt und trug diesen Titel bis zu seinem 1895 erfolgten Tode. Die Einführung konstitutioneller Verhältnisse hob die Füh¬ rungsrolle des gemeinsamen Kriegsministers besser hervor, der im Jahrzehnt nach dem Ausgleich zum operativen Leiter des Kriegswesens wurde. Teils aus staatsrechtlichen, teils aus persönlichen Gründen wurde jedoch die leitende Funktion des gemeinsamen Kriegsministers zu Beginn der 80er Jahre allmählich in den Hintergrund gedrängt und seine Befugnis mehr oder minder auf die Verrichtung der administrativen Angelegenheiten der Wehrmacht beschränkt. Die eigentliche Lenkung ging in die Hände von Erzherzog Albrecht, dem Generalinspektor der Armee, und von Feldmarschalleutnant Beck über, der 1881 Generalstabschef wurde. Der die Angelegenheiten der ungarischen Hon- ved leitende ungarische und der an der Spitze der österreichischen Landwehr stehende Landesverteidigungsminister waren in militärischer Hinsicht unmittel¬ bar dem Monarchen unterstellt. Die Vermittlung zwischen dem Herrscher und den Zentralbehörden (gemeinsames Kriegsministerium, Generalstab und die beiden Landesverteidigungsministerien) versah die Militärkanzlei Seiner Maje- || || 50 Einleitung stät des Kaisers und Königs. Diese war keine selbständige Behörde, ihre eigentli¬ che Aufgabe bestand in der Administration. Aber der Vorstand der Kanzlei hatte infolge seiner unmittelbaren Beziehung zum Monarchen auch Einfluß auf die eigentliche Gestaltung der Militärangelegenheiten. Gleichzeitig mit den Veränderungen und aus ähnlichen Beweggründen änder¬ te sich auch vielfach die innere Gliederung der Wehrmacht, doch bewies diese insgesamt größere Stabilität. Die Wehrmacht bestand von dem Zeitpunkt an, da die venezianische Flotte endgültig in österreichischen Besitz gelangt war, aus zwei Teilen, aus Landmacht oder Heer und Kriegsmarine, und diese Gliederung bestand bis zum Zerfall der Monarchie. Das Heer bildete bis 1867 ein einheitli¬ ches Ganzes. Nach dem Ausgleich kamen die ungarische Honved und die österreichische Landwehr dazu, und so entstand die Doppelgliederung gemein¬ sames Heer - ungarische Honved und österreichische Landwehr. Die militäri¬ schen Führer, die für ein einheitliches Heer eingetreten waren, nahmen diese auf staatsrechtlicher Grundlage beruhende Gliederung nur widerwillig zur Kennt¬ nis, akzeptierten dann aber das gemeinsame Heer als die erste und die Honved bzw. die Landwehr als die zweite Linie der Wehrmacht. Bei der Kriegsmarine entwickelte sich diese auf staatsrechtlicher Grundlage beruhende Gliederung nicht. Dieser Teil der Wehrmacht war übrigens im internationalen Vergleich unbeträchtlich, die österreichische Kriegsmarine stand an Zahl und Qualität der Kriegsschiffe und Panzerkreuzer weit hinter der Englands, Frankreichs und Italiens im Mittelmeer zurück und war nur zur Küstenverteidigung geeignet. Das Heer aber war an Zahl und Ausrüstung auf dem Niveau der Zeit und konnte sich mit der Armee jeder anderen Großmacht vergleichen. Die Monar¬ chie kam 1869 mit ihren 272 000 Mann im Frieden und 800 000 Mann zur Kriegszeit Frankreich nahe und blieb kaum hinter dem Norddeutschen Bund zurück. In diesen Ländern betrug bei einem Friedensstand von 414 000 bzw. 290 000 der Kriegsstand 1 300 000 bzw. 945 000 Mann. (Im Laufe der Jahre verschlechterte sich dieses Verhältnis für die Monarchie.) Der Friedensstand des Heeres ergab sich neben dem Berufsstand (Offiziere und Unteroffiziere) aus den ihren Präsenzdienst abgeleistet habenden sieben wehrpflichtigen Jahrgängen. Der Kriegsstand setzte sich aus dem Friedens¬ stand, aus der vor Ableistung des dritten Jahres in den Urlauberstand versetzten Mannschaft und aus den ihren Präsenzdienst abgeleistet habenden sieben wehr¬ pflichtigen Jahrgängen (der Reserve) zusammen. Zur Ersetzung der Kriegsver¬ luste diente die Ersatzreserve, die 10% des Kriegsstandes ausmachte und nur eine kurze militärische Ausbildung erhielt. Die dem Heeresverband angehörenden Personen wurden in einem Grundbuch registriert, dessen Bestand sinngemäß immer höher als der Kriegsstand war. Das Heer bestand den Traditionen und den Erfordernissen der modernen Kriegsführung entsprechend aus den vier Waffengattungen Infanterie, Kavalle¬ rie, Artillerie und technische Truppen. Nach Größe und Bedeutung stand die Infanterie an erster Stelle. Als Ergebnis verschiedener Umorganisierungen wa¬ ren bis zum Beginn der 80er Jahre 102 Infanterieregimenter mit einem Friedens¬ stand von je 1647 Mann gebildet worden. Die Infanterie der ungarischen || || Einleitung 51 Honved und der österreichischen Landwehr hinzugerechnet, betrug sie drei Viertel des Friedensstandes des Heeres, und ihr Anteil am Kriegsstand war ähnlich hoch. Die Infanterieregimenter gliederten sich in Bataillone und Kom¬ panien auf. Zu jedem Regiment gehörten vier Bataillone und ein Ersatzbatail¬ lon, jedes Bataillon bestand aus vier Kompanien mit einem Friedensstand von je 95 Mann. Die nächsthöhere Einheit über dem Infanterieregiment war die Brigade, die zwei oder mehr Infanterieregimenter vereinte. Zwei Infanteriebri¬ gaden bildeten eine Truppendivision. In den mehrere Truppendivisionen umfas¬ senden Korps und der mehrere Korps und Truppendivisionen vereinigenden Armee waren außer der Infanterie auch andere Waffengattungen vertreten. Die Infanterie war bis 1866 mit dem Vorderladegewehr vom System Lorenz ausge¬ rüstet. Dieses konnte mit dem preußischen Dreyse-Gewehr nicht konkurrieren, deshalb war die Ursache der Königgrätzer Niederlage nicht zuletzt im Unter¬ schied der Schußwaffen zu suchen. Von 1867 an wurde stufenweise der Einzel¬ lader mit Zündnadel vom System Werndl eingeführt, der natürlich auch mit Bajonett versehen war. Diese Waffe war bei der Infanterie über zwanzig Jahre lang in Gebrauch, bis zur Mitte der 80er Jahre. An der für die Infanterie vorgeschriebenen und angewandten Taktik änderte sich trotz der Entwicklung der Schußwaffen kaum etwas. Die Militärführung und die Theoretiker betrach¬ teten nach wie vor den Bajonettangriff und das Handgemenge als kampf- und schlachtentscheidende Faktoren. Sie rechneten aber auch mit der immer größe¬ ren Treffgenauigkeit, was daraus ersichtlich ist, daß sie im Jahre 1868 statt des auffälligen weißen Uniformrocks der Infanterie einen dunkelblauen einführten. Die Kavallerie, die zweite Waffengattung innerhalb der Armee, verlor gegen¬ über der früheren Zeit an Bedeutung und betrug weniger als ein Sechstel des Heeresstandes. Die 41 Kavallerieregimenter des gemeinsamen Heeres führten noch ihre alten Bezeichnungen Husaren, Dragoner und Ulanen, diese hatten aber weder hinsichtlich der Ausrüstung noch des Einsatzes eine Bedeutung. Der Friedensstand eines Kavallerieregiments der gemeinsamen Armee bestand aus 1061 Mann und 962 Pferden. Die Hauptwaffe der Kavallerie war der Säbel, die Mannschaft wurde außerdem noch mit einem Karabiner (seit 1867 mit dem genannten Einzellader mit Zündnadel) ausgerüstet. Die Ausrüstung zeigte und bestimmte den Charakter des Einsatzes: Neben der Aufklärung, der Streife und der Verfolgung war noch immer die Durchführung der Reiterattacke die Haupt¬ aufgabe des Verbandes, die aber infolge der Entwicklung der Schußwaffen immer anachronistischer wurde. Die Artillerie, die sich nach ihrem Einsatz in die Feldartillerie und in die Festungsartillerie gliederte, war nur im gemeinsa¬ men Heer systemisiert, die Honved und die Landwehr verfügten über diese Waffengattung nicht. 13 Artillerieregimenter der Feldartillerie waren den Trup¬ pendivisionen bzw. Korps zugeteilt und führten dementsprechend die Bezeich¬ nung Divisions- bzw. Korpsartillerieregiment. Der Friedensstand des Divisions¬ artillerieregiments betrug 457 Mann und 230 Pferde, ferner verfügte es über 32 Kanonen in vier Batterien. Die Festungsartillerie war unter anderem im galizi- schen Krakau und Przemysl, im dalmatischen Cattaro, im istrischen Pola und in der Festung Trient in Tirol stationiert und versah die speziellen Aufgaben der || || 52 Einleitung Festungsverteidigung und Festungsbelagerung. Die mit Vorderladegeschützen ausgerüstete Feldartillerie war lange Zeit in den Gefechten nicht sehr wirksam. Diese Geschütze konnten wegen ihrer geringen Reichweite und der ungelösten ballistischen Probleme, zumeist mit direkter Visiereinrichtung, nur innerhalb der Reichweite der feindlichen Infanterie eingesetzt werden. Die 1863 systemi- sierten Vorderladegeschütze wiesen schon günstigere Eigenschaften auf, und schließlich bewirkte die Einführung der Hinterladegeschütze im Jahre 1875 einen radikalen Wandel. Im Besitz dieser Kanonen größerer Reichweite und verläßlicherer Treffgenauigkeit konnte die Feldartillerie ihre Feuerkraft, hinter den eigenen Einheiten aufgestellt, über diese hinweg einsetzen. Die vierte Waf¬ fengattung, die technischen Truppen, gliederte sich teils in die mit Brückenbau, Befestigungen usw. beschäftigten Pioniertruppen, teils in die Eisenbahnkompa¬ nien, die den Feldbahnbau und die Reparatur von Eisenbahnstrecken besorg¬ ten, und in die Feldtelegraphen-Abteilungen. Es sei noch bemerkt, daß zur Versorgung des Heeres mit Verpflegung, Ausrüstung, Waffen und Munition sowie zu deren Transport ein eigener Apparat zur Verfügung stand, der teils innerhalb der Einheiten und teils unabhängig von ihnen organisiert war. Für den Kriegsfall war für den Transport des Heeres und der Vorräte der Armee in den Operationsraum eine eigene Organisation erforderlich. Für diesen Fall war der Einsatz der Eisenbahn sowie neben den ärarischen Pferden und Fahr¬ zeugen auch eine beträchtliche Inanspruchnahme der Pferde und Fahrzeuge der Bevölkerung vorgesehen. Das Heeresergänzungswesen verfügte innerhalb des Heeres und der Kriegma¬ rine über eine eigene Organisation. Die Monarchie war in Ergänzungsbezirke und in die diese zusammenfassenden Militärterritorialbereiche gegliedert, aus denen die Regimenter bzw. Korps ihren Ersatzstand erhielten, sowohl die Reservisten als auch die Ersatzreservisten und vor allem freilich die Stellungs¬ pflichtigen. Über die Tauglichkeit und Einteilung der Stellungspflichtigen ent¬ schied die Stellungskommission. Die Ordnung der Heeresergänzung regelten besondere Rechtsnormen: in Österreich das Gesetz vom 5. Dezember 1868, in Ungarn der Gesetzartikel Nr. 40 des Jahres 1868. Die Gesetze bestimmten die Dauer der Wehr- und der Dienstpflicht, das zehnjährige Rekrutenkontingent sowie dessen Aufteilung auf die beiden Staaten, die verschiedenen Arten der Befreiung sowie die Musterungsordnung. Im Sinne des Gesetzes war jeder Mann vom 20. bis zum 32. Lebensjahr wehrpflichtig. Die Dienstzeit bestand aus drei Jahren. Vom Rekrutenkontingent entfielen auf Österreich jährlich 55 992 Rekruten und 5592 Ersatzreservisten, auf Ungarn hingegen 39 552 Rekruten und 3955 Ersatzreservisten. Die Gesetze blieben bis 1889 unverändert in Kraft. Die Inanspruchnahme des Pferdebestandes der Bevölkerung für das Heer regel¬ ten in Österreich das Gesetz vom 13. April 1873, in Ungarn der Gesetzartikel Nr. 20 des Jahres 1873.140 hu Überblick verwendete Arbeiten: Glückmann, Das Heerwesen der österreichisch-ungarischen Monarchie - Schmidt-Brentano, Die Armee in Österreich - Rothenberg, The Army of Francis Joseph - Die Habsburgermonarchie 1848-1918 V. Die bewaffnete Macht - Magyar- orszäg hadtörtenete ket kötetben 2. A kiegyezestöl napjainkig. || || Einleitung 53 Das Landsturmgesetz Von der außenpolitischen Lagebeurteilung der Armeeführung, von ihrer Ansicht über die Gefährdung der Monarchie sowie von der Militärdoktrin war schon weiter oben ausführlich die Rede. Es sei aber noch einmal darauf hinge¬ wiesen, daß zu Beginn der 80er Jahre auch die militärischen Kreise die Bedro¬ hung durch Rußland für bestimmend erachteten und die eigentliche Aufgabe der Wehrmacht in der Abwehr dieser Gefahr erblickten. Im Kriegsfall rechneten sie - immer die Zusammenarbeit mit Deutschland vorausgesetzt -- mit einer strategischen Offensive, um eine Entscheidung zu erzwingen, noch bevor die russische Wehrmacht ihre zahlenmäßige Überlegenheit geltend machen könnte. Bei Erörterung der Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates in politischen Fragen wurde bereits davon gesprochen, daß die militärische Führung in den Jahren 1883-1884 zwecks Schaffung besserer Voraussetzungen für eine strategi¬ sche Offensive sowohl die Truppenstärke als auch die Mobilität des Heeres steigern wollte, wofür zahlreiche Entwürfe ausgearbeitet und dem gemeinsamen Mmisterrat vorgelegt wurden. Deren Schicksal soll nun im Rahmen der mit dem Kriegswesen verbundenen Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates zuerst be¬ sprochen werden, mit der Einschränkung, daß dem Problem der strategischen Eisenbahnlinien ein besonderes Kapitel gewidmet wird. Die Angelegenheit des Landsturms, die am 4. Februar 1883 vom gemeinsa¬ men Mmisterrat behandelt wurde und auch das Thema der Beratung vom 25. November 1883 war, hatte schon eine lange Vorgeschichte. Die Notwendigkeit seiner Errichtung war schon unmittelbar nach dem Ausgleich aufgetaucht. Die das erste Militärbudget beratende Kommission aus siebzehn Generälen und Obersten stellte sich im Verhältnis von 14 : 3 auf den Standpunkt, daß die Wehrpflicht nicht allein aus dem Präsenzdienst und aus der in der Reserve verbrachten Zeit bestehen könne, sondern darüber hinaus jeder Mann im Alter von 18 bis 40 Jahren auch landsturm-dienstpflichtig sei.141 Die Konzeption wurde jedoch nicht realisiert. In Ungarn wurde mit dem Gesetzartikel Nr 42 des Jahres 1868 nur der freiwillige Landsturm inartikuliert,142 in Österreich aber, mit Ausnahme von Tirol und Vorarlberg, blieb auch diese Form des Land¬ sturms unbekannt. Ende der 70er Jahre wurde die Angelegenheit des Land¬ sturms wegen der ungünstigen Erfahrungen während der bosnischen Okkupa¬ tion wieder aufgegriffen. Die Armee hatte in diesem Unternehmen, das kaum als Feldzug bezeichnet werden kann, allein an Toten 4165 Mann verloren,143 und das ließ die möglichen Verluste in einem wirklichen Krieg ahnen. Daß die Militärführung diese getarnte Form einer Verlängerung der Wehrpflicht wählte. i49 Schmidt-Brentano, Die Armee in Österreich 88--89. 142 Magyar Törvenytär 1836-1868 484. 143 ^fjLUSTE DER IM Jahre i878 mobilisierten k. k. Truppen 9. - Die Zahl der im Laufe der Okkupation kampfunfähig gewordenen Soldaten ist natürlich um vieles höher. Die an der Okkupa¬ tion von Westbosnien und der Herzegowina teilnehmenden Infanterieregimenter Nr. 23 und 78 verloren z. B. über 700 an Toten, Verwundeten und Verschollenen. Bencze, Bosznia es Herceeovi- na okkupäciöja 200. || || 54 Einleitung war unter den gegebenen politischen und finanziellen Bedingungen vollauf verständlich. Eine Änderung des Wehrgesetzes erschien nicht erreichbar, und zur Verlängerung des Präsenzdienstes bzw. der Reservezeit stand die erforderli¬ che finanzielle Deckung nicht zur Verfügung. Der allgemeine Pflichtcharakter des Landsturms hingegen und seine breite Altersspanne versprachen schier unerschöpflichen Nachschub, der - da er nur im Krieg fällig wurde - vorder¬ hand mit keinerlei Kosten verbunden war. Bei der Schaffung der Institution des Landsturms war der österreichische Landesverteidigungsminister Welsersheimb die treibende Kraft. Kurz nach sei¬ nem Amtsantritt, am 9. August 1880, erstellte er einen Entwurf für die allgemei¬ ne Landsturmpflicht, den eine Kommission unter dem Vorsitz von Erzherzog Albrecht erörterte und guthieß. Der Monarch wies den Minister am 23. Septem¬ ber 1880 an, den Entwurf dem österreichischen Ministerrat vorzulegen. Der Ministerrat nahm den Antrag günstig auf und zeigte sich bereit, den Gesetzent¬ wurf dem Reichsrat zu unterbreiten. Die Vorbereitungen blieben jedoch an diesem Punkt stecken, weil das Gesetz, das das Wehrsystem der Gesamtmonar¬ chie betraf, nur im Einvernehmen mit der ungarischen Regierung beantragt werden konnte und die Erwirkung des ungarischen Einverständnisses schon über die Befugnis des österreichischen Landesverteidigungsministers und der österreichischen Regierung hinausging. Der Herrscher und der gemeinsame Kriegsminister wiederum zeigten kein ausreichendes Interesse. Die Angelegen¬ heit bewegte sich erst vom toten Punkt, als in der Planung abermals die Idee einer strategischen Offensive in den Vordergund trat144 und auch der General¬ stabschef eine möglichst große Vermehrung des der Armee zur Verfügung stehenden Menschenmaterials für nötig erachtete. Der Monarch brachte die Angelegenheit am 4. Februar 1883 in der festen Absicht vor den gemeinsamen Ministerrat,145 grundsätzliches Einverständnis zu erzielen, also die Zustimmung der ungarischen Regierung zu erwirken. Welsersheimb zählte sämtliche militäri¬ schen Argumente auf, die für eine Landsturmpflicht sprachen: sie werde im Kriegsfall der Ergänzung des Heeresbestandes dienen, da hierzu die Ersatzreser¬ ve nicht ausreicht, und könnte die an der Hauptfront kämpfende Armee sinnvoll entlasten. Generalstabschef Beck unterstrich dieses letztere Argument damit, daß der Landsturm in Galizien, in Siebenbürgen und in Tirol sehr nützliche Dienste leisten könnte, und bat zu erwägen, daß die Dauer der Wehrpflicht in allen Ländern wesentlich länger sei als in der Monarchie. Im Anschluß daran erklärte es der Monarch geradezu für erschütternd, daß in der Monarchie die Wehrpflicht mit dem 32. Lebensjahr aufhöre. Seitens der ungarischen Regierung ergriff als erster der ungarische Landesverteidigungsminister Räday das Wort, der die militärische Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit des Landsturms nicht bezweifelte, aber Vorbehalte hinsichtlich der politischen Zuverlässigkeit formu¬ lierte und darauf hinwies, daß eine Verlängerung der Wehrpflicht um 10-12 144 Umarbeitung des Aufmarschelaborates für den Kriegsfall gegen Rußland. Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 21. 12. 1882, KA., MKSM. 69--2/1 ex 1883. 145 GMR. v. 4. 2. 1883, RMRZ. 311, KA., MKSM. 20-1/6-4 von 1883. || || Einleitung 55 Jahre im ungarischen Abgeordnetenhaus auf Widerstand stoßen werde. Eine mentorische Erörterung der Frage hielt er ohnehin nicht für aktuell, solange nicht auch in Ungarn - ähnlich wie in Österreich - entsprechende Vorstudien durchgeführt worden seien. Auch der ungarische Ministerpräsident Kalman Tisza bestand darauf, vor einem grundsätzlichen Beschluß die Einzelheiten zu klaren. Er verschwieg auch die wirklichen Ursachen der Vorbehalte der ungari¬ schen Regierung nicht, auf die auch der Landesverteidigungsminister schon hingewiesen hatte. Im Zusammenhang mit dem Landsturm habe er die ernste Sorge, daß dieser mehr schaden als nützen würde. So hielt er es nicht für ratsam, den Rumänen Waffen in die Hände zu geben. Die Argumente des Monarchen und des Generalstabschefs machten keinerlei Eindruck auf ihn, und auf das wiederholte Drängen des Herrschers hin stellte er bloß in Aussicht daß die ungarische Regierung mit dem Studium des Problems beginnen werde. Die Beratung wurde somit im Endergebnis erfolglos geschlossen, und auch das vom Monarchen verlangte grundsätzliche Einverständnis kam nicht zustande. Die „Bereitschaft zum Studium" legten die beiden Parteien in unterschiedlicher Weise aus. Der Herrscher bezeichnete sie als großen Fortschritt und faßte sie gleichsam als Prolog des Einverständnisses auf. Die ungarische Regierung hingegen meinte, daß sie mit dem Studium des Problems und unter diesem Vorwand auf ihrem ablehnenden Standpunkt beharren konnte. Wie sehr unterschiedlich die Ereignisse der Beratung vom 4. Februar ausge¬ legt wurden, stellte sich bald heraus. Die österreichische Regierung wandte sich, davon ausgehend, daß die ungarische Regierung bereit sei zuzustimmen, mit dem Ansuchen an die ungarische Regierung, sie möge es formal bewilligen, daß der die gemeinsamen Angelegenheiten der beiden Länder betreffende Gesetzent¬ wurf dem Reichsrat vorgelegt werde. Die ungarische Regierung, die gegen ihr Versprechen das Studium der Angelegenheit des Landsturms noch nicht einmal begonnen hatte, antwortete auf das Ansuchen, sie halte die Vorlage eines derartigen Gesetzentwurfes während der gegenwärtigen Session des ungarischen Abgeordnetenhauses nicht für möglich und könne auch dem Ansuchen der österreichischen Regierung nur aufgrund einer vorherigen Bevollmächtigung der ungarischen Gesetzgebung nachkommen. Und als der Ministerpräsident die Einladung zum gemeinsamen Ministerrat vom 25. November erhalten hatte faßte der ungarische Ministerrat den dringenden Beschluß, daß sich die Regie¬ rung ohne vorherige Bevollmächtigung der Gesetzgebung mit der Angelegenheit nicht befassen könne; die Vorlage der von der österreichischen Regierung gewünschten Gesetzvorlage sei auch ansonsten nicht zweckmäßig, weil sie eine staatsrechtliche Auseinandersetzung provozieren würde.146 Danach konnte der gemeinsame Ministerrat vom 25. November nur noch ein Dialog von Gehörlo¬ sen sein. Welsersheimb und Beck brachten wieder ihre militärischen Argumente vor, wobei sie die Betonung diesmal darauf legten, wie sehr die Armee der Monarchie im Kriegsfälle zahlenmäßig hinter dem Heer der übrigen Groß- 146 33/MT. Ung.MR. v. 20. 11. 1883. I. Besprechung mehrerer die Wehrfähigkeit der Monarchie betreffenden Fragen. II. Das Gesetz über den Landsturm, OL., K. 27, Karton 37. || || 56 Einleitung mächte Zurückbleiben würde. Kalman Tisza hingegen wiederholte die mit dem Widerstand des Parlamentes verbundenen Argumente und gab abermals seinem Zweifel an der Zweckmäßigkeit eines aus Rumänen und Ruthenen bestehenden Landsturms Ausdruck. Der einzige Fortschritt war, daß er übereinstimmend mit seinem Antwortschreiben an die österreichische Regierung seine Bereit¬ schaft erklärte, die vorherige Zustimmung der ungarischen Gesetzgebung einzu¬ holen. Diese Erklärung - obwohl sie den Beginn eines Wandels in der ungari¬ schen Regierung anzeigte - erfuhr jedoch keine besondere Beachtung, da sich im Laufe der Debatte herausstellte, daß auch innerhalb der Militärführung kein Einverständnis über die Modalitäten des Landsturms bestand und der gemein¬ same Kriegsminister Bylandt-Rheidt im Gegensatz zu Welsersheimb den Land¬ sturm auf acht Jahrgänge der Männer nach Ableistung des Präsenzdienstes beschränken wollte. Der Monarch war gezwungen einzugestehen, daß die Frage noch nicht beschlußreif war, und mußte die militärische Klärung der Frage anordnen. Zur Entscheidung über die endgültige Beschaffenheit des Landsturms kam es in der Beratung am 8. Januar 1884 unter dem Vorsitz des Monarchen, an der der Generalinspektor der Armee, der gemeinsame Kriegsminister, der Chef des Generalstabs, der österreichische Landesverteidigungsminister und der Vor¬ stand der Militärkanzlei Seiner Majestät teilnahmen.147 Zuvor hatten der ge¬ meinsame Kriegsminister und der österreichische Landesverteidigungsminister in einer umfangreichen Studie ihren Standpunkt niedergelegt, und auch der Generalinspektor der Armee verfaßte eine Eingabe, in der er für die allgemeine Landsturmpflicht Stellung nahm.148 Die Hauptgesichtspunkte der Studien faßte Generalmajor Popp, Vorstand der Militärkanzlei, zusammen und erwog die möglichen Vor- und Nachteile der beiden Konzeptionen.149 Der größte Vorteil der Welserheimbschen Konzeption sei, daß er - da er sich auf 24 Jahrgänge erstreckte - der Armee große Soldatenmengen zur Verfügung stellte und die ganze Institution dennoch mit geringen materiellen Mitteln geschaffen werden konnte. Ihr Nachteil war, daß unausgebildete Menschenmassen in der moder¬ nen Kriegsführung nur schwer verwendbar waren und die Bewaffnung großer Massen der Bevölkerung zu politischen Schwierigkeiten führen konnte. Dies letztere lag auch dem Widerstand der ungarischen Regierung zugrunde, der ein solches Ausmaß annahm, daß eine Akzeptierung des Landsturms in dieser Form als unmöglich erschien. Der Vorstand der Militärkanzlei wies auch auf einige Mängel im Entwurf des gemeinsamen Kriegsministers hin, namentlich darauf, daß er auf einen bedeutenden Teil der waffenfähigen Bevölkerung verzichtete, hob aber hervor, daß er zugleich sämtliche Mängel der Konzeption des österreichischen Landesverteidigungsministers beseitigte. Er stellte der Ar- 147 Protokoll der am 8. 1. 1884 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in Wien stattgehabten Beratung über die Landsturmfrage, KA., MKSM. 10-1/1-2 de 1884. 148 Studie über die Errichtung eines Landsturmes am 15. Dezember 1883. [Bylandt-Rheidt] - Entwurf. Gesetz betreffend den Landsturm im August 1883 [Welsersheimb]. - Zur Landsturm¬ frage. Anfang Jänner 1884. [Eh. Albrecht], KA., MKSM. 20-1/1-2 de 1884. 149 Die Landsturmfrage im Dezember 1883. Popp GM., KA., MKSM. 20-1/1-2 de 1884. || || Einleitung 57 mee etwa 450 000 Mann wohlausgebildete, disziplinierte Soldaten zur Verfü¬ gung, die schon zu Friedenszeiten organisiert werden konnten und dieses Insti¬ tution auch für Ungarn akzeptabel werden ließen. Aufgrund all dessen bean¬ tragte er, den Entwurf des gemeinsamen Kriegsministers anzunehmen. In der Beratung argumentierten beide Militärs für ihre eigene Konzeption und kriti- sierten die Mängel des Entwurfes des anderen. Bylandt-Rheidt betonte den militärischen Wert des aus ausgebildeten Soldaten bestehenden Landsturms und stelle die Brauchbarkeit des allgemeinen Landsturms in Frage. Welsersheimb erkannte an, daß ein ausgebildeter Landsturm in militärischer Hinsicht wertvol¬ ler sei, hob jedoch hervor, daß diese bedeutende Mittel erforderte und der Bevölkerung schon zu Friedenszeiten schwere Lasten aufbürdete. Interessanter¬ weise sprachen beide mehr von der politischen als von der militärischen Seite des Problems. Während Bylandt-Rheidt scharf gegen den Versuch der ungari¬ schen Regierung, sich militärisch selbständig zu machen, Stellung nahm und die von Welsersheimb beantragte Variante im ungarischen Abgeordnetenhaus für nicht konsensfähig erklärte, machte er sich gleichzeitig den Standpunkt der ungarischen Regierung fast zu eigen, indem er aussprach, daß der allgemeine Landsturm in vielen Fällen geradezu gefährlich sein könnte. Welsersheimb meinte demgegenüber, daß jetzt eine größere Bereitschaft der ungarischen Re¬ gierung zu verzeichnen sei, aber wenn sie sich dennoch weigern sollte, müsse man den Gesetzentwurf wenigstens dem Reichsrat unterbreiten, denn auch dies sei besser, als daß nichts geschehe. Der Monarch mußte die in die Debatte vertieften Militärs darauf aufmerksam machen, daß es sich hier nicht um politische Gesichtspunkte, sondern um die militärischen Beziehungen des Pro¬ blems handelte. An diesem Punkt ergriff der Generalinspektor der Armee das Wort und sagte, auf die preußischen Erfahrungen verweisend, daß eine Inan¬ spruchnahme der gedienten Mannschaft als Ersatz der Verluste nicht zweckmä¬ ßig sei. Hierzu seien die jüngeren Jahrgänge viel geeigneter, und der Hauptvor¬ teil des allgemeinen Landsturms bestehe darin, daß er sich diese jüngeren Jahrgänge sicherte. Der Generalstabschef äußerte sich in ähnlichem Sinn. Zur Heeresergänzung könne die gediente Mannschaft nicht in Frage kommen, bei dem derzeitigen niedrigen Stand der Ersatzreserve sei aber die wichtigste Aufga¬ be ein Ersatz der möglichen Verluste. Nach dieser Stellungnahme der beiden bedeutendsten Persönlichkeiten des Heeres blieb der vom gemeinsamen Kriegs¬ minister empfohlene militärisch ausgebildete Landsturm chancenlos. Dem Er¬ gebnis der Beratung gab der Monarch zwar keine Beschlußform, da er aber den österreichischen Landesverteidigungsminister mit der Informierung der ungari¬ schen Regierung betraute, bedeutete dies die Annahme der allgemeinen Land¬ sturmpflicht. Der Vorstand der Militärkanzlei Seiner Majestät verständigte am 24. Januar den ungarischen Ministerpräsidenten davon, daß in Angelegenheit des Land¬ sturms zwischen den militärischen Führern ein Einverständnis zustandegekom¬ men war.150 Seinem Brief legte er das Memorandum des Generalstabschefs bei, 150 Popp an Tisza v. 24. 1. 1884, KA., MKSM. 20-1/1-3 ex 1884. || || 58 Einleitung das teils Informationen über die Beratung vom 8. Januar enthielt, teils eine Erörterung der militärischen Probleme des allgemeinen Landsturms war.151 Die ungarische Regierung war aber noch immer nicht einverstanden mit dem, was in Wien geschah. Der Ministerpräsident unterrichtete den Ministerrat darüber, er sei vom Vorstand der Militärkanzlei offiziell verständigt worden, daß sich die militärischen Fachkreise zustimmend geeinigt hätten. Gleichzeitig wollte er den Standpunkt des Ministerrates konstatieren, daß dieser an seinem Beschluß vom 20. November vorigen Jahres festhalte; außerdem sei eine jetzige Vorlage an den Reichstag in dieser Angelegenheit um so weniger zweckdienlich, als jener allem Anschein nach den Landsturm-Gesetzentwurf jetzt nicht behandeln würde. Dessenungeachtet beauftrage er den Landesverteidigungsminister, ein eingehen¬ des Fachgutachten auszuarbeiten, damit sich die ungarische Regierung - wenn die Frage spruchreif würde - meritorisch äußern könne.152 Der Beschluß des ungarischen Ministerrates vom 18. März war recht wider¬ sprüchlich. Einerseits hielt er seinen ablehnenden Standpunkt auch weiterhin aufrecht, andererseits baute er dadurch, daß er den Landesverteidigungsmini¬ ster damit beauftragte, aufgrund des Memorandums des Generalstabschefs und unter Berücksichtigung der ungarischen Verhältnisse ein Gutachten zu erstellen, eine goldene Brücke, über die er sich einen Rückzug sicherte, wenn sich dies als nötig erweisen würde. Und als der Honvedminister Fejerväry am 19. Juni kein Fachgutachten, sondern einen regelrechten Entwurf zur Schaffung des Land¬ sturms vorlegte, verhielt sich der am 4. Juli zusammengetretene Ministerrat so, als hätte er seinen Widerstand vergessen.153 Bei Erörterung der Vorlage erinnerte sich niemand mehr an den früheren gültigen Ablehnungsbeschluß des Minister¬ rates, sondern vertiefte sich in die Beratung der maßgebenden Grundsätze über den Landsturm. Wann dieser Wandel des ungarischen Ministerrates erfolgt ist, dessen erste Anzeichen schon im gemeinsamen Ministerrat vom 25. November 1883 wahrnehmbar waren, kann aus den zur Verfügung stehenden Schriften nicht genau festgestellt werden. Tatsache ist, daß die Beratung vom 4. Juli schon darauf zielte, den Landsturm, wenn er schon einmal zustande kam, den ungari¬ schen Verhältnissen und Interessen möglichst weitgehend anzupassen. So hielt es der Ministerrat für nötig, die obere Altersgrenze des Landsturms auf 40 Jahre herabzusetzen, und für zweckmäßig, Einberufung und Einsatz des Landsturms an verfassungsmäßige Garantien zu binden. Er stellte die Bedingung, daß der Landsturm nur einberufen werde, wenn das Land unmittelbar der Gefahr eines feindlichen Angriffs ausgesetzt sei, und daß zu seiner Einberufung und zum Einsatz als Heeresergänzung oder außerhalb der Landesgrenzen die vorherige Zustimmung des Parlaments bzw. Ministerrates erforderlich sei. Schließlich 151 Zur Landsturmfrage. Auf Ah. Befehl verfaßt als Begründung des Gesetzes für den ung. Ministerpräsidenten. Übergeben am 20. 1. 1884. Beck m.p., KA., MKSM. 10-17 1-3 ex 1884. 152 SjMT. Ung.MR. v. 18. 3.1884. 3. In Angelegenheit des Landsturmgesetzes, OL., K. 27, Karton 38. 153 16/MT. Ung.MR. v. 4. 7.1884. 21. In Angelegenheit des Landsturmgesetzes, OL., K. 27, Karton 38. || || Einleitung 59 beauftragte der Ministerrat den Honvedminister, mit der österreichischen Re¬ gierung Verhandlungen über den Landsturm-Gesetzentwurf zu beginnen. Ob es dann zu diesen Verhandlungen gekommen ist, geht aus den Protokollen des ungarischen Ministerrates nicht hervor. Dagegen ist der gemeinsame Mini¬ sterrat am 20. November 1884 unter anderem zu diesem Zweck zusammengetre¬ ten. Dies war die dritte Gelegenheit nacheinander, daß die Angelegenheit des Landsturms erörtert wurde, doch abweichend von den früheren zwei Sitzungen wurde diesmal nicht über die Notwendigkeit, sondern über die Beschaffenheit des Landsturms diskutiert. Es lagen zwei Entwürfe vor: einer vom österreichi¬ schen und der andere vom ungarischen Landesverteidigungsminister. In seinem Entwurf setzte der ungarische Honvedminister die Landsturmpflicht - dem Beschluß seines Ministerrates entsprechend - vom 19. bis zum 40. Lebensjahr fest und unterteilte den Landsturm hinsichtlich des Einsatzes in drei Aufgebote. In das erste Aufgebot nahm er die ersten vier Jahrgänge nach Ableistung des Präsenzdienstes auf. Es sollte neben der Verrichtung sonstiger militärischer Aufgaben als Ersatzrahmen für die Kriegsverluste dienen. Das zweite Aufgebot bildeten die drei folgenden Jahrgänge nach Ableistung des Präsenzdienstes, ebenfalls mit Waffendienst, aber von der Ergänzungspflicht befreit. In das dritte Aufgebot, zum Dienst ohne Waffen, wurden alle Männer vom 19. bis zum 40. Lebensjahr aufgenommen, die nicht zu den ersten beiden Aufgeboten gehörten. Anscheinend hatte Fejerväry keine Kenntnis davon, daß die oberste Militärfüh¬ rung die Kriegsverluste in erster Linie nicht aus den gedienten, sondern aus den provisorisch freigestellten, jüngeren Jahrgängen ersetzen wollte; dem diesbezüg¬ lichen - allerdings ziemlich kurz gefaßten - Passus der Denkschrift des General¬ stabschefs hatte er wohl nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet. Jedenfalls rechnete er im ersten Aufgebot mit 180 000 (in den beiden Staaten mit 360 000, einschließlich der Ersatzreserve mit 440 000) Mann und meinte, damit die Ansprüche des Generalstabs zu erfüllen, der in seinem Memorandum154 zum Ersatz der Kriegsverluste 400 000 Mann verlangt hatte. In Kenntnis der Vorge¬ schichte nimmt es nicht wunder, daß der Entwurf Fejervärys weder beim Mon¬ archen noch beim Generalstabschef und beim österreichischen Landesverteidi¬ gungsminister günstige Aufnahme fand. An der Altersgrenze von vierzig Jahren beanstandeten sie besonders, daß der ungarische Honvedminister die Kriegsver¬ luste ausschließlich durch die Inanspruchnahme der gedienten Mannschaft ersetzen wollte. Welsersheimb hielt einen langen Vortrag darüber, daß sich deren militärischer Wert rasch vermindere und daß der ungarische Honvedmini¬ ster das erste Aufgebot des Landsturms mit 180 000 Mann bei weitem zu hoch angesetzt habe. Schließlich beantragte er, den Paragraphen des Wehrgesetzes über die provisorische Befreiung im Landsturmgesetz mit der Formulierung zu ergänzen, daß im Kriegsfall die jüngsten Jahrgänge des Landsturms im Verord¬ nungswege zur Ergänzung der Armee in Anspruch genommen werden können. Auf diese Weise könnte die Armee aus beiden Staaten mit einer Ergänzung von 150 000 Mann rechnen. Generalstabschef Beck war ja eigentlich selbst mitschul- 154 Vgl. Anm. 151. || || 60 Einleitung dig daran, daß der Entwurf Fejervärys so und nicht anders ausgefallen war, weil er in seinem Memorandum an die ungarische Regierung im Zusammenhang mit dem Einsatz des Landsturms an erster Stelle die aus der gedienten Mannschaft zu bildenden Formationen, an zweiter Stelle den Einsatz des Landsturms im Sinn von Freischärlern und erst an dritter Stelle kurz und nicht klar genug die Heeresergänzung behandelt hatte - nun aber eilte er rasch dem österreichischen Landesverteidigungsminister zur Hilfe. Zuerst besprach er zwar lang und breit den Inhalt seines Memorandums, schloß aber schließlich damit, daß zum Ersatz der Verluste die gediente Mannschaft nicht ausreiche und aus der von den zwölf wehrpflichtigen Jahrgängen provisorisch freigestellten halben Million minde¬ stens 100 000-200 000 Mann für das Heer gewonnen werden könnten. Zur Zurückweisung dieses konzentrierten Angriffs hatte auch Fejerväry Argumente militärischen Charakters. Dem österreichischen Landesverteidigungsminister entgegnete er, die Anzahl der von den provisorisch Freigestellten einzuziehen¬ den Mannschaft sei zu hoch geschätzt. Schließlich erkannte er aber an, daß seine Diskussionspartner aus militärischer Sicht recht hatten und das gesteckte Ziel mit größeren Kräften leichter zu erreichen sei. Danach aber konnte er sich nur noch in seiner politischen Defensivstellung verschanzen. Man müsse zwischen dem unterscheiden, was militärisch erwünscht und was politisch erreichbar sei; wenn man die provisorischen Freistellungen in Frage stelle, gefährde man das Zustandekommen des Landsturmgesetzes. Die übrigen Teilnehmer der Bera¬ tung beteiligten sich mit Ausnahme des Monarchen nicht an der Debatte. Der gewiß über seine Generalskollegen verärgerte gemeinsame Kriegsminister hüllte sich während der ganzen Zeit in tiefes Schweigen, der ungarische Ministerpräsi¬ dent aber ließ es zu, daß der Honvedminister das Wort führte. Als aber Fejervä¬ ry in militärischer Beziehung den Kampf aufgab, erachtete er es für richtig, ihn zu unterbrechen und den Herrscher zu ersuchen, er möge gestatten, daß der ungarische Ministerrat die obere Altersgrenze des Landsturms und den Einsatz der provisorisch Freigestellten als Heeresersatz nochmals einer gründlichen Erwägung unterziehe. Danach erfolgte noch ein langer Gedankenaustausch über die unterschiedlichen Paragraphen des ungarischen und des österreichi¬ schen Gesetzentwurfes, in dessen Verlauf die Gegensätze zum Teil eliminiert, zum Teil in der Schwebe gelassen wurden. Aber hinsichtlich des Landsturms an sich hatte das alles keine besondere Bedeutung mehr. Die Erörterung der Tagesordnung endete damit, daß auf die Frage des Monarchen sowohl der österreichische als auch der ungarische Ministerpräsident erklärten, die Entwür¬ fe im Herbst 1885 der Gesetzgebung zu unterbreiten. Da es hier nicht um die Geschichte des Landsturms, sondern um den gemein¬ samen Ministerrat geht und der 20. November 1884 die letzte Gelegenheit war, daß sich dieses Gremium mit dem Landsturm beschäftigte, ist nur noch zu bemerken, daß dieses nun schon seit vier Jahren verhandelte Gesetz schließlich doch zustande gekommen ist. Der ungarische Ministerrat beschloß „nach gründlicher Erwägung" am 17. Dezember 1884 der Altersgrenze von 42 Jahren zuzustimmen, blieb aber hinsichtlich der provisorisch Freigestellten bei seinem Standpunkt und hat einen Modifizierungsantrag erst anläßlich der Erneuerung || || Einleitung 61 des Wehrgesetzes unterbreitet.155 An der Kommissionsberatung am 31. Mai 1885 unter dem Vorsitz des Herrschers, in der der ungarische und der österrei¬ chische Gesetzentwurf beraten wurden, versprach der ungarische Honvedmini- ster, er werde den ungarischen Ministerrat zu überreden versuchen daß er die provisorisch Freigestellten in die Ersatzreserve einreihe.156 Die ungarische Re¬ gierung stimmte am 8. Juni 1885 auf Ansuchen der österreichischen Regierung zu, den Landsturm statt der bisherigen drei Aufgebote in zwei zu gliedern, aber in der Frage der provisorisch Befreiten wies sie den Antrag Fejervärys ab.157 So mußte schließlich die Führung des gemeinsamen Heeres zur Kenntnis nehmen, daß sie mit den provisorisch Freigestellten aus Ungarn nicht rechnen konnte zumindest nicht bis zu einer Modifizierung des Wehrgesetzes. Paragraph 5 des österreichischen Landsturmgesetzes erklärte im Einklang mit Welsersheimbs Antrag im gemeinsamen Ministerrat, daß die in das erste Aufgebot des Land¬ sturms eingereihten Personen (dieses Aufgebot umfaßte nun die Altersklassen vom 19. bis zum 37. Lebensjahr) im Kriegsfälle zur Heeresergänzung in An¬ spruch genommen werden konnten, das ungarische Gesetz beschränkte dagegen diesen Paragraphen auf die „früher militärisch ausgebildeten" Personen Die vorgelegten Gesetzentwürfe wurden vom ungarischen Abgeordnetenhaus und vom österreichischen Reichsrat im Februar 1886 verabschiedet und traten nach Sanktionierung durch den Monarchen am 6. Juni 1886 in Kraft Das Pferdestellungsgesetz Ähnlich wie in früheren Zeiten war das Pferd auch im vorigen Jahrhundert ein wichtiges Mittel der Kriegsführung. Obwohl die Bedeutung der Kavallerie stark zurückgegangen war, beanspruchte diese Waffengattung immer noch sehr viele Pferde, und auch der Transport von Geschützen, Wagen und Bagage wurde nach wie vor von Pferden bewerkstelligt. In Friedenszeiten deckte die Armee ihren Bedarf teils aus eigener Zucht und teils durch Ankauf. Im Mobili¬ sierungsfall erwies sich aber der Friedensstand für den plötzlich erhöhten Bedarf nicht als ausreichend. Zur Zeit der Massenarmeen wurde daher die allgemeine Wehrpflicht auch auf die Pferde ausgedehnt, und die Eigentümer wurden gesetz¬ lich dazu verpflichtet, ihre für das Heer geeigneten Pferde diesem gegen entspre¬ chende Entschädigung zu überlassen. Die Armee registrierte die geeigneten 30/MT. Ung.MR. v. 17. 12. 1884. 5. Bezüglich des Landsturmgesetzantrages, OL K 27 Karton 59. ' 156 Protokoll der am 31. 5. 1885 in der Hofburg zu Wien unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät abgehaltenen kommissionellen Beratung über die wegen der ungünstigen Verhältnisse bei der mobilen Armee entstehenden Abgänge, wünschenswerten Verbesserungen des Wehrge- Durchführungsbestimmungen, ferner über das Landsturmgesetz, JvA., MK!SM. 20--1/10--9 cx 1885. 12/MT. Ung.MR. v. 8. 6. 1885. 3. Bezüglich des Landsturmgesetzantrages. 4. Über die Modifi¬ zierung des Paragraphen 17 des Gesetzartikels XL vom Jahre 1868 über Wehrkraft OL K 27, Karton 39. ' '' ' || || 62 Einleitung Pferde im Grundbuch genauso wie die wehrpflichtigen Personen. Die Deckung des Pferdebedarfes der Armee im Falle einer Mobilisierung regelten in Ungarn der Gesetzartikel XX des Jahres 1873, in Österreich das Gesetz vom 16. April 1873. Hinsichtlich der Verteilung des Pferdebedarfes auf die beiden Staaten verfügten die Gesetze ebenso wie im Falle der wehrpflichtigen Personen: Unter Berücksichtigung des vorhandenen Pferdebestandes wurde ein entsprechender prozentueller Schlüssel festgesetzt, der natürlich alljährlich dem Ist-Pferdestand angepaßt wurde. So sollte beispielsweise nach dem Ergebnis der Pferdezählung im Jahre 1880 Österreich für 45,61 %, Ungarn aber für 54,39% des Pferdebedarfs aufkommen. Im Falle einer Mobilisierung der in den beiden Reichshälften stationierten Einheiten entsprach der Pferdebedarf nicht der prozentuellen Ver¬ teilung der Pferde, deshalb war zu erwarten, daß eine genaue Einhaltung der Parität zu gewissen Stockungen führen würde. Laut Berechnung des gemeinsa¬ men Kriegsministeriums benötigte das Heer im Mobilisierungsfall 138 880 Pfer¬ de, wovon 74 120 auf die in Österreich und 64 760 auf die in Ungarn stationier¬ ten Einheiten entfielen. Österreich mußte folglich gegenüber der prozentuellen Verteilung 10 552 Pferde mehr und Ungarn ebensoviel Pferde weniger bereitstel¬ len.158 Das Problem ergab sich aus dem oben erwähnten Schlüssel. Der bei den Einheiten auftretende Fehlbestand mußte nämlich durch Transporte innerhalb des betreffenden Staates ergänzt werden, und die benötigten Pferde gelangten nach einem Eisenbahntransport von oft vielen hundert Kilometern an ihren Bestimmungsort. So war z. B. für den Ersatz der Fehlbestände bosnischer Einheiten ein galizischer Militärbezirk vorgesehen, was angesichts der großen Entfernung zwischen Lemberg und Sarajevo ziemlich zeitraubend war. Der Hinundhertransport von über 10 000 Pferden verlangsamte im Endergebnis die gesamte Mobilisierung und konnte einen unersetzbaren Zeitverlust verursachen. Zu Beginn der 80er Jahre, als im Zusammenhang mit der geplanten strategi¬ schen Offensive die rasche Mobilisierung zunehmende Bedeutung bekam, er¬ achteten es der Generalstab und das gemeinsame Kriegsministerium für nötig, dieses System der Pferdestellung zu ändern. Der Chef des Generalstabs wies in seinem Vortrag vom 21. Dezember 1882 daraufhin, daß im Falle eines Krieges mit Rußland Krakau, Jaroslau und Lemberg schon in den ersten Tagen von einem direkten russischen Vorstoß gefährdet wären, was den Aufmarsch der ganzen österreichisch-ungarischen Wehrmacht verhindern könnte. Einem russi¬ schen Einfall konnte nur vorgebeugt werden, wenn die österreichisch-ungari¬ sche Militärführung an den gefährdeten Punkten teils durch eine intensivere Ausnutzung des Eisenbahntransportes, teils durch eine günstigere Pferdevertei¬ lung schon in den ersten Tagen der Mobilisierung operationsbereite Kräfte konzentrierte.159 Die Behebung der Anomalien auf dem Gebiet der Pferdevertei¬ lung erschien sehr einfach: Man mußte von der in staatsrechtlichen Überlegun¬ gen wurzelnden Parität Abstand nehmen und die fehlenden Pferde, unabhängig 158 Die Daten stammen aus der Denkschrift des österreichischen Landesverteidungsministeriums ohne Titel und Datum, vermutlich im Februar 1883, KA., MKSM. 20-1/6-6 ex 1883. 159 Vgl. Anm. 144. || || Einleitung 63 von der die beiden Staaten trennenden Grenze, von dort beschaffen, wo dies für zweckmäßig erschien. Das Kriegsministerium führte deshalb Verhandlungen mit dem ungarischen Honvedministerium zur Änderung des Pferdestellungsge¬ setzes vom Jahre 1873. Die Initiative wurde ungarischerseits günstig aufgenom¬ men - wohl weil man in ihr eine Möglichkeit zur Steigerung des Pferdeexportes erblickte und es kam eine Vereinbarung hinsichtlich einer Neuformulierung der betreffenden Paragraphen zustande. Der ungarische Honvedminister verlas am 6. Februar 1883 im gemeinsamen Ministerrat den neuen Text des § 3 des Gesetzes, wonach, wenn irgendein Militärterritorialbezirk im Mobilisierungsfall die benötigte Anzahl von Pferden nicht bereitstellen konnte, der Fehlbestand aus einem benachbarten Militärterritorialbezirk geliefert werden sollte, unge¬ achtet dessen, zu welchem Teil des Staatsgebietes dieser Militärbezirk gehörte.160 Zur Änderung war aber auch die Zustimmung der österreichischen Regierung erforderlich, und diese willigte nicht ohne weiteres ein. Der österreichische Landesverteidigungsminister Welsersheimb erklärte nämlich in der Beratung am 4. März 1883 unter dem Vorsitz des Monarchen,161 daß die Position der österreichischen Regierung ungewiß sei und er befürchte, daß sich über die Modifizierung eventuell eine Parlamentsdebatte ergeben werde. Er versicherte jedoch dem Monarchen, daß die österreichische Regierung geneigt sei, das Pferdestellungsgesetz so auszulegen, wie dies die geplante Modifizierung in Aussicht nahm. Nachdem der gemeinsame Kriegsminister bezweifelt hatte, daß die ungarische Regierung ohne Gesetzesänderung diesem Verfahren zustimmen würde, schloß der Monarch die Beratung damit, daß von Fejerväry, dem neuen Honvedminister, Informationen über den Standpunkt der ungarischen Regie¬ rung eingeholt werden sollen. Wenn die ungarische Regierung sich ablehnend zeige, müßten neue Verhandlungen über die Modifizierung des Gesetzes begin¬ nen. Die ungarische Regierung zeigte sich tatsächlich nicht geneigt, deshalb wurde die Angelegenheit des Pferdestellungsgesetzes am 25. November 1883 abermals auf die Tagesordnung des gemeinsamen Ministerrates gesetzt. Der gemeinsame Kriegsminister Bylandt-Rheidt berichtete ziemlich resigniert, die Verhandlun¬ gen über die Gesetzesänderung seien ergebnislos gewesen. Die ungarische Regie¬ rung stimmte der seitens des gemeinsamen Kriegsministers beantragten Modifi¬ zierung in dem Sinne zu, wie hierüber auch der ungarische Honvedminister Räday sprach, die österreichische hingegen nicht. Die neuere Variante aber wies die ungarische Regierung ab. Die Meinungsverschiedenheit gipfelte in der Ver¬ weigerung der ungarischen Regierung, daß in Ungarn die Organe des gemeinsa¬ men Kriegsministeriums die in den einzelnen Militärbezirken auszuhebende Anzahl von Pferden bestimmten, die österreichische Regierung hingegen hielt 160 GMR. V. 6. 2. 1883, RMRZ. 312, KA„ MKSM. 20-1/6-5 von 1883. Protokoll der unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 4. 3. 1883 stattgehabten Beratung über die Verbesserung der Pferdestellung im Mobilisierungsfalle, KA MKSM 20- 1/6-6 ex 1883. '' || || 64 Einleitung an diesem Verfahren fest.162 Vermutlich war dies nur ein Vorwand für die österreichische Regierung, um die weiter oben erwähnten Vorbehalte innenpoli¬ tischen Charakters zu verschleiern. Das in dieser Sache weit mehr zuständige gemeinsame Kriegsministerium erachtete die ungarische Variante für akzepta¬ bel, und Welsersheimb hielt es auch nicht für zweckdienlich, auf diese Beziehung im gemeinsamen Ministerrat einzugehen. Kalman Tisza erlaubte sich die Be¬ merkung, wenn das gemeinsame Kriegsministerium die Anzahl der Pferde bestimmen würde, wäre dies die Ausübung einer Art Exekutivgewalt, was mit dem Staatsgrundgesetz (offenbar mit dem Gesetzartikel XII des Jahres 1867) nicht vereinbart werden könnte. Das war eine ziemlich erzwungene Argumenta¬ tion, disponierte der gemeinsame Kriegsminister doch auch über die Wehr¬ pflichtigen aus Ungarn, womit er tatsächlich eine Exekutivgewalt ausübte. Hier zählte aber nicht die Logik der Argumentation, sondern deren Gewicht. Die ungarische staatsrechtliche Hartnäckigkeit und die österreichische Doppelzün¬ gigkeit hatten eine vollkommene Pattsituation herbeigeführt, und es bestand keine Aussicht, sich vom toten Punkt wegzubewegen. Der Monarch schloß die Beratung mit der vergeblichen Aufforderung, die Minister sollten in persönli¬ chen Besprechungen die Differenzen endlich beseitigen. Auch die weiteren Verhandlungen zeitigten keinen Erfolg. Die Gesetze vom Jahre 1873, deren Paragraphen die Mobilisierung erschwerten, blieben auch weiterhin in Kraft, und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten wurden nur dadurch einigerma¬ ßen gemildert, daß die zum Ersatz dienenden Pferde auf dem möglichst kürze¬ sten Weg zu ihrer Einheit gelangen konnten. Das Kriegsleistungsgesetz Im Kriegsfall nahm die Armee nicht nur einen Teil des Pferdebestandes der Bevölkerung in Anspruch, sondern auch deren Wagen und Gespanne. Der Grund war der gleiche wie bei der Pferdestellung: Der im Frieden vorhandene militärische Bestand erwies sich im Mobilisierungsfall als unzureichend. Die Gespanne der Bevölkerung, die zumeist vom Besitzer des Fuhrwerks, aber jedenfalls von einem zivilen Kutscher gefahren wurden, waren unter Aufsicht je eines zivilen Geleitmanns dem Truppentrain zugeteilt und wurden zum Trans¬ port der Lebensmittel, Munition und sonstiger Vorräte der Einheit eingesetzt. Ein Teil der Fahrzeuge, die sog. Vorspannfuhren, wurden nur einen halben oder ganzen Tag benutzt, ein anderer Teil, die Landesfuhren, wurden für unbestimm¬ te Zeit in Anspruch genommen und gehörten samt ihren Kutschern während der Zeit der Inanspruchnahme zum Heeresverband. Für die Inanspruchnahme der Personen und die Benutzung der Gespanne zahlte das Heer eine Entschädi¬ gung. Dieser ganze Mechanismus war jedoch, von der Pferdestellung abgesehen, 162 Über diese Beratungen informiert eine den Titel Pferdestellungsgesetz führende, ohne Verfasser und Datum, feststellbar Ende November 1883 verfertigte Denkschrift, KA., MKSM., Separat¬ faszikeln, Fase. 69, Nr. 32. || || Einleitung 65 nicht gesetzlich geregelt. Anläßlich der bosnischen Okkupation stellte die unga¬ rische Regierung der Armee im Verordnungswege eine große Anzahl von Ge¬ spannen zur Verfügung, diese Regelung war aber damals nur provisorisch wirksam. Das gemeinsame Kriegsministerium, das auch auf diesem Gebiet schon seit langem klare rechtliche Verhältnisse schaffen wollte, hatte damals schon einen fertigen Entwurf und begann aufgrund der Erfahrungen vom 1878 eine intensive Tätigkeit: es erarbeitete den Gesetzesantrag über die Inanspruch¬ nahme von Fuhren samt Durchführungsverordnung. Infolge der üblichen Ge¬ mächlichkeit der Abstimmung mit den beiden Regierungen sowie allen interes¬ sierten Ministerien befand sich aber das Gesetz vier Jahre nach der Okkupation immer noch im Stadium der Vorbereitung.163 Die Angelegenheit des Kriegslei¬ stungsgesetzes erfuhr einen neuen Aufschwung, als sich auch der Generalstab zu interessieren begann, da er in den Aufmarschplan gegen Rußland auch eine große Anzahl von Zivilfahrzeugen einkalkuliert hatte. Der Monarch bestätigte am 13. Januar 1883 jene Vorlage des Generalstabschefs, welche die Inanspruch¬ nahme von 74 900 Zivilfahrzeugen vorsah, von denen Galizien 61 500 und Ungarn 13 400 bereitzustellen hatten.164 Ebenso dringend wie die Erledigung des Landsturm- und des Pferdestellungs¬ gesetzes schien auch die Verabschiedung des Kriegsleistungsgesetzes zu sein, deshalb setzte der Monarch auch diese Frage auf die Tagesordnung des gemein¬ samen Ministerrates vom 4. Februar 1883.165 Der gemeinsame Kriegsminister referierte, daß der Gesetzentwurf fertiggestellt und zur Weiterleitung an die Regierungen den Landesverteidigungsministern übergeben worden sei. Die bei¬ den Minister bestätigten dies, doch Räday fügte hinzu, der ungarische Minister¬ rat habe die Angelegenheit noch nicht eingehend erörtert, und Welsersheimb deutete an, es sei noch nicht entschieden, ob sich zuerst der Ministerrat oder der gemeinsame Ministerrat mit dem Entwurf befassen müßte. Daraus hatte es den Anschein, es gehe allein um Probleme der Vorgangsweise und der Geschäftsord¬ nung. Dem zweimaligen Diskussionsbeitrag Kalman Tiszas konnte man jedoch entnehmen, daß die ungarische Regierung auch den sachlichen Teil der Angele¬ genheit erwog. Der ungarische Ministerpräsident nannte wohl ein derartiges Gesetz zweifellos notwendig und versprach auch, daß der Gesetzentwurf erör¬ tert werde, wies aber zugleich auch daraufhin, daß man sich die Sache gründlich überlegen müsse und auch die möglichen Parlamentsschwierigkeiten nicht außer acht gelassen werden dürften. Für das Zustandekommen des Gesetzes war diese Einschränkung kein besonders ermutigendes Vorzeichen. Daß die Anwesenden dennoch nicht auf Tiszas Vorbehalte reagierten, kann dem Umstand zugeschrie¬ ben werden, daß der ungarische Ministerpräsident außerdem erklärte, wenn der Krieg plötzlich ausbräche, könne alles, worüber man sich geeinigt hatte, im Verordnungsweg in Kraft gesetzt werden. Eine Debatte entstand über die 'm Wagner' Geschichte des k. k. Kriegsministeriums II, 178. Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 29. 4. 1883 hinsichtlich des Aufmarschelaborates für den Kriegsfall gegen Rußland, KA., MKSM. 69-2/1-3 ex 1883 165 Vgl. Anm. 145. || || 66 Einleitung Meinung des Vertreters des gemeinsamen Kriegsministeriums, daß die betref¬ fende Verordnung auch schon im Frieden erlassen werden könne. Der General¬ stabschef hielt eine Konskription der zum Kriegsdienst geeigneten Fuhrwerke für nötig, Tisza hingegen befürchtete eine sich daraus ergebende Beunruhigung und hielt eine Datenerfassung „unter der Hand" für zulässig. Der Herrscher schloß diese Debatte damit, daß genauso wie die alljährliche Pferdezählung, auch eine Fuhrwerkszählung niemanden beunruhigen dürfte, im übrigen wurde in der ganzen Angelegenheit kein meritorischer Beschluß gefaßt. In dem gemein¬ samen Ministerrat vom 11. November 1883,166 an dem die Vetreter der ungari¬ schen Regierung nicht teilnahmen, wurde nur die Frage vorgebracht, ob die Anzahl der in Anspruch zu nehmenden Fuhrwerke dem galizischen Statthalter zwecks Veröffentlichung bekanntgegeben werden sollte oder nicht. Die militäri¬ schen Führer stimmten ausnahmslos für die Notwendigkeit der Bekanntgabe, der gemeinsame Außenminister Kälnoky formulierte jedoch gewisse Vorbehalte und beantragte, daß die betreffenden Daten, um Aufsehen zu vermeiden, auch in Mähren und anderwärts veröffentlicht werden. Schließlich einigte man sich auf die Veröffentlichung der galizischen Wagenzahl. Im gemeinsamen Ministerrat vom 25. November 1883167 stellte es sich dann heraus, welches der Inhalt der früheren Überlegungen von Kalman Tisza war. Der gemeinsame Kriegsminister Bylandt-Rheidt berichtete unter Hinweis auf die letzte Kommissionsverhandlung, daß die ungarische Regierung nur ein kurzes Gesetz wünschte und das Gewicht auf die Durchführungsbestimmungen legen wollte. Gleichzeitig teilte er mit, daß die Kommission den ungarischen Entwurf als Verhandlungsgrundlage akzeptierte und die Durchführungsbestim¬ mungen unter Berücksichtigung dessen umgearbeitet und an die beiden Regie¬ rungen weitergeleitet wurden. Die Antwort der ungarischen Regierung war noch ausständig, die österreichische Regierung aber beanstandete das beantrag¬ te Ausmaß der Entschädigungssumme. Tisza entschuldigte sich, indem er auf die außerordentliche Inanspruchnahme der ungarischen Regierung verwies, aber der gemeinsame Ministerrat vermochte in Ermangelung der ungarischen Antwort keinen Schritt vorwärtszukommen. Der lange Gedankenaustausch darüber, daß das Gesetz wohl notwendig sei, weil ohne ein solches die Durch¬ führung der Vorbereitungen gesetzwidrig gewesen wäre, es aber in Friedenszei¬ ten schwer durchsetzbar sei, war praktisch völlig nutzlos. Im gemeinsamen Ministerrat vom 20. November 1884 wiederholte sich in anderer Rollenvertei¬ lung das ein Jahr frühere Schauspiel.168 Bylandt-Rheidt teilte mit, daß der ungarische Entwurf eingetroffen sei, gegen den er keinerlei meritorischen Ein¬ wand habe, die österreichische Regierung blieb aber die Antwort schuldig. Der neuen Rollenverteilung entsprechend entschuldigte sich jetzt Welsersheimb mit der Begründung, daß von den zuständigen Ministerien die Stellungnahme des Finanzministeriums noch ausstehe. So sah sich der gemeinsame Ministerrat in 166 GMR. v. 11. 11. 1883, RMRZ. 316, KA„ MKSM. 20-1/13-2 de 1883. 167 GMR. v. 25. 11. 1883, RMRZ. 317, KA„ MKSM. 20-1/14-12 de 1883. 168 GMR. v. 20. 11. 1884, KA„ MKSM. 20-1/12-2 de 1884. || || Einleitung 67 dieser Angelegenheit nach wie vor zum Abwarten gezwungen. Die warnende Erklärung des Generalstabschefs, wonach im Mobilisierungsfall der Bedarf des Heeres auch ohne gesetzliche Bestimmung befriedigt werde, und die als Selten¬ heit geltende Erklärung des ungarischen Ministerpräsidenten, daß ein Zustande¬ kommen des Gesetzes im Interesse der sicheren und ungestörten Versorgung der Armee besonders erwünscht sei, sind aus einem anderen Aspekt beachtenswert. Die Schlußworte des Monarchen, daß die Verhandlungen so bald wie möglich zu beenden seien, muteten nach dem zweimaligen unfruchtbaren Gedankenaus¬ tausch wie eine Bitte an. Die Meinungsverschiedenheit zwischen der österreichischen und der ungari¬ schen Regierung, wegen der die Angelegenheit der Kriegsleistungen im gemein¬ samen Ministerrat zweimal gescheitert war, trat in defEehandlung der für die Inanspruchnahme zu zahlenden Entschädigung zutage. Ob in den folgenden Jahren etwas zur Schlichtung dieser Meinungsverschiedenheit geschah, ist aus den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates, aber auch aus den Schriften des ungarischen Ministerrates nicht ersichtlich. Anzunehmen ist, daß beide Regierungen nach den einige Zeit erfolglosen Verhandlungen die Angelegenheit ad acta gelegt haben und sich die Armeeführung gewiß an jene Äußerung des Generalstabschefs hielt, wonach im Mobilisierungsfall die Bedürfnisse der Ar¬ mee auch ohne Gesetz befriedigt würden. Die Angelegenheit wurde infolge der um die Jahreswende 1886/87 entstandenen Kriegskrise wieder auf die Tagesord¬ nung gesetzt,169 wobei sich herausstellte, daß die Meinungsverschiedenheit zwi¬ schen den beiden Regierungen noch immer bestand: Die österreichische Regie- rung hielt die Kommission, die ihren Sitz im gemeinsamen Kriegsministerium hatte, zur Beurteilung der Entschädigungsansprüche fürzüständig,"wahrend die -- Iungarische Regierung an der Zuständigkeit des Honvedministeriums festhielt.170 Argumente gab es zur Unterstützung beider Standpunkte reichlich. Österreichi- scherseits wurde unter anderem damit argumentiert, daß die Befriedigung der Entschädigungsansprüche zu Lasten des gemeinsamen Budgets erfolgt, ungari- scherseits hingegen damit, daß sich das beantragte Verfahren schon einmal bewährt hatte. Aber eigentlich stießen hier politische Ideen aufemander: die 1/ österreichischen Reichsremmiszenzen und die Besorgnis um die ungarische |[ Souveränität. Nur damit kann erklärt werden, daß beide Regierungen indieser ' rem formalen Frage so krampfhaft an ihrem Standpunkt festhielten und der über em Jahr dauernde Meinungsaustausch, der aus den Protokollen des unga¬ rischen Ministerrates genau verfolgt werden kann, zu keinem Ergebnis führte.171 Inzwischen gelangte die Angelegenheit nochmals vor den gemeinsamen Miniser¬ rat (als die österreichische' Regierung beantragte, daß der Paragraph des Ver- 169 GMR. v. 5. 1. 1887, RMRZ. 335 GMR. V. 29. 1. 1887, RMRZ. 337 - GMR. v. 30. 1. 1887, RMRZ. 338. 170 2/MT. Ung.MR. v.14.1.1887. 8. Der Gesetzantrag und die Verordnung bezüglich der Kriegslei¬ stungen, OL., K. 27, Karton 41. - 16/MT. Ung.MR. v. 24. 5. 1887. 5. In Angelegenheit der Verordnung bezüglich der Einsetzung von Gespannen im Kriegsfall, OL K 27 Karton 42 171 1/MT. Ung.MR. v. 2. 1. 1888 - 2/MT. Ung.MR. v. 12. 1. 1888 - 4/MT. Ung.MR. v 2 2 1888 - 5/MT. Ung.MR. v. 22. 2. 1888, OL., K. 27, Kartone 42-43 || || 68 Einleitung Ordnungsentwurfes über die Entschädigung einfach weggelassen werden sollte, was die ungarische Regierung natürlich nicht akzeptierte). Aber auch vor die¬ sem Forum geschah nichts weiter als die Darlegung und Begründung der Standpunkte.172 Der gordische Knoten wurde schließlich so durchgehauen, daß man sich über die Bildung von zwei Haupt- und zwei Unterausschüssen einigte. Diese Lösung konnten beide Regierungen als Verwirklichung ihrer eigenen Vorstellungen auffassen. Die ungarische Regierung beauftragte den Honvedmi- nister am 17. März 1888, den Verordnungsentwurf endgültig zu formulieren, damit dieser nötigenfalls aufgrund der von der Gesetzgebung erhaltenen Voll¬ macht erlassen werden könne.173 Das Militärwitwen- und Waisenversorgungsgesetz Gleichzeitig mit den Gesetzentwürfen zur Steigerung der Truppenstärke und Mobilität des Heeres wurde auch der Entwurf des Militärwitwen- und Waisen¬ versorgungsgesetzes dem gemeinsamen Ministerrat vorgelegt, den dieser bei drei Gelegenheiten behandelte.174 Der zeitliche Ablauf war kein Zufall: Die vom Gesetz erwartete Stärkung der Kampfmoral harmonierte sehr gut mit den Maßnahmen zur Steigerung der Kampfkraft des Heeres. Der Gesetzentwurf stieß jedoch vorerst auf gewisse grundsätzliche Vorbehalte: Beide Regierungen wünschten, daß sich das Gesetz nur auf die Hinterbliebenen der im Krieg gefallenen Soldaten erstreckte, und als sie davon Abstand nahmen, formulierte die österreichische Regierung Einsprüche finanziellen Charakters. Der österrei¬ chische Finanzminister argumentierte damit, der aus den Einzahlungen der vom Wehrdienst befreiten Personen gebildete sog. Militärtaxfond reiche zur Durch¬ führung des Gesetzes nicht aus, und beantragte deshalb, daß die zum Verband des Heeres gehörenden Beamten in dieser Beziehung ebenso behandelt würden wie die Staatsbeamten. Daraus ergaben sich wieder lang hinziehende Verhand¬ lungsserien und Textabstimmungen, so daß das Gesetz erst im April 1887 in Kraft trat175 und sich dem Standpunkt der österreichischen Regierung entspre¬ chend auf die Hinterbliebenen der Soldaten (der Offiziere und Mannschaft des Heeres, der Kriegsmarine, des Landsturms und der beiden Landwehren) be¬ schränkte. 172 GMR. v. 5.1. 1888, RMRZ. 348. 173 7!MT. Ung.MR. v. 17. 3. 1888. 1. In Angelegenheit der Verordnung über die gelegentlich einer Mobilisierung erforderlichen Gespanne usw., OL., K. 27, Karton 43. 174 GMR. v. 6. 2. 1883, RMRZ. 312, KA., MKSM. 20-1/6-5 von 1883. - GMR. v. 25. 11. 1883, RMRZ. 317-GMR. v. 20. 11. 1884. 175 Gesetz v. 27. 4. 1887, RGBl. Nr. 41 und GA. XX/1887. || || Einleitung 69 Die militärärztliche Akademie Die Wiedererrichtung der im Jahr 1786 gegründeten und 1874 aufgelösten militärärztlichen Akademie, des Josephinums, deren finanzielle Deckung der gemeinsame Kriegsminister in das Militärbudget vom Jahr 1885 eingebaut hatte, erforderte keine gesetzliche Regelung. Aber auch dieser Antrag stand mit der Konzeption einer zahlenmäßigen Stärkung der Armee im Zusammenhang. Die militärische Führung schrieb nämlich die allzugroße Anzahl der aus gesund¬ heitlichen Gründen befreiten Stellungspflichtigen nicht zuletzt dem Umstand zu, daß die untersuchenden Militärärzte sich der Sache der Armee nicht mit der erforderlichen Hingabe widmeten. Der gemeinsame Kriegsminister Bylandt- Rheidt argumentierte im gemeinsamen Ministerrat unter anderem damit für den Bilanzposten, daß durch die an der militärärztlichen Akademie ausgebildeten Ärzte die bei den Assentierungen in Erscheinung tretenden Mißstände beseitigt werden könnten.176 Der Antrag stieß aber - wie zu erwarten war - auf den Widerstand der ungarischen Regierung. Daher zeitigte die neuerliche Verhand¬ lung am 26. September 1884 unter dem Vorsitz des Monarchen nur den „Er¬ folg", daß die endgültige Entscheidung von der Stellungnahme des ungarischen Kultusministers abhängig gemacht wurde.177 Dieser, Agoston Trefort, meinte in seiner Vorlage im ungarischen Ministerrat vom 11. April 1885, daß die . Wiedererrichtung des Josephinums gegenjdie kulturelle Selbständigkeit Un- garns, ja sogar gegen dessen nationale und politische Interessen verstoßen j würde, uncTbeantragte elne entschiedene Ablehnung der Vorlage.178 Dadurch war die Angelegenheit völlig chancenlos geworden und kam'nicht nochmals vor den gemeinsamen Ministerrat. Der Herrscher aber, nahm es Trefort auch nach Jahren noch übel, daß er die Wiedererrichtung des Josephinums verhindert hatte.179 Die militärischen Maßnahmen um die Jahreswende 1886/87 Bei Skizzierung des allgemeinen historischen Hintergrundes war bereits die Rede davon, daß vom Herbst 1885 bis zum Frühjahr 1888 die Haltung der außenpolitischen und militärischen Führung der Monarchie von der durch die Vereinigung von Bulgarien und Ostrumelien hervorgerufenen sog. bulgarischen Krise und die sich daraus ergebende Möglichkeit eines Krieges gegen Rußland beherrscht war. Nun sind jene ebenfalls erwähnten Maßnahmen, welche die militärische Führung in dieser Periode getroffen hat oder zu treffen beabsichigte, 176 GMR. v. 24. 9. 1884, RMRZ. 318. 177 GMR. v. 28. 9. 1884, RMRZ. 320. 178 8/MT. Ung.MR. v. 11.4.1885. 1. Über die Abhilfe der sich in der militärärztlichen Körperschaft erweisenden Mängel und die Errichtung einer dritten medizinischen Universität. OL., K. 27, Karton 39. 179 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in der kgl. Burg zu Ofen am 17. 6. 1888 stattgehabten Konferenz, KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888. || || 70 Einleitung eingehender zu besprechen und die damit zusammenhängende Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates darzustellen. Der Generalstabschef analysierte am 1. Dezember 1886 in einem umfangrei¬ chen Memorandum die militärisch-politische Lage.180 Er ging davon aus, daß infolge der Ereignisse auf dem Balkan ein Krieg mit Rußland nicht ausgeschlos¬ sen sei, die Monarchie aber wegen der neuen strategischen Konzeptionen des deutschen Generalstabs181 mit einer wesentlich geringeren Mithilfe Deutsch¬ lands rechnen müsse, als bisher angenommen wurde. Jener Plan, nach dem der deutsche Generalstab am zwanzigsten Tag nach der Mobilisierung 35 und der österreichisch-ungarische am fünfundzwanzigsten Tag 34 Infanteriedivisionen im Osten konzentrierten und - damit den Russen gegenüber ein Übergewicht im Verhältnis von 69 : 62 bildend - eine rasche Entscheidung erzwängen, habe seine Aktualität verloren. In Erwägung der sich durch die neue Situation erge¬ benden Möglichkeiten rechnete der Generalstabschef mit drei Eventualitäten: mit einem zugunsten Rußlands ausfallenden Kräfteverhältnis, wenn die deut¬ sche Wehrmacht die Hälfte der russischen Wehrmacht bindet; mit einer österrei¬ chisch-ungarischen Niederlage, wenn die Monarchie allein kämpfen muß; und schließlich mit einer totalen Katastrophe, wenn die Monarchie infolge einer italienischen Intervention ihre Kräfte an zwei Fronten einsetzen muß. Die skeptische Situationsanalyse schloß mit einer einzigen praktischen Folgerung: zu klären, mit welchem Ausmaß deutscher Mitwirkung die österreichisch-unga¬ rische Militärführung rechnen könnte, da die Vorbereitungen dementsprechend durchgeführt werden müßten. Aus der Natur der Sache ergab sich aber, daß auch dies eher in die Kompetenz der Diplomatie als der militärischen Führung gehörte. Der stets tatkräftige und energische Generalstabschef erholte sich jedoch nach einigen Tagen von seiner Lethargie und beschrieb in einer ganzen Reihe von Memoranden die Aufgaben der militärischen Führung, unter welchen Umständen die Monarchie sogar allein einen Krieg durchkämpfen könnte. In der ersten Denkschrift „Vorbereitungsmaßnahmen für einen Krieg mit Ru߬ land"182 reihte er die Aufgaben - je nach der Gewißheit des Krieges - in drei Gruppen ein. In der ersten Gruppe befaßte er sich mit den sofort zu treffenden Maßnahmen und bezog sich in zwölf Punkten auf alles, vom Erreichen der Kampfbereitschaft der Einheiten über die Rüstung bis zur Vorbereitung des voraussichtlichen Operationsgebietes. Er sah unter anderem die Rückberufung der Beurlaubten, die vorfristige Einberufung der Rekruten, den Ankauf von Pferden, die Sicherung des Verteidigungszustandes der Festungen, die Steige¬ rung der Durchlässigkeit von Eisenbahnstrecken, die Ergänzung des Waffen- und Munitionsvorrates, die Aufstockung der Proviantvorräte und die Organi- 180 Über die militärisch-politische Lage v. 1.12. 1886, Beck FML., KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 29. 181 Canis, Bismarck und Waldersee 180-192. 182 Vorbereitungsmaßnahmen für einen Krieg mit Rußland v. 12. 1. 1887, KA., MKSM., Separat¬ faszikeln, Fase. 69, Nr. 11. || || Einleitung 71 sierung des Sanitätsdienstes vor. In die zweite Gruppe reihte er jene Maßnah¬ men ein, die er beim Eintreten der für das Frühjahr zu erwartenden bedrohli¬ chen Lage für nötig hielt. Hier war schon von der Einberufung eines Teiles der Artillerie- und Kavalleriereserve sowie der Reservisten der galizischen Einheiten und von außerordentlich großen Pferdekäufen, ferner von der Proviantbevorra¬ tung für die gesamte Armee die Rede. In der dritten Gruppe wurden schließlich sämtliche Maßnahmen angeführt, die im Falle der Gewißheit eines Krieges aktuell wurden, falls die Umstände eine Anordnung der allgemeinen Mobilisie¬ rung nicht ermöglichten: bedeutende Einberufungen und Truppenbewegungen - Schaffung des Kriegsstandes der Infanterie, namentlich der galizischen Einhei¬ ten, Durchführung aller Einberufungen in den gefährdeten Grenzgebieten, Verlegung einer großen Anzahl von Kavallerie und Festungsartillerie nach Galizien - sowie die Vorbereitung des Übergangs zur Kriegsfahrordnung der Eisenbahnen. Wie sich der Generalstabschef den zu erwartenden Krieg vorstell¬ te, kann daran ermessen werden, daß er die feldmäßige Befestigung von Wien, Budapest und Komorn ebenfalls vorsah. Außer den Maßnahmen zur Vorberei¬ tung der Armee plante der Generalstabschef auch die Schaffung des Land¬ sturms, dem er in Anbetracht der Wichtigkeit der Sache ein eigenes Memoran¬ dum widmete.183 Es war nämlich schon längst seine Überzeugung, daß die aus ausgedienten Soldaten zusammengestellten Landsturmeinheiten die Armee in Frontnähe nutzbringend entlasten konnten und ermöglichten, daß sich die Armee mit voller Kraft auf den entscheidenden Punkt konzentrieren konnte.184 Da man jetzt mit der Wahrscheinlichkeit, ja eventuell mit der Gewißheit des Krieges rechnen mußte, sah er die Aufstellung einer großen Zahl von Land¬ sturmkompanien vor. In Österreich rechnete er mit 67, in Ungarn mit 60 Infanteriekompanien (wovon 48 Galizien und 28 Siebenbürgen bereitstellen mußten). Darüber hinaus plante er noch die Aufstellung von 39 bzw. 46 Infante¬ rie-Ersatzbataillonsrahmen und von Kavallerieschwadronen. Im Memorandum führte er sämtliche Maßnahmen eingehend an, die zur Versorgung dieser Ein¬ heiten mit Waffen und Munition erforderlich waren, ferner die Art der Einberu¬ fungen und der Einrückung. Schließlich stellte er eine Liste mit sämtlichen Maßnahmen zur Einführung der Kriegsfahrordnung der Eisenbahn bzw. zum Aufmarsch der Armee mit der Eisenbahn zusammen.185 Die Memoranden des Generalstabschefs wurden den militärischen Konferen¬ zen unter Vorsitz des Monarchen zur Erörterung und Genehmigung vorgelegt. In der Beratung vom 17. Dezember 1886, an der der gemeinsame Kriegsmini¬ ster, der Generalstabschef, die beiden Landesverteidigungsminister und der Vorstand der Militärkanzlei teilnahmen, wurde die Vorlage über den Land- 183 Vorsorgen hinsichtlich des Landsturmes als Vorbereitung für den Krieg mit Rußland v. 11. 12. 1886, Beck FML., KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 11 und MKSM. 20-1/11-2 de 1886. 184 Vgl. Anm. 151. 185 Verzeichnis über die zur Durchführung der Kriegsfahrordnung und des strategischen Aufmar¬ sches im Kriegsfälle „R" auf nachfolgenden Eisenbahnen notwendigen Herstellungen, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 11. || || 72 Einleitung sturm erörtert.186 Den meritorischen Teil der Angelegenheit betreffende Einwän¬ de wurden nicht erhoben, die Bemerkungen bezogen sich nur auf die Modalitä¬ ten der Durchführung. Im Zusammenhang mit der Aufstellung der Einheiten beanstandete Welsersheimb die gleichzeitige Einrückung der Reserve und des Landsturms, Fejerväry hingegen war über die siebenbürgischen Bataillone ru¬ mänischer Nationalität besorgt, und beide verwiesen auf Schwierigkeiten bei der Aufstellung von Kavallerieschwadronen. Der Monarch aber entschied im Sinne des Memorandums des Generalstabschefs. Auf Ansuchen des ungarischen Hon- vedministers stellte er nur in Aussicht, daß einen Teil der Aufstellungskosten der Kavallerie das gemeinsame Kriegsministerium übernehmen werde. Als die Ab¬ wicklung der Einberufungen erörtert wurde, wiesen beide Landesverteidigungs¬ minister abermals darauf hin, daß die gleichzeitige Mobilisierung der Armee, der beiden Landwehren und des Landsturms organisatorisch nicht zu bewerk¬ stelligen wäre. Der Monarch ließ diesen Vorbehalt gelten und entschied sich für ein weiteres Studium der Einberufungszeitpunkte. Nach Erörterung sonstiger Detailfragen wurde die Konferenz mit dem Beschluß geschlossen, die Angele¬ genheit nach Erarbeitung des Budgets den Regierungen vorzulegen, damit diese für eine Deckung der Kosten sorgen konnten. Vier Tage später, am 21. Dezem¬ ber, trat die militärische Konferenz abermals zusammen - diesmal ergänzt durch den Generalinspektor der Armee, aber ohne die beiden Landesverteidi¬ gungsminister -, um über die Vorbereitungsmaßnahmen für einen Krieg gegen Rußland zu beraten.187 Inzwischen hatte das gemeinsame Kriegsministerium den Finanzaufwand der Maßnahmen in den ersten beiden Gruppen errechnet, so daß die Konferenz auch die finanziellen Bezüge berücksichtigen konnte. In der Beratung erklärte der gemeinsame Kriegsminister sein volles Einverständnis mit den Maßnahmen in den beiden ersten Gruppen und verwies darauf, daß die mit großem Kostenaufwand verbundenen Vorratsbeschaffungen einen bleiben¬ den Wert repräsentierten, während die gleichfalls großen Summen für die Befestigungen im Falle der Friedenserhaltung verloren gehen würden. Mit dem Kostenaufwand der zur dritten Gruppe gehörenden Maßnahmen hatte er sich nicht beschäftigt, da diese schon zur Mobilisierung zu zählen waren. Der Monarch, der die Maßnahmen in den beiden ersten Gruppen für wichtig hielt, erörterte diese Punkt für Punkt und erklärte sich mit ihnen - von einigen kleineren Änderungen abgesehen - einverstanden. Die wesentlichsten Modifi¬ zierungen waren, daß er die für den Eisenbahnbau vorgesehenen 3,7 Millionen Gulden aus dem Kostenvoranschlag des gemeinsamen Kriegsministeriums strich und auf dessen Antrag 5,2 Millionen für Uniformkäufe einschaltete. Im Zusammenhang mit den Maßnahmen in der zweiten und dritten Gruppe gab 186 Protokoll der am 17. 12. 1886 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät stattgehabten kommissionellen Beratung über jene Maßnahmen, welche behufs Formation von Landsturmab¬ teilungen im Falle eines im Frühjahr 1887 eintretenden Krieges in nächster Zeit zu treffen wären, KA., MKSM. 20-1/11-2 de 1886. 187 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 21. 12. 1886 stattgehabte Konferenz, betreffend „Vorbereitungsmaßnahmen für den Krieg mit Rußland", KA., MKSM. 20-1/12-2 de 1886. || || Einleitung 73 der Herrscher seiner Besorgnis Ausdruck, sie hätten provokativen Charakter und könnten Rußland zu Gegenmaßnahmen bewegen. Der Generalstabschef betonte aber, daß sie im Falle des Kriegsausbruchs in den Rußland benachbar¬ ten Gebieten nicht mehr getroffen werden könnten. Jedenfalls wurden auch sie durchgesprochen, und der Monarch strich jene besonders alarmierenden Cha¬ rakters, wie die TruppenVerlegungen nach Galizien und die dort vorzunehmen¬ den Einberufungen. Die Konferenz wurde mit der Vereinbarung beendet, der Monarch werde zur Besprechung der finanziellen Deckung der Maßnahmen in der nächsten Woche einen Ministerrat einberufen, in dem die Kostenauswirkun¬ gen der Maßnahmen der ersten Gruppe den Ministern zu übergeben waren. Die Maßnahmen der zweiten und dritten Gruppe erforderten noch eine Revision und sollten den Gegenstand weiterer Besprechungen bilden; die Minister sollten über sie nicht informiert werden. Der vom Monarchen in Aussicht gestellte gemeinsame Ministerrat trat erst nach gut zwei Wochen, am 5. Januar 1887, zusammen.188 Die an der Beratung teilnehmenden Regierungschefs und Minister befaßten sich aber nicht erst dort mit dem Finanzbedarf der Militärführung. Aus der Eröffnungsrede des gemein¬ samen Außenministers ging hervor, daß in den Besprechungen der vorhergehen¬ den Tage mit der Möglichkeit eines Kriegsausbruchs im Frühjahr oder Sommer gerechnet worden sei. Die Regierungen hatten sich daher damit zu befassen, wie die Mittel zur Kriegsführung aufgebracht werden könnten, und der gleichen Aufgabe diente auch die jetzige Konferenz. Diese Aufgabenstellung erweckte bei den Anwesenden kein Mißfallen, vermutlich deshalb, weil die Regierungen in den vorangehenden Besprechungen sowohl der einen Krieg prognostizieren¬ den Situationsanalyse als auch den zu treffenden militärischen Maßnahmen ihre Zustimmung gegeben hatten. Es verrät jedenfalls schwere Mängel der Verfas¬ sungsmäßigkeit, daß die außenpolitischen Auswirkungen nicht die beiden Re¬ gierungschefs und nicht einmal der gemeinsame Außenminister, sondern der Monarch erwogen hatte und daß die Regierungen ihre Zustimmung - falls es überhaupt zu einer solchen kam - nicht im gemeinsamen Ministerrat, sondern auf informativem Weg zum Ausdruck gebracht hatten. Aber wie dem auch war, am 5. Januar begann man über die Kosten und deren Deckung zu beraten. Bylandt-Rheidt gab die Ansprüche des Heeres bekannt, die sich auf sofortige 23 Millionen und auf weitere 26 Millionen beliefen, die beiden Landesverteidi¬ gungsminister gaben die Kosten der Landwehren und des Landsturms in Öster¬ reich mit höchstens 13,9, mindestens aber 11,8 und in Ungarn mit 8,6 Millionen Gulden an. Die Art und Weise der Kostendeckung war aber keine so geringe Aufgabe wie deren Zusammenstellung im gemeinsamen Kriegsministerium, und der endgültige Beschluß kam erst nach drei weiteren Beratungen189 Ende Januar zustande. Der gemeinsame Ministerrat behandelte die beiden Kostenvoranschläge der 188 GMR. V. 5. 1. 1887, RMRZ. 335. 189 GMR. v. 7. I. 1887, RMRZ. 336 - GMR. v. 30. 1. 1887, RMRZ. 337 - GMR. v. 30. 1. 1887, RMRZ. 338. || || 74 Einleitung Militärführung, den der Armee und jenen des Landsturms, bei jeder Gelegenheit gemeinsam. Im Interesse der Übersichtlichkeit ist es jedoch zweckmäßiger, diese gesondert darzustellen. Über die Deckung der für das Heer aufzuwendenden 23 Millionen - von denen der gemeinsame Kriegsminister für 16,2 Millionen sofortige Vollmacht verlangte und erhielt - trat schon in der Beratung vom 5. Januar der gegensätzliche Standpunkt der österreichischen und der ungarischen Regierung zutage. Der ungarische Finanzminister beantragte, jenen Fonds, der aus den Zinsen der in den gemeinsamen Haushalt eingezahlten Beträge gebildet wurde, die sog. gemeinsamen Aktiven, zur Deckung der Ausgaben zu verwen¬ den, der österreichische Finanzminister empfahl demgegenüber eine Bevor¬ schussung aus dem österreichischen bzw. dem ungarischen Haushalt. Den von ungarischer Seite gestellten Alternativantrag, in diesem Fall die Delegationen zu einer außerordentlichen Sitzung einzuberufen, hielt der gemeinsame Außen¬ minister aus außenpolitischen Überlegungen für unannehmbar. Die lange De¬ batte über die Verwendung der gemeinsamen Aktiven, in der der gemeinsame Finanzminister Källay auch den Präzedenzfall aus dem Jahr 1870 erwähnte, führte zu keinem Ergebnis. In der Sitzung am 7. Januar unter Vorsitz des Monarchen geschah nichts anderes als die neuerliche Darlegung und Begrün¬ dung der Standpunkte, und der Herrscher schloß die Debatte schon damals damit, wenn zwischen den beiden Regierungen keine Vereinbarung zustande komme, seien die Delegationen einzuberufen. Auch der ungarische Ministerrat stimmte am 14. Januar für die Einberufung der Delegationen, und im gemeinsa¬ men Ministerrat vom 29. Januar, wo dieses Problem nur kurz berührt wurde, kam man zur gleichen Vereinbarung. In der Beratung vom 30. Januar unter Vorsitz des Monarchen erfolgte keine Änderung im Standpunkt der beiden Regierungen, sondern im Kostenvoranschlag des gemeinsamen Kriegsministers. Bylandt-Rheidt erklärte, daß zur Deckung der späteren Bedürfnisse die veran¬ schlagten 26 Millionen nicht ausreichen würden und er nach Durchführung der Berechnungen wahrscheinlich mit einem höheren Finanzbedarf auftreten werde. Über das Vorgehen des gemeinsamen Kriegsministers kann man sich kein klares Bild machen. In der militärischen Beratung am 21. Dezember unter Vorsitz des Herrschers war ursprünglich von 52 Millionen die Rede (in der Verteilung 32,3 + 19,7), und schließlich ging dieser Betrag als Antrag vor die Delegationen, vermutlich deshalb, weil die militärische Führung anfangs nicht ihre sämtlichen Karten aufgedeckt hatte. Doch schließlich wurde entschieden, daß die finanziel¬ len Ansprüche einer außerordentlichen Session der Delegationen vorgelegt werden müssen. Der ungarische Ministerpräsident beantragte inzwischen im Einvernehmen mit dem österreichischen Finanzminister, daß sich die Vollmacht der Delegation nur auf die Sofortansprüche bzw. deren Deckung beziehen solle und der Kriegsminister den weiteren veranschlagten Betrag (hier handelte sich noch um die Aufteilung 23 + 26 Millionen) nur im Falle einer Verschlechterung der außenpolitischen Lage und mit Zustimmung der Regierungen in Anspruch nehmen dürfe. Der Monarch und der gemeinsame Kriegsminister erhoben - aus Unachtsamkeit oder aus Berechnung - keinen Einspruch gegen diesen Antrag || || Einleitung 75 und konnten nicht ahnen, daß sie damit glühende Kohlen auf ihr Haupt sammelten. Der Finanzbedarf für den Landsturm und die Ergänzung von Landwehr und Honved, welchen die Landesverteidigungsminister in der Beratung vom 5. Januar vorlegten, bezog sich im Gegensatz zum ursprünglichen Entwurf des Generalstabschefs auf 104 österreichische und 106 ungarische Infanteriebatail¬ lone sowie 50 ungarische Kavallerieschwadronen. Die Konferenz einigte sich rasch darüber, daß die Kostenvorlage bei den gesetzgebenden Körperschaften gleichzeitig und mit gleicher Begründung erfolgen solle und die der Begründung des Antrags dienenden Gesichtspunkte der gemeinsame Außenminister angeben müsse. Bei der Besprechung der Ausrüstung der Landwehr bzw. der Mittel für den Landsturm traten aber sofort wieder die Gegensätze zwischen den beiden Regierungen zutage. Tisza beanstandete, daß der österreichische Landesvertei¬ digungsminister zur Ausrüstung der Landwehr die Gewehre des gemeinsamen Heeres in Anspruch nehmen wollte, und erreichte auch, daß dies nur mit Kostenvergütung erfolgen könne. Zugleich verlangte Fejerväry - was mit dem Standpunkt des ungarischen Ministerpräsidenten nur schwer vereinbar war -, daß nachdem Ungarn mehr Landsturmeinheiten bereitstellen mußte als Öster¬ reich, die Mittel für die aufzustellende Kavallerie zum Teil das gemeinsame Kriegsministerium tragen solle. Die Antwort Österreichs darauf lautete ganz dezent, eine derartige Übernahme der Kosten habe keine gesetzliche Grundlage. Der ungarische Finanzminister Szapäry stellte die Frage, ob die Kosten des Landsturms nicht ebenso verteilt werden könnten wie die des Heeres, daß nämlich vorerst nur deren allernotwendigster Teil in Anspruch genommen werde. Aber diese Variante lehnte nicht nur Welsersheimb, sondern auch Fejer¬ väry ab. In der Konferenz vom 7. Januar erkannte der Monarch den Stand¬ punkt der ungarischen Regierung im Zusammenhang mit den Kosten der Kavallerie für berechtigt an, doch wegen der Gesetzlichkeitsbedenken der öster¬ reichischen Regierung kam es zu keinem Beschluß. Auch wurde der Zeitpunkt der Vorlage des Gesetzesantrags schon deshalb nicht festgelegt, weil beide Finanzminister weitere Erwägungen für nötig hielten. Der ungarische Minister¬ rat vom 14. Januar bekräftigte, daß die fünfzig Kavallerieschwadronen zu Lasten des Haushaltes des gemeinsamen Kriegsministers gehen sollten, im übrigen stimmte er den in Aussicht gestellten Finanzmitteln zu. Nach alldem überraschte es einigermaßen, daß im gemeinsamen Ministerrat vom 29. Januar Tisza die Bitte vorbrachte, daß die ungarische Regierung vorerst nur weniger als die Hälfte des ursprünglich vorgesehenen Betrages, also 2,5 Millionen für die Infanterie-Landsturmbataillone aufbringen müsse. Aufgrund welcher inter¬ nen Vereinbarung er diesen Antrag stellte, ist nicht bekannt, jedenfalls harmo¬ nierte er mit der früheren Idee Szapärys. Der ungarische Antrag gab der Debatte eine neue Richtung, und der gemeinsame Kriegsminister mußte lange für den ursprünglichen Vorschlag argumentieren, wobei er auch die Unterstützung des gemeinsamen Außenministers und des österreichischen Ministerpräsidenten gewann. Tisza aber ließ sich nicht überzeugen, er blieb dabei, daß er seinen Antrag auch in der unter dem Vorsitz des Herrschers abzuhaltenden Beratung || || 76 Einleitung vorlegen werde. In der ursprünglichen Debatte konnte in der Angelegenheit der Kavalleriekosten nur erreicht werden, daß der gemeinsame Kriegsminister den Vorschlag Fejervärys unter der Bedingung annahm, daß ungarischerseits 14 Infanteriebataillone weniger, österreichischerseits ebenso viele mehr aufgestellt werden und Ungarn in diesem Fall die fünfzig Kavallerieschwadronen ausrüste. Die Vertreter der österreichischen Regierung äußerten sich jedoch nicht. In der Beratung am 30. Januar unter Vorsitz des Monarchen wurde dieses Problem durch einen Kompromiß gelöst: Auf Antrag des gemeinsamen Kriegsministers mußte gemäß der Entscheidung des Herrschers Ungarn neun Infanteriebataillo¬ ne und zwanzig Kavallerieschwadronen weniger aufstellen, womit sich die auf die beiden Staaten entfallenden finanziellen Lasten ausglichen. Tiszas Antrag auf Kostensenkung hatte keinerlei Chance: Der Monarch begründete ausführ¬ lich seinen Standpunkt und entschied in dem Sinne, daß der gesamte Kostenvor¬ anschlag den gesetzgebenden Körperschaften am 10. Februar vorgelegt werde, gewährte aber auf Ansuchen Tiszas noch eine Fristenverlängerung von ein bis zwei Tagen. Dem Wunsche des ungarischen Ministerrates vom 7. Februar entsprechend, erklärte er sich auch damit einverstanden, daß der Regierungsan¬ trag nicht vor dem 15. Februar eingereicht werden mußte.190 Aber das änderte nichts mehr an der Sache selbst. Wesentlich war, daß der vorgelegte Antrag sowohl vom ungarischen Abgeordnetenhaus als auch vom österreichischen Reichsrat am 18. Februar verabschiedet wurde. Der Monarch äußerte sich gegenüber dem Wiener deutschen Botschafter am 24. Februar befriedigt über das ungarische Abgeordnetenhaus, das die Regierungsvorlage - wie er sagte - in patriotischer Weise, einstimmig und ohne störende Bemerkungen verabschie¬ det habe, und gab gleichzeitig seiner Hoffnung Ausdruck, daß sich im Zusam¬ menhang mit den außerordentlichen Ansprüchen des Ressorts für Kriegswesen auch die Delegationen ähnlich verhalten würden.191 Er sollte sich in dieser Hoffnung auch nicht täuschen: Die Delegationen stellten am 7. März den angeforderten Betrag dem gemeinsamen Kriegsminister zur Verfügung. Die militärische Führung konnte nunmehr die zur sofortigen Verwendung vorgese¬ hene Summe von 24 Millionen völlig legal ausgeben und auch 6 Millionen von den „für einen unvermeidlich dringenden Bedarfsfall" vorgesehenen 28 Millio¬ nen in Anspruch nehmen. Mit welchem Spießrutenlaufen letzteres verbunden war, wurde bei Erörterung der außenpolitischen Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates bereits besprochen. 190 4jMT. Ung.MR. v. 7. 2. 1887. 2. In Angelegenheit der Frage des der Kriegsausrüstung dienen¬ den Kredites, OL., K. 27, Karton 42. 191 Reuß an Bismarck v. 24. 2. 1887, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Bonn. Österreich 70. Bd. 23. || || Einleitung 77 Die Mobilisierungsvorbereitungen der Jahre 1887-1888 Die um die Jahreswende 1887/88 entstandene kriegerische Spannung und das damit verbundene Ringen der österreichisch-ungarischen außenpolitischen und militärischen Amtsträger um die Führungsrolle in der Politik wurden weiter oben schon ausführlich behandelt. Die mit all dem zusammenhängenden Ma߬ nahmen sollen nun - in die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates eingebettet - eingehender betrachtet werden. Der Ausgangspunkt war - wie ein Jahr früher - wieder ein Memorandum des Generalstabschefs. Das am 3. Dezember 1887 verfaßte Memorandum „Unsere militärische Lage in Galizien"192 zeichnete ein sehr düsteres Bild. Die auf russi¬ scher Seite fortlaufend getroffenen Maßnahmen, besonders die Verlegung einer Kavalleriedivision in das Grenzgebiet, hätten das Verhältnis der einander ge¬ genüberstehenden Kräfte völlig verändert und ein derartiges russisches Überge¬ wicht zur Folge gehabt, das im Mobilisierungsfall den Aufmarsch der österrei¬ chisch-ungarischen Wehrmacht verhindern, ja sogar völlig lahmlegen könnte. Dieser unhaltbare Zustand sei nur dadurch zu ändern, daß auch die Monarchie die Anzahl ihrer Einheiten im Grenzgebiet erhöht und dadurch das frühere Kräftegleichgewicht annähernd wiederherstellt. Dementsprechend beantragte der Generalstabschef die Standerhöhung der in Galizien stationierten Einheiten sowie die Verlegung von einer Infanteriedivision, vier Kavallerieregimentern und Artillerie- und technischen Einheiten nach Galizien. Er war überzeugt, daß die russischen Vorbereitungen kriegerische Absichten verrieten, deshalb be- zeichnete er die seinerseits beantragten Maßnahmen als defensive Vorkehrun¬ gen. Es ergibt sich aber aus der Natur der Sache, daß diese auch einem von Ös¬ terreich-Ungarn begonnenen Krieg dienen konnten, welcher der österreichisch¬ ungarischen Militärführung in Kenntnis der Pläne des deutschen Generalstabes nicht fremd war. Den Antrag des Generalstabschefs erörterte die militärische Konferenz vom 8. Dezember 1887, an der auch der gemeinsame Außenminister zugegen war.193 Die Konferenz verwarf bekanntlich - der Meinung des gemein¬ samen Außenministers entsprechend -, daß die russischen Truppenverlegungen Kriegsabsichten verrieten, und entschied sich, um selbst den Anschein einer Provokation zu vermeiden, nur Maßnahmen bzw. Vorkehrungen streng defensi¬ ven Charakters zu treffen. So bestätigte sie von den beantragten Truppenver¬ schiebungen nur die Stationierung von technischen Einheiten und der Festungs¬ artillerie in Galizien, bewilligte nur gewisse Vorbereitungen für die Infanterie- und Kavallerieeinheiten, sowie Einberufungen und Pferdekäufe nur für die galizischen Kavallerie- und Artillerieeinheiten und beschränkte sich bei den Infanterieeinheiten auf die Genehmigung von Vorbereitungen. Die zu treffen- 192 Unsere militärische Lage in Galizien. Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 3. 12. 1887, KA., MKSM. 20-1/10-2 ex 1887. 193 Protokoll der am 8. 12. 1887 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in der Hofburg zu Wien stattgehabten kommissionellen Beratung über die eventuell in Galizien zu ergreifenden Maßnahmen militärischer Natur, KA., MKSM. 20-1/10-2 ex 1887. || || 78 Einleitung den Maßnahmen waren daher wesentlich bescheidener als die vom Generalstabschef ursprünglich geforderten, dennoch aber mit einem beträchtli¬ chen Kostenaufwand verbunden. Namentlich die Truppenverlegungen und die Vorbereitung der Einberufungen erforderten bedeutende Aufwendungen, mu߬ te man doch für mehr als zehntausend Soldaten und viele hundert Pferde Baracken und Stallungen bauen sowie Proviant und Futter bevorraten. Der gemeinsame Kriegsminister meldete sogleich seinen Anspruch auf die sofortige Bereitstellung von 3,25 Millionen Gulden, dann schätzte er die Gesamtkosten der Maßnahmen auf 24,8 Millionen. Von den seitens der Delegationen bewillig¬ ten 52 Millionen seien dem Kriegsressort bisher 49 Millionen überwiesen wor¬ den, von denen es bisher 29 Millionen ausgegeben und 20 Millionen für die durchzuführenden Maßnahmen reserviert habe. Da zur Inanspruchnahme von über 20 Millionen ein neuerlicher Delegationsbeschluß erforderlich würde, wäre es zweckmäßig, die Summe auf weniger als 20 Millionen zu senken. Diesem Antrag wurde stattgegeben und die Kosten der vorgesehenen Maßnahmen auf 16 Millionen (einschließlich des sofortigen Anspruchs des gemeinsamen Kriegs¬ ministers von 3,25 Millionen) festgelegt. Der Monarch stellte - der üblichen Praxis entsprechend - wieder die Einberufung des gemeinsamen Ministerrates in Aussicht. Der gemeinsame Ministerrat befaßte sich zweimal mit den neuen Finanzfor¬ derungen der Militärführung, und zwar am 18. und 19. Dezember 1887.194 Diese Konferenzen zeigten ein völlig anderes Bild als die ähnlichen Beratungen ein Jahr zuvor, in denen sich die Regierungschefs und die Minister nur über die Art und Weise der Kostendeckung äußern konnten. Der gemeinsame Außenmini¬ ster bezeichnete die Aufgabe der Beratung darin, den Standpunkt der Monar¬ chie gegenüber den russischen militärischen Maßnahmen festzulegen und die finanzielle Deckung der militärischen Gegenmaßnahmen zu sichern. Daß der gemeinsame Ministerrat nun zum Forum der politischen Entscheidungen wer¬ den konnte, war eine Folge der kritischen Lage: Wenn tatsächlich mit Krieg zu rechnen war, konnte man auf die Mitarbeit und das Einverständnis der verfas¬ sungsmäßigen Körperschaften nicht verzichten. Freilich entschied schließlich der gemeinsame Ministerrat nicht wirklich, er erklärte sich bloß einverstanden mit dem Standpunkt, den die militärische Konferenz auf Antrag des gemeinsa¬ men Außenministers formuliert hatte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß der ungarische Ministerpräsident ursprünglich eine andere Meinung vertrat und an dieser auch festhielt. Der sachliche Entscheidungsbereich des gemeinsa¬ men Ministerrates nach dem eingehenden Gedankenaustausch außenpoliti¬ schen Charakters, der weiter vorn schon behandelt wurde, beschränkte sich also wieder nur auf die Genehmigung der Mittel und ihre Beschaffung. Aber im Vergleich zum Vorjahr zeigte sich auch in dieser Beziehung eine Änderung: Der gemeinsame Kriegsminister informierte die Anwesenden mit einer Landkarte in der Hand über die beiderseitigen Truppenaufstellungen und erörterte eingehend die Maßnahmen, welche die militärische Konferenz zur Wiederherstellung des 194 GMR. v. 18. 12. 1887, RMRZ. 346 - GMR. v. 19. 12. 1887, RMRZ. 347. || || Einleitung 79 Kräftegleichgewichts beschlossen hatte. Die anwesenden Regierungschefs und Minister hatten im Zusammenhang damit nichts einzuwenden, konnten aber in Kenntnis der Lage und der Maßnahmen den Kosten leichteren Herzens zustim¬ men. Es wiederholte sich auch nicht die Verzögerung vom Vorjahr. Wohl klagte der österreichische Finanzminister lang und breit über die neuerliche finanzielle Belastung, und der ungarische Ministerpräsident sprach sich für eine Ermäßi¬ gung der Kosten aus, doch kam man rasch zu einer Einigung. Es wurde beschlossen, dem gemeinsamen Kriegsminister die gewünschten 16 Millionen zur Verfügung zu stellen und dies den Delegationen bei ihrer im Mai 1888, früher als üblich, abzuhaltenden ordentlichen Session zur nachträglichen Ge¬ nehmigung vorzulegen. Diesen Beschluß hat der unter dem Vorsitz des Monar¬ chen und in Gegenwart der drei gemeinsamen Minister am 11. Januar 1888 tagende gemeinsame Ministerrat - oder wie sich der Herrscher ausdrückte - die gemeinsame Regierung bekräftigt.195 Allerdings mußten die Delegationen, als sie endlich im Juni 1888 zusammentraten, nicht nur den bereits in Anspruch genommenen Kredit von 16 Millionen genehmigen, sondern auch über eine zusätzliche Summe von 31 Millionen entscheiden; die Genehmigungen erfolgten wie im vorausgegangenen Jahr im Falle des Spezialkredits von 52 Millionen. Der Generalstabschef hatte nämlich inzwischen - obwohl sich die kriegerischen Spannungen fühlbar verringert hatten - einen neuen Vorkehrungsplan er¬ stellt,196 den die militärische Konferenz vom 10. März 1888 ebenfalls sanktio¬ nierte.197 In den vier gemeinsamen Ministerräten vom Ende April und Anfang Mai198 wurden zwar die geplanten Ausgaben etwas zusammengestrichen, aber dem neuerlichen Spezialkredit stimmte man schließlich zu, nicht zuletzt deshalb, weil der gemeinsame Außenminister die Konzeptionen der militärischen Füh¬ rung eindringlicher als früher unterstützte. Über diesen Komplex wurde bei der Erörterung der außenpolitischen Probleme bereits gesprochen. Die Einberufung der Reserve und Ersatzreserve zu Friedenszeiten Der gemeinsame Ministerrat befaßte sich - während er die finanzielle Dek- kung der Ausgaben für einen bevorstehenden Krieg sicherstellte - auch mit Problemen, deren Lösung zur Regelung der gesetzlichen und rechtlichen Bezüge einer eventuellen Kriegsführung gehörte. Das Gesetz bzw. die Verordnung über die Kriegsleistungen wurde - wie erwähnt - nach langer Verschleppung zu 195 GMR. v. 11. 1. 1888, RMRZ. 349. 196 Anträge des k. k. Chefs des Generalstabes zur Steigerung der Wehrkraft der österr. ung. Monarchie [1888], KA., MKSM. 20-1/1-2 ex 1888. 197 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 10. 3. 1888 in Wien stattgehabten Konferenz. Gegenstand der Beratung waren: a. Die Anträge des Chefs des Generalstabes zur Steigerung der Wehrkraft der Monarchie, b. Die Anträge des Reichskriegs¬ ministeriums für das Heeresbudget pro 1889, KA., MKSM. 20-1/1-2 ex 1888. 198 GMR. v. 29. 4. 1888, RMRZ. 352 - GMR. v. 30. 4. 1888, RMRZ. 353 - GMR. v. 1. 5. 1888, RMRZ. 354 - GMR. v. 2. 5. 1888, RMRZ. 355. || || Einleitung 80 Beginn des Jahres 1888 einer Lösung zugeführt. Eine ähnliche Rege g erforderte die geplante und beschlossene außerordentliche Einberufung Reservisten und Ersatzreservisten zu Friedenszeiten. Bekanntlich stellte das Memorandum des Generalstabschefs vom 3. Dezember 1887 großange eg Einberufungen in Aussicht, woraufhin die militärische Konferenz vom 8 De- 1887 auch die Einberufung der in Galizien stationierten Kavallerie- und ÄSS während sie bei der Infanterie vorberertende Maßnahmen anordnete. In der Konferenz stellte der Monarch die Frage, ob Durchführung der Einberufungen keine gesetzlichen Hindernisse m Wegestun- den worauf fr von den anwesenden Ministern die Antwort erhielt, daß der Erlaß des Einberufungsbefehls ausschließlich in der liege 200 eine Information, die - wie sich spater herausstellte nicht ganz waf- Jedenfalls formulierte der gemeinsame Kriegsmmister aufgrund des Konfe¬ renzbeschlusses eine Eingabe zur Zurückbehaltung des letzten Jahrgangs im Präsenzdienst bzw. zur Einberufung von bereits in die Reserve versetzten Wehr¬ pflichtigen, die der Monarch auch genehmigte.201 Inzwischen stellte sich heraus, daß § 10 des Wehrgesetzes, der die Einberufung der Reservisten regelte es Ausnahme der Waffenübungen - nicht ermöglichte, die Reservisten und Ersa z- reservisten zu Friedenszeiten einzuberufen. Das gemeinsame Kriegsmimstenum arbeitete daher einen Gesetzentwurf über die außerordentliche Einberufung des ersten Jahrgangs der Reservisten sowie der drei jüngsten Jahrgange der Ersatz- Servisten zu Friedenszeiten aus und wünschte die Einberufung im Verord¬ nungsweg durchzuführen. Der ungarische Ministerrat beschäftigte S1^ am 22. Februar ^ 888 mit diesem Entwurf, faßte aber keinen meritonschen Beschluß, sondern brachte den Wunsch zum Ausdruck den Antrag f" f'"n men Ministerrat vorzulegen, und beanstandete zugleich, daß der Entwurf den Eüibemfungsbefehl des Hemchers durch eine Verordnung des gememsamen Kriefsministers zu ersetzen wünschte.202 Am 17. März bevollmächtigte der ungarische Ministerrat den Ministerpräsidenten unter früheren Bedingungen dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Die Angelegenheit kam im Einldfng mit dem Wunsche der ungarischen Regierung - am 23 Marz 1888 vor den gemeinsamen Ministerrat, nach dem ziemlich wortkargen Proto¬ koll erwähnte aber Kalman Tisza die ungarischen Vorbehalte nicht. Es wurde nur darüber verhandelt und beschlossen, daß die Verabschiedung des Gesetz¬ entwurfes durch das Parlament nicht automatisch die Genehmigung der entste¬ henden Kosten nach sich ziehen könne, da dafür das Einverständnis der Delega 199 Vgl. Anm. 172 und 173. 200 VVgol.rtArinrmd.e;1s9R3.eichskriegsministers v. 12. 12. 1887 betreffend die bei einigen Truppenkörpern 201 202 5^eSdMRav.1"r2h^S88.DAe'r GeSz^ntrag bezüglich der Einberufung von Reservesob daten und Ereatzreservisten zur aktiven Dienstleistung zu Fnedenszerten, OL., K. 27, Karton 203 fiMT. Ung.MR. ». 17. 3. 1888. 15. Der Gesetzantrag über die außerordentliche Einberufung der Reservisten und Ersatzreservisten, OL., K. 27, Karton || || Einleitung 81 tionen, im dringlichen Fall die der Regierung erforderlich war.204 Den Gesetz¬ entwurf verabschiedeten der ungarische Landtag als Gesetzartikel XVIII des Jahres 1888 und der österreichische Reichstag als Gesetz vom 31. Mai 1888. Zur Anwendung des angesichts der Verhältnisse in der Monarchie ungemein rasch geschaffenen Gesetzes kam es, obwohl die kriegerische Spannung inzwischen abgeklungen war, sehr bald, und die Reservisten bzw. Ersatzreservisten rückten bereits im Juli zu den einzelnen Einheiten ein.205 Die Ausnahmemaßregeln für den Kriegsfall Die Aufmerksamkeit der militärischen Führung erstreckte sich in den kriti¬ schen Tagen der Jahreswende 1887/88 sowohl auf das voraussichtliche Opera¬ tionsgebiet als auch auf das Hinterland, und der Generalstabschef drängte am 14. Dezember 1887 in einem langen Memorandum auf die Pragmatisierung jener außerordentlichen Maßnahmen, die im Kriegsfall einer Stärkung der Strafrechts- und Polizeigewalt dienen sollten.206 Die Schaffung derartiger Rechtsnormen begann nicht erst damals, der österreichische Ministerrat hatte seit 1883 zahlreiche Verordnungsentwürfe gutgeheißen, die eigentlich schon auf ihren Erlaß warteten. So waren unter anderem die Verordnungsentwürfe über die Suspendierung der staatsbürgerlichen Rechte, die Einführung der Ausnah¬ megerichtsbarkeit sowie über die Suspendierung der Tätigkeit der Schwurge¬ richte fertiggestellt, sämtlich mit Gültigkeit für Galizien und die Bukowina, ebenso die Rechtsnorm über die Einschränkung des Postverkehrs und des Nachrichtendienstes der Presse, die für das gesamte österreichische Staatsgebiet gültig war. Das Memorandum des Generalstabschefs konnte daher auch der österreichische Ministerpräsident Taaffe zufriedenstellend beantworten. Zu¬ gleich teilte er mit, daß die Abstimmung der beide Staaten berührenden Verord¬ nungsentwürfe seines Erachtens Aufgabe des gemeinsamen Ministerrates sei.207 Der Monarch lenkte im gemeinsamen Ministerrat vom 19. Dezember 1887 die Aufmerksamkeit des ungarischen Ministerpräsidenten auf die Ausarbeitung von Verordnungen in Österreich im Zusammenhang mit der Mobilisierung und erklärte es für erwünscht, daß diese auch die ungarische Regierung kennenler¬ ne,208 mehr geschah auf der Ebene des gemeinsamen Ministerrates nicht. Käl- män Tisza teilte mit, daß ähnliche Arbeiten auch ungarischerseits im Gange seien, und der ungarische Ministerrat genehmigte tatsächlich schon am 29. 204 GMR. v. 23. 3. 1889, RMRZ. 351. 205 Vortrag des Reichskriegsministers v. 7. Juli 1888, mit welchem der Ah. Befehl erbeten wird, Ersatzreservisten der Infanterie und des Tiroler Jägerregiments zur aktiven Dienstleistung einzuberufen, KA., MKSM. 72-9/3 ex 1888. 206 Memoire über Ausnahmemaßregeln zur Stärkung der Straf- und Polizeigewalt im Kriegsfall. K. k. Chef des Generalstabes v. 14. 12. 1887, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 70, Nr. 45. 207 Bemerkungen des k. k. Ministerpräsidenten zu dem Memoire v. 14. Dezember 1887 des Chefs des k. k. Generalstabes, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 70, Nr. 45. 208 GMR. v. 19. 12. 1887, RMRZ. 347. || || 82 Einleitung Dezember den Gesetzesantrag über das Inkrafttreten der außerordentlichen Maßnahmen und die damit verbundenen Verordnungsentwürfe.209 Die Abstim¬ mung der österreichischen und ungarischen Verordnungsentwürfe übernahm das gemeinsame Kriegsministerium - mit geringem Erfolg. Als es die ungarische Regierung darauf aufmerksam machte, daß im österreichischen Entwurf der Postverkehr und die Nachrichtenvermittlung durch die Presse schon vor der Mobilisierung Einschränkungen unterliegen, und es für wünschenswert erklärte, daß auch ungarischerseits ein ähnliches Verfahren angewendet werde, verwei¬ gerte sich der ungarische Ministerrat diesem strikt, unter Berufung auf die gesetzlichen Bestimmungen über das Briefgeheimnis und auf die Pressefrei¬ heit.210 Auch eine neuerliche Intervention des gemeinsamen Kriegsministers führte mehrere Jahre später zu keinem Ergebnis.211 Inzwischen wurden die Arbeiten in Österreich mit unveränderter Intensität fortgesetzt und die zu erlassenden Verordnungen in der im Sommer unter dem Vorsitz des Monarchen abgehaltenen Konferenz endgültig formuliert.212 Dieser große Eifer war jedoch ganz vergebens, da die Entwürfe nach Entspannung der Kriegsgefahr in den Aktenschränken der Ministerien liegen blieben. Demgegenüber erschien sowohl in Ungarn als auch in Österreich die Rechtsnorm über die Bestrafung jener, die dem Einberufungsbefehl nicht Folge leisteten, in Ungarn als Gesetzartikel XXI des Jahres 1890, in Österreich als Gesetz vom 28. Juni 1890. Die Einführung der Repetiergewehre Im Laufe des Überblicks über das gesamte Kriegswesen war schon die Rede davon, daß die Ausrüstung der verschiedenen Waffengattungen recht stabil war und die Infanterie den 1867 eingeführten Einzellader mit Zündnadel des Sy¬ stems Werndl bis zur Mitte der 80er Jahre verwendete, obwohl doch inzwischen auf dem Gebiet der Schußwaffen bedeutende technische Entwicklungen zu verzeichnen und die Musterexemplare der Repetiergewehre sowohl in der Mon¬ archie als auch in anderen Ländern Europas bekannt waren. Einige von diesen wurden auch ausprobiert, und das Repetiergewehr des Obersten Kropatschek wurde zwischen 1874 und 1880 bei der bosnischen Infanterie und der ungari¬ schen Gendarmerie sogar eingesetzt. Zu seiner allgemeinen Einführung kam es 209 331MT. Ung.MR. v. 29.12.1887. 1. Entwurf des die im Kriegsfall erforderlichen außerordentli¬ chen Maßnahmen behandelnden Gesetzentwurfes und der Regierungsverordnung, OL., K. 27, Karton 43. 210 5/MT. Ung.MR. v. 27. 2.1888. 9. Ergänzung der für den Mobilisierungsfall geplanten außeror¬ dentlichen Maßnahmen bezüglichen Verordnungen, OL., K. 27, Karton 43. 211 Auszug aus dem Einsichtsakte des Reichskriegsministeriums Präs. Nr. 956 1894 betreffend die Neuredigierung des Entwurfes eines ungarischen Gesetzvorschlages über die im Kriegsfälle anzuwendenden außerordentlichen Maßnahmen v. 30. 9. 1894, KA., MKSM. 33--1/1--27 ex 1894. 212 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k apost. Majestät am 25. 6. 1888 stattgehabte Konferenz in der kgl. Hofburg zu Budapest betreffend die für den Kriegsfall vorbereiteten Maßnahmen, KA., MKSM. 69-1/11 ex 1888. || || Einleitung 83 aber nicht. Gewisse ungelöste technische Probleme, die finanzielle Lage und der abwartende Standpunkt anderer Mächte sprachen insgesamt für die Beibehal¬ tung des Einzelladers. Im Laufe des Jahres 1884 wuchs aber in ganz Europa die Bereitschaft, die Repetierwaffen einzuführen, und unter diesem Eindruck begann sich auch das gemeinsame Kriegsministerium intensiv mit der Modernisierung der bei der Wehrmacht gebräuchlichen Schußwaffen zu beschäftigen. Der Wiener Inge¬ nieur Ferdinand Mannlicher führte im Januar 1885 sein Repetiergewehr mit Geradeverschluß vor, das mit fünf Patronen geladen werden und pro Minute 36 Schüsse abgeben konnte. Die Expertenkommission des gemeinsamen Kriegs¬ ministeriums befand das Gewehr für gut, und im Oktober 1885 wurden fünf Bataillone mit ihm ausgerüstet. Nachdem diese Erprobung in großem Ausmaß ebenfalls günstig verlaufen war, beantragte die Expertenkommission im Juni 1886, die Waffe allgemein einzuführen. Das einzige Problem verursachte das Kaliber. Das Repetiersystem steigerte an sich den Patronenbedarf und damit die Belastung des Soldaten, die bei Beibehaltung des 11-Millimeter-Kalibers noch zusätzlich erhöht wurde. Wegen der Verschmutzung des Gewehrlaufes aber sah die Kommission keine Möglichkeit, das Kaliber zu verringern. Der gemeinsame Kriegsminister akzeptierte den Vorschlag der Kommission und nahm in den Haushaltsplan des Kriegswesens für das Jahr 1887 3,5 Millionen zur Einführung der Repetiergewehre des Typs Mannlicher 1886 auf.213 Der gemeinsame Ministerrat begegnete in seiner Sitzung vom 25. September 1886 bei der Erörterung des Jahresbudgets erstmals dem Problem der Einfüh¬ rung von Repetiergewehren.214 Die Notwendigkeit der Einführung bezweifelte niemand, wozu offenbar auch der Umstand beitrug, daß gerade in dieser Sitzung die Folgen der bulgarischen Krise besprochen und deren eventuelle spätere Auswirkungen erwogen wurden. Auf die Frage des österreichischen Finanzmi¬ nisters teilte der gemeinsame Kriegsminister mit, daß die Gesamtkosten der Einführung der neuen Schußwaffe 35 Millionen betrugen, die er in vier Jahresra¬ ten von je 8 Millionen zu bezahlen gedenke. Der gemeinsame Ministerrat genehmigte die für 1887 veranschlagten 3,5 Millionen, kürzte dafür aber einige Posten des Haushaltsplans. Charakteristischerweise wurde wieder die für die dritte tägliche Mahlzeit des Militärs, für das Abendessen, in Aussicht gestellte Summe gestrichen, obwohl dieser Posten schon mehrmals in den Haushaltsplan aufgenommen worden war. Nachdem die Kosten der Einführung der neuen Schußwaffe auch von den Delegationen bewilligt worden waren, unterbreitete der gemeinsame Kriegsmi¬ nister dem Monarchen im Januar 1887 eine Vorlage zwecks Genehmigung der geplanten Maßnahmen. Darin wurde ausgeführt, daß die Waffenfabrik in Steyr bis Oktober 1887 83 000 Stück hersteilen werde, womit bis Mitte 1890 die Ausrüstung der gesamten Infanterie abgeschlossen und eine 50%ige Reservebil- 213 Memoire über die Notwendigkeit der Beschaffung von Repetiergewehren. (Ohne Datum, ver¬ mutlich Ende 1886), KA., MKSM. 25-2/2 de 1886. 214 GMR. v. 25. 9. 1886, RMRZ. 331. || || 84 Einleitung düng gewährleistet werde. Diese Vorlage sanktionierte der Herrscher am 27. Januar 1887, und damit begann die Ausrüstung der Infanterie mit Waffen des Typs M 1886.215 Inzwischen wurden die Versuche mit einem Gewehr kleineren Kalibers fortgesetzt, die infolge der Entwicklung des rauchlosen Schießpulvers zu günstigen Ergebnissen führten. Daher erwies sich schon kurz nach Einfüh¬ rung des Typs M 1886 dessen Umänderung als notwendig und zweckmäßig, die dadurch erleichtert wurde, daß die Waffenfabrik in Steyr bis März 1888 statt der vorgesehenen 143 000 Gewehre nur 90 000 lieferte. Der gemeinsame Kriegs¬ minister schlug am 8. März 1888 in einem neuen Antrag vor, das 8-Millimeter- Repetiergewehr des Typs M 1888 einzuführen, was der Herrscher am 10. März auch guthieß.216 Als Ergebnis der nunmehr fortlaufend gelieferten Gewehre konnte der gemeinsame Kriegsminister im April 1890 dem Herrscher die Mel¬ dung erstatten, daß die Ausrüstung der gesamten Infanterie abgeschlossen sei.217 Zwei Jahre später war auch die Ausrüstung der Kavallerie mit 8-Millimeter- Repetierkarabinern beendet.218 Der gemeinsame Ministerrat befaßte sich nicht mit der Änderung des Kali¬ bers der Schußwaffe, wohl aber Jahr für Jahr wieder mit deren Kosten. Bei solchen Gelegenheiten wurden zumeist die finanztechnischen Fragen behandelt, wie beispielsweise am 28. September 1887, als die Aufnahme der fälligen 9 Millionen Gulden im Budget in Schwebe gelassen wurde, bis sich die beiden Finanzminister über die Finanzdeckung geeinigt hätten.219 Daß Kaiman Tisza bei einer Gelegenheit die Versorgung der Kavallerie mit Karabinern auf das nächste Jahr verschieben wollte, galt als Ausnahme.220 Die sonst bei der Vergabe von Finanzmitteln sehr zurückhaltende Körperschaft zeigte sich bei der Einfüh¬ rung der Repetierwaffen sehr großzügig. Durch die Einführung der Repetiergewehre wurde auch die Notwendigkeit der Waffenübungen spruchreif. Der Chef des Generalstabs beantragte, die Reserve und Ersatzreserve zu diesem Zweck über die im Wehrgesetz zugelasse¬ nen dreimaligen Übungen hinaus für eine weitere Waffenübung von zwei Wo¬ chen einzuberufen und dafür die gesetzlichen und finanziellen Voraussetzungen zu schaffen. Der gemeinsame Kriegsminister hielt es teils mit Rücksicht auf die bevorstehende Verlängerung des Wehrgesetzes, teils angesichts der finanziellen Probleme nicht für zweckmäßig, mit einem solchen Antrag an die Regierungen heranzutreten, sondern wollte, daß die Einübung mit dem Repetiergewehr im Rahmen der im Wehrgesetz vorgeschriebenen Waffenübungen erfolge.221 Der 215 Vortrag des Reichskriegsministers v. 25. 1. 1887, mit welchem die Ah. Genehmigung zur Einführung des Repetiergewehres M 1886 au. erbeten wird, K.A., MKSM. 4-1/1 ex 1887. 216 Vortrag des Reichskriegsministers v. 8. 3. 1888, KA., MKSM. 4-2/2 ex 1888. 217 Vortrag des Reichskriegsministers v. 19. 4. 1890, KA.. MKSM. 4-3/3 ex 1892. 218 Vortrag des Reichskriegsministers v. 7. 5. 1892, KA., MKSM. 4-3/3 ex 1892. 219 GMR. v. 28. 9. 1887, RMRZ. 345. 220 GMR. v. 29. 4. 1889, RMRZ. 356. 221 Vortrag des Reichskriegsministers v. 5. 12. 1887 betreffend die Vornahme der Waflfenübungen der Reservemänner zum Zwecke der Einschulung mit dem Repetiergewehr, KA., MKSM. 4-1/5 ex 1887. || || Einleitung 85 Monarch brachte zwar im gemeinsamen Ministerrat vom 19. Dezember 1887 die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die außerordentlichen Waffen¬ übungen zur Sprache,222 doch setzte sich in dieser Frage der gemeinsame Kriegs¬ minister mit seinem Standpunkt durch.223 Die ungarische Waffenfabrik Gleichzeitig mit der Einführung der Repetiergewehre wurde auch der Gedan¬ ke der Errichtung einer Waffenfabrik in Ungarn aufgeworfen. Anläßlich der Delegationssitzung im Herbst 1886 beanstandete die ungarische Seite, daß auch die Ausrüstung der ungarischen Honved mit den Erzeugnissen der österreichi¬ schen Waffenfabrik erfolge, und beantragte den Bau einer Waffenfabrik in Ungarn. Der gemeinsame Kriegsminister äußerte sich zustimmend zur Errich¬ tung einer zweiten Waffenfabrik, wenn diese hinsichtlich Technik, Preis und Lieferung ähnliche Bedingungen gewährleiste wie die Fabrik in Steyr. Denn obwohl diese bis Ende 1889 in der Lage sei, 930 000 Waffen zu liefern und damit den Gesamtbedarf der Wehrmacht zu decken, würde die Errichtung einer zweiten Waffenfabrik den Umrüstungsprozeß um etwa acht Monate verkürzen, was angesichts der gespannten internationalen Lage unbedingt als Gewinn zu werten sei.224 Die ungarische Regierung zeigte eine viel geringere Begeisterung und weniger Interesse. Ihr Landesverteidigungsminister Fejerväry berichtete am 5. März 1887, daß er von der Firma Löwe-Mannlicher ein Angebot zur Errich¬ tung einer Fabrik und zur Lieferung von 400 000 Gewehren erhalten hatte, beantragte aber nicht die Annahme des Angebotes, und der Ministerrat nahm in dem Sinne Stellung, daß der Gedanke der Errichtung einer Waffenfabrik in Budapest derzeit fallengelassen werde.225 Da sich der gemeinsame Kriegsmini¬ ster aber noch nicht dazu geäußert hatte, in welcher Höhe er Waffen der neuen Fabrik für das gemeinsame Heer übernehmen wolle, wurde zur Erörterung der Angelegenheit die Einberufung des gemeinsamen Ministerrates beantragt. In¬ zwischen änderte aber die ungarische Regierung ihre anfangs ablehnende Hal¬ tung und beschloß am 13. Juni unter Berufung darauf, daß die Monarchie nicht auf eine einzige Fabrik angewiesen sein könne, mit der Firma Löwe-Mannlicher doch einen Vertrag zu schließen.226 Der von der ungarischen Regierung beantragte gemeinsame Ministerrat trat 222 GMR. v. 19. 12. 1887, RMRZ. 347. 223 33jMT. Ung.MR. v. 29. 12. 1887. 9. Gesetzantrag über die Einberufung der Reservisten des Heeres und der Landwehr zu einer kurzen WafTenübung, OL., K. 27, Karton 43. 224 Expose über die Frage, ob die Idee der Erbauung einer Waffenfabrik in Budapest zu realisieren sei oder nicht. (Ohne Datum, vermutlich Ende 1886), KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 18. 225 TjMT. Ung.MR. v. 5. 3. 1887. 1. In Angelegenheit der in Budapest zu errichten geplanten Waffenfabrik, OL., K. 27, Karton 42. 226 18/MT. Ung.MR. v. 13. 6. 1887. 1. In Angelegenheit der in Ungarn zu errichtenden Waffen¬ fabrik, OL., K. 27, Karton 42. || || 86 Einleitung am 2. Juli zusammen, aber in diesem fand die Angelegenheit der ungarischen WafFenfabrik eigentlich keinen Befürworter. Kalman Tisza betonte, daß die Errichtung einer ungarischen Waffenfabrik die Versorgung der ungarischen Honved mit Repetierwaffen um zwei Jahre hinausschieben würde, eine Ansicht, der auch der gemeinsame Kriegsminister zustimmte. Eine Entscheidung wurde nicht getroffen, da man nicht über die Bedingungen der Waffenfabrik in Steyr unterrichtet war. Es schien unklar, ob letztere die von der ungarischen Regie¬ rung verlangte Ratenzahlungsbegünstigung gewähren wollte, die die Firma Löwe-Mannlicher schon in Aussicht gestellt hatte.227 Obwohl schließlich die österreichische Waffenfabrik diese Begünstigung nicht gewährte, entschied sich die ungarische Regierung abermals für das Projekt. Der Ministerrat beschloß am 7. Januar 1888, mit der Firma einen Vertrag über den Bau der Waffenfabrik und die Lieferung von 180 000 Gewehren des Typs M 1888 abzuschließen.228 Das Parlament verabschiedete den Bau der Fabrik als Gesetzartikel II des Jahres 1888; er wurde am 18. Juni 1888 begonnen und ungemein rasch, schon am 31. Dezember 1888 beendet.229 Der Beginn der Waffenproduktion vollzog sich jedoch bei weitem nicht so reibungslos. Die Fabrik lieferte bis Juli 1889 gegenüber den vertraglich zugesicherten 1000 Gewehren insgesamt nur zwanzig, die sich zudem als unbrauchbar erwiesen. Nach wiederholten erfolglosen Versu¬ chen beschloß die ungarische Regierung am 27. Juni 1890, den Vertrag mit der Firma Löwe-Mannlicher zu kündigen und die für die Honved benötigten Waf¬ fen bei der Waffenfabrik in Steyr zu bestellen.230 Die Waffenfabrik in der Soroksäri üt wurde bald liquidiert. Die Verlängerung des Wehrgesetzes im Jahre 1889 Wie unzufrieden die militärische Führung mit dem Wehrgesetz war, hatte sich bereits bei den Vorbereitungen zum Landsturmgesetz gezeigt. Sie schrieb diesem im Jahr 1868 geschaffenen und seither im wesentlicher! unveränderten Gesetz die zunehmende Rückständigkeit der Wehrmacht der Monarchie gegen- überjener der anderen Großmächte zu. Dem Landsturmgesetz wurde eigentlich auch die Absicht unterstellt, zumindest indirekt, durch Umgehung des Wehrge¬ setzes, das der Armee zur Verfügung stehende Menschenpotential erhöhen und die im Kriegsfall notwendige kontinuierliche Heeresergänzung sichern zu sollen. Das Landsturmgesetz linderte tatsächlich beträchtlich die Sorgen der Heereser¬ gänzung. Da dieses Gesetz aber nur in äußerster Not, im Kriegsfall, angewendet werden durfte, vermochte es die grundlegenden Probleme der Heeresentwick¬ lung nicht zu lösen. Das für zehn Jahre im voraus bestimmte, relativ niedrig 227 GMR. V. 2. 7. 1887, RMRZ. 342. 228 3/MT. Ung.MR. v. 17. 1. 1888. 1. In Angelegenheit der Waffenfabrik, OL., K. 27, Karton 42. 229 Temesväry, Fejezetek a Magyar Fegyvergyär törteneteböl 154. 230 23/MT. Ung.MR. v. 27. 6.1890. 1. In Angelegenheit der ungarischen Waffenfabrik, OL., K. 27, Karton 47. || || Einleitung 87 gehaltene Rekrutenkontingent, die gesetzlich festgelegte Ersatzreserve und die mannigfaltigen Freistellungen vom Dienst mit Geltung auch im Kriegsfälle verhinderten nach wie vor, daß die waffenfähige männliche Bevölkerung aus¬ nahmslos eine militärische Ausbildung erhalten und so im Kriegsfall dem Heer zur Verfügung stehen konnte. Die nächste Verlängerung des Wehrgesetzes war 1889 fällig, und bei dieser Gelegenheit konnte die militärische Führung versuchen, die bestehenden Ano¬ malien zu beseitigen. Die Vorarbeiten begannen aber schon viel früher. Der gemeinsame Kriegsminister verfaßte im Frühjahr 1885 ein umfangreiches Me¬ morandum, in dem er die Mängel des Wehrgesetzes, vor allem aber die der Heeresergänzung analysierte.231 Die gesetzlich festgelegte Begrenzung des Kriegsstandes sei verfehlt und schädlich, da die Armee infolgedessen auf einen beträchtlichen Teil der waffenfähigen Bevölkerung verzichten mußte. Der Ge¬ samtbestand der 12 wehrpflichtigen Jahrgänge, sinngemäß der Kriegsstand, war nämlich viel höher als der im Wehrgesetz festgelegte Kriegsstand von 800 000 Mann. Die allerschädlichste Verfügung des Wehrgesetzes aber sei, daß es auch den prozentuellen Anteil der Ersatzreserve bestimme, und zwar außerordentlich niedrig, und dadurch einen Ersatz der Kriegsverluste unmöglich machte. Im weiteren bemängelte das Memorandum die Abschnitte des Wehrgesetzes über die Freistellungen vom Dienst, und zwar den Mißstand, daß jährlich ca. 16 000 waffenfähige Männer dem Heer fernblieben und diese Freistellungen infolge einer weiteren Ungenauigkeit des Wehrgesetzes selbst zur Kriegszeit in Kraft blieben. Verfehlt sei die gültige Regionalordnung der Rekrutenverteilung, da das gemeinsame Heer dadurch das ihm zustehende Rekrutenkontingent häufig nicht erhielt. Schließlich erwähnte das Memorandum als eine gravierende Ursa¬ che der ungünstigen Stellungsergebnisse, daß das Wehrgesetz die Stellungs¬ pflicht auf das 20. Lebensjahr festsetzte, obwohl die Rekruten in diesem Alter zumeist noch unreif, daher zum Waffendienst ungeeignet waren. Der gemeinsa¬ me Kriegsminister faßte seine Vorschläge schließlich in 13 Punkten zusammen und beantragte unter anderem die Aufhebung einer gesetzlichen Festlegung des Kriegsstandes und der Ersatzreserve, eine jährliche Bestimmung des Rekruten¬ bedarfes des Heeres und der beiden Landwehren, die Einschränkung der Befrei¬ ungstitel, die Aufhebung der Freistellung während des Krieges und die Verle¬ gung der Stellungspflicht auf das 21. Lebensjahr (oder statt dessen die Einfüh¬ rung des vierjährigen Präsenzdienstes). Dieses Memorandum wurde von drei militärischen Konferenzen unter dem Vorsitz des Monarchen erörtert. Die erste Besprechung fand am 10. Mai 1885 im engeren Kreis statt, mit Beteiligung des Generalinspektors des Heeres, des gemeinsamen Kriegsministers und des Chefs des Generalstabs, des Vorstands der Militärkanzlei und des Chefs der zweiten Sektion des gemeinsamen Kriegs- 231 Memoire über die ungünstigen Verhältnisse der Ergänzungen der bei der mobilen Armee entstehenden Abgänge - dann über die zu diesem Zwecke höchst wünschenswerten Verbesse¬ rungen des Wehrgesetzes und der Durchführungsbestimmungen zu demselben. (Ohne Datum, vermutlich April 1885), KA., MKSM. 20-1/10-3 de 1885. || || 88 Einleitung ministeriums,232 die beiden anderen am 30. Mai233 und am 31. Mai234 im erweiter¬ ten Kreis, in Gegenwart der beiden Landesverteidigungsminister. Besonders um den ersten und vierten Punkt, die Aufhebung der Fixierung des Kriegsstandes und die Festlegung des jährlichen Rekrutenkontingents, wurde heftig diskutiert. Die Positionen erinnerten an die Standpunkte in der Debatte über das Land- sturmgesetz. Der ungarische Honvedminister Fejerväry war aus staatsrechtli¬ chen Überlegungen gegen eine Aufhebung der Fixierung des Kriegsstandes und aus praktischen Gründen gegen eine Erhöhung des Rekrutenkontingents, die er wegen der schlechten Stellungsergebnisse für undurchführbar hielt. Der österreichische Landwsverteidigungsminister Welsersheimb unterstützte hinge¬ gen beide Vorschläge des gemeinsamen Kriegsministers und argumentierte, der Kriegsstand sei auch anderwärts nicht im voraus festgelegt, und die schlechten Stellungsergebnisse ergäben sich nicht aus der tatsächlichen Untauglichkeit, sondern aus äußeren Umständen (der fehlerhaften Grundbuchführung und der ungeregelten Auswanderung). Die Aufhebung der Fixierung des Kriegsstandes konnte der Sektionschef des gemeinsamen Kriegsministeriums nicht zufrieden¬ stellend begründen und antwortete auf die Frage des Monarchen nur, aus politischer Hinsicht sei die Fixierung nicht zweckmäßig. Da interessanterweise auch der gemeinsame Kriegsminister selbst gegen eine Abschaffung des fixen Kriegsstandes war, entschied der Monarch, daß dieser Punkt weiter überlegt werden müsse. Die Konferenz einigte sich aber darauf, daß das Rekrutenkontin¬ gent des gemeinsamen Heeres von 95 000 auf 101 000 Mann zu erhöhen sei und dasselbe auch für die beiden Landwehren neu zu bestimmen sei. Gegen die Einschränkung der Dienstbefreiung erhob wieder Fejerväry Einspruch, dem der Herrscher stattgab. Den Antrag, die Freistellung nur auf die Friedenszeit zu beschränken und die waffenfähigen Freigestellten in die Ersatzreserve einzutei¬ len, unterstützte auch Fejervary wärmstens, woraufhin dieser ohne Schwierig¬ keit angenommen wurde. Ebenso wurde die Aufhebung einer Fixierung der Ersatzreserve sowie die Anhebung des stellungspflichtigen Alters auf das 21. Lebensjahr gutgeheißen. Die Konferenz nahm auch zu den übrigen Anträgen des gemeinsamen Kriegsministers Stellung. Erwähnenswert ist noch, daß der Herrscher den ganzen Gedankenaustausch als akademisch betrachtete und seinen Zweck nur darin sah, die Landesverteidigungsminister auf die damals fällige Parlamentsdebatte des Landsturmgesetzes entsprechend vorzubereiten. 232 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät stattgehabte Konferenz Sonntag, den 10. 5. 1885 betreffend das von Reichskriegsministerium unterbreitete Memoire: „Über die ungünstigen Verhältnisse der Ergänzung der bei der mobilen Armee entstehenden Abgänge, dann über die zu diesem Zwecke höchst wünschenswerten Verbesserungen des Wehrgesetzes und der Durchführungsbestimmungen zu demselben." KA., MKSM. 20-1/10-3 ex 1885. 233 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 30. 5. 1885 stattgehabte Konferenz, betreffend das vom Reichskriegsministerium ausgearbeitete Memoire, KA., MKSM. 20-1/10-8 de 1885. 234 Protokoll der am 31. 5. in der Hofburg zu Wien unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät abgehaltenen kommissioneilen Beratung, KA., MKSM. 20-1/10-9 ex 1885. || || Einleitung 89 Die Erörterung einer Revision des Wehrgesetzes im Ministerrat hielt er noch nicht für aktuell. Die eigentlichen Vorarbeiten für die Verlängerung des Wehrgesetzes began¬ nen im Herbst 1887. Der gemeinsame Kriegsminister ersuchte in seiner Vorlage vom 3. Oktober 1887 um die Zustimmung des Monarchen an, die Ausarbeitung des Wehrgesetzes im Sinne der in der Vorlage enthaltenen Grundsätze, zusam¬ men mit den Landesverteidigungsministern in Angriff nehmen zu können.235 Als Basis dienten die Vereinbarungen der Konferenz vom Mai 1885, die der gemein¬ same Kriegsminister mit den in den ursprünglichen 13 Punkten enthaltenen Anträgen, wie der Aufhebung der Festlegung des Kriegsstandes, der Verteilung der Rekruten unter den Militärterritorialbezirken entsprechend den tatsächli¬ chen Assentierungsergebnissen, der Einberufung des ersten Jahrganges der Reserve zum Präsenzdienst und einer Revision des Einjährig-Freiwilligensy- stems zu ergänzen wünschte. Der Monarch sanktionierte die Vorlage am 28. Oktober 1887 und ermächtigte den gemeinsamen Kriegsminister, das Wehrge¬ setz auszuarbeiten. Dieser erstellte mehrere Varianten, aus denen in einer außer¬ ordentlich intensiven Kodifikationsarbeit im Mai 1888 die als endgültig be¬ trachtete vierte Variante des Wehrgesetzentwurfes hervorging.236 Der gemeinsa¬ me Kriegsminister versah jeden Paragraphen des neuen Wehrgesetzes und besonders sorgfältig die durchgeführten Änderungen237 mit ausführlichen Be¬ gründungen. Überwiegend waren diese positive Erörterungen all dessen, was schon in den im Laufe der Vorbereitung entstandenen Schriften niedergelegt worden war, die Begründung für § 14 ist aber auch darüber hinaus beachtens¬ wert. Warum von der gesetzlichen Festlegung des Kriegsstandes abzusehen ist, führte auch sie nicht aus, sie stützte aber die Erhöhung des Rekrutenkontingents des Heeres und die Festlegung des der beiden Landwehren mit überzeugenden Argumenten. Die jährlich 103 000 Rekruten der Armee und 22 000 Rekruten der beiden Landwehren waren notwendig, weil der im Wehrgesetz zukünftig nicht mehr angeführte, aber nach wie vor vorhandene Kriegsstand der Armee von 800 000 Mann ebenso wie der der beiden Landwehren nur so aufrechterhal¬ ten werden konnte. Der Kriegsstand ist nämlich mit dem Sollstand an Dienst¬ tuenden und nicht mit dem Grundbuchstand identisch, da letzterer zur Errei¬ chung des tatsächlichen Kriegsstandes etwa 8% höher als dieser sein mußte. Daher war die Erhöhung des Rekrutenkontingents nicht gleichbedeutend mit einer Erhöhung des Kriegsstandes, sie stellte bloß den ursprünglichen Kriegs¬ stand sicher, der bisher nur auf dem Papier existierte. Eine tatsächliche und im Kriegsfall realisierbare Erhöhung bedeuteten die Aufhebung der Festlegung und die beträchtliche Steigerung der Ersatzreserve, da im Sinne des neuen Wehrgesetzes 25 000 Mann in die Ersatzreserve eingereiht wurden. Die Gesamt- 235 Vortrag des Reichskriegsministers v. 3. 10. 1887, Entwurf eines neuen Wehrgesetzes, KA., MK.SM. 82-1/4 de 1887. 236 Vierter Entwurf eines neuen Wehrgesetzes. (Zum reservierten Amtsgebrauche.) 1888, KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888. 237 Begründungen zum vierten Entwürfe eines neuen Wehrgesetzes. (Zum reservierten Amtsgebrau¬ che.) 1888, KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888. || || 90 Einleitung zahl der Rekruten und Ersatzreservisten betrug 150 000 Mann im Jahr, das waren 3,7%o der Gesamtbevölkerung, und stimmte etwa mit der durchschnittli¬ chen Leistung der europäischen Großmächte überein.238 Im vierten Entwurf des Wehrgesetzes blieb das für die ungarische Honved festgesetzte Rekrutenkontin¬ gent in der Schwebe, weil sich das gemeinsame Kriegsministerium und das ungarische Landesverteidigungsministerium in dieser Frage nicht einigen konn¬ ten. Ersteres hielt zur Sicherung des um 8% Abgänge erhöhten Kriegsstandes der ungarischen Honved von 141 950 Mann 11 176 Rekruten pro Jahr für ausreichend, während letzteres aufgrund des Grundbuchstandes 12 500 Rekru¬ ten jährlich beanspruchte,239 die es nach erneuten Berechnungen auf 13 000 Mann erhöhte.240 Den vierten Entwurf des Wehrgesetzes erörterte die Konferenz am 17. Juni 1888 unter Vorsitz des Monarchen, an der der gemeinsame Kriegsminister, die beiden Landesverteidigungsminister sowie die Referenten teilgenommen ha¬ ben.241 Da die anwesenden Minister die Vollmacht ihrer Regierungen besaßen, kann diese Konferenz gewissermaßen als ein engerer gemeinsamer Ministerrat betrachtet werden. Nachdem dieses Gremium die Grundprinzipien der Ände¬ rung des Wehrgesetzes angenommen hatte, bildeten die wesentlichen Fragen kein Diskussionsthema mehr, und der Gedankenaustausch drehte sich größten¬ teils um die staatsrechtlichen und Formulierungsfragen. Der Monarch bean¬ standete, daß im § 3 der Ausdruck „beide Staatsgebiete" vorkam, und hatte in seinen im voraus angefertigten schnftTTcheh Bemerkungen auch notigrt, daß es in deFMonarchie von'aüßen,betrachtet nur ein Staatsgebiet geb 242 -Fejerväry verw1es`Hingegen"auf einen möglichen parlämehtärisciien Widerstand und hielt am ursprünglichen Text fest. Der Herrscher meinte weiter, auf den zweiten Absatz des § 14 über die Verteilung des Rekrutenkontingents auf „beide Staats- "gebiete" könne"verzichtet weTden, weil in diesem Fall nach jeder Volkszählung enTneues Gesetz geschafferiTvefden müßte. Die beiden LandesVerteidigungsmi¬ nister sprachen sich jedoch für eine Beibehaltung des ursprünglichen Textes aus, r Welsersheimb mit praktischen Argumenten, Fejerväry aber machte darauf \ aufmerksam, daß die gesetzgebenden Körperschaften eine genaue Bestimmung \des Rekrutenkontingentes als ihr verfassungsmäßiges Recht ^betrachteten, und \da die gesetzliche Festlegung des Kriegsständes ohnehin entfiel, würde ein KVeglassen der Verteilung des Rekrutenkontingentes zu unerfreulichen Ausein¬ andersetzungen führen. Der Herrscher gab schließlich in beiden Fragen nach, 238 Begründungen zum vierten Entwürfe 14-25. 239 Referat der zweiten Abteilung des Reichskriegsministeriums über die bestehenden Differenzen bei Berechnung des Rekrutenkontingentes für die kgl. ung. Landwehr v. 24. 5. 1888, KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888. 240 Au. Referat über den § 14 des vierten Entwurfes betreff Festsetzung des Rekrutenkontingentes für die kgl. ung. Landwehr v. 25. 6. 1888, KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888. 241 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in der kgl. Burg zu Ofen am 17. 6. 1888 stattgehabte Konferenz betreffend den vierten Entwurf eines neuen Wehrgesetzes, KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888. 242 Ah. Bemerkungen zum vierten Wehrgesetzentwurfe, KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888. || || Einleitung 91 bestand jedoch darauf, der ungarischen Regierung solle zur Kenntnis gebracht werden, daß er den Ausdruck „beide Staatsgebiete" für nicht korrekt erachtete. Die Ansichten über die beabsichtigten Verschaxfun^nTm"TEihjährig-lFreiwilli- gensystem deckten sich ebenfalls nicht. Fejerväry beanstandete, daß den Absol¬ venten der Handelsschulen diese Begünstigung entzogen werde, und hielt den ( zweimaligen halbjährigen Militärdienst der Mediziner für zu lang, zog diesen I Einwand aber nach der ungewöhnlich scharfen Bemerkung des Monarchen \ zurück, es sei schließlich dem ungarischen Minister Trefort zu verdanken, daß \ dasJosephinum nicht wieder errichtet werden konnte.243'Alle diese Meinungs¬ verschiedenheiten hatten aber für das Wehrgesetz insgesamt keine besondere Bedeutung, ebensowenig die Tatsache, daß aufgrund der Unterschiede zwischen dem österreichischen und dem ungarischen Strafgesetzbuch die in Aussicht gestellten Sanktionen in der österreichischen und der ungarischen Variante des Wehrgesetzes nicht völlig identisch sein konnten. Eine meritorische, die Hälfte der ganzen Beratungsdauer ausfüllende Debatte wurde um die Festlegung des Rekrutenkontingents der ungarischen Honved geführt, wobei die Differenzen nicht allein auf der abweichenden Berechnungsweise, sondern auch auf der unterschiedlichen Auslegung der Priorität beruhten. Eine Lösung brachte schließlich ein Vermittlungsantrag des Monarchen, der ein Kontingent von 12 500 Mann vorschlug, welche Zahl dann auch in das Wehrgesetz aufgenom-, men wurde. Das Schlußwort, wonach vor allem der Bedarf des gemeinsamen Heeres gesichert werden mußte, zeugt dennoch davon, daß es nicht gelungen war, die sich in den Grundsätzen zeigenden Differenzen völlig zu überbrücken. Der Entwurf des Wehrgesetzes wurde am 29. Juni 1888 dem ungarischen Ministerrat vorgelegt,244 der keine sachlichen Einsprüche erhob und im Text nur kleinere Änderungen durchführte. Die bisher stets abgelehnte Erhöhung des Rekrutenstandes wurde jetzt vermutlich unter dem Eindruck der sich kaum vermindernden militärischen Krisensituation gebilligt, und die Einreihung der provisorisch Freigestellten in die Ersatzreserve hatte die ungarische Regierung schon anläßlich der Debatten über das Landsturmgesetz in Aussicht gestellt.245 Im Laufe des Sommers wurden noch Verhandlungen über die Paragraphen bezüglich der Einjährig-Freiwilligen bzw. der Mediziner mit der österreichi¬ schen Regierung und dem gemeinsamen Kriegsministerium geführt, in deren Verlauf erreicht wurde, daß die dienstverpflichteten Freiwilligen auch im zwei¬ ten Jahr gewisse Begünstigungen erhielten und die Medizinstudenten, die ihre Studien absolviert, aber das Doktoratsrigorosum noch nicht abgelegt hatten, vom zweiten Jahresdienst befreit wurden.246 Diese Verhandlungen verzögerten aber die Pragmatisierung des Gesetzentwurfes kaum. Der ungarische Minister¬ rat ermächtigte am 20. September 1888 den Landesverteidigungsminister, den _44 13/MT. UngrMR. v. 29. 6. 1888. 2. Der Wehrgesetzentwurf, OL., K. 27, Karton 44. 245 Vgl. Anm. 155. ~46 14/MT. Ung.MR. v. 16. 8. 1888. 17. In Angelegenheit des Wehrgesetzantrages, OL., K. 27, Karton 44. || || 92 Einleitung Gesetzentwurf zum geeigneten Zeitpunkt im Parlament einzubringen.247 Ein ernsteres Hindernis verursachte im Entwurf der zum Wehrgesetz zu erlassenden Durchführungsverordnung das Problem der Verteilung der sich im Rekruten¬ kontingent eventuell ergebenden Abgänge. Der Honvedminister berichtete in der Sitzung des ungarischen Ministerrates vom 24. Oktober 1888,248 er habe sich in der unter dem Vorsitz des Monarchen stattgefundenen Beratung249 auch hinsichtlich solcher Fälle dafür eingesetzt, daß der gleiche Schlüssel angewendet werde wie bei der Verteilung des Rekrutenkontingents, der gemeinsame Kriegs¬ minister aber habe, ebenso wie die übrigen Anwesenden, vor allem den Bedarf der gemeinsamen Armee befriedigt sehen wollen, und es sei nicht gelungen, die Meinungsverschiedenheiten zu überbrücken. Die ungarische Regierung ver¬ suchte zuerst eine Zwischenlösung zu finden, beschloß dann aber, sich mit einem Ansuchen an den Monarchen zu wenden. Sie verlangte einen Beschluß des gemeinsamen Ministerrates, daß der gemeinsame Kriegsminister den Muste¬ rungskommissionen nur im Einvernehmen mit dem ungarischen Landesvertei¬ digungsminister Weisungen erteilen könne, damit nicht infolge eventueller ge¬ heimer Weisungen - was schon vorgekommen sei - die ungarischen Honveds weitere Nachteile erleiden müßten.250 Das Protokoll schließt mit dem ominösen Satz, der Ministerrat sei sich dessen bewußt, im Falle einer derartigen Lösung der Frage bei der Beratung des Wehrgesetzes im Parlament zahlreichen Schwierigkeiten ausgesetzt zu sein - eine Prophezeiung, die sich auch bewahrheitete. Das ungarische Abgeordneten¬ haus verabschiedete am 29. Januar 1889 den Gesetzesantrag im allgemeinen, mit einer Mehrheit von 126 Stimmen, aber noch am gleichen Tag kam es zu einer Straßendemonstration, die sogar die persönliche Sicherheit des Ministerpräsi¬ denten gefährdete,251 initiiert von den Universitätsstudenten, da sie die Ver¬ schärfungen im Freiwilligensystem unmittelbar betrafen. Der Ministerrat rea¬ gierte umgehend mit dem Beschluß, bei Wiederholung der Demonstrationen die Universitäten schließen zu lassen.252 Die öffentliche Meinung unterstützte je¬ doch die Studenten, und Kalman Tisza mit seinem immer noch vorzüglichen politischen Gespür setzte bei der detaillierten Behandlung des Gesetzesantrages in dem gleichfalls umstrittenen § 14 die Einfügung der Bestimmung durch, daß die Festsetzung des Rekrutenkontingents nur für zehn Jahre erfolge. Das war 247 16!MT. Ung.MR. v. 20. 9. 1988. 1. In Angelegenheit des Wehrgesetzantrages, OL., K. 27, Karton 44. 248 1 9/MT. Ung.MR. v. 24. 10. 1888. 3. In Angelegenheit der zum Wehrgesetz zu erlassenden Verordnung, OL., K. 27, Karton 44. 249 Konferenz betreffend Durchführungsbestimmungen zum neuen Wehrgesetze, KA., MKSM. 20-1 /4 ex 1888. - Von der Konferenz ist nur im Registrierbuch eine Spur zu finden, das Protokoll befindet sich nicht am angegebenen Ort. 250 20/MT. Ung.MR. v. 29. 10. 1888. 1. In Angelegenheit der zum Wehrgesetz zu erlassenden Verordnung, OL., K. 27, Karton 44. 251 Fe/erväry an Popp v. 29. 1. 1889, KA., MKSM. 28--1/1 ex 1889. 252 5/MT. Ung.MR. v. 21. 3. 1889. 1. Über die Maßnahmen zwecks Verhinderung der Unruhen, die gelegentlich der Erörterung des Gesetzantrags bezüglich der Wehrkraft entstanden sind, OL., K. 27, Karton 44. || || Einleitung 93 eine reine Formalität, und auch dem Monarchen fiel es nicht schwer, dieser Ergänzung zuzustimmen, weil er schon immer der Meinung war, daß der § 14 die Zeitdauer von zehn Jahren auch bisher beinhaltet hatte. Doch die ungarische Opposition und einen Teil der Regierungspartei befriedigte dieses Zugeständnis keineswegs, weswegen sie sehr bald neue Wünsche vortrugen. Wesentlich war einstweilen, daß der Antrag Gesetzeskraft erlangt hatte. Die politische Führung war wegen des ungarischen Verhaltens beunruhigt, die militärische Führung hatte jedoch allen Grund, zufrieden zu sein. Der ungarische Gesetzartikel VI des Jahres 1889 und das österreichische Gesetz vom 11. April 1889 erfüllten einen Teil ihrer seit zwei Jahrzehnten erhobenen Forderungen. Diese Zufriedenheit war aber nicht von langer Dauer: Es war knapp die Hälfte der auf zehn Jahre festgesetzten Geltungsdauer des Wehrgesetzes vergangen, als der gemeinsame Kriegsminister bereits einen neuen Wehrgesetzantrag stellte und für die gemein¬ same Armee nicht weniger als 183 000 Rekruten im Jahr beanspruchte.253 Das Budget des Kriegsressorts und die Weiterentwicklung der Wehrmacht Weiter oben wurde bereits eingehend behandelt, wieviel Arbeit es den gemein¬ samen Ministerrat kostete, die Deckung der beanspruchten Finanzmittel der Militärführung zur Zeit der kriegerischen Krise in den Jahren 1886-1887 bzw. 1887-1888 zu sichern, zudem das Gremium nicht nur die bei besonderen Gele¬ genheiten beanspruchten Spezial- und Eventualkredite verhandeln mußte, son¬ dern auch das Jahresbudget der Wehrmacht, das den größten Teil seiner Tätig¬ keit beanspruchte. Der gemeinsame Ministerrat hielt regelmäßige jährliche Sitzungen zur Erörterung des Budgetvoranschlages der gemeinsamen Angele¬ genheiten ab, wobei stets das Budget des Kriegsressorts im Mittelpunkt des Interesses stand. Den Budgetentwurf des Kriegsressorts erstellte die Budgetabteilung des ge¬ meinsamen Kriegsministeriums, vorbehandelt wurde es durch eine militärische Konferenz, dann wurde er dem gemeinsamen Ministerrat und schließlich den Delegationen vorgelegt. Erstmals überprüft wurde der Budgetentwurf schon durch die militärische Konferenz, zu einer gründlichen Debatte und zu wesentli¬ chen Streichungen kam es aber erst im gemeinsamen Ministerrat, so daß die Delegationen an diesem nichts mehr änderten und die Vorlage ohne Modifizie¬ rung beschlossen. Der Haushaltsplan der gemeinsamen Armee setzte sich aus drei Teilen zusammen: dem Ordinarium oder ordentlichen Erfordernis, dem Extraordinarium oder außerordentlichen Erfordernis und dem Okkupations¬ kredit. Das Ordinarium diente der Deckung der laufenden Ausgaben der Armee und umfaßte die größte Summfe, im allgemeinen 80-90% der Gesamtausgaben des Heeres. Es verteilte sich auf 27 Titel, von denen die umfangreichsten für Gehälter und Besoldung, Verköstigung, Altersrenten, Bekleidung und Bettzeug 53 Begründungen und Erläuterungen zum ersten Entwurf eines neuen Wehrgesetzes. 1895, KA., MKSM., Archiv Beck-Rzikowsky, Fase. 7, Nr. 226. || || 94 Einleitung sowie für die Kasernierung bestimmt waren. Das Extraordinarium umfaßte unter anderem die für Waffen und Munition, Bauten und Befestigungen vorge¬ sehenen Beträge und wies, den Bedarfsänderungen entsprechend, ziemlich große Schwankungen auf. Ebenso verhielt es sich mit dem Okkupationskredit für die Okkupation von Bosnien-Herzegowina und deren Aufrechterhaltung, der in den Jahren 1878-1879 sogar das Ordinarium übertraf, von der Mitte der 80er Jahre an aber auf 3-5% zusammenschrumpfte. Für die Kriegsmarine wurde ein eigener Haushaltsplan aufgestellt, der sich ebenfalls in Ordinarium und Extraor¬ dinarium gliederte, wobei beim Ordinarium die Personalausgaben - dem Cha¬ rakter der Kriegsmarine entsprechend - einen wesentlich geringeren Anteil bildeten.254 Die Budgets von Heer und Kriegsmarine bildeten - wie bereits erwähnt - einen sehr ansehnlichen Betrag, der sich auf 20-22% des Gesamthaushaltes der Monarchie belief. Dazu kamen noch die Ausgaben für die ungarische Honved bzw. die österreichische Landwehr sowie die nicht unbedeutenden Baukosten strategischer Eisenbahnen, so daß die für militärische Zwecke verausgabten Beträge zusammen nahezu ein Drittel des Budgets der Monarchie ausmachten. Es verwundert daher gar nicht, daß die Regierungen der beiden Reichshälften dem Kriegsressort gründlich auf die Finger schauten. Wenn sie schon gezwun¬ gen waren, diese beträchtlichen Ausgaben auf sich zu nehmen, waren sie zumin¬ dest bestrebt, deren Erhöhung zu verhindern. Die zum gemeinsamen Minister¬ rat reisenden Mitglieder der ungarischen Regierung erhielten Jahr für Jahr den Auftrag, den Haushaltsplan des Kriegsressorts möglichst auf Vorjahrsniveau zu halten.255 Mit diesem Wunsch fanden der ungarische Ministerpräsident und sein Finanzminister bei den gemeinsamen Ministerberatungen auch das Einver¬ ständnis der Mitglieder der österreichischen Regierung, die vermutlich mit einem ähnlichen Auftrag versehen worden waren.256 Das Budget des Kriegsres¬ sorts stieg dessenungeachtet kontinuierlich weiter, und der österreichische Fi¬ nanzminister Dunajewski stellte am 24. September 1884 fest, die Erhöhung habe seit 1880 rund 9 700 000 Gulden betragen.257 Der Zuwachs des Ordinariums, der selbstverständlich nicht auf dem Niveau von 1884 stehenblieb, ergab sich haupt¬ sächlich aus den Gehaltserhöhungen, der gewachsenen Mannschaftsstärke und der Steigerung der Verpflegungskosten. Die Vertreter beider Regierungen wi¬ dersetzten sich jedweder Erhöhung, zuweilen mit Erfolg, aber das Kriegsressort setzte mindestens ebenso oft seinen Willen durch. So schaltete es zum Beispiel als Subsistenzbeitrag für die Subalternen des Heeres 1 050 000 Gulden in das Ordinarium des Jahres 1886 ein, wozu ungeachtet des hartnäckigen Widerstan¬ des beider Regierungen der gemeinsame Ministerrat schließlich doch seine 254 Wagner, Die k. (u.) k. Armee 587-591. 255 27)MT. Ung.MR. v. 20. 9.1883. 1. In Angelegenheit des gemeinsamen Budgets vom Jahre 1884, OL., K. 27, Karton 37. 256 GMR. v. 24. 9. 1884, RMRZ. 318. 257 Ebd. || || Einleitung 95 Zustimmung gab.258 Gegen die geplante Aufstockung des Heeres und deren finanzielle Auswirkungen war der Widerstand noch größer, zumal es in dieser Frage auch Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Militärführung gab. 1888 wollte der Generalstabschef den Friedensstand der Infanteriekompanien von 95 um 9 Mann erhöhen, aber das mißbilligte selbst der gemeinsame Kriegsminister, teils wegen der Mehrkosten von 2 Millionen, teils wegen der Kasernierungspro¬ bleme.259 Infolge der verringerten Anzahl dauernd Beurlaubter, der Einberufung von Reservisten und Ersatzreservisten und allgemein infolge der Erreichung des normalen Friedensstandes der Armee erhöhte sich deren Bestand seit der zwei¬ ten Hälfte der 80er Jahre zwar nicht wesentlich, aber doch allmählich. Der dem Haushaltsplan zugrunde liegende Armeestand betrug 1885 269 336 Mann,260 1890 hingegen 276 326 Mann,261 wozu noch 48 697 bzw. 50 750 Pferde kamen. Und wenn einmal die Heeresaufstockung erfolgt war, mußte man auch deren Kosten übernehmen. Die auf den ersten Blick nicht allzu wesentliche Erhöhung der verschiedenen Haushaltsposten führte dazu, daß das Ordinarium von 97 Millionen im Jahr 1885 bis 1892 auf 104 Millionen wuchs. Gegenüber der allmählichen Erhöhung durfte sich aber der gemeinsame Ministerrat des zwei¬ felhaften Erfolges rühmen, daß es ihm gelang, die für das Abendessen der Mannschaft vorgesehenen 3,5 Millionen fünfzehn Jahre lang aus dem Voran¬ schlag zu streichen. Über das Budget des Kriegsressorts kam es zwischen dem gemeinsamen Kriegsminister und den Vertretern beider Regierungen Jahr für Jahr zu Ausein¬ andersetzungen, die bis zur Mitte der 80er Jahre - man könnte sagen - in kollegialem Geist ausgetragen wurden und mit deren Endergebnis eigentlich beide Parteien zufrieden waren. Der gemeinsame Kriegsminister konnte sich zugute halten, daß ihm alljährlich eine gewisse Erhöhung durchzusetzen gelang, die beiden Regierungen wiederum verbuchten, einen beträchtlichen Teil der veranschlagten Mehrkosten gestrichen zu haben. Die Taktik beider Regierun¬ gen, in erster Linie das Ordinarium stabil zu halten, erwies sich jedoch als verfehlt.262 Die tatsächlich bedeutende Erhöhung der jährlichen Militärausga¬ ben in der Größenordnung von 10 Millionen ergab sich nämlich aus den von Fall zu Fall genehmigten Spezialkrediten und der schon zur Regel gewordenen erheblichen Steigerung des Extraordinariums. Bekanntlich stellten die Delega¬ tionen 1887 dem Kriegsressort einen Spezialkredit in der Höhe von 52,5 Millio¬ nen zur Verfügung und 1888 weitere 31 Millionen, deren überwiegenden Teil die militärische Führung auch in Anspruch nahm. Seit 1887 belastete die Ein¬ führung der Repetierwaffen und dann die des rauchlosen Schießpulvers das Budget, so daß das Extraordinarium von bisher jährlich 5 Millionen auf durch- 258 GMR. v. 22. 9. 1885, RMRZ. 322. 259 Vgl. Anm. 197. 260 A közös ügyek tärgyaläsära a magyar orszäggyüles ältal kiküldött s Öfelsege ältal 1885. evi Oktober ho 22-re Becsbe összehivott bizottsäg iromänyai 27. 261 A közös ügyek tärgyaläsära a magyar orszäggyüles ältal kiküldött s Öfelsege ältal 1980. evi jünius hö 4-ere Budapestre összehivott bizottsäg iromänyai 247. 262 GMR. v. 24. 9. 1885, RMRZ. 324. || || 96 Einleitung schnittlich 15 Millionen im Jahr stieg. Und damit waren die Finanzansprüche des gemeinsamen Kriegsministeriums immer noch nicht vollständig erfaßt, da der Voranschlag naturgemäß erheblich höher lag als der genehmigte Betrag. Der gemeinsame Kriegsminister veranschlagte beispielsweise 1890 Mehrausga¬ ben gegenüber dem Vorjahr von 33 Millionen.263 Die übermäßigen Forderungen und die bedeutenden Steigerungen machten dem friedlichen Einvernehmen von Militär und Zivilisten nur allzu bald ein Ende, und der gemeinsame Ministerrat wurde zum Schauplatz außerordentlich heftiger Debatten. Der österreichische Finanzminister Dunajewski erklärte in der Beratung vom 26. April 1890, die übermäßigen Forderungen des Kriegsressorts könnten für die Monarchie die traurigsten Folgen zeitigen,264 und am folgenden Tag verlangte der ungarische Finanzminister Wekerle Rechenschaft über die früher für 1891 in Aussicht gestellte Bedarfssenkung. Im nächsten Jahr aber warf der österreichische Fi¬ nanzminister Steinbach dem gemeinsamen Kriegsminister vor, er unterschätze die Bedeutung des Gleichgewichtes des Staatshaushalts.265 Der gemeinsame Kriegsminister Bauer, der 1888 an die Stelle von Bylandt-Rheidt getreten war, erklärte bei solchen Anlässen stets feierlich, er lehne jede Verantwortung ab, und überwies die Entscheidung in die Befugnis des Monarchen.266 In der so zuge¬ spitzten Situation vermochte aber auch der Herrscher die früher vorzüglich eingespielte Rolle des Schiedsrichters nicht zu erfüllen und seine Vermittlungs¬ versuche mündeten häufig in jämmerlichen Anstrengungen. Sein Vorschlag, die Gegensätze durch die Aufnahme ausländischer Kredite zu überbrücken, stieß bei sämtlichen Teilnehmern des gemeinsamen Mmisterrates bekanntlich auf Widerstand.267 Infolge der ungelösten Gegensätze war der gemeinsame Mini¬ sterrat zu Beginn der 90er Jahre dem inneren Zerwürfnis nahe. Die Gegensätze zwischen der militärischen Führung und den beiden Regie¬ rungen beruhten in erster Linie auf ihrer unterschiedlichen Sichtweise. Die militärische Führung betonte immer, ohne entsprechende Entwicklung werde die Armee nicht in der Lage sein, die Monarchie im Kriegsfall verteidigen zu können; die beiden Regierungen erkannten die Wichtigkeit der Wehrmacht wohl an, argumentierten aber damit, die geregelten Finanzen seien im Kriegsfall mindestens ebenso wichtig wie die Armee selbst. Die ablehnende Haltung der beiden Regierungen ergab sich aber nicht zuletzt daraus, daß die militärische Führung niemals mit einer Entwicklungskonzeption, sondern nur mit zusam¬ menhanglosen Teilvorstellungen auftrat und ihre Budgeterhöhungsanträge nicht ausreichend begründete. Der zweifellose Vorteil, daß über die internen Angelegenheiten der Wehrmacht ausschließlich der Monarch disponierte, ver¬ wandelte sich in dieser Frage ins krasse Gegenteil, die Uninformiertheit der beiden Regierungen wurde zum größten Hindernis der Heeresentwicklung. 263 GMR. v. 26. 4. 1880, RMRZ. 362. 264 Ebd. 265 GMR. v. 27. 4. 1880, RMRZ. 363. 266 GMR. v. 18. 9. 1891, RMRZ. 368. 267 GMR. v. 21. 9. 1891, RMRZ. 371. || || Einleitung 97 Wenn sich die militärische Führung vom Totpunkt fortbewegen sollte, an dem man bei den Budgetdebatten wiederholt steckenblieb, mußte sie auf diesem Gebiet eine Änderung vornehmen. Der Generalstabschef erstellte in der zweiten Hälfte der 80er Jahre jährlich ein Memorandum über die militärische Lage der Monarchie, in dem er zumeist die im betreffenden Jahr erzielten Erfolge summierte. Sie dienten ausschließlich der internen Information, die nur den militärischen Kreisen zur Kenntnis kam. Sein Memorandum von 1892 galt jedoch in erster Linie den Regierungen und prüfte die militärische Lage der Monarchie in größerem zeitlichen Rahmen und im Vergleich mit der militärischen Entwicklung anderer Mächte. Dem Elaborat schloß sich ein Überblick über die militärischen Vorbereitungen Rußlands an und ein Vorschlag für den weiteren Ausbau der Wehrmacht der Monarchie.268 Der Generalstabschef bot in seinem Memorandum einen Überblick über die Entwicklung der Wehrmacht der europäischen Mächte in den Jahren 1867 bis 1892 und verglich diese mit der militärischen Leistung der Monarchie im glei¬ chen Zeitraum. Die kommentarlos angeführten Daten ließen fast auf sämtlichen Gebieten die Rückständigkeit der Monarchie erkennen. Am wenigsten zeigte sich diese bei der Zeitdauer der Wehrpflicht, da während die Mächte die Zeit¬ dauer der Wehrpflicht im allgemeinen verdoppelt hatten, auch die Monarchie nicht untätig geblieben war und diese von zwölf im Jahre 1868 schon 1886 auf einundzwanzig Jahre erhöht hatte. Die Angaben über den Friedensstand und den maximal erreichbaren Kriegsstand der Armeen der europäischen Mächte bzw. über die Änderungen in den verflossenen 25 Jahren boten aber bereits ein ganz deprimierendes Bild für die Monarchie. Hatte sie beim Friedens- und Kriegsstand ihrer Armee im Jahr 1868 unter den fünf europäischen Großmäch¬ ten an vierter Stelle, fast auf gleicher Ebene wie der Norddeutsche Bund und nur hinter Rußland wesentlich zurückgestanden, war sie 1892 auf den fünften Platz, nun auch hinter Deutschland und Frankreich zurückgefallen. Besonders der Abstand des maximalen Kriegsstandes hatte sich erheblich vergrößert. Die Monarchie konnte 1892 im Kriegsfall 1 833 000 Soldaten bereitstellen, Deutsch¬ land demgegenüber 3 261 000, Rußland 3 846 000, Frankreich 3 969 000 und selbst Italien noch 1 967 000 Mann. Womöglich noch deprimierender war der Vergleich der Höhe der Militärbudgets. Der Generalstabschef stellte zuerst die Budgets der fünf Großmächte in den Jahren 1868 und 1892 nebeneinander, die sich bei allen stärker erhöht hatten als das der Monarchie, dann stellte er die Gesamtausgaben der 25 Jahre einander gegenüber. Die militärischen Ausgaben mit Ausnahme der Kriegs- und Wiedergutmachungskosten betrugen im betref¬ fenden Zeitabschnitt, in französchen Franken gerechnet in Frankreich 23 154 480 000, in Rußland 22 426 371 000, in Deutschland 14 208 000 000, in 268 Denkschrift über die allgemeinen militärischen Verhältnisse Ende 1892 mit einem Anhänge Darstellungen der russischen Kriegsvorbereitungen seit dem Jahre 1886. Zum reservierten Dienstgebräuche als Manuskript gedruckt. - Ausgabe A. Anhaltspunkte für den weiteren Ausbau unserer Wehrmacht als Beilage zur Denkschrift über die allgemeinen militärischen Verhältnisse 1892, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 90, Nr. 3. || || 98 Einleitung Österreich-Ungarn 7 004 511 000 und in Italien 6 822 411 000. Die potentiellen Gegner verausgabten demnach je dreimal soviel wie die Monarchie, der Verbün¬ dete ersten Ranges zweimal soviel, und es mag nur ein schwacher Trost gewesen sein, daß sie Italien in dieser Hinsicht ein wenig überholte. Die Vergleichsdaten spiegelten insgesamt die Rückständigkeit der Monarchie wider. In einer Zeit, da das Machtpotential an der Zahl der an der Front einsetzbaren ausgebildeten Truppen gemessen wurde, war die Monarchie den übrigen Kontinentalmächten wahrlich nicht ebenbürtig. Diese schon von den Zeitgenossen formulierte Meinung machte sich auch die Geschichtsschreibung zu eigen. G. E. Rothenberg zitiert in seinem Buch über die Armee der Monar¬ chie zustimmend den Diplomatiehistoriker A. J. P. Taylor, der nach einem Vergleich der Posten des Militärbudgets zu der Schlußfolgerung gelangte, daß sich die Monarchie aus dem Kreise der Großmächte ausgeschlossen hatte.269 Bei der Bewertung der unbezweifelbaren Rückständigkeit gibt es sowohl bei den Zeitgenossen wie auch bei der Geschichtsschreibung ein Moment, das mißver¬ standen werden kann. Schon der Generalstabschef erweckte mit seinen Zahlen¬ reihen den Eindruck, daß die Monarchie selbst gemessen an ihren eigenen Möglichkeiten wenig leistete, und die Geschichtsschreibung interpretierte dieses Phänomen als Endergebnis subjektiver Entscheidungen. Eine gründlichere Ana¬ lyse der vom Generalstabschef angeführten Daten liefert jedoch den Beweis dafür, daß die Gründe für den Rückstand viel tiefer wurzelten. Die Militäraus¬ gaben betrugen 1892 in Rußland 6,8 Franken, in der Monarchie 9 Franken und in Frankreich 16,9 Franken pro Kopf. Rußland vermochte für seinen maxima¬ len Kriegsstand 3,8% seiner Bevölkerung in Anspruch zu nehmen, die Monar¬ chie 4,6% und Frankreich 10,4%. Diese Angaben stimmten im wesentlichen mit der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft und mit dem Pro-Kopf-Nationalein- kommen der betreffenden Länder überein. Während aber Rußland dank seiner Bevölkerungszahl und den Ausmaßen seiner Volkswirtschaft seinen Rückstand gegenüber den Industriemächten ausgleichen konnte und diese ihrerseits infolge ihrer Entwickeltheit ihre Leistungsfähigkeit zu steigern vermochten, erwies sich die Monarchie als weder zum einen noch zum anderen fähig. Hinter Rußland blieb sie durch den Unterschied in der Größenordnung und hinter Frankreich durch den in der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft zurück und fiel in der Rangordnung der europäischen Mächte gesetzmäßig auf den letzten Platz zu¬ rück. Und da dieser Zustand die Folge objektiver Gegebenheiten war, konnte man ihn durch innere Umschichtungen auch kaum radikal ändern. Der Chef des Generalstabs konnte und wollte natürlich auch nicht die von ihm angeführten Zahlenreihen in dieser Weise betrachten; er konnte nur fol¬ gern, daß die Monarchie, da sie infolge weniger Finanzaufwendungen hinter den übrigen Großmächten zurückgeblieben sei, künftig größere Kraftanstrengun¬ gen machen müsse. Dementsprechend listete er die in sämtlichen Zweigen der Wehrmacht zu treffenden wichtigsten Maßnahmen auf. In der Kategorie der Massenarmee denkend, legte er den Nachdruck auf eine Erhöhung des Perso- 269 Rothenberg, The Army of Francis Joseph 106. || || Einleitung 99 nalstandes. Da das jüngst verabschiedete Wehrgesetz eine Erhöhung des Rekru¬ tenstandes nicht ermöglichte, stellte er die Erhöhung des Friedensstandes mit der offensichtlichen Absicht in den Vordergrund, damit gleichzeitig auch die Mobilisierungsbedingungen zu verbessern. Bei der gemeinsamen Armee strebte er eine Zunahme bei der Generalität als auch beim Offiziersstand an, bei letzterem in dem Maße, daß auf jede Infanteriekompanie drei Berufsoffiziere entfielen, außerdem stellte er beiden Landwehren und dem Landsturm die Erhöhung des Offizierstandes in Aussicht. Bei den Mannschaften schlug er abermals vor, den Friedensstand der Infanteriekompanien des gemeinsamen Heeres um neun Mann zu erhöhen, in der österreichischen Landwehr die Verdoppelung des bisher einjährigen Präsenzdienstes sowie die Schaffung eines Ersatzreserverahmens für jedes Regiment und in der ungarischen Honved die Verdoppelung des Friedensstandes. Ebenso beantragte er eine Erhöhung des Standes bei der Kavallerie und der Artillerie. Weitere Vorschläge des General¬ stabschefs richteten sich auf Verbesserung von Ausrüstung und Bewaffnung, Erhöhung der zur Mobilisierung benötigten Proviantvorräte, Schaffung eines Uniform- und Waffenbestandes des Landsturms und Vervollkommnung des Befestigungssystems; nur hinsichtlich der Kriegsmarine erwies er sich als knau¬ serig, da man dort mit der Aufrechterhaltung des bisherigen ziemlich niedrigen Niveaus nach wie vor zufrieden war.270 Mit dem Memorandum des Generalstabschefs beschäftigte sich die militäri¬ sche Konferenz unter Vorsitz des Monarchen am 16. Dezember 1892,271 an der der Generalinspektor des Heeres, der gemeinsame Kriegsminister, der Chef des Generalstabs, der Vorstand der Militärkanzlei des Herrschers und der Vorstand des Präsidial-Bureaus des gemeinsamen Kriegsministeriums teilnahm. Die Kon¬ ferenz hatte eher informativen als polemischen Charakter. Die Notwendigkeit der zu treffenden Maßnahmen bezweifelte niemand, und nur der Monarch stellte Fragen zu den Einzelheiten, die teils der Generalinspektor des Heeres, teils der Generalstabschef beantworteten. Aus der Zusammenfassung des Mon¬ archen ging dann auch hervor, daß der Zweck der Konferenz die Festlegung des weiteren Vorgehens war. Demnach sollte das Memorandum des Generalstab¬ schefs zuerst den Regierungen zum Studium übergeben werden, sodann hatte es samt Beilagen der gemeinsame Ministerrat zu erörtern, wobei der gemeinsa¬ me Kriegsminister seinen Kostenvoranschlag im Zusammenhang mit der Wei¬ terentwicklung der Wehrmacht vorlegen sollte. Der gemeinsame Ministerrat trat zu diesem Zweck erstmals am 2. Februar 1893 zusammen.272 Die Beratung richtete sich nach den Formalitäten, wie sie bei der Erörterung des Jahresetats üblich waren. Der den Vorsitz führende gemeinsame Außenminister umriß die Ungewißheit der außenpolitischen Lage, 270 Anhaltspunkte für den weiteren Ausbau unserer Wehrmacht, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 90, Nr. 3. 271 Protokoll über die am 16. 12. 1892 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät stattgehabte Konferenz. KA., MKSM. 20-1/4 1892. 272 GMR. v. 2. 2. 1893, RMRZ. 377. || || 100 Einleitung während der gemeinsame Kriegsminister und der Chef des Generalstabs die Mängel der Wehrmacht hervorhoben. Inhaltlich wichen aber beide Berichte von den ziemlich oberflächlichen Informationen der vorhergehenden Jahre ab. Die Anwesenden erfuhren von Kdlnoky, daß die Monarchie trotz der günstigeren außenpolitischen Lage durch die zahlenmäßige Überlegenheit der bereitstehen¬ den russischen Armee gefährdet wurde, während Beck genaue Angaben über den Friedensstand des russischen Heeres und dessen Leistungsfähigkeit im Kriegsfall machte. Der wirkliche Unterschied im Vergleich mit den früheren Beratungen lag nicht in der vollständigeren Information, sondern in ihrer Aufnahme. Der ungarische Ministerpräsident Wekerle erklärte, nachdem ande¬ re Mächte enorme Kraftanstrengungen zur Erreichung der Kriegsbereitschaft machten, sei es auch für die Monarchie unerläßlich, die zur Entwicklung der Wehrmacht notwendigen Maßnahmen im beschleunigten Tempo zu treffen. Der österreichische Ministerpräsident erklärte in Kenntnis der politischen und mili¬ tärischen Lage ebenfalls seine prinzipielle Bereitschaft, einer Erhöhung der Wehrmachtsausgaben zuzustimmen. Das war ein völlig anderer Ton als jener, den der gemeinsame Kriegsminister seit Jahren zu hören bekam. Es hatte sich als richtig und zweckmäßig erwiesen, die Karten der militärischen Führung vor den Regierungen aufzudecken. Einwände und Vorbehalte gab es freilich auch jetzt. Als der Chef des Generalstabs für das gemeinsame Heer und die beiden Landwehren Mehranforderungen von 79 Millionen stellte und der gemeinsame Kriegsminister schon für 1894 mit 12 Millionen Mehrausgaben rechnete, ver¬ langte der ungarische Ministerpräsident ein gründliches Studium dieser Mehr¬ ausgaben, während der österreichische Finanzminister die hohe Anfangssumme beanstandete. Diese Einwände betrafen aber weder das Wesen der Sache, noch waren sie so entschieden wie früher. Die an den österreichischen Finanzminister gerichteten Worte des Generalstabschefs, man müsse sich beeilen, weil die Ausrüstung der russischen Armee mit Repetierwaffen bis 1897 beendet sein würde und man dann mit einem Krieg rechnen müsse, überzeugten alle. Der ungarische Ministerpräsident gab, gleichsam im Namen sämtlicher zivilen Teil¬ nehmer der Konferenz, seiner Hoffnung Ausdruck, daß man den Ansprüchen der militärischen Führung werde genügen können. In der folgenden Sitzung am 19. Februar 1893 bildeten weder der veran¬ schlagte Betrag noch die jährlich fälligen Summen Diskussionsthemen mehr.273 Nur Fejerväry bezeichnete den Betrag für die ungarische Honved als ungenü¬ gend und lehnte jede Verantwortung ab, falls die ungarische Honved ohne entsprechende Ausrüstung gegen den Feind geführt würde, machte aber damit auf niemand Eindruck. Der gemeinsame Ministerrat einigte sich darüber, von 1894 bis 1899 der militärischen Führung 94 Millionen zur Verfügung zu stellen, wovon auf das gemeinsame Heer 49 Millionen, auf die Kriegsmarine 10 Millio¬ nen, auf die österreichische Landwehr 22 Millionen und auf die ungarische Honved 13 Millionen entfielen. Ebenso einigte man sich über die jährliche Aufschlüsselung der Mehrausgaben für gemeinsame Armee und Kriegsmarine 273 GMR. v. 19. 2. 1893. RMRZ. 378. || || Einleitung 101 für die Jalire 1894-1897. In der Sitzung vom 28. März 1893 gab der Monarch seiner Befriedigung darüber Ausdruck, daß es gelungen war, sich bei der ersten Gelegenheit über die Flüssigmachung des Geldbetrags zur perspektivischen Entwicklung der Wehrmacht zu einigen, und sprach seine allerhöchste Anerken¬ nung und seinen Dank für die geleistete Arbeit aus.274 Anläßlich der Erörterung des Haushaltsplans für das Jahr 1894 war die Stimmung nicht mehr so feierlich, doch einigte man sich mit nie dagewesener Schnelligkeit über den Budgetrahmen, und die Sitzung, die sonst stundenlang dauerte, wurde jetzt - der Länge des Protokolls nach zu urteilen - binnen zwei Viertelstunden beendet.275 Im Jahr darauf kam die Einigung womöglich noch rascher zustande, und die Festlegung des Budgets der gemeinsamen Armee für das Jahr 1895 nahm wahrscheinlich keine fünf Minuten in Anspruch.276 Das Einvernehmen wurde bei der Gelegenheit nur dadurch etwas gestört, daß der Marinekommandant Sterneck Mehransprüche stellte, was zu einer ziemlich scharfen Polemik führte. Die Kriegsmarine war bekanntlich kein Präferenz¬ zweig der österreichisch-ungarischen Wehrmacht; daß sie von den Ausgaben militärischer Natur einen recht bescheidenen Teil, kaum 10%, erhielt, lag unter anderem daran, daß der Marinekommandant selbst nicht mehr beanspruchte. Sterneck vertrat nämlich den Standpunkt der französischen „jeune ecole" und bevorzugte statt der großen Kriegsschiffe die Torpedoboote und schwach ge¬ panzerten Rammkreuzer. Diese Schiffstypen könnten nicht nur den Küsten¬ schutz wirksamer versehen, sondern auch auf offener See den Kampf gegen die großen Kriegsschiffe mit Erfolg aufnehmen.277 Diesen Standpunkt legte er bei einer Gelegenheit auch im gemeinsamen Ministerrat dar,278 und als Anfang 1893 die Weiterentwicklung der Wehrmacht erörtert wurde, nahm er ohne Wider¬ spruch die für die Kriegsmarine vorgesehenen 10 Millionen Gulden an. Als er aber im Frühjahr 1894 eine russisch-französische Flottenkonzentration im Mit¬ telmeer befürchtete, legte er in einem Memorandum dar, die Kräfteverhältnisse hätten sich in einem solchen Ausmaß ungünstig für die Monarchie gewandelt, daß die österreichisch-ungarische Kriegsmarine mit dem gegebenen Flottenbe¬ stand außerstande sei, die Aufgabe des Küstenschutzes zu versehen.279 Seiner taktischen Auffassung entsprechend beantragte er den zusätzlichen Bau von drei Kreuzern und machte dafür den ausgesprochen bescheidenen Mehranspruch von einer Million geltend. Aber nicht einmal dieser Antrag konnte im gemeinsa¬ men Ministerrat auf günstige Aufnahme rechnen. Der ungarische Ministerpräsi¬ dent glaubte, eine Abweichung von der Vereinbarung aus dem Jahre 1893 vor den gesetzgebenden Körperschaften nicht verteidigen zu können, und diesen Standpunkt teilte auch der österreichische Ministerpräsident Windisch-Grätz.280 274 GMR. v. 28. 3. 1893, RMRZ. 379. 275 GMR. v. 21. 4. 1893, RMRZ. 380 - GMR. v. 22. 4. 1893, RMRZ. 381. 276 GMR. v. 29. 3. 1894, RMRZ. 385. 277 Hobelt, Die Marine 705-711. 278 GMR. v. 20. 9. 1891, RMRZ. 370. 279 Denkschrift des Admirals Freiherrn von Stemeck betreffend notwendige Verstärkung der Kriegsmarine, HHStA, PA. I, Karton 466. 280 Vgl. Anm. 276. || || 102 Einleitung Der gemeinsame Ministerrat akzeptierte nicht einmal den Kompromißantrag des österreichischen Finanzministers, die Mehrkosten könnten durch Verwen¬ dung der gemeinsamen Aktiven gedeckt werden, und so wurde der Antrag Sternecks schließlich abgewiesen.281 (Zu ergänzen ist, daß es später doch noch zur Flüssigmachung der beantragten einen Million kam, indem sie der gemein¬ same Ministerrat im folgenden Jahr als Nachtragskredit genehmigte, womit er einen Präzedenzfall für die budgetwidrige Praxis schuf.)282 - Anläßlich der Budgeterörterung für 1896 kam das alte Thema, die dritte Mahlzeit der Mann¬ schaft, abermals auf die Tagesordnung, aber der gemeinsame Ministerrat wollte dieser nur zustimmen, wenn andere Posten gestrichen werden konnten. In Kenntnis der Vorgeschichte wundert es gar nicht, daß die Mannschaft nach wie vor mit leerem Magen auf den Zapfenstreich warten mußte.283 Wie ersichtlich, kam es im gemeinsamen Ministerrat auch nach der Annahme des Armeentwicklungsprogramms vom Jahre 1893 zu Meinungsverschiedenhei¬ ten, doch waren diese mit den früheren scharfen Polemiken nicht zu vergleichen. Der alte kollegiale Geist zwischen Militärs und Zivilisten wurde wiederherge¬ stellt und das Kriegsressortbudget im größten Einvernehmen den Delegationen vorgelegt. Freilich war das nur ein Waffenstillstand und kein dauernder Friede, der nur hätte zustande kommen können, wenn die militärische Führung von weitergehenden Forderungen ein für allemal Abstand genommen hätte, was sie keineswegs beabsichtigte. Als Kälnoky anläßlich seiner letzten Teilnahme am gemeinsamen Ministerrat seine Hoffnung ausdrückte, daß es in der ferneren Zukunft zur Senkung des Militärbudgets kommen werde,284 widersprach selbst der Monarch seinem Außenminister: Wenn Rußland seine weitere Aufrüstung nicht einstellen würde, müsse die Monarchie ihre Wehrmacht noch eine geraume Zeit weiterentwickeln.285 Und so geschah es. Das Militär mußte aber zu seiner nicht geringen Enttäuschung erfahren, daß es demzufolge auch mit dem schwer erreichten Konsens zu Ende war und der gemeinsame Ministerrat wieder zum Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen und Zusammenstöße wurde. IV. Die strategischen Eisenbahnlinien Die österreichisch-ungarische Monarchie verfügte auch zu Beginn der 1880er Jahre im europäischen Vergleich über ein ziemlich dichtes Eisenbahnnetz. Sämt¬ liche größeren Städte des Reiches waren untereinander mit Eisenbahnlinien verbunden, und auch zu allen benachbarten Ländern bestanden Eisenbahnver¬ bindungen. Der Eisenbahnbau, der in Österreich 1832 mit der Eröffnung der Linie Linz-Budweis und in Ungarn 1847 mit jener der Linie Pest-Waizen 281 GMR. v. 29. 3. 1894, RMRZ. 385. 282 GMR. v. 18. 4. 1895, RMRZ. 387. 283 GMR. v. 17. 4. 1895, RMRZ. 386. 284 Ebd. 285 GMR. v. 18. 4. 1895, RMRZ. 388. || || Einleitung 103 begann, erfuhr namentlich nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 einen kräftigen Aufschwung. Im Jahr des Ausgleiches betrug die Länge der österreichischen Eisenbahnlinien 4145 km, die der ungarischen 2160 km, Ende der 70er Jahre hingegen rollten die Züge in Österreich schon auf einer Strecke von 11 000 km und in Ungarn von 7000 km. Die sich wie ein Pilzgeflecht ausbreitenden Eisenbahnlinien dienten hauptsächlich kurzfristigen wirtschaftli¬ chen Bedürfnissen und schufen in erster Linie Verbindungen zwischen den Rohstoffstätten und den Industriegebieten, sowie den Agrargebieten und den Verbrauchszentren, doch ließ sich hinter dieser Improvisation eine gewisse Planmäßigkeit erkennen. Die erste eisenbahnpolitische Konzeption entstand in Österreich schon zur Zeit des Vormärz (in Ungarn Reformzeit genannt): Franz Riepl wollte in seinem Entwurf vom Jahr 1834 die entferntesten nordöstlichen Gegenden mit der Adria verbinden, später wollte Karl Ghega in seiner 1853 ausgearbeiteten Konzeption mit drei west-östlichen und drei nord-südlichen Eisenbahnlinien das Gesamtgebiet der Monarchie erschließen.286 In Ungarn sollte nach einem Entwurf ebenfalls aus dem Vormärz Pest zum Eisenbahnzen¬ trum des Landes werden, außerdem sollten Verbindungen mit der Adria, Gali¬ zien und dem Balkan geschaffen werden.287 In den Eisenbahnbauten nach dem Ausgleich wurden die Elemente dieser eisenbahnpolitischen Konzeptionen in beiden Staaten sichtbar, weil der Staat über die nötigen Finanzmittel verfügte, um die Linienführung der zu bauenden Eisenbahnen beeinflussen zu können. Die strategische Bedeutung der Eisenbahnen Beim Ausbau der Eisenbahnlinien spielte auch der strategische Gesichts¬ punkt eine Rolle. Obwohl in den ersten Jahrzehnten des Eisenbahnbaus, in den 40er und 50er Jahren, sich noch keine auf der Basis der allgemeinen Wehrpflicht organisierten Massenarmeen gegenüberstanden sowie Masse und Mobilität noch keineswegs als Leitprinzipien der Heeresführung galten, hatten Weitblik- kende die Vorteile erkannt, welche die Eisenbahn für die rasche Truppenkon¬ zentration bot. Zwar gehörte die Heeresführung der Monarchie in dieser Bezie¬ hung nicht zu den Vorreitern der Entwicklung, doch stellte man auch im altväterlichen Gebäude des Kriegsministeriums Am Hof erste Berechnungen über die Zeitdifferenz von Fußmarsch und Eisenbahntransport an. Es ist gewiß kein Zufall, daß die in den 50er Jahren ausgebauten Hauptlinien in Richtung der beiden möglichen Kriegsschauplätze Italien und Preußen wiesen. Der Krieg von 1859 und besonders der von 1866 ließen die Wichtigkeit der Eisenbahn deutlich werden: Das österreichische Heer erlitt unter anderem deshalb eine Niederlage, weil es den Weg von Olmütz in die Umgebung von Königgrätz im Fußmarsch zurücklegte. In der militärischen Denkweise gewann aber die Eisen¬ bahn erst unter dem Einfluß des deutsch-französischen Krieges ihre richtige 286 Geyer, Der Ausbau des nordöstlichen Eisenbahnnetzes 14-15. 287 Magyarorszäg törtenete 1848-1890 979-980. || || 104 Einleitung Bedeutung. Die schnellen und durchschlagenden preußischen Erfolge ergaben sich nicht zuletzt daraus, daß die Mobilisierung mit der Eisenbahn rascher vor sich ging und mittels den zur französischen Grenze führenden Eisenbahnlinien ein über entscheidendes Übergewicht verfügendes Heer auf den Kriegsschau¬ platz gelangte. Unter dem Einfluß dieser Erfahrung wurden die Politiker und das Militär sozusagen sämtlicher Länder zu Eisenbahnbesessenen. Sie maßen die Größe der Bedrohung an der Dichte der aus dem Nachbarland in Richtung ihrer Grenze führenden Eisenbahnen und identifizierten umgekehrt die eigene Sicherheit mit dem Vorhandensein strategischer Eisenbahnen. Als Andrässy 1872 in der Außenpolitik der Monarchie die Wende zur Rußlandfeindschaft durchführte, war eines seiner wichtigsten Argumente, daß die russischen Eisen¬ bahnlinien in Richtung der Grenzen der Monarchie von der Fähigkeit und Absicht zum Angriff zeugten.288 Das nordöstliche Grenzgebiet der Monarchie, das vom Beginn der 70er Jahre an als möglicher Kriegsschauplatz betrachtet wurde, stand weder mit seiner Eisenbahndichte noch mit den dorthin führenden Eisenbahnlinien auf dem Niveau der besser entwickelten Regionen des Reiches. Der stark agrarische Charakter Galiziens erforderte weder den Ausbau des inneren Eisenbahnnetzes noch die Verbindung mit den besser entwickelten Regionen, und strategische Überlegungen fielen in den 50er und 60er Jahren nicht nennenswert ins Gewicht. Zu Beginn der 70er Jahre reichte die Eisenbahnlinie von Wien in nordöstlicher Richtung erst bis Lemberg, und von Ungarn aus führte keine einzige Eisenbahn¬ linie über die Karpaten nach Galizien. Dann aber wurde angesichts der Wahr¬ scheinlichkeit eines russischen Krieges dem nordöstlichem Gebiet ein viel größe¬ res Augenmerk gewidmet als zuvor. In diesem Jahrzehnt wurde die Hauptlinie der Eisenbahn von Lemberg bis an die russische Grenze ausgebaut und zwei Eisenbahnlinien über die Karpaten geführt. Galiziens strategische Lage blieb jedoch nach wie vor kritisch, vor allem trennte der hohe Gebirgszug der Karpa¬ ten diesen Landesteil von den übrigen Teilen des Reiches, was sowohl den Aufmarsch wie auch die Verteidigung erschwerte, überdies führte die Galizien von West nach Ost durchquerende Eisenbahnlinie so nahe zur russischen Gren¬ ze, daß eine angreifende russische Armee sie ohne besondere Schwierigkeiten in Besitz nehmen und den Aufmarsch der österreichisch-ungarischen Wehrmacht erheblich stören konnte. Die militärische Führung der Monarchie rechnete bekanntlich im Falle eines Krieges gegen Rußland von Anfang an mit einer strategischen Offensive.289 In den Aufmarschplänen der 70er Jahre hat man anscheinend den Eisenbahnlinien keine primäre Bedeutung beigemessen und auch die kritische Lage der galizi- schen Eisenbahnlinien nicht ausreichend erwogen. Im Aufmarschplan vom 12. Februar 1878 wurde dem Fußmarsch noch eine fast gleiche Rolle eingeräumt wie dem Eisenbahntransport und mit der Möglichkeit der russischen Wehr¬ macht, den Aufmarsch auf der west-östlichen Hauptbahnlinie zu stören, eigent- 288 Lutz, Politik und militärische Planung 31-32. 289 Vgl. Anm. 36-38. || || Einleitung 105 lieh noch gar nicht gerechnet. Der Chef des österreichisch-ungarischen General¬ stabs hatte nur auf den Eisenbahnen im ostgalizischen Grenzgebiet Sicherheits¬ vorkehrungen vorgesehen.290 In den 80er Jahren rückte die Eisenbahn hingegen schon völlig ins Zentrum der strategischen Planung, und der Erfolg einer strategischen Offensive wurde mit einem raschen und ungestörten Eisenbahn¬ transport in Zusammenhang gebracht. Namentlich der neuernannte General¬ stabschef Feldmarschalleutnant Beck sah im Eisenbahntransport einen kriegs¬ entscheidenden Faktor. Daß die geplante strategische Offensive von Ostgalizien ausgehen sollte, erhöhte noch die Wichtigkeit eines schnellen und sicheren Aufmarsches und damit die Bedeutung der Eisenbahn.291 Im Eisenbahnbau spielte - wie gesagt - der Staat eine wesentlich bedeutende¬ re Rolle als in anderen Sektoren der Volkswirtschaft. Infolge des außerordent¬ lich hohen Kapitalbedarfs derartiger Vorhaben baute der Staat die Linien entweder in eigener Regie oder übernahm zumindest die Garantie für die Kapitalzinsen. Dabei folgte die Monarchie völlig den westeuropäischen Mu¬ stern; ebenso wie dort sorgten auch in der Monarchie inartikulierte staatliche Gesetze für den Bau der einzelnen Eisenbahnlinien. Spezifika ergaben sich aus der staatsrechtlichen Einrichtung der Monarchie nach 1867. Das Eisenbahnwe¬ sen galt als innere Angelegenheit beider Reichshälften und gehörte in die Kom¬ petenz der österreichischen bzw. ungarischen Regierung, während die durch beide Staaten führenden Eisenbahnen zu den Angelegenheiten von gemeinsa¬ mem Interesse (oder den gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten) gehör¬ ten. Die Streckenführung und die Bestimmung der Anschlußpunkte wurden in direkten Verhandlungen der Verkehrsministerien beider Staaten geklärt. Die bereits vorhandenen oder für erforderlich erachteten, für die Kriegsführung strategisch wichtigen Eisenbahnlinien gehörten staatsrechtlich teils zur ersteren und teils zur letzteren Kategorie, dennoch war nicht zu erwarten, daß der Bau von Eisenbahnlinien dieses Typs von der österreichischen oder der ungarischen Regierung beantragt wurde. Diese Eisenbahnen waren eigentlich von Reichs¬ interesse, obwohl das Staatsrecht ein solches nicht kannte, und die Initiative lag beim gemeinsamen Kriegsministerium. Dieses wandte sich auf Wunsch des Generalstabs im Bedarfsfälle an beide Regierungen oder direkt an ihre Ver¬ kehrsministerien; eine derartige Intervention war aber nicht immer wirksam genug. Um zur Entscheidung und erforderlichen Absprache zu kommen, war ein höheres Regierungsforum vonnöten, welches nur der gemeinsame Minister¬ rat sein konnte. Und obwohl keinerlei Rechtsnorm verfügte, daß sich der gemeinsame Ministerrat auch mit Fragen des Eisenbahnwesens zu befassen habe, und die Eisenbahnen von gemeinsamem Interesse ausschließlich durch direkte Verhandlungen der beiden Verkehrsministerien erledigt wurden, bildete sich die Praxis heraus, den Bau strategisch wichtiger Eisenbahnen oder auch nur 290 Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 12. 2. 1878. Kriegsfall gegen Rußland zweite Variante: Aufmarsch in Ostgalizien, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 75, Nr. 8. 291 Umarbeitung des Aufmarschelaborates für den Kriegsfall gegen Rußland. Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 21. 12. 1882, KA., MKSM. 69-2/1 ex 1883. || || 106 Einleitung ihre Kapazitätserhöhung selbst dann dem gemeinsamen Ministerrat vorzulegen, wenn diese Eisenbahnlinien nur durch das Gebiet eines Staates führten. So war es auch im Sommer 1870, als der gemeinsame Kriegsminister - im Hinblick auf einen möglichen russischen Krieg - die Fertigstellung der Linien Csap-Ungvär, Huszt-Kirälyhäza und Stryj-Lemberg verlangte,292 sowie nach 1878, als An- drässy den Weiterbau der ersten ungarisch-galizischen Eisenbahnen über die Karpaten betrieb,293 und nach 1878, als der gemeinsame Ministerrat bei zahlrei¬ chen Gelegenheiten über eine direkte Verbindung nach Sarajevo verhandelte.294 Als Generalstabschef Beck zu Beginn der 80er Jahre mit seinen umfangreichen Eisenbahnforderungen auftrat, um die Mitte der 80er Jahre ihre Kapazitätser¬ höhung anstrebte und schließlich zu Beginn der 90er Jahre weitere Neubauten forderte, fanden es sämtliche Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates ganz natürlich, daß dieses Gremium die vorgelegten Anträge besprach. Das Eisenbahnbauprogramm vom Jahre 1883 Das Problem der galizischen und der nach Galizien führenden strategischen Eisenbahnen wurde genauso wie das Landsturm-, das Kriegsleistungs- und das Pferdestellungsgesetz Anfang 1883 im Zusammenhang mit der geplanten strate¬ gischen Offensive vom gemeinsamen Ministerrat behandelt. Generalstabschef Beck legte am 4. Februar 1883 eine komplette Eisenbahnbaukonzeption zur Beratung vor.295 Gleichsam als einleitende Begründung trug er vor, daß einem Aufmarsch in Galizien nur die eine Hauptlinie von Oswi?cim bis Tarnopol mit Anschluß an die Nordbahn von Wien nach Oderberg bzw. an die aus Ungarn kommenden beiden Eisenbahnlinien von Kaschau nach Leluchöw und von Sätoraljaüjhely nach Przemysl zur Verfügung stünde. Die Kapazität der Nord¬ bahn betrug bis Oderberg täglich 40 hundertachsige Züge, von dort bis Oswi§- cim hingegen nur 26 Züge und von Krakau bis Lemberg nur noch 15 Züge. Die Kapazität der von Ungarn kommenden Eisenbahnen war - da es sich um Gebirgsstrecken handelte - mit nur 15 siebzigachsigen Zügen pro Tag noch geringer. Letzteres bedeutete für einen Aufmarsch - da für ein Armeekorps 60 hundertachsige Züge erforderlich waren -, daß die Verlegung der sechs ungari¬ schen Armeekorps in den Operationsraum 30 Tage in Anspruch nahm. Zu seiner Eisenbahnbaukonzeption selbst trug der Generalstabschef vor, die Militärführung erachte drei Typen von Eisenbahnen für wichtig. Erstens Bahn¬ linien für den sicheren und schnellen Aufmarsch, zweitens Radiallinien in Richtung des Angriffs und drittens Linien für operative und Nachschubzwecke. Beim ersten Typ maß der Generalstabschef vor allem dem Bau der Galizien in west-östlicher Richtung durchquerenden, parallel zur bereits bestehenden 292 Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 69-71. 293 GMR. v. 25. 2. 1873, HHStA., PA. XL, Karton 287. 294 GMR. v. 1. 9. 1878, HHStA., PA. XL, Karton 290. 295 GMR. v. 4. 2. 1883, KA„ MKSM. 20-1/6-4 von 1883. || || Einleitung 107 Hauptlinie verlaufenden galizischen Transversalbahn von Saybusch nach Husi- atyn primäre Bedeutung bei. Wichtig sei außerdem eine Umleitungslinie Oswi?- cim-Skawina-Krakau, da die ursprüngliche Linie der Nordbahn zwischen Os- wigcim und Krakau nur einen Kanonenschuß weit von der russischen Grenze verlief und schon durch Angriffe der russischen Kavallerie gestört werden konnte. Schließlich verlangte er bei diesem Typ noch den Bau einer Bahnlinie zwischen Sucha und Skawina als Verbindung zwischen der Nordbahn und der neu zu erbauenden galizischen Transversalbahn. Daß in der Gruppe der Radial¬ linien in Richtung des Angriffs die Anzahl der von Ungarn nach Galizien führenden Linien zu vermehren war, lag auf der Hand. Der Generalstabschef befürwortete dementsprechend den Ausbau der Bahnlinien Trentschin-Sillein und Csäcza-Saybusch, damit von Preßburg aus eine direkte Verbindung mit der galizischen Transversalbahn und über diese mit der früheren Hauptlinie Oswi§- cim-Tarnopol, der Karl-Ludwig-Bahn entstand. Den Bau einer neuen Karpa¬ tenlinie zwischen Munkäcs und Stryj unterstützte er gleichfalls mit dem gewich¬ tigen Argument, daß diese Bahn die Folgen von Verkehrsstörungen auf anderen Linien weitgehend ausgleichen könne. Von den unmittelbar operativen und Nachschubzwecken dienenden Linien hob er die Wichtigkeit einer Verbindung Jaroslau-Rawaruska-Sokal und Rzeszöw-Sandomierz hervor, mit denen die Einheiten von der Karl-Ludwig-Bahn unmittelbar an die russische Grenze gelangen konnten. Zu dieser umfassenden und logischen Eisenbahnbaukonzeption insgesamt hatten die Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates nichts einzuwenden. Ein¬ mal hielten sie sich in der Angelegenheit der strategischen Eisenbahnen nicht für zuständig, und zum anderen war ein Teil dieser Bahnlinien nicht mehr in der Planungsphase, sondern bereits im Bau. So erteilte die österreichische Regie¬ rung schon im Jahre 1881 die Konzessionen zum Bau einzelner Abschnitte der galizischen Transversalbahn, und auch die Strecke Oswi^cim-Krakau sowie die Linien in Richtung der russischen Grenze zur Sicherung des Nachschubs befan¬ den sich bereits im Stadium der Ausführung. Der österreichische Verkehrsmini¬ ster Pino konnte sich auf die Bekanntgabe der Übergabe der im Bau befindli¬ chen Strecken beschränken: die der Linie Oswigcim-Skawina sei für das Jahres¬ ende und die der galizischen Transversalbahn für Oktober 1884 zu erwarten. Im Zusammenhang mit den von der west-östlichen Hauptlinie nach Norden ab¬ zweigenden, dem Nachschub dienenden Linien sprach er wohl von gewissen Schwierigkeiten, stellte aber auch die Fertigstellung eines Teiles von ihnen in Aussicht. Ein wirkliches Problem bedeutete der Wunsch des Generalstabschefs nach neuen Eisenbahnverbindungen zwischen Ungarn und Galizien. Bei dem Bau der Verbindung zwischen Csäcza und Saybusch tauchten technische Schwierigkeiten auf, und für die Verbindung zwischen Munkäcs und Stryj war noch nicht einmal die Streckenführung festgelegt. Im Zusammenhang mit letzte¬ rer berichtete der österreichische Verkehrsminister Pino, daß die österreichische Regierung auch die Möglichkeit einer Linie Huszt-Dolina erwogen habe, der ungarische Verkehrsminister Kemeny sprach hingegen von den Schwierigkeiten des Baus und der Inbetriebhaltung. Obwohl man in Ungarn im allgemeinen zum || || 108 Einleitung System der Staatseisenbahn übergegangen sei, habe die Regierung aus handels¬ politischen Gründen Vorbehalte hinsichtlich der staatlichen Errichtung dieser Eisenbahnlinie. Diese etwas unklare Formulierung besagte, daß die ungarische Regierung die beiden bestehenden Eisenbahnverbindungen mit Galizien wirt¬ schaftlich für ausreichend hielt und sich für den Bau einer neuen, unwirtschaftli¬ chen Eisenbahn nicht in Ausgaben stürzen wollte. Im gemeinsamen Ministerrat zwei Tage später, am 6. Februar, wurden - obwohl die Streckenführung der Linie nicht mehr zur Debatte stand - sowohl österreichischer- wie ungarischer- seits so viele Vorbehalte vorgebracht, daß der Monarch mit Bedauern feststellen mußte, die Meinungsverschiedenheiten seien so scharf, daß sie einen Ausweg unmöglich machten.296 Die Angelegenheit der strategischen Eisenbahnen wurde nach einer Pause von mehr als einem halben Jahr im Herbst 1883 abermals dem gemeinsamen Ministerrat vorgelegt. In der Beratung am 11. November ohne ungarische Beteiligung kamen die auf österreichischem Staatsgebiet bereits im Bau befindli¬ chen Eisenbahnen zur Sprache.297 Pino erstattete Bericht über die Bauarbeiten der galizischen Transversalbahn und auch über die technischen Probleme der Linie nach Csäcza. Dabei stellte sich heraus, daß die Erfüllung der Wünsche des Generalstabs auch von seiten der österreichischen Regierung nicht problemlos war. Über das zweite Gleis zwischen Tarnöw und Jaroslau sagte Pino, daß man - so sehr es auch wünschenswert sei - die Eisenbahngesellschaft nicht zu dessen Bau zwingen könne, und wegen der Eisenbahn zwischen Lemberg und Toma- szöw könne die Regierung infolge der hohen Kosten der übrigen galizischen Eisenbahnen nicht schon wieder mit neuen Forderungen an den Reichsrat herantreten. Der Generalstabschef reagierte selbstverständlich auf die Einwän¬ de mit dem erneuten Hinweis auf die strategische Bedeutung der betreffenden Bahnlinien. Mit Erleichterung konnte er hingegen zur Kenntnis nehmen, daß die ungarische Regierung ihren Widerstand gegen den Bau einer neuen Linie über die Karpaten aufgegeben hatte. Der ungarische Ministerrat nahm am 20. November 1883 positiv zu den Linien Munkäcs-Stryj und Csäcza-Saybusch Stellung, indem er die Vorlage des Gesetzesantrags bzw. dessen entsprechende Modifizierung in Aussicht stellte und auch die Vorverhandlungen über die vom Generalstabschef gewünschte Linie Großwardein-Debreczin einleitete.298 Daher kam es im folgenden gemeinsamen Ministerrat am 25. November nur noch zur Erörterung der technischen Probleme dieser Eisenbahnlinien und der Fragen ihrer künftigen Betreibung.299 Die Hindernisse der ersten großen Eisen¬ bahnbaukonzeption des Generalstabschefs waren aus dem Wege geräumt, und was bis dahin nur als Projekt existiert hatte, ging seiner praktischen Verwirkli- 296 GMR. v. 6. 2. 1883, KA„ MKSM. 20-1/6-5 von 1883. 297 GMR. v. 11. 11. 1883, RMRZ. 316. 298 33/MT. Ung.MR. v. 20. 11. 1883. V. Die Eisenbahn Munkäcs-Stryj. - VI. Die Eisenbahn Csäcza-Saybusch. - VII. Die Eisenbahn Großwardein-Debreczin, OL., K. 27, Karton 37. 299 GMR. v. 25. 11. 1883, RMRZ. 317. || || Einleitung 109 chung entgegen. Im Jahre 1884 wurden die Bauarbeiten an sämtlichen Abschnit¬ ten der galizischen Transversalbahn beendet und 1887 auch der Verkehr auf der Linie Munkäcs-Stryj aufgenommen.300 Das Ergänzungsprogramm vom Jahre 1887 Falls die beiden Regierungen gehofft hatten, mit der Erfüllung des 1883er Eisenbahnbauprogramms die Wünsche des Generalstabs für lange Jahre befrie¬ digt zu haben, erlebten sie bald eine Enttäuschung. Der Generalstabschef legte im August 1887 in einem erneuten umfangreichen Memorandum an die österrei¬ chische und ungarische Regierung eine weitere lange Liste von Eisenbahnbauten vor.301 Begründet wurden die Neubauten und Kapazitätserweiterungen trotz der zweifellos erzielten Erfolge mit den bereits bekannten strategischen Argumen¬ ten: Nur die Armee hat eine Siegeschance, welche rascher und mit größeren Kräften den Kriegsschauplatz erreicht, wie dies der deutsch-französische Krieg bestätigt hatte, und die Monarchie wird den Krieg nur dann gewinnen können, wenn sie die Initiative ergreife. Die konkrete Lage sei so, daß Rußland in jeder Beziehung über Positionsvorteile verfüge, weil der zukünftige Kriegsschauplatz in geographischer Beziehung für Rußland günstiger lag, weil ein Viertel der russischen Armee schon zu Friedenszeiten an den Grenzen Galiziens stationiert war und weil die russische Armee infolge der größeren Kapazität der russischen Eisenbahnen den Aufmarsch rascher abwickeln konnte. Die österreichisch¬ ungarischen Eisenbahnlinien konnten täglich 76 Militärzüge an den Kriegs¬ schauplatz bringen, die russischen hingegen 94, was innerhalb kurzer Zeit ein derartiges russisches Übergewicht ergeben mußte, das sich unter den gegebenen Verhältnissen unmöglich ausgleichen ließ. Die Monarchie müsse teils durch Entwicklung, teils durch Kapazitätssteigerungen der Eisenbahnen in die Lage versetzt werden, mindestens 15 Züge mehr an die Front befördern zu können als die Russen. Deshalb sei es nötig, die gesamte Strecke von Budapest bis Przemysl zweigleisig auszubauen, ebenso die Nordbahn im Abschnitt Oderberg -Oswi^cim-Podgörze und die Karl-Ludwig-Bahn im Abschnitt Krakau-Lem¬ berg, weiterhin eine Linie über Gran von Altsohl nach Rzeszöw und eine Verbindung von Märamarossziget nach Stanislau zu schaffen. Auch die Anzahl von Lokomotiven sei zu erhöhen, da die Monarchie hinsichtlich der auf einen Kilometer entfallenden Lokomotiven weit hinter Deutschland und Rußland zurückgeblieben sei. Der Chef des Generalstabs ging auf die Krise zur Jahres¬ wende 1886/87 und auch auf die Spannungen vom Ende des Sommers 1887 nicht ein, doch war für jeden offensichtlich, daß die beantragten Maßnahmen 300 Geyer, Der Ausbau des nordöstlichen Eisenbahnnetzes 88 bzw. 102. 301 K. k. Chef des Generalstabes. Memoire betreffend den Ausbau des Eisenbahnnetzes zur Be¬ schleunigung des Aufmarsches im Kriegsfall gegen Rußland v. August 1887, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 12. || || 110 Einleitung auch mit den konkreten außenpolitischen und militärischen Bedürfnissen der Monarchie im Zusammenhang stehen. Die beiden Regierungen erhielten das Memorandum des Generalstabschefs und kurz darauf auch die Mitteilung, daß der Monarch einen gemeinsamen Ministerrat über die strategischen Eisenbahnen einzuberufen gedenke. Den ungarischen Ministerrat informierte der ungarische Verkehrsminister Gabor Baross über den Plan des Generalstabschefs am 25. Oktober und äußerte zugleich seine totale Ablehnung der an die ungarische Regierung gestellten Ansprüche. Die vom Generalstabschef beanspruchten Arbeiten bedeuteten Be¬ lastungen von 34,5 Millionen für das ungarische Ärar, die dieses unter den gegebenen finanziellen Verhältnissen auf gar keinen Fall übernehmen könne. Die gewünschten Bauarbeiten seien nicht mit den wirtschaftlichen Interessen Ungarns zu begründen, ja stünden im direkten Gegensatz zu ihnen, außerdem seien seines Erachtens mit den beantragten Arbeiten die militärischen Ziele nicht einmal gesichert. Baross zeigte sich nur dazu bereit, für die strategischen Eisen¬ bahnen 5,9 Millionen Gulden zu opfern. Dieser Betrag reichte nur zum Bau des zweiten Gleises zwischen Aszöd und Miskolc, einer Verbindung zwischen Des und Zilah, von Donaubrücken und einigen militärischen Ausweichen der Strecke Kaschau-Oderberg sowie der I. Ungarisch-Galizischen Eisenbahn. Der Ministerrat nahm die Vorlage zur Kenntnis und bestätigte, daß der vom gemein¬ samen Kriegsminister beantragte Plan finanziell undurchführbar sei. Betont wurde, der ungarische Abschnitt der Strecke Märamarossziget-Stanislau werde nur die Anzahl der volkswirtschaftlich völlig überflüssigen Linien vermehren, und wenn überhaupt der Bau einer weiteren Karpatenlinie spruchreif werde, dann wäre diese viel weiter östlich zu errichten. Auch zu den vom Verkehrsmini¬ ster vorgeschlagenen Arbeiten sei man nur beizutragen gewillt, wenn deren Kosten aus dem derzeitigen Budget gedeckt werden könnten.302 Der gemeinsame Ministerrat, auf den der ungarische Verkehrsminister ver¬ wies, trat am 30. Oktober 1887 unter Vorsitz des Monarchen zusammen. Teilnehmer waren außer den gemeinsamen Ministern und den beiden Minister¬ präsidenten der österreichische Finanzminister, die beiden Landesverteidi¬ gungsminister und die beiden Verkehrsminister, der Generalstabschef, der Vor¬ stand der Militärkanzlei des Herrschers sowie der Chef des Eisenbahnbureaus des Generalstabs.303 Nichts weist daraufhin, daß der Generalstabschef über den ablehnenden Beschluß der ungarischen Regierung unterrichtet gewesen wäre, jedenfalls hielt er es für nötig, seine Wünsche nochmals schriftlich zu begrün¬ den.304 Dabei ging er detailliert auf die russischen und die österreichisch-ungari¬ schen Aufmarschverhältnisse ein, die er in dem den Regierungen übermittelten Memorandum nur in großen Zügen berührt hatte, und wies mit genauen Daten 302 29/MT. Ung.MR. v. 25.10. 1887. 3. In Angelegenheit der aus strategischer Hinsicht erwünsch¬ ten Ergänzung des Eisenbahnnetzes, OL., K. 27, Karton 43. 303 GMR. v. 30. 10. 1887, KA„ MKSM. 20-1/9-2 ex 1887. 304 Vortrag betreffend den Ausbau der Eisenbahnen gegen Rußland v. Oktober 1887, KA., MKSM. 20-1/9-2 ex 1887. || || Einleitung 111 nach, daß die momentanen Voraussetzungen in jeder Phase der Mobilmachung Rußland begünstigten. Die Feststellung, für einen Erfolg gegen Rußland beste¬ he nur dann Aussicht, wenn das zahlenmäßige Übergewicht des Feindes durch eigene raschere Truppenkonzentration ausgeglichen werden könne, war nicht neu, doch schien sie im Spiegel der Daten stärker überzeugt zu haben, ebenso wie die Argumentation mit dem Ausbau und der Kapazitätssteigerung der Eisenbahnen als eine Bedingung für deren Erfolg, die nur mittels der beantrag¬ ten Teilarbeiten realisiert werden konnten. Aber auch mit diesem zweiten Doku¬ ment hatte der Chef des Generalstabs seine Überzeugungsarbeit an den Mitglie¬ dern des gemeinsamen Ministerrates noch nicht abgeschlossn. Als er in der Sitzung vom 30. Oktober als erster zu Wort kam, beschrieb er in dramatischer Weise das erdrückende Übergewicht der russischen Wehrmacht schon zu Frie¬ denszeiten und den beängstigenden Zustand der österreichisch-ungarischen Karpatenbahnen. In Kenntnis der Vorgeschichte kann es nicht überraschen, daß die Argumen¬ tation der Militärführung im gemeinsamen Ministerrat zumindest auf die Un¬ garn wirkungslos blieb. Der ungarische Verkehrsminister Baross erklärte zwar, die ungarische Regierung billige stets die Wünsche des Generalstabs, verschloß sich dann aber - dem Beschluß des ungarischen Ministerrats entsprechend - der Erfüllung fast aller konkreten Wünsche. Die ungarische Regierung sei zum Bau des zweiten Gleises zwischen Budapest und Miskolc bereit, halte aber dessen Verlängerung Richtung Grenze weder für notwendig noch für zweckdienlich, nicht nur aus wirtschaftlichen Überlegungen, sondern weil die Doppelspur bis Miskolc die dort abzweigenden Linien nach Lupkow bzw. Kaschau-Abos-Epe- ries ausreichend versorgen könnte. Oberst Guttenberg, der Chef des Eisenbahn¬ bureaus des Generalstabs, wies vergeblich darauf hin, die Linie Kaschau-Epe- ries werde voll von den Zügen aus Preßburg beansprucht, und für den Auf¬ marsch sei die Doppelspur bloß bis Miskolc völlig wertlos. Der ungarische Verkehrsminister hielt an seinem Standpunkt fest und wies sogar den Ausbau der Eisenbahn im Grantal mit der Begründung zurück, die bis Miskolc ausge¬ baute Doppelspur löse alle Aufmarschprobleme. Der österreichische Handels¬ minister Bacquehem stürzte sich nicht mit ganz so offenem Visier in den Kampf und legte auch keine Alternativanträge vor, doch zeigten seine Vorbehalte und Einwände, daß sich auch die österreichische Regierung für die neuerlichen Ausgaben nicht begeisterte. Bei der Linie Jaslo-Rzeszöw gebe es Gelände¬ schwierigkeiten, außerdem werde sie sich ungünstig auf die nordöstlichen Staatsbahnen auswirken, der günstige Zeitpunkt für das zweite Gleis auf der Strecke Oderberg-Oswi^cim-Podgorze sei leider versäumt worden, da man die Nordbahn noch zu seiner Errichtung hätte zwingen können, und der Bau des zweiten Gleises zwischen Krakau und Lemberg werde das Budget so sehr belasten, daß im Reichstag sicherlich die Forderung nach Verstaatlichung der Karl-Ludwig-Bahn erhoben werde, was die Regierung nicht für wünschenswert halte. Im Zusammenhang mit der beide Staatsgebiete berührenden Eisenbahn Märamarossziget-Stanislau brachten beide Minister nacheinander ablehnende Argumente vor, Bacquehem unter anderem, daß sie für die galizischen Staats- || || 112 Einleitung bahnen schädlich wäre, Baross hingegen, daß sie den volkswirtschaftlichen und verkehrspolitischen Interessen Ungarns widerspreche. Mildernd wirkte bei al¬ lem nur, daß sich die ungarische Regierung zum Bau gewisser siebenbürgischer Eisenbahnen, wie der Verbindung von Des nach Zilah, bereit erklärte. Insge¬ samt blieb es aber für die Heeresführung unbefriedigend, daß von allen ihren Anträgen nur die Idee der Errichtung je einer Donaubrücke bei Komorn und Preßburg im gemeinsamen Ministerrat völliges Einverständnis gefunden hatte. Der starke Widerstand überraschte den Chef des Generalstabs anscheinend so sehr, daß er es für unzweckmäßig hielt, seine oft wiederholten Argumente nochmals zu detaillieren. Er beschränkte sich auf die bloße Aufzählung jener Vorhaben, auf welche die Heeresführung auf keinen Fall verzichten könne. Das zweite Gleis auf den Linien Budapest-Lupköw und Oderberg-Oswi?cim-Pod- görze müsse trotz der Bemerkungen und Gegenargumente der Verkehrsmimster gelegt werden, und ebenso die Linie Jaslo--Rzeszöw. An diesem Punkt wurde die Sachdebatte unterbrochen und durch einen eher allgemeinen Gedankenaustausch über die strategischen Eisenbahnen fortge¬ setzt. Der ungarische Ministerpräsident Kaiman Tisza hob erneut die Opferbe¬ reitschaft der ungarischen Regierung hervor und beklagte die hohen Kosten und unwirtschaftlichen Investitionen der strategischen Eisenbahnen, die sich bei einzelnen Linien selbst in hundert Jahren nicht amortisieren würden. Auch der österreichische Finanzminister Dunajewski beschwerte sich, daß der General¬ stab die Regierungen zur Errichtung von uneffektiven Linien zwinge und die Heeresführung ohne einen vorhergehenden langfristigen Plan immer wieder mit neuen Forderungen auftrete. Der Chef des Generalstabs Beck vermochte nur zu erwidern, daß sich die Taktik der kleinen Schritte für zweckmäßiger erwiesen habe, verwies aber auch darauf, daß bei der Vorlegung der Forderungen auch die ausländischen Staaten berücksichtigt werden müßten. Zu diesem Punkt erklärte auch der gemeinsame Kriegsminister, Österreich-Ungarn müsse dem Diktat der Umstände gehorchen. Die Mitglieder der beiden Regierungen aber blieben auch diesen neuen Argumenten gegenüber unzugänglich. Das einzige vorwärtsweisende Moment des ganzen Gedankenaustausches war, daß Tisza den Herrscher ersuchte, einen ungarischen Gegenantrag vorlegen zu dürfen, was letzterer -- obwohl er über dessen Inhalt keine Illusionen haben konnte -- freudig begrüßte. Aber auch diese Geste des Monarchen vermochte die totale Ergebnis¬ losigkeit der Beratung vom 30. Oktober nicht zu bemänteln. Die Erfolglosigkeit dieses gemeinsamen Ministerrates stellte eigentlich einen Erfolg der beiden Regierungen dar. In Kenntnis des Lösungsmechanismus des zwischen den beiden Regierungen und der Heeresleitung entstandenen Konflik¬ tes war jedoch kaum damit zu rechnen, daß sich nun die Sieger lange auf ihren Lorbeeren ausruhen konnten. Der Generalstab bestand -- ähnlich wie beim Landsturmgesetz und den Spezialkrediten -- auch in der Frage der strategischen Eisenbahnen auf seiner Auffassung, und wenn er von einem Teil der im Memo¬ randum genannten Linien vorerst auch Abstand nahm, hielt er an den drei vom Generalstabschefin der Beratung vom 30. Oktober als unerläßlich bezeichneten Bahnlinien unter allen Umständen fest. Auch Gabor Baross mußte sehr bald || || Einleitung 113 erfahren, daß der seinerseits vorgelegte Alternativantrag im gemeinsamen Kriegsministerium nicht als Verhandlungsgrundlage betrachtet wurde und seine Argumente kein Gehör fanden. Und wie schon wiederholt in ähnlichen Fällen gab die ungarische Regierung schließlich doch nach. Gabor Baross erstattete im ungarischen Ministerrat vom 22. Dezember 1887 Bericht, daß er im Laufe von Verhandlungen mit dem Vertreter des Generalstabs dem Bau des zweiten Glei¬ ses auf dem ungarischen Streckenabschnitt der ungarisch-galizischen Eisenbahn zugestimmt habe, und der Ministerrat nahm den Bericht zustimmend zur Kennt¬ nis.- Das gleiche ereignete sich auch in bezug auf die strategischen Linien auf österreichischem Staatsgebiet. Auf der Strecke Lupköw-Przemysl der unga- nsch-gahzischen Eisenbahn wurde schon 1887 das zweite Gleis gelegt, und im März 1889 akzeptierte der Reichsrat den Regierungsantrag zum Bau der Eisen¬ bahnlinie zwischen Jaslo und Rzeszöw, die bereits im Oktober 1890 dem Ver¬ kehr übergeben wurde.306 Im Abschnitt Oswi?cim-Podgörze wurde bis Ende 1890 das zweite Gleis ebenfalls gelegt.307 Damit war das Mindestprogramm des Generalstabschefs, wie er es im gemeinsamen Ministerrat vom 30. Oktober 1887 Umrissen hatte, also trotz der Widerstände schließlich doch realisiert worden. Die Vorlage vom Jahre 1890 Die Erklärung des gemeinsamen Kriegsministers in der Beratung vom 30. Oktober, Österreich-Ungarn müsse dem Diktat der Umstände gehorchen, ließ bereits ahnen, daß die Heeresleitung es nicht bei der Durchsetzung ihres Min¬ destprogramms allein belassen würde. Welche Linie zuerst wieder auf die Tages¬ ordnung gesetzt wurde, das zu erraten bedarf kaum einer prophetischen Bega¬ bung, da doch der gemeinsame Kriegsminister auch darauf verwiesen hatte, daß Rußland neuerdings seine Kräfte in Ostgalizien konzentierte. Demzufolge ging im April 1890 beiden Regierungen eine Note vom gemeinsamen Kriegsministe¬ rium des Inhalts zu, daß mit Rücksicht auf die neuerlichen russischen Schritte der Ausbau der Eisenbahnlinie von Märamarossziget nach Stanislau nicht weiter hinausgezögert werden könne.308 Gewiß zur Überraschung auch des gemeinsamen Kriegministers ging aus Budapest kurz darauf eine günstige Ant¬ wort ein. In der ungarischen Hauptstadt betrachtete man - es ist nicht genau nachzuvollziehen, warum - diese Linie nicht mehr als volkswirtschaftlich über¬ flüssig, weshalb die ungarische Regierung in ihrer Sitzung vom 8. August 1890 den Bau bewilligte.309 In diesem Fall erwies sich aber die österreichische Regie¬ rung als unnachgiebig. Sie hielt an ihrer Meinung fest, die neue Strecke sei 306 32/MT- UnS-MR- v- 22. 12. 1887, OL., K. 27, Karton 43. Gbver, Der Ausbau des nordöstlichen Eisenbahnnetzes 108-109. 307 Ebd. 114. 308 Ebd. 109. 26/MT." Ung.MR. v. 8. August 1890. 8. In Angelegenheit der Eisenbahn Märamarossziget--Kö- rösmezö-Landesgrenze, OL., K. 27, Karton 48. || || 114 Einleitung wirtschaftlich schädlich, und war nur geneigt, auf der Beskiden-Bahn zwischen Munkäcs und Stryj das zweite Gleis zu legen.310 Diese Ablehnung war die unmittelbare Ursache für die Ministerkonferenz, die der Monarch für den 7. Mai 1891 ausdrücklich deshalb einberief, um nach der Zustimmung der ungarischen Regierung nun auch die Mitglieder der öster¬ reichischen Regierung von der Notwendigkeit des Baus dieser Eisenbahnlinie zu überzeugen.311 An der Beratung unter Vorsitz des Herrschers waren auf der einen Seite der gemeinsame Außenminister, der gemeinsame Kriegsminister, der Chef des Generalstabs, der Vorstand der Militärkanzlei des Monarchen und der Chef des Eisenbahnbureaus des Generalstabs und auf der anderen Seite der österreichische Ministerpräsident, der Minister für Landesverteidigung, der Handelsminister und der Finanzminister anwesend. Mit der Überzeugungsar¬ beit begann der gemeinsame Außenminister, der sich bei den Eisenbahnberatun¬ gen bisher noch nie zu Wort gemeldet hatte, jetzt aber die ihm zugeteilte Rolle gut spielte. Seine internationale Lageanalyse schloß er damit, daß die europäi¬ sche Situation einem Krieg zustrebe und ein unerwarteter Zwischenfall jederzeit die Konflagration auslösen konnte. Es ist sehr fraglich, ob dies tatsächlich seine Meinung war, widersprach er doch wenige Monate später - ebenfalls im gemein¬ samen Ministerrat - dem gemeinsamen Kriegsminister, als dieser für 1894 einen Krieg prognostizierte.312 Jetzt aber argumentierte Kälnoky, wie es die Angele¬ genheit verlangte. Von den nachdrücklichen Argumenten des Chefs des Gene¬ ralstabs war jedoch nicht anzunehmen, daß sie nicht seiner festen Überzeugung entsprachen. Er verwies darauf, daß eine russische Mobilisierung infolge der russischen Truppenkonzentration und des Eisenbahnbaus in 27-28 Tagen been¬ det werden konnte. Damit habe sich der bisherige Vorsprung der Monarchie trotz ihrer neuen Eisenbahnbauten auf zwei, bestenfalls acht Tage verringert. Aber auch dieser Vorsprung konnte nicht realisiert werden, da die russische Wehrmacht den Hauptschlag auf Ostgalizien zu führen gedachte und unter den gegebenen Verhältnissen keine Möglichkeit bestand, daß die österreichisch¬ ungarische Streitmacht dieses Übergewicht ausgleichen konnte. Die Bedeutung der geplanten Linien Maramarossziget-Stanislau und Halicz-Tarnopol bestehe darin, bis zum 15. Mobilisierungstag so viele Kräfte in Ostgalizien konzentrie¬ ren zu können, daß sie den russischen Angriff zurückzudrängen vermochten. Der gemeinsame Kriegsminister wiederholte in anderer Formulierung die Argu¬ mente des Generalstabschefs und fügte noch hinzu, das von der österreichischen Regierung angebotene zweite Gleis auf der Strecke Munkäcs-Stryj habe für den Aufmarsch und die Verteidigung Ostgaliziens keinerlei Bedeutung. Die militärischen Argumente waren auch diesmal überzeugend, und die Position der österreichischen Regierung ließ sich nicht nur ihretwegen schwer 310 Geyer, Der Ausbau des nordöstlichen Eisenbahnnetzes 109-110. 311 Protokoll über die am 7. 5. 1891 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät stattgehabte Konferenz. Den Gegenstand derselben bildete der Bau einer strategischen Bahn von Märama- rossziget nach Stanislau und in Fortsetzung derselben von Halicz nach Tarnopol, KA., MKSM. 20-1/4 de 1891. 312 Vgl. Anm. 133. || || Einleitung 115 verteidigen. Bei anderen Gelegenheiten, bei Verweigerung der Pläne der Heeres¬ führung gemeinsam mit der ungarischen Regierung, hatte sie auch nur einen Aufschub erreichen können, jetzt aber, mit ihrem Standpunkt allein gelassen, war selbst dies aussichtslos. Die beiden Fachminister trugen aber korrekt ihren Standpunkt vor, der Handelsminister Bacquehem rechnete vor, daß in den letzten acht Jahren für Linien militärischer Zwecke 80 Millionen Gulden veraus¬ gabt wurden, während für wirtschaftliche Zwecke nur einige Lokalstrecken entstanden; die Linie Märamarossziget-Stanislau werde den Verkehr aus der Moldau und der Bukowina auf die ungarischen Eisenbahnen umleiten und damit zu erheblichen Verlusten der galizischen Eisenbahnen führen, und schließlich bestehe nach wie vor der Verdacht, daß die Heeresleitung auch mit dem Bau der gewünschten Eisenbahnen den Ausbau des strategischen Netzes noch nicht für abgeschlossen halte und binnen kurzer Zeit mit neuen Forderun¬ gen auftreten werde. Finanzminister Steinbach schilderte die ungünstige finan¬ zielle Lage und machte - wie schon im gemeinsamen Ministerrat - darauf aufmerksam, daß zu den Kriegsvorbereitungen auch die finanzielle Rüstung gehöre. Ministerpräsident Taaffe saß - wie stets in ähnlichen Fällen - auch diesmal stumm am Verhandlungstisch, ohne seinen Ministerkollegen zu Hilfe zu eilen, da keine Chance dafür bestand, daß die Argumente der Vertreter der Fachressorts den Standpunkt der Heeresleitung beeinflussen konnten. Der Herrscher hörte die gleichsam mit dem Recht auf das letzte Wort gesprochenen Monologe an und erklärte dann die Beratung kurzerhand für beendet. Er wies den Handelsminister an, für die Absteckung der Trassen beider Bahnstrecken zu sorgen, sich wegen der Festlegung der Anschlußpunkte mit der ungarischen Regierung in Verbindung zu setzen und die Vorlage für den Bau der beiden Eisenbahnlinien noch im November den Vertretungskörperschaften vorzulegen. Der Finanzminister bekam die Aufgabe, die finanzielle Deckung schnellstens zu sichern. Die österreichischen Fachminister, die mit der Hoffnung in die Bera¬ tung gegangen waren, mit ihrer Meinung die Entscheidung noch beeinflussen zu können, verließen sie als einfache Vollstrecker des kaiserlichen Beschlusses. Die Durchführung der Beschlüsse erfolgte verhältnismäßig rasch. Die öster¬ reichische Regierung legte ihren Antrag zum Bau der Eisenbahn zwischen Stanislau und Woronienka am 1. Januar 1892 dem Reichstag vor, am 20. März des gleichen Jahres beschloß die ungarische Regierung den Gesetzesantrag für die Eisenbahnlinie von Märamarossziget bis zur Landesgrenze dem Parlament vorzulegen, und nach baldigem Baubeginn konnte die ganze Linie von Märama¬ rossziget bis Stanislau im August 1895 dem Verkehr übergeben werden. Aber auch damit war der Ausbau der strategischen Eisenbahnlinien nicht abgeschlos¬ sen. Obwohl der Chef des Generalstabs in der Beratung vom Mai 1891 erklärt hatte, die Heeresführung plane keine neue Karpatenlinie, wurden schon am Ende des Jahrzehnts eine Verbindung zwischen Ungvär und Lemberg über den Uzsoker Paß und einige ostgalizische Linien erforderlich, mit denen dann der Ausbau der strategischen Eisenbahnlinien im nordöstlichen Grenzgebiet end¬ gültig abgeschlossen war, so daß der gemeinsame Ministerrat von den einseitig geführten Debatten mit der Heeresleitung und vom Alpdruck der Jahr um Jahr neu fälligen Finanzmittelbeschaffung endlich doch befreit wurde. || || 116 Einleitung V. Die Wirtschaftsgemeinschaft und der Außenhandel Die Frage der strategischen Eisenbahnen gelangte vor den gemeinsamen Mini¬ sterrat, weil die Eisenbahnen gemeinsamen Interesses zu den als quasi oder paktiert gemeinsam bezeichneten Angelegenheiten gehörten. Diese Kategorie war recht umfangreich und wurde im Sinne des Ausgleichsgesetzes von 1867 in betimmten Zeitintervallen, nach später entstandener Praxis in jedem zehnten Jahr, neu geregelt. Es waren Angelegenheiten, deren Gemeinsamkeit sich nicht aus der pragmatischen Sanktion ergab (wie das Kriegswesen und die auswärti¬ gen Angelegenheiten), sondern aus politischer und wirtschaftlicher Zweckmä¬ ßigkeit, wie vor allem der Anteil am Budget, die sog. Quote. Diese war als solche zwar infolge der dauernden Gemeinsamkeit des Kriegswesens und der auswärti¬ gen Angelegenheiten unbefristet, da aber die beiden Staaten die Lasten des gemeinsamen Budgets anteilig nach den jeweiligen Steuereinnahmen, also auf variabler Grundlage trugen, war eine Neubemessung von Zeit zu Zeit erforder¬ lich. Weiter galten als gemeinsam zu behandelnde Angelegenheiten zahlreiche Beziehungen der wirtschaftlichen Zusammenhänge zwischen den beiden Staa¬ ten, so die Handels- und die Zollgesetzgebung, die mit der Industrieproduktion verbundene Gesetzgebung, das Finanz- und Bankwesen sowie das bereits er¬ wähnte Eisenbahnwesen. Dementsprechend wurden in den beiden Staaten die Verbrauchssteuern, die staatlichen Monopole, das Post- und Telegraphenwe¬ sen, der Bau und Betrieb von Eisenbahnen, die See- und Binnenschiffahrt sowie das System der Maße und Gewichte nach gleichen Grundsätzen geregelt. Diese gemeinsamen Grundsätze wurden alle zehn Jahre im erneuerten Zoll- und Handelsbündnis niedergelegt, in dessen Zusammenhang schließlich auch der Außenhandel und das mit ihm verbundene Zollwesen gemeinsam behandelt wurden, die sinngemäß für die Dauer des Zoll- und Handelsbündnisses als Angelegenheit gemeinsamen Interesses galten. Verwaltung der gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten Wie die gemeinsamen Angelegenheiten erforderten auch die gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten irgendeine institutionelle Sachbearbeitung. Ob¬ wohl das Ausgleichsgesetz hierüber nichts verfügt hatte, schuf die praktische Notwendigkeit sehr rasch jene Gremien zur Vorbereitung der Vereinbarungen über Wirtschaftsangelegenheiten zwischen den Regierungen bzw. den gesetzge¬ benden Körperschaften oder zur Vorbereitung identischer Beschlüsse derselben. Die Vorarbeiten für die Quotenfestlegung verrichteten die aus je fünfzehn Personen beider Parlamente bestehenden Quotendeputationen. Der Abschluß und die Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses, also die Regelung sämtli¬ cher Beziehungen der Wirtschaftsgemeinschaft, wurden von der Zoll- und Han¬ delskonferenz vorbereitet, bestehend aus den Vertretern der zuständigen Fach¬ ministerien - Handels-, Finanz- und Landwirtschaftsministerium - sowie des gemeinsamen Außenministeriums, unter Hinzuziehung von Experten mit Bera- || || Einleitung 117 tungsrecht. In der Form einer gelegentlichen Kommission versah die Zoll- und Handelskonferenz daneben auch die Vorbereitungsarbeiten der aktuellen Fra¬ gen des Außenhandels, etwa im Zusammenhang mit Änderungen der Zolltarife und dem Abschluß von Handelsverträgen. Bereits diese gedrängte Übersicht veranschaulicht die außerordentlich schwerfällige und umständliche Bearbeitung der gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten. Vernunft und praktischer Sinn hätten wohl erfordert - wie dies österreichischerseits wiederholt formuliert wurde --, die sich mit den gemein¬ sam zu behandelnden Angelegenheiten befassenden Gremien auch zu Foren der gemeinsamen Beschlußfassung zu machen, ihre Tätigkeit blieb aber infolge der ungarischen rechtlichen Bedenken stets auf die Entscheidungsvorbereitung be¬ schränkt. Die von der Souveränität Ungarns ausgehende staatsrechtliche Auf¬ fassung, die auch im Falle der gemeinsamen Angelegenheiten eine gemeinsame Erledigung ausschloß und statt des gemeinsamen Parlaments nur die Delegatio¬ nen, statt der gemeinsamen Regierung nur gemeinsame Ministerien zuließ, war bei den gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten noch krampfhafter auf die gesetzliche, in Wirklichkeit jedoch nur fiktive Staatssouveränität bedacht. So konnten die Quotendeputationen anders als die Delegationen keine Be¬ schlüsse fassen, sondern den Regierungen nur Anträge für die Debatten in den Parlamenten stellen, die die Anträge in gesonderten Sitzungen mittels Notenaus¬ tausch ausarbeiteten und nicht einmal zu gemeinsamen Abstimmungen zusam¬ menkamen. Die Zoll- und Handelskonferenz bestand ebenfalls aus zwei geson¬ derten Gremien, die ihre Anträge durch Notenaustausch abstimmten, besten¬ falls durch Unterkommissionen Kontakte zueinander hatten und über kein Beschlußfassungsrecht verfügten. Diese getrennte Sachbearbeitung der gemein¬ sam zu behandelnden Angelegenheiten wurde nur bei der Vorbereitung und Beratung von Außenhandelsverträgen überwunden, wo im Interesse der einheit¬ lichen Vertretung dem Ausland gegenüber nun wirklich nicht zwei selbständige Delegationen fungieren konnten. Aber sogar die Geschlossenheit dieses Gre¬ miums wurde sehr bald von ungarischen Absonderungsbestrebungen aufgebro¬ chen.313 In den Gesetzen über die Regelung der gemeinsam zu behandelnden Angele¬ genheiten war nirgendwo eine Zuständigkeit des gemeinsamen Ministerrates in diesem Bereich zu finden. Die zu diesem Zweck geschaffenen Gremien versahen im allgemeinen ihre Aufgabe, und im Falle irgendwelcher Stockungen wurden die Meinungsverschiedenheiten durch direkte Verhandlungen oder Briefwechsel zwischen beiden Regierungen beseitigt. Durch die unterschiedlichen und häufig entgegengesetzten Wirtschaftsinteressen beider Staaten wurden aber die Vorar¬ beiten der Kommissionen an sich schon erschwert, zumal die komplizierte Sachbearbeitung häufig zu Störungen und Unterbrechungen führte. Es gab Fälle, die Absprachen und Stellungnahmen auf Regierungsebene unerläßlich machten. So konnten Entscheidungen darüber, welche Richtung die Zollpolitik nehmen sollte, ob es zweckmäßig sei, mit irgendeinem Land Handelsvereinba- 313 Paulinyi, Die sogenannte gemeinsame Wirtschaftspolitik Österreich-Ungarns 125-135. || || 118 Einleitung rungen zu schließen, oder mit welchen Instruktionen die Kommissionen zu versehen seien, die zur Schließung von Handelsverträgen entsendet wurden, nicht oder nicht immer der Zoll- und Handelskonferenz überlassen werden. So lag es auf der Hand, in solchen Fällen das einzige gemeinsame Regierungsfo¬ rum, den gemeinsamen Ministerrat, einzuschalten. Auf diese Weise gelangten - obwohl die Gesetze über die gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten diese Körperschaft gar nicht erwähnten - gelegentlich Fragen des Zoll- und Handelsbündnisses, der Zollpolitik und des Außenhandels, wenn es die Not¬ wendigkeit erforderte, ebenfalls auf die Tagesordnung des gemeinsamen Mini¬ sterrates. Die Verlängerung des wirtschaftlichen Ausgleichs im Jahre 1887 Da der wirtschaftliche Ausgleich für eine Zeitdauer von zehn Jahren geschlos¬ sen worden war, lief die Geltungsdauer des Ausgleichs von 1878 am 31. Dezem¬ ber 1887 ab und wurde dessen Verlängerung fällig. Die letzten Ausgleichsver¬ handlungen hatten zu recht scharfen wirtschaftlichen Meinungsverschiedenhei¬ ten zwischen beiden Staaten geführt. Gegensätze entstanden bei der Quotenfest¬ legung, weil der durch den Anschluß der Militärgrenze an Ungarn entstandene Zuwachs der ungarischen Steuereinnahmen in Ungarn anders verrechnet wurde als in Österreich, im Bankwesen, weil der ausschließlich österreichische Charak¬ ter der Nationalbank nach ungarischer Ansicht der dualistischen staatsrechtli¬ chen Struktur nicht entsprach, und schließlich beim Zolltarif, weil die österrei¬ chischen Schutzzollbestrebungen in Ungarn kein Verständnis fanden - um nur die wichtigeren Streitpunkte zu erwähnen. Die Mehrzahl der strittigen Fragen wurde schließlich im Sinne des ungarischen Standpunktes gelöst: Der ungari¬ sche Quotenanteil erhöhte sich nur im Verhältnis des aus der Militärgrenze stammenden Steuerzuwachses, blieb also im wesentlichen unverändert, die Österreichische Nationalbank wurde der dualistischen Struktur entsprechend zur Österreichisch-Ungarischen Bank, und der Zolltarif bewahrte seinen Frei¬ handelscharakter.3'4 Dies alles befriedigte freilich den ungarischen Verhand¬ lungspartner nicht völlig, während es bei den Österreichern verständlicherweise Unzufriedenheit weckte. Obwohl beide Staaten an der Wirtschaftsgemeinschaft festhielten und die gegenseitigen Vorteile zu würdigen wußten, mußte man folglich damit rechnen, daß anläßlich der neueren Ausgleichsverhandlungen die früheren und neuen Gegensätze wiederum zur Sprache kommen würden. Der ungarische Ministerpräsident richtete schon am 12. September 1884 ein Schreiben an den österreichischen Ministerpräsidenten, in dem er mit Hinweis auf die sich nähernde Ablauffrist die Aufnahme von Verhandlungen zur Erneue¬ rung des Zoll- und Handelsbündnisses vorschlug.315 Der österreichische Mini¬ sterpräsident antwortete am 1. November zustimmend, wollte jedoch nicht nur 314 Matlekovits, Magyarorszäg ällamhäztartasänak törtenete 133-164. 315 20/MT. Ung.MR. v. 12. 9. 1884. 26. Über die Einleitung der Verhandlungen bezüglich einer Abänderung der Zoll- und Handelsbündnisse, OL., K. 27, Karton 39. || || Einleitung 119 über die Verlängerung des Zoll- und Handelsbündnisses, sondern zugleich über sämtliche Fragen des wirtschaftlichen Ausgleiches zusammenhängend verhan¬ deln.316 Die österreichische Seite hatte nämlich 1878 die Erfahrungen gemacht, daß bei der gesonderten Behandlung der verschiedenen Fragen eine entspre¬ chende Kompensation der österreichischen Zugeständnisse weggefallen war. Ungarischerseits hingegen bezweifelte man derartige Zusammenhänge und hielt die getrennte Beratung für zweckmäßiger. Nach wiederholtem Briefwechsel und mehrmaliger Abstimmung der Ansichten begannen schließlich die Verhandlun¬ gen den Wünschen der österreichischen Regierung entsprechend. In der Sitzung des ungarischen Ministerrates vom 8. Juni 1885 legte der Finanzminister jene Punkte des Finanz- und Volkswirtschaftsabkommens vor, in denen die ungari¬ sche Regierung eine Modifizierung wünschte: eine Änderung ihres Anteils an den gemeinsamen Ausgaben und ebenso an den Grenzzolleinnahmen, die Auf¬ hebung der zollfreien Zonen in Triest und Fiume, die Einführung der österrei¬ chisch-ungarischen Gold- statt der bisherigen österreichischen Silberwährung, eine Änderung der Statuten der Österreichisch-Ungarischen Bank, wesentliche Änderungen bei den Verbrauchssteuern und schließlich präzise Veterinär- und internationale Viehhandelsvorschriften in der neuen Vereinbarung.317 Die im Laufe des Sommers begonnenen Verhandlungen machten verhältnismäßig ra¬ sche Fortschritte, so daß die zuständigen Minister im ungarischen Ministerrat vom 2. Januar 1886 von Übereinstimmungen in zahlreichen Fragen berichten konnten; doch erwähnten sie auch die Bereiche, in denen es noch zu keiner Einigung gekommen war: im Bankwesen die Ausgabe zinsloser Schuldbriefe, die Verwendung der Einnahmen aus der Banknotensteuer, die Statuten der Hypothekendarlehen und die Verlängerung des Privilegs der Österreichisch- Ungarischen Bank, bei den Verbrauchssteuern die Festlegung der Zuckersteuer, im Zusammenhang mit dem Zollbündnis das Problem der Veterinärabkommen und schließlich die Festlegung zahlreicher Sätze des Zolltarifs.318 Der gemeinsame Ministerrat befaßte sich erstmals am 27. September 1885 mit dem wirtschaftlichen Ausgleich,319 nicht in Form eines ernsthaften Gedanken¬ austausches, sondern einer bloßen Information über den Stand der Verhandlun¬ gen, über die restlichen Differenzen im Bankwesen und bei den Verbrauchs¬ steuern und daß sich mit diesen Fragen noch die Referenten beschäftigen. Der formale Informationscharakter der Sitzung geht bereits daraus hervor, daß sie eigentlich zur Erörterung des Budgets einberufen worden war und bloß einige Minuten dauerte. Bei nächster Gelegenheit, am 8. Januar 1886, fand schon ein eingehender Gedankenaustausch statt.320 In der Beratung unter Vorsitz des 316 27/A/T. Ung.MR. v. 3. 11. 1884. 9. Über die Angelegenheit einer Revision des Zoll- und Handelsbündnisses, OL., K. 27, Karton 39. 317 12/MT. Ung.MR. v. 8. 7. 1885. 1. In Angelegenheit einer Erneuerung des Finanzabkommens und des Zoll- und Handelsbündnisses. 2. Bezüglich einer Erneuerung des Zoll- und Handels¬ bündnisses, OL., K. 27, Karton 40. 318 l/MT. Ung.MR. v. 2. 1. 1886. 3. Die Ausgleichsfragen, OL., K. 27, Karton 40. 319 GMR. v. 27. 9. 1885, RMRZ. 325. 320 GMR. v. 8. 1. 1886, RMRZ. 330. || || 120 Einleitung Herrschers wurden die noch in Schwebe befindlichen, unerledigten Fragen behandelt, mit denen sich einige Tage zuvor auch der ungarische Ministerrat befaßt hatte. Die Sitzung hatte ebenfalls stark informativen Charakter, weder österreichischer- noch ungarischerseits ließ man sich in eine Darlegung der Standpunkte ein. Eine Debatte ergab sich allerdings wieder darüber, ob die in Schwebe befindlichen Fragen besser gemeinsam oder gesondert zu klären seien. Der österreichische Finanzminister argumentierte wegen der früheren ungünsti¬ gen Erfahrungen für eine gemeinsame Erledigung, die ungarische Seite betonte dagegen, die Verknüpfung der Probleme werde eine termingerechte Beendigung erschweren, was im Interesse der Aufrechterhaltung der Wirtschaftsgemein¬ schaft unerwünscht sei. Die Geschäftsordnungsdebatte brachte auch die Aspek¬ te der unterschiedlichen Beurteilung der Wirtschaftsgemeinschaft zutage. Der österreichische Finanzminister verwies darauf, daß die ungarischen Modifizie¬ rungswünsche Österreich neuerliche finanzielle Lasten auferlegen würden, was die Zweckmäßigkeit der Zollunion in Frage stelle, während der ungarische Ministerpräsident bezweifelte, daß der letzte wirtschaftliche Ausgleich nur für Ungarn Vorteile gebracht hätte. Diese Debatte war jedoch ohne praktische Bedeutung, und obwohl der ungarische Ministerpräsident darauf verwies, daß er im Falle einer Verzögerung der Verhandlungen eventuell zur Kündigung des Zoll- und Handelsbündnisses gezwungen werden könnte, dachte keine Seite daran, die Bande zwischen beiden Staatsgebieten endgültig zu zerreißen. Der Monarch schloß die Beratung mit dem Auftrag an beide Regierungen, in den noch schwebenden Fragen baldigst Beschlüsse zu fassen. In beiden sich mit dem wirtschaftlichen Ausgleich beschäftigenden gemeinsa¬ men Ministerratssitzungen kamen die Gegensätze zwischen den österreichischen und den ungarischen Verhandlungspartnern über die Festlegung einzelner Po¬ sten des Zolltarifs zur Sprache, so bei der Steuerrückerstattung für exportierten Zucker und der Zollfestsetzung für importiertes Erdöl. Bei ersterem beanstande¬ te man ungarischerseits, daß der größte Teil der Steuerrückerstattung den österreichischen Zuckerfabriken zugute kam, die einen wesentlich größeren Export tätigten, im letzteren Fall fühlten sich die Österreicher benachteiligt, weil die ungarischen Erdölraffinerien infolge des niedrigen Erdölzolls einen größeren Profit hatten und die galizischen Erdölproduzenten in eine ungünstige Lage brachten. Die Rückerstattung der Zuckersteuer und der Erdölzoll waren aber nur die Spitze des Eisberges, da sich in der gesamten Zollpolitik vom Ende der 70er Jahre an grundlegende Gegensätze zwischen beiden Reichshälften zeigten. Infolge ihrer unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur war es eigentlich nie zur Harmonie in der Zollpolitik gekommen: Das agrarische Ungarn bevorzugte immer den Freihandel, um den Export der landwirtschaftlichen Produkte zu sichern, und Österreich neigte im Interesse des Schutzes der heimischen Indu¬ strie stets zur Schutzzollpolitik. In der ersten Periode nach dem 1867er Aus¬ gleich begünstigte die internationale Wirtschaftspolitik eher Ungarn, und im System der europäischen Staaten, das in erster Linie auf den Freihandel ausge¬ richtet war, konnte auch die Monarchie nur der Praxis des freien Warenverkehrs folgen und höchstens für einzelne Artikel vertragliche, also mit den Außenhan- || || Einleitung 121 delspartnern vereinbarte Zolltarife festlegen. Dieser für die österreichische Wirt¬ schaft ungünstige Zustand bestand bis zum Ende der 70er Jahre und wurde auch durch den im zweiten wirtschaftlichen Ausgleich festgesetzten Zolltarif im Grund kaum geändert. Seit Ende des Jahrzehnts verstärkten sich aber in der Außenhandelspolitik der europäischen Staaten immer mehr die Schutzzollten¬ denzen, vor allem seit das billige überseeische Getreide in Europa erschien und außer den stets für den Schutzzoll eintretenden Industriekreisen auch die Agrar¬ produzenten zur Schließung der Grenzen bewog. Die wichtigsten Außen¬ handelspartner der Monarchie, in erster Linie Deutschland, errichteten von 1879 an hohe Schutzzölle und bestimmten für die Importartikel, so auch für die landwirtschaftlichen Produkte, sog. autonome Zolltarife ohne Rücksicht auf die Interessen der früheren Vertragspartner. Inmitten solcher internationa¬ ler Wirtschaftsbedingungen vermochte auch die Monarchie nicht weiter an ihren Grundsätzen der Freihandelspolitik festzuhalten, und die ungarischen Agrarier nahmen auch das Schutzzollprinzip unter ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen auf. Damit verschwanden die wirtschaftspolitischen Gegensätze zwischen beiden Staaten keineswegs, es verschob sich nur ihre Basis. Der österreichischen Industrie brachten die niedrigeren Lebenmittelpreise aufgrund des Zustroms des billigen Überseegetreides Vorteile, weshalb sie hohe Getreide¬ zolle ablehnte; die ungarische Landwirtschaft dagegen erklärte die eventuell durch die hohen Industriezölle entstehende Agrarschere als gegen ihre eigenen Interessen gerichtet. Dieser sich aus der abweichenden Auslegung der Schutz¬ zollpolitik ergebende Gegensatz war ebenso scharf wie früher die Gegenüber¬ stellung von Freihandel und Schutzzoll. Der Verstärkung der Schutzzolltendenzen innerhalb der Monarchie entspre¬ chend, wurde der beim zweiten wirtschaftlichen Ausgleich festgesetzte Zolltarif schon 1882 überarbeitet, indem zahlreiche, vor allem industrielle Warenzölle erhöht wurden, ohne aber die westeuropäischen Zollsätze im allgemeinen zu erreichen. Deshalb kam es im Jahre 1885 zu einer neuerlichen Überarbeitung, die die Zollsätze sowohl der Industrieerzeugnisse als auch der Agrarprodukte im wesentlichen dem deutschen Zolltarif anpaßte. Die Vereinbarung beruhte auf einem Kompromiß: den ungarischen wirtschaftlichen Interessen widerspre¬ chende hohe Industriezölle, um Deutschland, das soeben hohe Getreidezölle eingeführt hatte, zur Einsicht und zur Revision der Agrarzölle zu bringen und die österreichische Zustimmung zu einer bedeutenden Erhöhung der Lebensmit¬ telzolle als Gegenleistung für die ungarische Nachgiebigkeit. Beide Verhand¬ lungspartner verließ jedoch nie das Gefühl, mit den Zugeständnissen zu weit gegangen zu sein und mit der Anwendung des neuen Zolltarifs ihrer eigenen Nationalökonomie zu schaden. Überdies ergab sich das Geschäftsordnungspro¬ blem, daß die Legislaturperiode des österreichischen Reichesrats vor der Revi¬ sion des Zolltarifs abzulaufen drohte, was zu Schwierigkeiten bei seiner Bera¬ tung und Verabschiedung führen mußte. Zur Entscheidung über das Schicksal des neuen Zolltarifs mußte der gemeinsame Ministerrat einberufen werden, bei welcher Gelegenheit es dann zur Darstellung der zollpolitischen Konzeptionen || || 122 Einleitung und zur erneuten Abstimmung der gegensätzlichen Standpunkte kommen konnte. In der Beratung vom 7.-8. April 1885 zeigte sich wiederum, wie verschieden die Ansichten der österreichischen und ungarischen Regierung waren und daß darüber hinaus der gemeinsame Außenminister als Vertreter der Gesamtmonar¬ chie wieder andere Gesichtspunkte hatte.321 Während Kälnoky als Zweck der Beratung betrachtete, in der Angelegenheit endlich Klarheit zu schaffen, bezwei¬ felte er zugleich die Nützlichkeit des neuen Zolltarifs, weil die vorgesehenen Retorsionsmaßregeln ein zweischneidiges Schwert sein und dem Außenhandel der Monarchie weiteren Schaden verursachen könnten. Der österreichische Ministerpräsident Taaffe ging auf den Zolltarif selbst nicht ein, sondern betonte bloß, die Einbringung eines Gesetzesantrages über die Revision des Zolltarifs sei in der derzeitigen Legislaturperiode des Reichsrats keineswegs mehr möglich, und brachte damit gleichzeitig zum Ausdruck, daß die österreichische Regie¬ rung mit einem neuen Zolltarif, der hohe Getreidezölle vorsah, eigentlich nicht sympathisierte. Kalman Tisza forderte daraufhin mit bei ihm ungewöhnlicher Heftigkeit die sofortige parlamentarische Erledigung. Ein Verzögern würde die internationale Wirtschaftsposition der Monarchie schädigen, weil dies in Deutschland den Eindruck erwecken könnte, Österreich-Ungarn wagte nicht, Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen, ferner würde es der ungarischen Land¬ wirtschaft schaden, weil das durch die Schutzzölle ausgeschlossene Getreide auf die Märkte der Monarchie strömen würde. Eine Verzögerung der Erhöhung der Agrarzölle werde eine stärkere Agitation gegen das gemeinsame Zollgebiet nach sich ziehen, und zudem könne - so die getarnte Drohung - bei einer Vertagung auch die parlamentarische Zustimmung der geplanten und beratenen Industrie¬ zölle nicht garantiert werden. Die sich hinter der Deckung der parlamentari¬ schen Geschäftsordnung verschanzende österreichische Regierung konnten aber weder die Argumente noch die Drohung erschüttern, ihr Ministerpräsident war nicht geneigt, den Reichstag zu einer außerordentlichen Sitzung einzuberu¬ fen, weil - wie er sagte - die Abgeordneten sich schon auf die Neuwahlen konzentrierten. § 14 Grundgesetz könne in gemeinsamen Angelegenheiten nicht angewendet werden, und der ungarische Antrag, zumindest die Agrarzölle im Verordnungsweg in Kraft zu setzen, sei mangels Gegenseitigkeit unbillig. Der gemeinsame Ministerrat konnte somit die Lage letztlich nicht klären, sondern hatte die Gegensätze vielmehr noch verschärft. Die ungarische Regierung mußte die Verschiebung der Parlamentsvorlage des Zolltarifs zur Kenntnis nehmen, und die österreichische Regierung mußte damit rechnen, daß ungarischerseits einzelne bereits vereinbarte Posten des Zolltarifs neuerlich zur Debatte gestellt würden. Der gemeinsame Ministerrat befaßte sich nach den erwähnten Beratungen vom April 1885 und Januar 1886 weder mit dem Zolltarif noch mit dem wirtschaftlichen Ausgleich insgesamt. Obwohl diese Beratungen - wie gesehen - die Lösung der strittigen Fragen nicht viel förderten, lebten im Verlauf der 321 GMR. v. 7.-8. 4. 1885, RMRZ. 321. || || Einleitung 123 Kommissionsberatungen die zehn Jahre früheren heftigen Gegensätze nicht wieder auf. In der Frage des Zolltarifs näherten sich die Standpunkte Öster¬ reichs und Ungarns schon in der Beratung im Juli 1885 unter Vorsitz des gemeinsamen Außenministers einander an,322 und im weiteren kümmerte man sich ungarischerseits weniger um die Industriezölle als um die Beibehaltung bzw. weitere Erhöhung der Agrarzölle. Nach raschen Fortschritten in der Quoten- und Bankangelegenheit durch die Akzeptierung der ungarischen Wünsche konnten die beiden Parlamente schon im Juni 1886 mit der Debatte über den diesbezüglichen Gesetzesantrag beginnen. Die gesetzgebenden Körperschaften verabschiedeten - natürlich nach eingehenden und scharfen Debatten - die Gesetzesanträge über die Verlängerung der Wirtschaftsgemeinschaft auf weitere zehn Jahre, die durch Sanktionierung des Monarchen am 21. Mai 1887 Geset¬ zeskraft erlangten.323 Erneuerung des rumänischen Handelsvertrags im Jahre 1886 / Schon im gemeinsamen Ministerrat im Zusammenhang mit der Inkraftset¬ zung des Zolltarifs im April 1885 verwies - wie bereits erwähnt - der gemeinsa¬ me Außenminister mit tiefer Besorgnis auf die Gestaltung der Außenhandelsbe¬ ziehungen der Monarchie und machte auf die ungünstige Wirkung aufmerksam, die eine weitere Erhöhung der Zollsätze auf die zukünftigen Beziehungen aus¬ üben könnte. Diese Besorgnis war keineswegs unbegründet. Mit dem wichtig¬ sten Außenhandelspartner der Monarchie, mit Deutschland, brach die auf einem Zolltarifvertrag beruhende Beziehung schon 1879 ab, und nach mehrma¬ ligen erfolglosen Verhandlungen gelang es endlich im Jahre 1881, eine auf zehn Jahre befristete Vereinbarung zu treffen, die aber den Vertragspartnern nur die Zollmeistbegünstigung sicherte. Dies bedeutete in der Praxis, daß die Vertrags¬ partner nur ihre Sätze des autonomen Zolltarifs anwendeten und die Waren mit keinerlei zusätzlichen Zöllen belasteten. Ähnliche Verträge besaß die Monarchie mit England, Frankreich und der Schweiz, den Ländern mit ihrem neben Deutschland intensivsten Außenhandel. Eine aus der Zeit des Freihandels stam¬ mende, gegenseitige Zollfreiheit bzw. -begünstigung gewährende, vertragliche Beziehung bestand nur mit drei Ländern: seit 1875 mit Rumänien, seit 1878 mit Italien und schließlich seit 1881 mit Serbien. Von diesen Tarifverträgen lief der mit Rumänien 1886 ab. Der gemeinsame Außenminister machte im gemeinsamen Ministerrat vom 7.-8. April 1885324 darauf und auf die fällige Verlängerung aufmerksam. Die anwesenden Handels¬ minister gaben bekannt, daß sie im Zusammenhang mit der Erneuerung des Handelsabkommens bereits eine Anfrage an die Handelskammern gerichtet hatten - nach Eintreffen der Antworten könne es zur Einberufung der Zoll- und Kalnoky an Kaiser Franz Joseph v. 7. 7. 1885. HHStA., PA. I, Karton 561 Magyar Törvenytär 1887-1888 57-96. 324 Vgl. Anm. 321. || || 124 Einleitung Handelskonferenz kommen. Der gemeinsame Außenminister betonte zwar nicht die Wichtigkeit der Handelsbeziehungen mit Rumänien, doch sein Hin¬ weis, der östliche Nachbar beabsichtige eine Erhöhung der Zollsätze und Eng¬ land versuche, den rumänischen Markt zu erobern, schien anzudeuten, daß er einer Erneuerung des Vertrages doch Bedeutung zumaß. Seine Meinung war angesichts der sich dauernd verschlechternden Außenhandelsbedingungen der 80er Jahre nur allzusehr begründet. Rumänien war kein sehr wichtiger Außen¬ handelspartner der Monarchie. Am jährlichen Export in Höhe von durch¬ schnittlich 700 Millionen Gulden war es mit etwa 8-10 % beteiligt, zum größe¬ ren Teil bestehend aus Industrieartikeln. So nahm es beispielsweise ein Viertel des Exportes der österreichisch-ungarischen Textilindustrie auf. Der in die Monarchie gelieferte rumänische Export setzte sich hauptsächlich aus Getreide und Lebendvieh zusammen, und da die rumänische Außenhandelsbilanz für gewöhnlich passiv war, sicherte auch der in Valuta erfolgende Ausgleich des Bilanzfehlbetrages zahlreiche Vorteile. Diese Art der Außenhandelsbeziehung war natürlich für das industriell höherentwickelte Österreich vorteilhafter. Aber auch für das überwiegend agrarische Ungarn hatte sie nicht nur Nachteile, denn das rumänische Getreide verarbeiteten die ungarischen Mühlen und Brennerei¬ en für den Re- oder Weiterexport, und auch am Export der Textilindustrie waren die siebenbürgischen Spinnereien und Webereien beteiligt. Die Handels¬ beziehungen zwischen der Monarchie und Rumänien waren freilich auch in der Vertragsepoche nicht reibungslos. Rumänischerseits hatte man zum Schutze der heimischen Industrie die österreichisch-ungarischen Waren häufig mit vertrags¬ widrigen Zöllen belastet, Ungarn wiederum sah die Schwierigkeiten des ungari¬ schen Außenhandels im Westen durch den des Einschleppens der orientalischen Rinderpest verdächtigten rumänischen Lebendviehimport verursacht, weshalb die ungarisch-rumänische Grenze für die Lieferungen häufig geschlossen wur¬ de.325 An der Aufrechterhaltung des Vertragsverhältnisses mit Rumänien war auf¬ grund der Zusammensetzung des österreichisch-ungarischen Exportes Öster¬ reich stärker interessiert. Wie unterschiedlich die Bedeutung des Vertrages in Wien und in Budapest beurteilt wurde, erwies sich unter anderem daran, daß man österreichischerseits, dem Antrag des gemeinsamen Außenministers ent¬ sprechend, den Vertrag von 1875 für ein Jahr verlängern wollte, während Ungarn erst nach Beginn der Verhandlungen über den neuen Vertrag und nur nach der Ausarbeitung des neuen österreichisch-ungarischen Zolltarifs dazu bereit war. Der zusätzliche Einwand im ungarischen Ministerrat, ein Vertrag mit Rumänien lohnte sich nur dann, wenn dieses die Einhaltung der Vereinba¬ rungen garantiere, wurde schließlich aufgegeben, weil ein nicht völlig eingehalte¬ ner guter Vertrag vorteilhafter sei als ein vertragsloser Zustand,326 aber diese notgedrungene Zustimmung bot für den Abschluß des neuen Vertrags keines- 325 Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 69-79. 326 29!MT. Ung.MR. v. 15. 5. 1885. 1. Über den mit Rumänien bezüglich der Regelung verschiede¬ ner Verhältnisse zu schließenden Vertrag, OL., K. 27, Karton 39. || || Einleitung 125 wegs entsprechende Garantien. Es schien zweckmäßig, die ungewisse ungarische Bereitschaft durch die Pfeiler der Interessen der Gesamtmonarchie und Öster¬ reichs zu verstärken. Dies aber konnte nur im gemeinsamen Ministerrat erreicht werden. In der Praxis des gemeinsamen Ministerrates war es nicht außergewöhnlich sich mit Handelsverträgen zu beschäftigen. In der nahen Vergangenheit im Laufe der Jahre 1879-1880, hatte er wiederholt über die mit Serbien bzw.'mit Deutschland abzuschheßenden Handelsverträge beraten.327 Damals wurde das Hauptaugenmerk auf die Abstimmung der Standpunkte gelegt. In den beiden gemeinsamen Ministerräten vom 7. und 8. Januar 1886, die sich mit der Angele¬ genheit des rumänischen Handelsvertrags befaßten,328 dominierte sozusagen der Uberredungscharakter. Der gemeinsame Außenminister Kälnoky sprach von er ungünstigen politischen Wirkung eines Abbruches des Vertragsverhältnis- ses wobei d^ser für die Monarchie nachteiliger wäre als für Rumänien, und deshalb wünsche er sich eine Verhandlungsposition, die das Zustandekommen einer Vereinbarung ermöglicht. Auch der österreichische Ministerpräsident l aaffe warnte vor einem vertragslosen Zustand, dessen Nachteile der österrei- chische Handelsmimster Pmo mit konkreten Daten, unter Hinweis auf den jährlichen Export von 60 Millionen Gulden veranschaulichte. Selbst der am zweiten Tag präsidierende Herrscher äußerte, daß sich wichtige Interessen der österreichischen Reichshälfte an den Abschluß des Handelsvertrages mit Rumä¬ nien knüpften. Die konzentrierte Überredung schien nicht wirkungslos zu blei- ben. Der ungarische Handelsminister Szechenyi erklärte bereits in der ersten Phase der Beratung, die ungarische Regierung sei sich dessen bewußt, daß sie im Interesse des Abschlusses eines befriedigenden Vertrags Opfer bringen müs¬ se, und am folgenden Tag erklärte der ungarische Ministerpräsident Tisza sogar, der abzuschheßende Vertrag sei - wenn auch nur in geringerem Maße - auch für Ungarn wertvoll. Als hingegen vom neuralgischen Punkt der Bezie¬ hung zu Rumänien, der Vetermärsperre, die Rede war, zeigte sich bald die Grenze der ungarischen Nachgiebigkeit - hier gedachte die ungarische Regie¬ rung ihren Standpunkt nicht zu ändern. Obwohl man sich daher schon am ersten Tag geeinigt hatte, die Zoll- und Handelskonferenz baldigst zur Vorberei¬ tung des Vertrages einzuberufen, konnte man an das Zustandekommen des Vertrags keine großen Hoffnungen knüpfen. Auf die Vorarbeiten und die bald beginnenden österreichisch-ungarisch- rumamschen Verhandlungen kam der gemeinsame Ministerrat nicht wieder ergänzen ist' daß die Verhandlungen mit Rumänien zu keinem Erfolg führten und das Vertragsverhältnis zwischen den beiden Staaten im Sommer 1886 abgebrochen wurde. Das lag einmal am starren Verhalten Un¬ garns im Vetermarwesen, aber zumindest ebenso am zunehmenden rumäni¬ schen Protektionismus, der von einem Ausschluß der österreichisch-ungari- 327 GMR. v. 22. 4. 1879, RMRZ. 233, HHStA., PA. XL Karton 2C - GMR. v. 11., 12. und 13. 4. 1880, HHStA., PA. XL, Karton 292. 328 GMR. v. 7. bzw. 8. 1. 1886, RMRZ. 329 bzw. 330. || || 126 Einleitung sehen Waren das Aufblühen der heimischen Fabrikindustrie erwartete. Der sehr bald einsetzende Zollkrieg, im Laufe dessen die Warenartikel gegenseitig mit Retorsionszöllen belastet wurden, senkte den Warenaustausch beider Länder erheblich, und den Schaden mußte - wie Kälnoky prophezeit hatte - die Monar¬ chie tragen. Das Aufblühen der rumänischen Fabrikindustrie blieb allerdings auch aus, denn den Anteil der österreichisch-ungarischen Industrieartikel über¬ nahmen englische Waren. Für die Monarchie dürfte es aber nur ein schwacher Trost gewesen sein, daß auch ihr einstiger Partner nicht auf seine Rechnung kam.329 Rückkehr zum Zolltarifsystem Der zwischen der Monarchie und Rumänien 1886 begonnene Zollkrieg war in den internationalen Wirschaftsbeziehungen der 80er Jahre nicht außerge¬ wöhnlich. Ähnliches spielte sich zwischen zahlreichen europäischen Ländern ab, am heftigsten zwischen Deutschland und Rußland. Aber selbst die Vereinigten Staaten ließen eine Verschlechterung ihrer Beziehungen zu den meisten europäi¬ schen Ländern zu. Die schärfste Waffe des Zollkrieges, die Anwendung des Systems der Retorsionszölle, diente einem Doppelziel: einerseits dem Schutz des heimischen Marktes und dadurch der Förderung der Produktion, andererseits der Niederzwingung der Außenhandelspartner. Die Anhänger des autonomen Zolltarifs und des Systems der Retorsionszölle behaupteten in jedem Land, die Bedingungen in wenigen Jahren selbst bestimmen zu können, was sich jedoch nirgendwo bewahrheitete. Kein einziges Land entschloß sich, einseitig die Waf¬ fen zu strecken, und die Folge des weltweiten Zollkrieges war eine überall nachweisbare Stockung und Verlangsamung von Außenhandel ebenso wie Produktion. Davon bildete auch Deutschland mit seiner außerordentlich dyna¬ mischen Volkswirtschaft keine Ausnahme. Als Folge der ungünstigen Erfahrun¬ gen verstärkte sich die Kritik am Protektionismus überall, und am Ende des Jahrzehnts war auch Deutschland, der Initiator des Zollkriegssystems, immer mehr zur Rückkehr zum Zolltarifsystem geneigt. Die Stockungen im internationalen Handel verursachten der Monarchie für den ersten Augenblick keine unlösbaren Schwierigkeiten. Wohl erwirtschaftete Ungarn mehr als 30% des Nationaleinkommens durch den Außenhandel, und dieser spielte in der Volkswirtschaft Österreichs eine überdurchschnittlich große Rolle. Der Außenhandelsverkehr beider Reichshälften wickelte sich aber über¬ wiegend im gemeinsamen Zollgebiet ab. Drei Viertel des ungarischen Exports waren nach Österreich und mehr als die Hälfte des österreichischen Exports war nach Ungarn gerichtet, weshalb der Außenhandel ins Zollausland unter der durchschnittlichen europäischen Exportquote von etwa 10% blieb. Die Monar¬ chie war nach Feststellung der neueren ungarischen Wirtschaftsgeschichte nach wie vor die autarke Reichsregion Europas.330 Auf längere Sicht litt aber auch 329 Bindreiter, Die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen 252-263. 330 Berend-Ränki, Europa gazdasäga a XIX. szäzadban 359-360. || || Einleitung 127 sie unter der protektionistischen Wirtschaftspolitik und ihren ungünstigen Fol¬ gen. Die Preissteigerungen infolge der Schutzzölle engten die Aufnahmefähig¬ keit des Binnenmarktes ein, und der Ausschluß der Konkurrenz bewirkte eine Konservierung der veralteten Technik. Dies verlangsamte den Anschlußprozeß an die entwickelten europäischen Regionen, der nach dem Ausgleich von 1867 mit verheißungsvoller Schnelligkeit eingesetzt hatte.331 Die Lenker der Wirt¬ schaftspolitik konnten diese entfernten Folgen nicht sehen, sie nahmen aber wahr, daß die dynamische Entwicklung des Außenhandels auch für die Monar¬ chie beendet war. Der Außenhandelsverkehr der Monarchie erhöhte sich von durchschnittlich 400 Millionen Gulden in den Jahren 1866-1870 auf 650 Millio- nen in den Jahren 1876-1880, also um mehr als 50%, während er in der Zeit von 1881-1885 nur 720 Millionen erreichte, also weit geringer anstieg, und dann in der nächsten Fünfjahresperiode mit 724 Millionen pro Jahr auf dem gleichen Niveau bheb.332 Die Stagnation bezog sich auf den Agrar- ebenso wie auf den Industrieexport. Diese Zahlen waren überzeugend genug dazu, daß zu einer Zeit, als in der europäischen Außenhandelspolitik die Zeichen einer Entspan¬ nung sichtbar wurden, auch die Monarchie die Rückkehr zu der auf Tarifverträ¬ gen beruhenden Handelspolitik einleite. Mit dem wichtigsten Außenhandels¬ partner, mit Deutschland, wurde im Mai 1891 die Vereinbarung paraphiert die Industrie- und Agrarzollsätze gegenseitig um 20-30% zu ermäßigen. Mit Italien wurde der auf gegenseitiger Zollbegünstigung beruhende Vertrag schon 1887 erneuert, und nach dem Vertrag mit Deutschland kamen auch mit der Schweiz und mit Belgien Vereinbarungen zustande. In diese Reihe fügte sich auch das Abkommen mit Serbien im August 1892 ein, das für beide Länder die früheren Zollbegünstigungen garantierte. Im Laufe der Vorbereitung dieser Verträge wurde zwecks Absprache der Standpunkte der österreichischen und der ungarischen Regierung der gemeinsa¬ me Ministerrat kein einziges Mal einberufen. Denn daß statt der Retorsionszoll- politik vertragliche Beziehungen vorteilhafter seien und man sich um Tarifver¬ träge bemühen mußte, war beiden Regierungen deutlich. Letzteres stand im Beschluß der ungarischen Ministerratssitzung vom 18. April 1890,333 und ähn¬ lich äußerte sich auch die österreichische Regierung bei den Verhandlungen zwischen den Regierungen. Im Detail wichen die Auffassungen freilich nach wie vorvonemander ab. Die ungarische Regierung legte den Nachdruck auf eine Mäßigung der Zollsätze für den Agrarexport,334 die österreichische Regierung wollte die der Industrieartikel herabsetzen; die ungarische Regierung wollte vor allem mit Deutschland, ihrem bedeutendsten agrarischen Absatzmarkt, einen Vertrag abschließen, die österreichische Regierung maß den Beziehungen zu Serbien und der Wiederherstellung des Vertragsverhältnisses mit Rumänien eine 332 ^0SS' ^'e Stellung der Habsburgermonarchie in der Weltwirtschaft 24-25. Lang, Vämpolitika az utolsö szäz esztendöben 323-324. f2/AfJ. Ung.MR. v. 18. 4. 1890. 7. In Angelegenheit der 1891 ablaufenden Handelsverträge OL., K. 27, Karton 48. 334 45/MT. Ung.MR. v. 12.11.1890. 1. Über die mit Fremdstaaten bestehenden Zoll-und Handels¬ verhaltnisse, OL., K. 27, Karton 48. || || 128 Einleitung zumindest gleiche Bedeutung zu.335 Als sich im Laufe der Verhandlungen in der Zoll- und Handelskonferenz herausstellte, daß die österreichische Regierung den Vertragsabschluß mit Deutschland und Rumänien synchronisieren wollte, beantragte die ungarische Regierung die Einberufung des gemeinsamen Mini¬ sterrates.336 Die Gegensätze konnten aber auch ohne Mitwirkung des höchsten Regierungsforums gelöst werden. Der rumänische Handelsvertrag vom Jahre 1893 Zur Einberufung des gemeinsamen Ministerrates kam es dennoch in der Angelegenheit des rumänischen Vertrags, aber um vieles später und in einem durchaus anderen Zusammenhang. Die rumänische Regierung, die die Ver¬ handlungen zur Erneuerung des Handelsabkommens im Sommer 1886 mit großer Selbstsicherheit unterbrochen hatte, erkundigte sich bereits Anfang 1888 auf vertraulichem Wege beim österreichisch-ungarischen gemeinsamen Außen¬ minister darüber, auf welche Art und Weise zwischen beiden Ländern wieder normale Handelsbeziehungen hergestellt werden könnten. Der gemeinsame Außenminister äußerte sich auf die Anfrage des rumänischen Außenministers in dem Sinne, falls Rumänien den österreichisch-ungarischen Warenartikeln die Meistbegünstigung gewährt, sei die ungarische Regierung bereit, von den Retor¬ sionszöllen auf den rumänischen Waren abzusehen.337 Der ungarische Stand¬ punkt war in dieser Frage kein besonders verheißungsvolles Moment, und als sich der gemeinsame Außenminister neuerlich an die ungarische Regierung wandte, brachte diese wieder ihren alten Wunsch nach dem Abschluß eines Veterinärabkommens vor.338 Infolge des ungarischen Zögerns kam es im Laufe des Jahrzehnts nicht mehr zu Verhandlungen zwischen den Vertretern der Monarchie und Rumäniens. Das Verhältnis zwischen den beiden Ländern änderte sich erst, als Rumänien sich im Juli 1891 bereit erklärte, der Monarchie gegenüber seinen neu erarbeiteten Zolltarif ohne jedwede Beschränkung anzu¬ wenden, worauf auch die ungarische Regierung auf die Kampfzölle gegenüber Rumänien verzichten wollte.339 Die Angelegenheit des Vertrags gelangte in Bewegung, als Rumänien im Laufe des Jahres 1892 der Reihe nach Verträge aufgrund des Prinzips der Meistbegünstigung mit England, Frankreich sowie Italien abschloß und auch mit Deutschland Verhandlungen aufnahm. Letzteres berührte die Monarchie sehr empfindlich, indem die in Aussicht gestellten deutschen Begünstigungen eine Konkurrenz für die Monarchie, namentlich für 336 1IMT. Ung.MR. v. 3. 1. 1891. 8. Über den deutschen Handelsvertrag, OL., K. 26, Karton 48. 337 4jMT. Ung.MR. v. 22. 2.1888. 2. In Angelegenheit einer Regelung der Handelsverhältnisse mit Rumänien, OL., K. 27, Karton 43. ., , „ 338 31/MT. Ung.MR. v. 9. 11. 1889. 13. Uber eine neuerliche Einleitung der Verhandlungen hinsichtlich des mit Rumänien zu schließenden Handelsvertrags, OL., K. 27, Karton 46. 339 32!MT. Ung.MR. v. 27. 7. 1891. 6. Aufhebung der gegenüber Rumänien angewendeten Knegs- zölle, OL., K. 27, Karton 50. || || Einleitung 129 Ungarn bedeuteten, weshalb sich der gemeinsame Außenminister auch gegen das deutsche Vorgehen verwahrte. Der Protest führte allerdings zu keinem Erfolg, und im Oktober 1893 kam der deutsch-rumänische Vertrag auch zustan¬ de. Aber die neue Lage brachte die ungarische Regierung zu einer besseren Einsicht. Sie zeigte sich im Frühjahr 1893 bereit, mit Rumänien einen Vertrag auf der Grundlage der Meistbegünstigung zu schließen.340 Die im Sommer begonnenen Verhandlungen liefen jedoch bei der Frage des Veterinärwesens abermals auf,341 und wieder war es Aufgabe des gemeinsamen Ministerrates, die Angelegenheit in Bewegung zu bringen. In der Beratung vom 22. Oktober 1893342 bezweifelte der ungarische Handels¬ minister Lukäcs den Erfolg der neubegonnenen Verhandlungen, fügte aber hinzu, daß auch die ungarische Regierung Wert auf ein Zustandekommen des Vertrags lege. Zur Überbrückung des Problems des Veterinärwesens möge dem Vertrag eine Erklärung beigefügt werden, daß die ungarische Regierung den Schweineimport aus Rumänien ohne triftigen Grund nicht verhindern werde. Ein „triftiger Grund" konnte laut Auslegung des ungarischen Landwirtschafts¬ ministers Bethlen der Umstand sein, daß auch Deutschland seine Grenzen für die Schweinelieferungen aus Ungarn verschloß oder mit einer Schließung der Grenzen drohte. Die bei der Beratung anwesenden österreichischen Minister hielten diese Formulierung für überaus unklar und bezweifelten, daß die rumä¬ nische Regierung eine derartige Erklärung zur Kenntnis nehmen würde. Bei Besprechung des meritorischen Teiles der Angelegenheit hoben sie die Wichtig¬ keit des Vertrages hervor. Der österreichische Handelsminister Bacquehem machte darauf aufmerksam, die Monarchie habe ihren Export nach Rumänien gerade von 52 Millionen Gulden im Jahre 1890 im Jahre 1891 auf 72 Millionen erhöht. Darauf antworteten die Mitglieder der ungarischen Regierung überra¬ schend und ungewohnt geschmeidig, in der in Angelegenheit des Veterinärwe¬ sens abzugebenden Erklärung solle der auf eine mögliche Schließung der Gren¬ zen hinweisende Teil wegbleiben, so daß sie auch für die rumänische Regierung annehmbar werde. - Die kurz nach dem Beschluß des gemeinsamen Ministerra¬ tes begonnenen Verhandlungen waren sehr bald erfolgreich, und im Dezember 1893 wurde der Vertrag zwischen der Monarchie und Rumänien unterzeichnet, der im Warenverkehr zwischen den beiden Ländern die Meistbegünstigung garantierte. Der russische Handelsvertrag vom Jahre 1894 Der Handelsvertrag mit Rumänien war nicht der einzige Punkt der Tagesord¬ nung des gemeinsamen Ministerrates vom 22. Oktober 1893. Den ersten und größeren Teil der Beratung machte der Gedankenaustausch über den mit Ruß- 340 1?!MT. Ung.MR. v. 12. 5.1893. 2. Über die Regelung der Handelsbeziehungen mit Rumänien, OL., K. 27, Karton 52. 341 28/MT. Ung.MR. v. 22. 7. 1895. 2. In Angelegenheit des rumänischen Handelsvertrags, OL., K. 27, Karton 33. 342 GMR. v. 22. 10. 1893, RMRZ. 382. || || 130 Einleitung land zu schließenden ähnlichen Vertrag aus. Dieser Vertrag und im allgemeinen die Regelung der Handelsbeziehungen zu Rußland hatten keine besondere Vorgeschichte. Rußland zählte nicht zu den Außenhandelspartnern ersten Ran¬ ges. Der Export nach Rußland in Höhe von durchschnittlich 15-20 Millionen Gulden pro Jahr machte 2-3% des Gesamtexportes aus, und die Außenhandels¬ bilanz war infolge des Importes aus Rußland von durchschnittlich 25-30 Millio¬ nen passiv. Vorteilhaft war die Beziehung für die Monarchie, namentlich für Österreich dadurch, daß die Exporte überwiegend aus Industriewaren bestan¬ den. Der Handel zwischen den beiden Ländern war - trotz des Fehlens eines Handelsvertrags - glatt und reibungslos, und auch zur Zeit des Zollkrieges wurden die gegenseitigen Lieferungen nicht mit Retorsionszöllen belegt. Die Monarchie profitierte sozusagen vom Zollkrieg zwischen Rußland und Deutschland, der den österreichisch-ungarischen Warenabsatz zu günstigeren Bedingungen ermöglichte. Die Lage verschlechterte sich für die Monarchie, als Rußland zu Beginn der 90er Jahre einen maximalen und minimalen Zolltarif festsetzte und ankündigte, gegenüber sämtlichen Ländern, mit denen es keine Handelsverträge schließt, den Maximaltarif anzuwenden. Zu solchen Verträgen kam es dann auch, zuerst 1893 mit Frankreich, dann im Februar 1894 mit Deutschland, obwohl die österreichisch-ungarische Seite lange bezweifelte, daß die durch den Zollkrieg vergifteten deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen überhaupt geregelt werden könnten.343 Die Verträge sicherten den Exportarti¬ keln der Partner eine ganze Reihe von Zollbegünstigungen zu, wodurch die Monarchie in eine nachteilige Lage geriet. Die mit Maximalzöllen belasteten österreichisch-ungarischen Waren vermochten mit den begünstigten französi¬ schen und besonders deutschen Waren kaum zu konkurrieren. Die Aufhebung des vertragslosen Zustandes oder - anders formuliert - das Zustandekommen des Vertrags lag also im Interesse der Monarchie. Als daher Rußland, dessen Export nach Österreich-Ungarn größer war, die Initiative ergriff, erhielt es eine positive Antwort. Bevor aber der Vertrag tatsächlich zustande kommen konnte, mußten die österreichischen und ungarischen Gesichtspunkte aufeinander abge¬ stimmt werden. Die Schwierigkeiten ergaben sich ebenso wie beim rumänischen Vertrag daraus, daß der künftige Vertragspartner überwiegend Agrarprodukte expor¬ tierte und die Interessen Österreichs und Ungarns an diesem Vertrag voneinan¬ der abwichen. Dies zeigte sich, als der ungarische Ministerrat am 22. Juli 1893 erwog, die russischen Importwaren wegen der russischen Begünstigungen gegen¬ über anderen Ländern mit einem 30%igen Zusatzzoll zu belasten, und dies nur mit Rücksicht auf die eingeleiteten Verhandlungen nicht zum Beschluß erhob.344 Im Laufe der Verhandlungen stellte sich heraus, daß Rußland für die in die Monarchie gelieferten Agrarexporte eine Sonderbegünstigung forderte. Es 343 22!MT. Ung.MR. v. 10.9.1892.11. Bericht über die deutsch-russischen Handelsverhandlungen, OL., K. 27, Karton 31. 344 28/MT. Ung.MR. v. 22. 7. 1893. 1. Über die Handelsbeziehungen mit Rußland, OL., K. 27 Karton 53. || || Einleitung 131 verlangte von der Monarchie, die Getreidezölle für die Vertragsdauer zu fixieren und sich zu verpflichten, die Serbien gewährte Grenzgebietsbegünstigung, die dem Getreidehandel Zollfreiheit zusicherte, im Falle ihrer Ausdehnung auf andere Länder auch Rußland zu gewähren, und schließlich auch den sonstigen Waren eine Zollbegünstigung zuzuerkennen. Die ungarische Regierung verwei¬ gerte sich diesen Wünschen entschieden und war nur zur Erklärung bereit, daß sie nicht die Absicht habe, die Getreidezölle zu erhöhen und die Serbien gebote¬ ne Begünstigung auch anderen Staaten zu gewähren.345 Die österreichische Regierung war bereit nachzugeben und hielt die russischen Wünsche sowohl auf eine Ausdehnung der Serbien gewährten Begünstigung als auch auf Fixierung der Getreidezölle für erfüllbar. Die Überbrückung dieser Gegensätze zwischen den beiden Regierungen war nun die Aufgabe des gemeinsamen Ministerrates. In der Beratung vom 22. Oktober 1893 gelang dies auch zum Teil.346 Der ungarische Handelsminister Lukäcs erklärte, abweichend vom früheren Be¬ schluß des ungarischen Ministerrates, da auch die ungarische Regierung Ge¬ wicht auf das Zustandekommen des russischen Vertrags lege, wolle sie die Erklärung im Zusammenhang mit den Begünstigungen des serbischen Grenz¬ verkehrs abgeben, verlangte aber, daß die österreichische Regierung die den russischen Getreidelieferungen gewährten österreichischen Eisenbahnbegünsti¬ gungen überprüfe, weil es mit dem Zoll- und Handelsbündnis unvereinbar sei, daß das russische Getreide auf den österreichischen Eisenbahnen größere Be¬ günstigungen genieße als die gleichen ungarischen Lieferungen. Durch die Zustimmung des österreichischen Handelsministers Bacquehem konnte der eine Gegensatz zwischen den beiden Regierungen gelöst werden. Bei der Bindung der Getreidezölle kam aber auch im gemeinsamen Ministerrat zwischen den beiden Regierungen keine Annäherung zustande. Der ungarische Handelsminister ver¬ wies darauf, daß Ungarn - obzwar der ungarische Export nach Rußland kaum eine halbe Million Gulden ausmachte -- keine Opfer für ein Zustandekommen des Vertrages bringen könne. Der österreichische Handelsminister erkannte zwar an, daß der Vertrag auch die österreichischen Agrarinteressen berührte, erklärte aber, die Gewährung der Begünstigung sei notwendig, um der Monar¬ chie die sonstigen Vorteile des russischen Vertrags zu sichern. Schließlich einigte man sich darauf, dem russischen Verhandlungspartner mitzuteilen, daß eine Bindung der Getreidezölle aus parlamentarischen Rücksichten wohl nicht mög¬ lich sein werde, die Monarchie aber nicht die Absicht habe, diese zu erhöhen. Wie erwartet, war die russische Regierung mit der in der Frage der Getreide¬ zölle erhaltenen Antwort nicht zufrieden und hielt nach wie vor an ihrem ursprünglichen Standpunkt fest, ja brachte nun sogar auch eine Ermäßigung des Roggenzolles zur Sprache. Die ungarische Regierung gab nach und erklärte sich zu einer Bindung der Getreidezölle für den Fall bereit, daß dies die russische Regierung mit der Fixierung der Zölle gewisser Importartikel erwiderte, wollte 31/MT. Ung.MR. v. 13. 9. 1893. 5. Über die Verhandlungen bezüglich des russischen Handels¬ vertrags, OL., K. 27, Karton 53. 346 Vgl. Anm. 342. || || 132 Einleitung aber von einer Ermäßigung des Roggenzolles weiterhin nichts hören.347 Da aber die österreichische Regierung beide russische Propositionen auch jetzt für ak¬ zeptabel hielt, mußte wiederum der gemeinsame Ministerrat zur Abstimmung der gegensätzlichen Standpunkte einberufen werden. In der Beratung vom 4. März 1894348 verlangte der sich bis dahin als bloßer äußerer Beobachter verhal¬ tende gemeinsame Außenminister mit triftigen Argumenten die Abstimmung der Ansichten und den tunlichst baldigen Abschluß des Vertrages. Nachdem Deutschland seine Handelsbeziehungen zu Rußland geregelt hatte, müsse ein möglicher Zollkrieg zwischen der Monarchie und Rußland nicht allein schwere wirtschaftliche Folgen haben, sondern werde die Monarchie auch politisch in eine ungünstige Lage bringen. Die Mitglieder der beiden Regierungen, nament¬ lich die ungarischen Minister, ließen sich jedoch von den Argumenten der hohen Politik nicht beeinflussen und betonten immerfort ihre eigenen wirtschaftlichen Argumente. Den Hinweis der ungarischen Minister, daß eine Ermäßigung des Roggenzolles und dadurch die russische Konkurrenz die ungarischen Produzen¬ ten in eine ungünstige Lage bringen würde, konterkarierten die österreichischen Minister damit, daß es nun an der Zeit sei, auch im Interesse der Industrie etwas zu tun. Der Konsens kam schließlich so zustande, daß die Mitglieder der ungarischen Regierung einer Festlegung der Getreidezölle zustimmten und die österreichischen Minister den ungarischen Standpunkt akzeptierten, einer Her¬ absetzung des Roggenzolles nicht zuzustimmen. Diese Vereinbarung wurde von Kälnoky auch als Beschluß des gemeinsamen Ministerrates formuliert. - Diese Stellungnahme des gemeinsamen Ministerrates erwies sich auch für die russische Regierung als annehmbar, dementsprechend kam es im Mai 1894 zur Unterfer¬ tigung des Handelsvertrages zwischen den beiden Ländern. VI. Die staatsrechtlichen Fragen Vor den gemeinsamen Ministerrat gelangten im Zusammenhang mit konkreten Angelegenheiten häufig Fragen staatsrechtlichen Charakters und führten stets zu einem eingehenden Gedankenaustausch über das österreichisch-ungarische staatsrechtliche Verhältnis, so z. B. bei der Frage der gemeinsamen Aktiven, deren Inanspruchnahme zur Deckung außerordentlicher militärischer Ausga¬ ben ungarischerseits für möglich gehalten, von österreichischer Seiteaßef abge¬ lehnt wurdeTöder der Verwendbarkeit des gemeinsamen Büägets zur Aufstel¬ lung der ungarischen Landsturm-Reiterschwadronen,3?rraber auch schon gele¬ gentlich der Verlängerung des Wehrgesetzes, als der Monarch Einspruch gegen den im Entwurf genannten Ausdruck "beide Staatsgebiete" erhob.350 Diese~äüf 347 45IMT. Ung.MR. v. 30. 12. 1893. 10. In Angelegenheit des russischen Handelsvertrages, OL., K. 27, Karton 53. 348 GMR. v. 4. 3. 1894. RMRZ. 383. || || Einleitung 133 abweichenden Auslegungen beruhenden Meinungsverschiedenheiten erschwer- ten, ja verhinderten mehr als einmal die Herausbildung eines gemeinsamen Standpunktes und dadurch die Erledigung der besprochenen konkreten Angele¬ genheit. Das Kriegsleistungsgesetz verzögerte sich darum jahrelang, weil sich die beiden Regierungen hichf einigen konnten, ob die Entschädigungskommission im Rahmen des gemeinsamen Kriegsministeriums oder der beiden Ministerien für Landesverteidigung fungieren sollte;,351 und das Pferdestellungsgesetz"schei¬ terte lange Zeit daran, daß die ungarische Regierung bei der Feststellung der Pferdezahl die Zuständigkeit der Organe des gemeinsamen Kriegsministeriums „PK'ht anerkannte.352 Es gab aber auch Fälle, daß die staatsrechtliche Beziehung jucht im Zusammenhang mit irgendeiner konkreten Angelegenheit vor den gemeinsamen Ministerrat kam, sondern als solche einer Klärung bedurfte. Im folgenden wird ein Überblick über diese FälTegebotenT''' -- Der Aufenthalt bosnisch-herzegowinischer Truppenkörper in Ungarn Für die besetzten Provinzen trat am 4. November 1881 ein provisorisches Wehrgesetz in Kraft, das nach dem Muster des in der Monarchie gültigen Wehrgesetzes auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhte.353 In der Vorbereitungs¬ periode des Wehrgesetzes machten der gemeinsame Außenminister Haymerle und auch die beiden Ministerpräsidenten darauf aufmerksam, daß die Einfüh¬ rung der allgemeinen Wehrpflicht in diesen Provinzen mit ihren spezifischen Verhältnissen unberechenbare Folgen haben könnte354 -- eine Besorgnis, die sich als begründet erwies. Infolge der beginnenden Assentierungen brach in der Herzegowina und im südlichen Teil Dalmatiens ein Aufstand aus, und schon kaum zwei Monate nach Inkrafttreten des Wehrgesetzes mußte sich eine Konfe¬ renz unter Vorsitz des Monarchen mit Maßnahmen zur Unterdrückung des Aufstandes beschäftigen.355 Die Pazifizierung gelang schließlich durch die Inan¬ spruchnahme eines Spezialkredits356 und die Verdreifachung der Truppen im April .1882.357 Die ganze Aktion glich sozusagen einer zweiten Okkupation und stellte eine zu beherzigende Mahnung dar. Die Heeresleitung aber, die den Personalstand der Armee um jeden Preis erhöhen wollte, hielt nach wie vor an der Durchführung des Wehrgesetzes in den besetzten Provinzen fest. Im Laufe der Durchführung des Wehrgesetzes wurden aus den bosnisch- 351 Vgl. Anm. (jÖ) 352 Vgl. Anm. mL 353 Sosnosky, Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns Bd 2 33 354 GMR. v. 6. 1. 1881, RMRZ. 276, HHStA., PA. XL, Karton 292. Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 30. 12. 1881 stattgehabte Konferenz betreffend die Verhältnisse in Süddalmatien und die Maßregeln zur Durchführung des provisorischen Wehrgesetzes für Bosnien und die Herzegowina, KA„ MKSM. 65-1/1-2 ex 1882. 356 GMR. v. 25. 2. 1882, RMRZ. 294, HHStA., PA. XL, Karton 293. 7 Sosnosky, Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns, Bd. 2, 36. || || 134 Einleitung herzegowinischen Stellungspflichtigen selbständige Bataillone gebildet, die aus¬ nahmslos in den besetzten Provinzen stationiert wurden. Obwohl sich die Assen¬ tierung und Einberufung nicht auf sämtliche Wehrpflichtige bezog, hatte der Anteil der unter Waffen stehenden und militärisch ausgebildeten männlichen Bevölkerung um die Mitte der 80er Jahre schon einen ansehnlichen Stand erreicht. Aufgrund der Erfahrungen von 1882 war eine so große Zahl von Reservisten und Stellungspflichtigen in Bosnien-Herzegowina mit einem gewis¬ sen Risiko verbunden, weshalb es zweckmäßig erschien, zumindest die letzteren in andere Gebiete der Monarchie zu verlegen, was im Falle Österreichs auch unproblematisch war. In Ungarn war jedoch immer noch ein Gesetz von 1608 in Kraft, das den Aufenthalt fremder Truppen im Landesgebiet verbot.358 Dieses Hindernis war zwar auf gesetzgeberischem Wege zu beseitigen, doch mußte die Regierung in diesem Fall mit einer Debatte über die okkupierten Provinzen rechnen, was sie angesichts der kritischen Periode im Jahre 1878 nicht wünschte. Diesen Standpunkt teilte auch die österreichische Regierung. Im Sinne des Gesetzes vom 22. Februar 1880359 hätte sie dem Reichsrat nämlich einen ähnli¬ chen Gesetzesantrag unterbreiten müssen, und in der bosnischen Frage mußte sie mit Schwierigkeiten rechnen. Das Gesetz in irgendeiner Weise zu umgehen, wollte mit Rücksicht auf die ungarische oppositionelle Presse keine Regierung riskieren. Das Dilemma zwischen der politischen Notwendigkeit und dem jstaatsrecht müßte aber irgendwie gelost werden. ~Die Initiative ging vom gemeinsamen Finanzminister aus, der mit der Zivil¬ verwaltung der besetzten Provinzen beauftragt war. Im Frühjahr 1886 erhielten beide Regierungen eine Note unter anderem des Inhalts, daß die immer raschere Inanspruchnahme der männlichen Bevölkerung der besetzten Provinzen eine unverzügliche Lösung des Problems erfordere. Zu dieser Note gab in-dej; Sit¬ zung des ungarischen Ministerrats vom 26. Juni 1886 Justizminister^Fabimä ein ausführliches Staatsrechtliches Gutachten mit der Konklusion, es gebe kein Gesetz, das eine Unterbringung der bosnischen Truppen* auf dem Gebiet der yfficfer der ungarfschen Kröne zulassen würde. Der Ministerrat machte sich die Ansicht seines Justizministers zu eigen und erhob zum Beschluß, daß die Trup¬ pen der besetzten Provinzen ohne' Beauftragung durch den Gesetzgeber nicht ins Gebiet der Länder der ungarischen Krone verlegt werden könnten.3" Nach dieser Vorgeschichte gelangte die Angelegenheit am 26. September 1886 vor den gemeinsamen Ministerrat, und natürlich bestand keinerlei ^ Chance für eine positive Lösung, ja es kam nicht einmal zu einer Sachdebatte. Der ungarische Ministerpräsident erklärte, daß er die Wichtigkeit einer Lösung wohl einsehe, aber eine parlamentarische Erörterung -- mit Rücksicht auf zu erwartende Der betreffende Teil des Gesetzartikels II vom Jahre 1608 lautet wie folgt: „Daher wurde beschlossen, daß Seine Majestät der König ... ohne vorherige Kenntnis und Zustimmung des Landes in Ungarn und in dessen angegliederten Teilen weder einen Krieg beginne, noch dahin ausländisches Militär bringe." Magyar Törvenytär 1606-16S7 11 359 RGBl, Nr. 18/1880. 20/MT. Ung.MR. v. 26. 6. 1886. 1. Über die Frage der Unterbringung bosnischer und herzego- winischer Truppen auf dem Gebiet der Länder der Ungarischen Krone, OL., K. 27, Karton 4L || || Einleitung 135 Schwierigkeiten - nicht für zweckmäßig halte. Falls sich aber eine dringende Notwendigkeit ergeben würde'; konnte gewiß' auch ein Ausweg gefunden wer¬ den.361 Die Angelegenheit wurde nach über dreijähriger Pause wieder zum Thema, abermals auf Initiative des gemeinsamen Piriänzministers. Beni Källay richtete eine Note an den gemeinsamen Außenminister, der, bevor "er den Antrag vor den gemeinsamen Ministerrat brachte, das Gutachten der ungarischen Regie¬ rung einholte, das allerdings nichts Neues enthielt.362 Im gemeinsamen Minister¬ rat vom 28. April 1890, dessen eigentliche Tagesordnung die Erörterung des Jahresbudgets war, wurden sowohl die politischen als auch die staatsrechtlichen Bezüge des Problems angesprochen. Der gemeinsame Außenminister und der gemeinsame Finanzminister verwiesen auf die außenpolitischen Zusammenhän¬ ge und die zu erwartenden bosnischen Schwierigkeiten und drängten auf mög¬ lichst baldige Erledigung, die beiden Ministerpräsidenten aber betonten die mit der Regelung verbundenen parlamentarischen Schwierigkeiten. Von den ver¬ schiedenen Überbrückungsvorschlägen würde keiner akzeptiert, so daß der durch den fruchtlosen Gedankenaustausch ermüdete österreichische Finanzmi¬ nister schließlich sogar die Notwendigkeit der bosnischen Truppen in Frage stellte. Kälnoky konnte nichts anderes tun, als die Wichtigkeit einer baldigen Vereinbarung zu betonen und die Beratung zu schließen.363 Die Einigung kam unerwartet rasch zustande, indem der ungarische Mini- sterpräsident Szapäry im gemeinsamen Ministerrat vom 5. Mai 1890 erklärte, daß die ungarische Regierung dem Parlament ein Gesetz vorlegen wolle, das die Stationierung bosnischer Truppen in Ungarn ermögliche.364 Warum und auf- gruna welcher Überlegungen die ungarische Regierung ihren fünfjährigen Wi¬ derstand aufgab, darüber geben die Protokolle des ungarischen Ministerrates keine Auskunft. Jedenfalls legte der ungarische Ministerpräsident den Entwurf des Gesetzesantrages schon am 21. September 1890 dem Ministerrat vor, der ihn - mit wenigen Änderungen - akzeptierte.365~Eme Schwierigkeit ergab sich nur aus der Beanstandung des Monarchen, daß im Gesetzestext auch die Zustimmung der Regierung vorkam.366 Schließlich nahm er aber den ursprüngli¬ chen Entwurf an. Der Gesetzesantrag wurde vom ungarischen Parlament verab¬ schiedet und trat am 28. März 1891 als Gesetzartikel VIII des Jahres 1891 in Kraft.367 -- -- 361 GMR. v. 26. 9. 1886. RMRZ. 332. 28/MT. Ung.MR. v. 24. 10.1889. 1. Über die Steigerung der Wehrkraft der besetzten Provinzen und die Unterbringung der bosnisch-herzegowinischen Truppen auf dem Gebiet der Monarchie OL., K. 27, Karton 46. 363 GMR. v. 28. 4. 1890, RMRZ. 364. 364 GMR. v. 4. 5. 1890, RMRZ. 366. 34/MT. Ung.MR. v. 21. 9. 1890. 3. Gesetzentwurf über das Hereinbringen bosnisch-herzegowi- nischer Truppen nach Ungarn, OL., K. 27, Karton 46. 366 43/MT. Ung.MR. v. 6. 11. 1890. In Angelegenheit des Gesetzentwurfes über das Hereinbringen der bosnischen und herzegowinischen Truppen nach Ungarn, OL., K. 27, Karton 48. 367 Magyar Törvenytär 1889-1891 388. || || 136 Einleitung j/ D'e Bezeichnung der vertragschließenden Partner in den internationalen Verträgen Den Gebrauch des Titels des Herrschers und der Bezeichnung der Monarchie in internationalen Verträgen regelte das an den Reichskanzler gerichtete aller¬ höchste Handschreiben vom 14. November 1868. Der Herrscher verfügte, daß sein Titel in der Form „Kaiser von Österreich, König vom Böhmen etc. und apostolischer König von Ungarn" und verkürzt als „Kaiser von Österreich und apostolischer König von Ungarn" und zur Bezeichnung der Gesamtheit der unter seiner Herrschaft stehenden Länder entweder „österreichisch-ungarische Monarchie" oder „österreichisch-ungarisches Reich" verwendet werde.368 Die neue Bezeichnung der Monarchie stammte vom damaligen ungarischen Mini¬ sterpräsidenten Andrässy, der in seinem Vortrag an den Monarchen vom 10. Juli 1868 allein die obigen beiden Ausdrücke als zutreffende Bezeichnungen der durch den Ausgleich vom Jahr 1867 entstandenen staatsrechtlichen Einrichtung erachtete, weil sie den Begriff des gesamten Reiches und die konstitutionelle · Selbständigkeit seiner feile in gleicher Weise kenntlich machten. Dementspre¬ chend wies Andrässy den Ausdruck „Österreich und Ungarn" zurück, hielt aber in solchen Fällen, wo die'Heiden Reichshälfteri („die im Reichsrat vertretenen Länder" und „die Länder der ungarischen Krone") nicht mit genauem Namen genannt werden, die Bezeichnung(",bdde^raatsgebiete'ider österreichisch-unga- rischen Monarchie" für zulässig,369 Der Herrscher näherte sich damit, daß er den von Andrässy vorgeschlagenen Ausdrücken zustimmte, der ungarischen staats¬ rechtlichen Auffassung und machte andererseits damit, daß er in seinem Hand¬ schreiben den Ausdruck die „beiden Staatsgebiete" fort ließ, dem österreichi¬ schen Standpunkt ein Zugeständnis, Das Handschreiben des Herrschers känn somit als Kompromiß zwischen der ungarischen dualistischen und der österrei¬ chischen zentralistischen Auffassung betrachtet werden, wobei aber den ungari- /u sche Standpunkt stärker zur Geltung kam. Von 1868 an wurde soiür auf ungarischen Wunsch die Bezeichnung „österreichisch-ungarisches Reich" fort- gelassen. C Die Regelung des Herrs-chertitels und der Bezeichnung der Monarchie im obigen Sinne hatte auclfzweiichwache Punkte. Der eine war der Kompromi߬ charakter selbst. Die gleichzeitige Durchsetzung der österreichischen und der ungarischen staatsrechtlichen Auffassung setzte nämlich einen gewissen politi¬ schen Konsens voraus, vom dem sie abhängigjKar. Der Kompromiß konnte nur in Geltung bleiben, solange der politische Konsens bestand. Der andere schwa¬ che Punkt ergab sich daraus, daß die Regelung nicht vollständig war, sich nicht aBf alle möglichen Fälle erstreckte. Die Monarchie bzw(die sie bildenden beiden Staaten konnten nämliclT infolge der im Ausgleich erfolgten Regelung in den 368 Den Text des Ah. Handschreibens siehe: Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze 33. - Ungarisch siehe: Deäk Ferenc beszedei 1868-1873 82-83. 369 Promemoria des kgl. ung. Ministerpräsidenten Grafen Andrässy über die Titelfrage v. 10. 7. 1868, HHStA., PA. I, Karton 630. - Über das Entstehen der Denkschrift sowie des Handschrei¬ bens des Monarchen siehe: Wertheimer, Graf Julius Andrässy Bd. 1, 412-442. || || Einteilung 137 , unterschiedlichsten Weisen zum internationalen Rechtssubjekt werden, je nach dem, ob sie in gemeinsamen bzw. gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten oder in von den beidenJStaaten selbständig zu behandelnden Fragen Verträge schlossen. Die Formeln „Kaiser von Österreich und apostolischer König von Ungarn" und „österreichisch-ungarische Monarchie" galten nämlich nur für den ersteren Fall, also für Verträge ausgesprochen außenpolitischen Charakters Dann waren der Herrscher selbst (unter obigem Titel) bzw. die österreichisch- ungarische Monarchie die vertragschließenden Partner, und als Unterzeichner tungierte der gemeinsame Außenminister (oder jemand anderes) im Namen des Monarchen bzw. als Beauftragter der österreichisch-ungarischen Monarchie In d£n anderen beiden Fällen war obige Formel nicht so eindeutig anwendbar weshalb das gemeinsame Außenministerium, das sowohl die gemeinsam zu behandelnden alsjuch die einzelne Staatsgebiete betreffenden Vertragsschlüsse abwickelte,eme fecht ifigönsequen^ Praxis ausgearbeitet hatte. Auch bei sol¬ chen Vertragen und Abkommen figurierten zumeist der Herrscher bzw. die österreichisch-ungarische Monarchie als Vertragspartner, und die Unterzeich- n|Un®i.er'°^te e^enso zununst im Namen des Monarchen bzw. der österrei¬ chisch-ungarischen Monarchie(Daneben kamen als Vertragsparteien auch vor: Österreich-Ungarn, die k. u. k. österf.-ungar. Regierung, "die Regierung Sr. Majestät des Kaisers von Österreich und Apost. Königs von Ungarn, les Gou¬ vernements de l'Autriche et de la Hongrie und sogar die k. k. österreichische Regierung. DieUnterzeichnung erfolgte häufig ohne Übereinstimmung mit der Benennung der Vertragspartei durch die Formel „pour l'Autriche" und~~pour Jl"0"?1®"- Im internationalen Postvertrag von 18781UiTzuhi'Beispiel Oster- rei£p-Ungarn die vertragschließende Partei, unterzeichnet wurde er gesondert im Narpen Österreichs bzw. Ungarns; in dem Handelsvertrag mit Deutschland vom Jahre 1880 figurierten „die k. u. k. österr.-ungar. Regierung" als Vertrags¬ partei und der Beauftragte der Monarchie als Unterzeichner; bei der Ergänzung des internationalen Eisenbahnfrachtvertrags J 893 waren die Regierungen von Österreich und Ungarn die vertragschließenden Parteien, und auch die Unter¬ zeichnung erfolgte für Österreich und Ungarn getrennt.370 Diese inkonseqliente, h weder d('r österreichischen noch der ungarischen staatsrechtlichen Auffassung , entsprechende Praxis fieljeichlich zwei Jahrzehnte lang niemandem auf und : keine der beiden Regierungen verwahrte sich gegen das Vorgehen cfes gemeinsa- Aiißenministeriiims. Sobald aber der politische Konsens zwischen den beiden Staaten zerbrach, wurde diese Praxis zum Gegenstand von Auseinander¬ setzungen und war auch die ursprüngliche, auf einem Kompromiß beruhende Regelung vom Jahre 1868 nur schwer aufrechtzuerhalten. Ende der 8Qer Jahre 370 yoeIorä18n£LÜber gemeinsam zu behandelnde Angelegenheiten, einschließlich der Grenzverträge 1868-1908 - Vertrage über Angelegenheiten, bezüglich deren dieTeiden Staafenüer Monarchie lEfSttg111 zu ^fügen berechtigt sind 186SM908 - Übereinkommen betreffend gemeinsame und gemaasam zu behandelnde AngelegenheitenJ868-I9Ö4 - Übereinkommen und Protokolle ISög-DO^HHST/U, FVkZ Kmton|^^MOnarC^'e ^t0n°m " VerfÜgen berechti!l sind || || 138 Einleitung entstand eine fast zwei Jahrzehnte dauernde Staatsrechtsdebatte, deren Schau¬ platz zum Teil der gemeinsame Ministerrat war. Die ersten Meinungsverschiedenheiten staatsrechtlichen Charakters tauchten } .^:/ iy w bei der Inartikulierung des mit Rumänien am 7. Dezember 1887 geschlossenen Grenzabkommens auf. Im Titel und Text des Vertrages figurierte die österrei- ch'ischfimgaxische'Monarchie als Vertragspartei, und die Unterzeichnung er¬ folgte durch Goluchowski, den Gesandten der Monarchie in Bukarest. Die Rechts- und Verwaltungskommission des ungarischen Parlaments hielt es an¬ läßlich der Vorbereitung der Inartikulierung für unrichtig, daß als Vertragspar¬ tei die österreichisch-ungarische `Monarchie genannt werde, und forderte statt dessen im zu inartikulierenden Text die Nennung der beiden Staaten der Monar- chie. Die ungarische Regierung stimmte dem zu und wandte sich an den Monar¬ chen um Genehmigung der Änderung. Der Herrscher wollte die Angelegenheit aber nicht entscheiden, ohne sie dem gemeinsamen Ministerrat vofgelegt zu haberfi"um auch die Meinung der gemeinsamen Minister und der österreichi¬ schen Regierung einzuholen. __ Im gemeinsamen Ministerrat vömTM. Januar 1888371 jertrat Bela Orczy, der kgl. ungarische Minister am AllerhöchsTen HofTägerj den Standpunkt der unga¬ rischen Regierung mit zwei Argumenten. Durch die Beibehaltung des ursprüng¬ lichen Textes würde einejieue gemeinsame Angelegenheit (nämlich die österrei- "V jchisch-ungarische Grenze) entstehen, und'der Ausdruck „die beiden Staaten" : komme auch schon in früheren ungarischen Gesetzen vor. Der gemeinsame Finanzminister Källay schlug sich auf die Seite der .ungarischen Regierung, indem er erklärte, der für das Ausland gültige Wortlaut des Abkommens bleibe ja unverändert, die mit der Inartikulierung zusammenhängenden Äriderüngen seien ausschließlich eine innere Angelegenheit der ungarischen Gesetzgebung. Die Gegenmeinung formulierte am klarsten der österreichTsche MinisterpräsT dent Taaffe: Wohl seien bei Vertragsschlüssen ^wischeKden beiden Teilen der Monarchie verschiedene Ausdrücke gebräuchliclfi-demrÄusland gegenüber sei aber stets die Bezeichnung Österreichisch-unga.rische Monarchie verwendet wor¬ den. Er wolle auch weiterhin den Grundsatz beibehalten, daß die Grenzen der Monarchie dem Ausland gegenüber als Einheit betrachtet werden, was - seines Erachtens - nicht ausschloß, daß in_ dieser Angelegenheit nach wie vor die V beiden Regierungen als Vollzugsmächte betraefiterwerden. Für Kälnoky war es ebenfalls wichtig, daß dem Ausland gegenüber auch künftig der Ausdruck österreichisch-ungarische Monarchie beibehalten bleibe. Der Monarch ver- wahrte sich zweimal gegen dgn Gebrauch des Ausdruckes(^dfe beidetTstaaten^) den er aus staatsrechtlicher.SidhLfür verfehlt hjglt. S^--T- Bei Durchsicht des Pfotokolltextes fallt vor allem auf, wie wenig die Bera¬ tungsteilnehmer über die geltende Praxis bei internationalen Vertragsschlüssen orientiert waren. Im Gegensatz zur Behauptung des gemeinsamen Außenmini¬ sters und des österreichischen Ministerpräsidenten war - wie gesehen - nicht in jedem Fall die österreichisch-ungarische Monarchie die vertragschließende Par- 371 GMR. v/24. 1. 1888,\RMRZ( 350, lU. || || Einleitung 139 tei, sondern im Titel und Text internationaler Urkunden kamen sogar nicht nur die baden Staaten der Monarchie, sondern häufig Österreich und Ungarn auch gesondcrl vor. Das andere auffällige Moment ist die staatsrechtliche Unsicher- - w!t lm Zusammenfiafrg'-mit äem Charakter der Grenze. Der österreichische ' Ministerpräsident hielt sie für die Grenze der Monarchie, meinte aber, daß in dieser Angelegenfieit die beiden Regierungen zuständig seien. Der Vertreter der ungarischen Regierung wollte sieynchhals gemeinsame österreichisch-ungari- sehe Grenze betrachtet wissen, konnte aber keine^positive Definition bieten In Kenntnis der Vertragspraxis und durch staatsrechtliche Definition der bespro¬ chenen Angelegenheit (als eine, in der beide Regierungen selbständig handeln konnten) hatte die Debatte leicht abgeschlossen werden können und der' Wunsch der ungarischen Regierung Jkeine besondere Schwierigkeiten bereiten zu brauchen. Nachdem aber die Angelegenheit nach einer parlamentarischen Vorgeschichte vor den gemeinsamen Ministerrat kam, 4ie daraufhinwies, daß ungarischerseits nicht einfach eine staatsrechtliche Festlegung, sondern ganz klar die Betonung der ungarischen staatlichen Sonderstellung gewünscht wurde, konnte weder das Präzedens noch die staatsrechtliche Angelegenheit eine Lö¬ sung schaffen. Der Monarch und mit ihm der österreichische Ministerpräsident ^ der gemeinsame Außenminister konnten die Reklamation des Ausdruckes Staaten" - mit einigem Recht - als Angriff gegen den Kompromiß Jahr .}868 auffassen und hielten esjür unannehmbar, daß die Monarchie zu Lasten jhrer Einheit nach außen irgendwelche Zugeständnisse mache. Die Lösung kam schließlich auf dem Niveau zustande, auf dem die Debatte imgemeinsamen Ministerrat verlief. Der Herrscher willigte ein, c&ß in dedjP des zu inartikulierenden Vertrags der Ausdruck „die beiden Staaten" aufgenonT" , men werde, untersagte jedoch ausdrücklich, diebeiden Wörter auch im Titel des Vertrages zu erwähnen, da dieser -- wie er sagte - nicht von den Regierungen der beiden Staaten geschlossen werde. Im Hinblick auf die Zukunft war daran \ interess,ant' daiB im Titefdes unter Gesetzartikel XIV des Jahres 1888 inartiku- \ lierten Vertrags sowohl die Bezeichnung der österreichisch-ungarischen Mpnar- P if a^S au^-~ -- e der. beiden Staaten der Monarchie Vorkommen, womit die an 1 steh 'Schon lange Reihe der staatsrechtlichen Inkonsequenzen noch weiter ver- 1 mehrt wurde.372 ~. ..- .. Es stellte sich bald heraus, daß die Annahme des Herrschers nicht unbegrün¬ det war,_der ungarische Wunsch nach Gebrauch des Ausdruckes , beide Staa- se%Lehlgewesen als^rTTFrhge'aeTTerminologie. Der ungarisefie Justizmi- "st0erJ^.ny erhob amff. NovernberJffggin seinef Note an den gemeimamen Außenminister den AnsprüfCTäß künftig als vertragschließende Partei in den ^i?^b2B^0TYerträgenfocht)die österreichisHlfTmgärisöhe MonarchieTsörf-. dern Österreich jun^ngarpTgenannt werden sollten.373 Dem lag allerdings eine gewisse staatsrechtlicHe Unkkrheit zugrunde, weil der Wunsch im Zusammen¬ hang mit einem Vertrag mit Deutschland über die Auslieferung von Deserteuren uy'MAGYAR Törvenytär 1887-1888 214U ^"Abschrift eines Memorandums Tiszas. August 1889, HHStA., PA. I, Karton 465. || || 140 Einleitung | geäußert wurde. Die Deserteure konnten aber der gemeinsamen Armee ebenso j angehören wie den Landwehren beider Länder, so daß sowohl die Monarchie \ als auch deren beide Staaten als Vertragsparteien in Frage kamen. Da nun der ungarische Justizminister den obigen Anspruch ohne jede staatsrechtliche Diffe¬ renzierung erhob, war dies ein deutlicher Hinweis darauf, daß man ungarischer- seits die bisher gebräuchliche Formel österieichisch-ungarische Monarchie voll und ganz ausschließen wollte. Der ungarisdhe Ministerrat beschloßjujiZusam- '' menhang mit dem betreffenden Vertrag in seiner Sitzung vomf20. Juni T889) in der Einleitung solle der Monarch als vertragschließende Partei genänSTwerden, ^ j / da es noch nicht entschieden sei, ob die österreichisch-ungarische Monarchie ein / solches Rechtssubjekt darstelle, das als vertragschließende Partei figurieren könnte.374 Dem Herrscher war aber schon dieser Zweifel zu viel, und er verlangte 'Aufklärung über den im ersten Punkt des Protokolls enthaltenen Beschluß. Die vom Herrscher geforderte Antwort formulierte der ungarische Minister¬ rat am 16. August 1889. Die Vorlage von Kalman Tisza schien auf den ersten Blick sowohl den Erfordernissen des Konsens als auch der staatsrechtlichen Angemessenheit zu entsprechen. Der Ministerpräsident erklärte - seinen Justiz- I j minister gleichsam bloßstellend daß die Monarchie im Sinne der Ausgleichs- I gesetze vom Jahr 1867 nach außen ein "Ganzes bildet und es politisch falsch wäre, an dieser Auffassung irgendwie zu rütteln; demnach sei in Verträgen mit dem Ausland nach wie vor die österreichisch-üngarische Monarchie als vertrag¬ schließende Parfei zu bezeichnen. In gewissen Fällen, wie in Verträgen mit Bezug auf die Staatsbjijc^erschaft oder die Grenzen, sei aber der Gebrauch der Formel „Österreich (uncyUngarn" nicht nur notwendig, sondern geradewegs \ unvermeidban37^Bei eingehenderer Untersuchung stellt sich aber heraus, daß j Kalman Tisza damit - sowohl in Wortgebrauch als auch Auffassung - von dem beim Ausgleich'vertretenen ungarischen Standpunkt ahwich. Der Wunsch nach Legalisierung des Ausdruckes „Österreich und Ungarn" war zweifellos ein \ Schritt zur Vervollständigung der'Regelung vom Jahre 1868, doch ist nicht zu vergessen, daß Andrässy seinerzeit gerade gegen diesen Ausdruck grundsätzlich Einspruch erhoben und ihn ausdrücklich "für gefährlich gehalten hatte, weil dieser Titelgebrauch im Endergebnis zu Verhältnissen wie .zwischen Schweden Tjind-Norwegen führen würde.376 Daß Kaiman Tisza diese Bedenken nicht teilte, ist an sich schon vielsagend. Während er aber die Zweckmäßigkeit der Weiter- ; Verwendung der Bezeichnung österreichisch-ungarische Monarchie anerkannte, erklärte er zugleich, daß die^Monarchie aus zwei staatsrechtlich voneinander unabhängigen .Staateneinheiten bestehe, was mit Andrässys Meinung nicht mehr völlig übereinstimmte. In der ungarischen staatsrechtlichen Auffassung waren - wie später noch eingehend zu erörtern sein wird - sowoETdie Elemente 374 1 7!MT. Ung.MR. v. 20. 6. 1889, 1. In Angelegenheit der mit Deutschland zu schließenden Vereinbarung bezüglich der Auslieferung von Soldaten- und Rekrutendeserteuren, OL., K. 27, Karton 45. 20JMT. Ung.MR. v. 16. $. 1889. 6. Über die Bezeichnung der Monarchie, OL., K. 27, Karton f45l' ·t\ 376 Vg/. Anmf369j Ua * o || || Einleitung 141 „-^s.„?undesstaates als auch des Staatenbundes enthalten, ohne daß es jemals zu -§iE?r eindeutigen Klärung gekommen wäre. Der erste ungarische'Ministerpräsi- qTk f-aCj d,em ^us8jeich sprach lediglich von der verfassungsmäßigen inneren gkeit der die Monarchie bildenden Teile, was einer Konzeption des ..- Bundesstaates nahe stand. Wenn sein Amtsnachfolger nach zwei Jahrzehnten nun von zwei unabhängigen Staatseinheiten sprach, betonte er den Charakter der österreichisch-ungarischen Beziehung eher als Staatenbund. D^e Bezeich¬ nung „österreichisch-ungarische Monarchie" entsprach mehr der Konzeption des Bundesstaates, und wenn man sich ungarischerseits erst einmal auf den Standpunkt eines Staatenbundes stellte, war ein weiterer Gebrauch der Bezeich¬ nung eme reine Formalität und konnte man jederzeit mit dem Wunsch auftre- ä üffa16 Bezeichnun§ der Monarchie der neueren ungarischen staatsrechtlichen - Auffassung anzupassen. Somit war dieser Beschluß dis. Ministerrates der die weitere Verwendung der Bezeichnung österreichisch-ungarische Monarchie in Aussicht stellte und m Form eines untertänigsten Vortrags dem Monarchen zur Kenntnis gebracht wurde, auf lange Sicht keineswegs beruhigend 37f Er wirkte aber beruhigend auf die Gemüter, und die Debatte wurde - zumin- dest aut der Ebene des gemeinsamen Ministerrates - nicht fortgesetzt. Da aber sowohl die grundsätzliche als auch die praktische Klärung immer noch aus¬ stand, bheben Gegensätze virulent und brachen bei erster Gelegenheit wieder aut. Im Budgetentwurf des gemeinsamen Kriegsministeriums für das JahrdÄ k!m 1um.?eiSiraT österreichischen zentralistischen Auffassung der Ausdradf .^_!e iSKkn. Reidishälften" vor, wogegen der ungarische Ministerpräsident und im 8emeinsamen Ministerrat vom 1. Juni 1^95 erklärte der Herrscher selbst, daß die Monarchie nach außen eine Einheit u-m ' ^brauchte abermals den die Ungarn irritierenden Ausdruck „Reichs- haltte i:. Das war seinerseits weder ein Lapsus noch eine Üngenauigkeit sondern vielmehr eine Antwort auf die neuerlichen ungarischen "Bestrebungen, che sich diesmal gegen den Ausdruck „die österreichisch-ungarische Regierung" richteten. Das terminologische Tauziehen ging in diesem Geiste weiter, ohne daß es bis zum Ende der hier behandelten Periode zu einer befriedigenaÜr Klärung gekommen wäre. Um die Jahrhundertwende nahm die Auseinanderset- zung dann so extreme Formen an, daß der gemeinsame Außenminister Aehren- thal m sämtlichen Verträgen zur Formel österreichisch-ungarische Monarchie ^_zuruckkehrenjvollte, jwahrend der ungarisgljelvrinisterpräsident Wekerle bei-. allenVertragen die Bezeichnung OsterreichQUngarn für rechtmäßig-hielÜ^V Diese zwei Jahrzehnte dauernde Auseinanderletzung wurde scHTieBlicHrim Janu- ^U-U^~~tunßhlns,chjii£iLä£Lä^i1as Protokoll des Ministerrates Nr. 17 laufenden Jahres feugEAufk'arung '(^^BeilaydesProtoMltyom-foCTo . m ^ Karton 45. ___ 378 GMR. JJLJ.-JS95, RMRZ. 386. 379 OMR. \fTl 380 RMRZ. 389. ^/ StaatsrecUlichTNotiz v. Juni 1895, HHStA., PA. I, Karton Som^gw, Aehrenthals Refqrrnh^strfih^irigpn^-- 382 PA. I, Kartoi/487 Memorandum Weherles || || 142 Einleitung ar 1908 durch eine Vereinbarung zwischen dem gemeinsamen Außenminister , Aehrenthal, dem österreichischen Ministerpräsidenten Beck und dem ungari- ; sehen Ministerpräsidenten Wekerle beendet, die in den internationalen Verträ¬ gen die gemeinsamen, die gemeinsam zu behandelnden und die autonomen Angelegenheiten unterschied und dementsprechend auch die Bezeichnung der ; vertragschließenden Partei und die Unterzeichnungsberechtigung regelte.383 ; Diese Regelung war eigentlich schon 1868 fällig gewesen und hätte seit damals viele überflüssige staatsrechtliche Auseinandersetzungen ersparen können. Ihre wohltuende Wirkung war auch 1908 unbezweifelbar, doch Wunder konnte man von ihr nicht mehr erwarten. Die immer schwächer gewordenen ungarischen ! Interessenbande zur Monarchie konnten damals durch keinerlei staatsrechtliche j Klärungen mehr gefestigt werden. Die Bezeichnung der gemeinsamen Armee Gleichzeitig mit der Bezeichnung der vertragschließenden Parteien kam auch die fragender Bezeichnung^der gemeinsamen. Armee auf die Tagesordnung, wiederum durcFdie ungarische Seife angesprochen. Das Bestreben einer Rege- s lung der Bezeichnung hing mit der Umwertung des Verhältnisses zwischen | Ungarn und der Monarchie zusammen, die'Annäherung des Problems im staatsrechtlichen Sinn erfolgte aber von einer anderen Basis aus. Während man ; sich im Falle der Bezeichnung der Vertragspartei um den Kompromiß vom Jahre^l868 stritt, blieb man in der Frage der gemeinsamen Armee.Jbei„diesem und trachtete, die damalige Vereinbarung zu vervöTlkommen. Die Armee führte nämlich nach dem Ausgleich voinjahre 1867 nach wie vor den Namen kaiser¬ lich-königliche Armee, aJtgekürzCk. kTXrmee. Auch der Titel des Kriegsmini¬ sters blieb unveränderf^Reiclilkriegsminister. All dies stand im scharfen Wider- j sprycl) zur staatsrechtlicEenEinrichtüng der Monarchie nach dem Ausgleich und zur Regelung der Titelfrage von 1868, die in der Frage der Titel und Bezeichnungen außerordentlich empfindliche ungarische politische Öffentlich¬ keit erhob jedoch dagegen - interessanterweise - keinen Einspruch, so daß der I staatsrechtliche Anachronismus im Titel des Armee zwanzig Jahre lang ünver- ändert bestehen konnte. Die Ungeregeltheit rächte sichaber. Die Unabhängig- . keits-Opposition, die vom Anfang an für eine Wiedererrichtung der selbständi¬ gen ungarischen Armee 'kämpfte, fand in der Bezeichnung der gemeinsamen l Armee ihr wirksamstes Argument, indem sie behauptete, diese Armee sei keine > gemeinsame, sondern einfach eine österreichische. Die Argumentation fand - * wie ches die Parlamentsdebatte im Zusammenhang mit der Erneuerung des Wehrgesetzes im Jahre 1889 zeigte - auch in breitesten Kreisen regen Widerhall Um das wirksame Argument der Unabhängigkeit zu schwächen, bescEIoß die auf der 67er Grundlage stehende liberale Regierungspartei die längst fällige 383 Vereinbarte Gn über die staatsrechtlichen Fragen beim Abschlüsse internationaler Verträge vomfTl. 1. 1908> Aehrenthal, Beck, Wekerle. HHStA., PA. I, KartorZöSO.'') || || Einleitung 143 I T'telf?0foZ,U 1ÖSen' MinisterPräsident Kalman Tisza erklärte in der Sommersit- zung.1889 der ungarischen Delegation, daß er zur Änderung der Bezeichnung der Armee die Zustimmung des Monarchen erwirTcen wÖIle " Der ungarische Ministerpräsident wandte sich im August 1889 mit einem / jnoffiziellen nnd streng vertraulichen Memorandum an den gemeinsamen Au- / ^n^mister, in dessen erstem Teil ersieh, wie weiter oben bereits erwähnt mit ; ^Cj^ezeichnung der Monarchie beschäftigte und im zwgiten'Teibden Anspruch formulierte, daß die Armee zukünftig den Namen kaiserliche königliche Armee fuhren solle. Den Wunsch einer Einschaltun/desominösen^Bindewortes und untermauerte er nicFtTmf'besonderen'staatsrebhtlichen Argiuhenten som" I dem stellte einfach fest, daß die Armee den gleichbU^amen^le der oberste ülgAherr ßihren müsse, und diese Bezeichnung entspräche der stäätsrechtli- qhen Lage. Den größeren Nachdruck legte er auf die politischen Beziehungen : ic auf staatsrechtlicher Grundlage stehende Parlamentsmehrheit könne da- dureh erfolgreicher gegen die Agitation der Opposition auftreten und das Sy¬ rern des Ausgleiches - und mit ihm die Institution der gemeinsamen Armee - verteidigen. Um seinem Memorandum größeren Nachruck zu verleihen schloß er seine Erörterung damit, falls es ihm nicht gelinge, den Herrscher für seinen Standpunkt zu gewinnen, halte er es für zweifelhaft, ob er an der Spitze der Regierung bleiben könne. ""-- .. Kälnoky beantwortete das Memorandum Tiszas Mitte September 385 Er bezweifelte die Richtigkeit der staatsrechtlichen Argumentation des ungarischen Mmisterprasidentemnicht und erkannte an, daß die Armee den gleichen Titel tragen muß wie der Herrscher. Damit hatte er sich aber nicht mit dem Stand¬ punkt der ungarischen Regierung identifiziert, im Gegenteil, er brachte Argu¬ mente vor die gegen eine Änderung der Bezeichnung der Armee sprachen Erstens diskreditierte er den ungarischen Wunsch einigermaßen, indem er das Ganze für ein Bestreben der Unabhängigkeitspartei hielt, das sich die Regie¬ rungspartei zwangsläufig zueigen gemacht habe, zudem die ungarische Regie- rung die Namepsänderung nie zur Sprache gebracht habe, obwohl sie hierzu Jahre..lang Gelegenheit hatte. Sowohl die Österreicher'ais'aüch das Militär wurden sich der gewünschten Änderung widersetzen, weil die ersteren j dann den ersten Schritt zu einer Spaltung der Armee in zwei Teile erblickten UI1.,. ,etzteres sich im Laufe der Jahrzehnte mit der histofischen Bezeichnung LX9JI;iidentifiz,erLhabe. Sein wichtigstes Argument - schor^ Gründen seiner Stellung - war die zu erwartende Reaktion von außen, die er als ungünstig für die Monarchie bezeichnete. Die neue Benennung würde in Deutschland als Erschuttening der inneren Kraft und Einheit der Monarchie aufgefaßt, in Rußland und Frankreich aberals Triumph gefeiert werden. Darum müßten vor einer Entscheidung auch der österreichische Partner und der Reichskriegsmini¬ ster angehort werden, und selbst wenn der Herrscher dem ungänscTien Ansu¬ chen zustimme, solle die ungarische Regierung gleichzeitig feierlich erklären, 185 Abschrifi eines Memorandums Tiszas v. August 1889. HHStA., PA. I, Karton(46S Vertrauliches Memorandum Mitte September 1889, HHStA., PA. I, Karton(%5 || || 144 Einleitung daß sie die Armee künftig endgültig als gemeinsam, einheitlich und untrennbar betrachten werde. Auch im Falle der Erfüllung dieser Bedingung werde er der Änderung nur ungern zustimmen. Dem an den ungarischen Ministerpräsiden¬ ten gesandten Memorandum war ein Überblick der Geschichte des Namens der Armee beigefügt.386 Der ungarische Ministerpräsident antwortete Mitte September mit einem neuerlichen Memorandum387 in vorsichtigem und diplomatischem Ton. Nach¬ dem der gemeinsame Außenminister anerkannt hatte, daß der ungarische Standpunkt staatsrechtlich begründet war, und nur politische Vorbehalte ge¬ macht hatte, hielt es der ungarische Ministerpräsident für notwendig, die letzte¬ ren zu zerstreuen. Der Wunsch nach einer Änderung der Bezeichnung sei - im Gegensatz zu Kälnokys Deutung - keineswegs von der ungarischen Opposition, sondern von der Regierungspartei ausgegangen, die durch Einführung der neueip Bezeichnung den Agitationen der Opposition wirksamer entgegentreten könne. Lang und breit erörterte er, daß jede Namensänderung der österreichi¬ schen Landwehr staatsrechtlich unbegründet sei und erkannte bereitwillig an, daß für die Bezeichnungsänderung der gemeinsamen Armee auch die österrei¬ chische Regierung mit zuständig sei. Den Wunsch des gemeinsamen Außenmi¬ nisters nach einer Erklärung der ungarischen Regierung, daß sie die künftige Einheit der gemeinsamen Armee anerkenne, überging er. In den sich mit der Bezeichnung der Armee befassenden Akten ist keine Spur davon zu finden, daß der vom gemeinsamen Außenminister für" zuständig erklärte österreichische Ministerpräsident und der gemeinsame Kriegsminister jemals eine Erklärung abgegeben hätten. Die „ungarische Lobby" in den ge¬ meinsamen Ministerien meldete sich dagegen zu Wort und nahm selbstverständ¬ lich den üngarischen Standpunkt in Schutz. Der gemeinsame Finanzminister Källay unterstützte in einem langen Memorandum die Rechtmäßigkeit der Forderung der ungarischen. Regierung mit gewichtigeiühistorischen, staats¬ rechtlichen und politischen Argumenten.38M)em vom gemeinsamen Kriegsinini- steriufh zusammengestellten historischen Überblick entnahm auch er das gleiche wie der ungarische Ministerpräsident: Die Bezeichnung der Armee hatte sich in den letzten Jahrhunderten häufig geändert, und zwar stets der Titeländerung des Herrschers folgend und niemals die souveränen Rechte des Herrschers im Zusammenhang mit der ArmeeTSeführend. Das Problem sei nicht als grundsätz¬ liche, sondern als Opportunitätsfrage zu betrachten, und die gewünschte Ände¬ rung könne sich kaum ungünstig auf die Armee oder das Ausland ausüben. Gleich dem ungarischen Ministerpräsidenten schloß auch er damit, daß eine Zurückweisung des Ansuchens in Ungarn schwere innenpolitische Probleme verursachen würde und die Agitation der Opposition gegen die gemeinsame 386 Archivalische Erhebungen übec^ie Benennung der Truppen als „kaiserlich-königlich" v. 6. 9. 1889, HHStA., PA. I, Karto^65>zw. KA„ MKSM. 37-1/6 ex 1889. 387 Vertrauliches Memorandum des Herrn von Tisza. Von Herrn Ministerpräsident von Tisza streng vertraulich mitgeteilt. Ende September sg^ds Antwort mein Memorandum von Mitte September [Kälnoky]. HHStA., PA. I, Karton sSp 388 Memorandum Br. von Källay v. 12. 10. 1889, HÖStA., PA. I, Karton(46^. || || Einleitung 145 Armee immer breitere Kreise ziehen könnte. Der zweite Fürsprecher neben dem gemeinsamen Finanzminister war der Sektionschef im Außenministerium Szö- gyeny, der allerdings bis dahin von seiner ungarischen Verbundenheit nicht viel gezeigt hatte. Szögyeny reiste zur Verhandlung mit den Mitgliedern der ungari¬ schen Regierung nach Budapest. Schon im Berichtsteil der Aufzeichnung über die Besprechungen gab er die Worte Tiszas so wieder, daß dies bereits einer Stellungnahme gleichkam (so schrteFer beispielsweise ohne jeden Kommentar, daß der ungarische Ministerpräsident die neue Bezeichnung nicht als Zuge¬ ständnis, sondern als rechtmäßige Richtigstellung betrachte). In seinem Bericht stand auch, daß die Regierungsmitglieder Baross, Szüägyi und Wekerle die Maßnahme aus staatsrechtlicher und parlamentarischeF'Sicht nicht allein für notwendig, sondern allgemein politisch für unaufschiebbar hfelten, und er schloß mit einer eindeutigen Stellungnahme: Die Lösung der Frage ist notwen- _ die weil man nur so der_Opposition den Boden entziehen kann. Dies schwächte auch der Umstand nicht, daß er gleich dem gemeinsamen Außenminister hinzu¬ fügte, die Maßnahme dürfe keinen Zweifel daran lassen, daß die Einheit der gemeinsamen Armee unantastbar ist.389 Im Laufe des schriftlichen Gedankenaustausches erwies es sich, um wieviel besser sich die ungarischen Politiker auf die staatsrechtliche Argumentation verstanden als d^etwas schwerfällige gemeinsame'Äu^ßenmiriistef. Als Kälnoky damit gegen den ungarischen Wunsch argumentierte, daß eine Bezeichnungs¬ änderung der gemeinsamen Armee auch eine,solche der österreicFischen Land¬ wehr nach sich ziehen müßte, verwies Tisza mit überlegener Sicherheit darauf, daß staatsrechtlich ausschließlich die derzeitige Bezeichnung zutreffe und die österreichische Landwehr keinesfalls die BezeichnungQcm k^führen könne. Bei der Entscheidung war aber -- wie bei den politischen EntscKeidungen im allge¬ meinen - nicht das Gewicht derartiger Argumente maßgebend. Tisza hatte ja - wie bereits erwähnt - in der Sitzung der ungarischen Delegation erklärt, daß die ungarische Regierung Schritte in Angelegenheit der Bezeichnungsänderung der Armee unternehmen werde. Als der ungarische Ministerpräsident durch Szögyeny von der Wiener Verstimmung Kenntnis erhielt, betonte er seine Gutgläubigkeit und erklärte, dem verfassungsmäßigen Empfinden des Monar¬ chen vertraut und sich deshalb nicht im voraus informiert zu haben. Es ist aber viel wahrscheinlicher, daß er als routinierter Politiker ein Fait accompli suchte. Und er behielt Recht: Als Käflay in seinem schon erwähnten Memorandum die zu erwartenden Folgen einer Zurückweisung der ungarischen Forderung be¬ schrieb, vermerkte Kälnoky am Rand, daß eine Zurückweisung einfach unmög¬ lich sei, da Tisza den'Herrscher durch seine Erklärung vor der Delegation in eine Zwangslage gebrächt hatte. Sollte der Monarch seine Zustimmung nicht erteilen - setzte Kälnoky fort -, trete die ungarische Regierung wegen deFTfn ganzen Land jpopulären nationalen Frage zurück, und es entstünde die unmögliche Situation, daß alle ungarischen Parteien auf der einen und die Krone allein auf .1X9 Aufzeichnung des Sektionschefs von Szögyeny über eine Besprechung mit dem kgl. ung. --- Ministerpräsidenten von Tisza v. 12. 10. 1889, HHStA., PA. I, KartonmsS || || 146 Einleitung der anderen Seite stehe -- unter derartigen Umständen wäre es aber unmöglich, eine neue Regierung zu bilden. In der Schriftensammlung über die Bezeichnung der Armee ist die Meldung Szögyenys vom 12. Oktober das chronologisch letzte Dokument. Was danach geschah, läßt sich durch schriftliche Quellen nicht belegen. Vermutlich hat der gemeinsame Außenminister dem Herrscher über den Tatbestand referiert und höchstwahrscheinlich auch seine Meinungsäußerung auf dem Aktenrand des Källay-Memorandums nicht verschwiegen. Wahrscheinlich hat sich der Mon¬ arch durch die Argumente seines ersten Beraters überzeugen lassen. Jedenfalls fertigte Kälnoky am 17. Oktober den Entwurf jenes Handschreibens an, mit dem ihn der Herrscfier von der Titeländerung der Armee verständigte.390'Das auffällig ku'rzgefaßte Handschreiben des Monarchen bestand insgesamt aus drei Absätzen. Der erste enthielt die Mitteilung, daß -- nachdem sich die Bezeichnung der Armee auch in der Vergangenheit nach dem Titel des obersten Kriegsherren gerichtet hatte - die Armee zukünftig die Bezeichnung „kaiserliche und königli¬ che" führen werde, der zweite, daß die den staatsrechtlichen Verhältnissen -- Rechnung tragende Maßnahme die Einheit und Untrennbarkeit der gemeinsa¬ men Armee in keiner Weise berühre, da diese in den Ausgleichsgesetzen grund¬ sätzlich und endgültig festgelegt wurden, und der letzte schließlich den Auftrag an den gemeinsamen Außenminister, die beiden Ministerpräsidenten von seiner Entscheidung, die er nach Anhören der gemeinsamen Minister und der beiden Ministerpräsidenten gefaßt habe, zu verständigen. Am folgenden Tag, am 18. Oktober trat der gemeinsame Ministerrat unter Teilnahme der gemeinsamen Mimster und der beiden Ministerpräsidenten zu¬ sammen.391 Den Vorsitz führte der Monarch. Er hatte sich über die ganze Angelegenheit bis dahin nicht geäußert und hielt sich auch jetzt diszipliniert an die mit seinem Außenminister getroffene Vereinbarung. Seiner Gefühle ver¬ mochte er jedoch nicht völlig Herr zu werden und äjußerte - was bisher noch nj£,yorkam -- unverhüllt seine Aversion gegen die ungarische Regierung. Aller¬ dings auf dem Umweg, einer Kritik"daran, daß die Neue Freie Presse in ihrer Nummer des Tages eine Information über das im gemeinsamen Ministerrat zu . i.~1311113 enthielt, was nach Meinung des Herrschers nur durch die ungarische Regierung an die Öffentlichkeit gelangt sein konnte. Sooft die unga¬ rischen Minister in Wien erschienen, sei mit einer Indiskretion zu rechnen. Die rechenschaftsfordernde Verdächtigung ebenso wie die jämmerliche Ausrede des ungarischen Ministerpräsidenten waren dem höchsten Regierungsforum der Monarchie unwürdig. Der Herrscher schien aber etwas davon zurückzahlen zu wollen, daß ihn die ungarische Regierung in eine politische Zwangslage gebracht hatte. Im meritorischen Teil der Beratung verlas der Monarch zuerst den an den gemeinsamen Kriegsminister in Angelegenheit der Bezeichnung der Armee zu richtenden Befehl; wozu keine Bemerkung erfolgte, und dann das an den ge- 390 Entwurf für ein Ah. Handschreiben v. 17. und 18. 10. 1889, HHStA., PA. I, Karton(465 391 GMR. v. 18. 10. 1889. RMRZ. 361. || || Einleitung 147 meinsamen Außenminister zu richtende allerhöchste Handschreiben. Als erster erhielt der österreichische Ministerpräsident Taäffe das Wort. Aus seinem Dis¬ kussionsbeitrag ging hervor, daß die österreichische Regierung zu der betreffen¬ den Frage nicht nur eine^ Meinung, sondern auch Stellung bezogen hatte, und zwar "7-Ablehnendem Sinne. Sie war wegen der neuen Bezeichnung um die Einheit dep Armee besorgt und befürchtete eine ungünstige Reaktion der öffent¬ lichen Meinung, namentlich der tschechischen. Aber daran wollte Taaffe nur erinnern. Er erklärte, seine Regierung habe allein mit Rücksicht auf die Zwangs- lage der ungarischen Regierung dem zugestimmf, daß der Herrscher -- als oberster Kriegsherr - in bezug auf die neue Bezeichnung handle. Doch müsse in dem Handschreiben an den gemeinsamen Außenminister der Passus entfal¬ len, wonach die Maßnahme nach Anhörung der beiden Ministerpräsidenten erfolgt sei, da der österreichische Ministerrat mit der Maßnahme nicht einver¬ standen sei und diese auch nicht empfehlen könne. Im Falle einer Ablehnung seiner Bitte werde er zurücktreten, und wahrscheinlich würden seine Minister¬ kollegen seiner Demission folgen. Der österreichische Ministerpräsident spielte die gleiche Karte aus wie sein ungarischer Kollege, doch mehr als Theaterdonner denn als wirkliche Drohung. Vor der Sitzung des gemeinsamen Ministerrates hatte nämlich eine Beratung zwischen der österreichischen und der ungarischen Regierung stattgefunden, in der auch die letztere auf den betreffenden Passus verzichtet hatte. Im gemeinsa¬ men Ministerfat kam es dann auch zu keiner echten Debatte mehr. Eher der Form halber erklärten einige dem österreichischen Ministerpräsidenten, daß eine Anhörung nicht gleichbedeutend mit der Zustimmung sei, und betonten, daß man sich bei der Durchführung ohnehin auf die Plattform des allerhöchsten Handschreibens stellen müsse, um dann das allerhöchste Handschreiben dem Wunsche des österreichischen Ministerpräsidenten entsprechend umarbeiten zu können. Der andere Wunsch Taaffes, daß im Handschreiben der sich auf die Einheit der Armee beziehende Teil betont werde und sich auch auf die Abzei¬ chen und den Eid erstrecken solle, wurde allgemein verworfen. Aber auch der österreichische Ministerpräsident machte daraus keine Kabinettsfrage. Die Sit¬ zung wurde mit der Vereinbarung geschlossen, daß das allerhöchste Hand¬ schreiben in der Ausgabe der beiden Amtsblätter vom 20. Oktober veröffentlicht werde. ' '. Der Text des allerhöchsten Handschreibens wurde in der unter dem Vorsitz des Monarchen am 18. Oktober abgehaltenen Beratung von den beiden Mini¬ sterpräsidenten pragmatisiert392 und in den Amtsblättern vom 20. Oktober veröffentlicht. DiF Auseinandersetzung über die Bezeichnung der Armee, aus der beide Regierungen eine Kabinettsfrage eei»acht hatten, wurde saichließlich geschlichtet, und das ominöse BindewortCund") figurierte von da an im Titel der gemeinsamen Armee. Die ungarische Regierungspartei knüpfte große Hoff¬ nungen an diese Änderung, aber die Regelung der Bezeichnungsfrage zeitigte 392 Kälnokys Randbemerkung aufdem Rande des Entwurfes des Ah. Handschreibens, HHStA. PA. I, Karton 465. || || 148 Einleitung unter den geänderten Verhältnissen - anders als 1868 - keine Beruhigung der Gemüter. Die gemeinsame Armee blieb nach wie vor Zielpunkt der Angriffe der Opposition, und der Anspruch auf eine selbständige ungarische Armee wurde bald auch in den breiteren Kreisen der öffentlichen Meinung sehr populär. Die Korrespondenzsprache zwischen den Amtsstellen der gemeinsamen Armee und den ungarischen Behörden In der Debatte um die Bezeichnung der gemeinsamen Armee standen ungari- scherseits staatsrechtliche und politische Argumente im Mittelpunkt. Die Ände¬ rung der Bezeichnung sei in staatsrechtlicher Hinsicht korrekt und begründet und in politischer Beziehung wünschenswert, da die Einschiebung des Binde¬ wortes „und" zum Ausdruck bringe, daß die gemeinsame Armee gleichzeitig auch eine ungarische Armee sei. Dieses Argument war zweifellos richtig. Die Namensänderung der gemeinsamen Armee ersetzte aber keineswegs die sonsti¬ gen Attribute^der ungarischen Staatssouveranität, die infolge der Natur des österreichisch-üngärischen staatsrechtlichen Verhältnisses nach wie vor fehlten. Um deren schrittweise Rückgewinnung ging es den Ungarn aber. Der bei der "Änderung der Bezeichnung der gemeinsamen Armee erzielte Erfolg konnte daher nicht als Schlußpunkt, sondern bestenfalls als Zwischenstufe gelten. Die Ungarn an Österreich bindenden politischen Interessenbande wollte man natür¬ lich auch ungarischerseits nicht völlig durchtrennen, man wünschte nicht sojsehr einejxhte als eine Scheinsouveränität. In dieser Beziehung hatte die Kommuni- , kationssprache zwischen den gemeinsamen InsJitutionen und den verschiedenen Organen des ungarischen Staates besondere Bedeutung. Der ungarische Standpunkt hinsichtlich der Forderung des ungarischen Sprachgebrauches war freilich keineswegs konsequent, es hatte sich eine gewisse Praxis herausgebildet, die während des ganzen Bestehens des Dualismus nicht in Frage gestellt wurde. Niemandem fiel es ein, im gemeinsamen Ministerrat ungarisch zu sprechen, und selbstverständlich verhandelte auch der ungarische Ministerrat, sofern der Monarch den Vorsitz führte, in deutscher Sprache. Der Wunsch nach ungarischem Sprachgebrauch wurde aber vom Beginn der_90er Jahre an besonders stark, und dem verlieh die ungarische Regierung bei ver¬ schiedenen Gelegenheiten Ausdruck. Der ungarische Ministerpräsident Szapäry beschwerte sich in seinem Brief im Herbst 1892 an den gemeinsamen Außenmi¬ nister darüber, daß der Herrscher in seinem Erlaß zur Einberufung der Delega¬ tion nicht die ungarische, sondern die deiitsche Sprache benutzte.393 Der seit 1895 an der Spitze der Regierung stehende Dezsö Bänffy aber ging in seiner Korrespondenz mit dem gemeinsamen Außenminister einfach zum Gebrauch der ungarischen Sprache über, allerdings schloß er dem ungarischen Original auch eine deutsche Übersetzung bei. So beanstandete er zum Beispiel 1897 in einem in ungarischer Sprache geschriebenen Brief, daß sich an der Konferenz 393 Szapäry an Kälnoky v. 9. 9. 1892, HHStA., PA. I, Karton 558. || || Einleitung 149 für Gesundheitswesen in Venedig auch Bosnien-Herzegowina vertreten ließ.394 Die größte der gemeinsamen Institutionen und zugleich jene, mit der die Organe des ungarischen Staates von den Ministerien über die Komitats- und Stadtverwaltungen bis zu den Gemeinden in alltäglichem Kontakt standen, war die gemeinsame Armee. Wenn man ungarischerseits dem Gebrauch der ungari¬ schen Sprache Geltung verschaffen wollte, mußte dies in erster Linie gegenüber dieser Institution durchgesetzt werden. Die ungarische Delegation verabschie- dete 1891 einen Beschluß, daß die gemeinsame Armee verpflichtet sein müsse, mit den ungarischen Behörden in der Staatssprache, also ungarisch, zu korre¬ spondieren, außerdem habe auch die schriftliche Kommunikation mit den ungarischen Staatsbürgern in der Staatssprache zu erfolgen.395 Der gemeinsame Kriegsminister machte sich diese Beschlüsse unter Berufung auf gewichtige praktische Gründe nicht zu eigen, zeigte sich aber zu einer gewissen Modifizie¬ rung in der Korrespondenzsprache bereit. Dementsprechend wurde in der Delegation vom Jahre 1892 im Einvernehmen mit dem gemeinsamen Kriegsmi¬ nister ein Beschluß formuliert, daß der Gebrauch der ungarischen Sprache im Briefwechsel zwischen den ungarischen Munizipien und den Kommandos von ungarischen (das heißt mit in Ungarn zu ergänzenden) Regimentern verbindlich sei, daß sämtliche Armeebehörden verpflichtet seien, ungarische Zuschriften und Eingaben anzunehmen und letztere seitens der ungarischen Regimenter und Ergänzungsbezirkskommandos in ungarischer Sprache zu beantworten seien. Nicht einigen konnte man sich über die Sprache, in der die sonstigen Armee¬ behörden die Zuschriften und Eingaben erledigen sollten: Der gemeinsame Kriegsminister bestand auf der Dienstsprache, das heißt dem Deutschen, der ungarischen Delegation zufolge soflteTTalls wegen fehlendeFXrafte (also in Unkenntnis ungarischer Sprachkenntnisse) eine direkte Sachbearbeitung nicht möglich sei, die Korrespondenz durch Einschaltung der Ergänzungsbezirks¬ kommandos dennoch in ungarischer Sprache erfolgen.396 Der Delegationsbeschluß für den ungarischen Sprachgebrauch hatte zweifel¬ los seine gesetzlich föstgelegte Grundlage. Schon § 9 des Gesetzartikels VI des Jahres 1840 über den Gebrauch der ungarischen Sprache verfügte, daß die ungarischen Regimenter mit den Munizipien in Ungarn in ungarischer Sprache korrespondieren mußten.397 Jenem Teil des Beschlusses, der den Gebrauch der ungarischen Sprache über die ungarischen Regimenter hinausgehend vor¬ schrieb, lag §J des Gesetzartikels XLIV des Jahres 1868 zugrunde, der die ungarische Sprache zur Staatsspräche Ungarns erklärte.398 Der deutsche Sprachgebrauch innerhalb der"Armee und im allgemeinen war hingegen keines¬ wegs so mit Gesetzen untermauert, nicht einmal für Österreich selbst. So hieß 394 Bänffy an Goluchowski v. 17. 3. 1897, HHStA., PA. I, Karton 630. 395 A KÖZÖS ÜGYEK tärgyaläsära a magyar orszaggyüles ältal kiküldött s Öfelsege ältal 1892. evi Oktober hö 1-jere Budapestre összehivott bizottsäg naplöja 102. 396 A közös ügyek tärgyaläsära kiküldött es 1892. evi Oktober 1-jere Budapestre összehivott MAGYAR ORSZÄGOS BIZOTTSÄG HATÄROZATAI 4. 397 Magyar Törvenytär 1866-1868 92. 398 Magyar Törvenytär 1896 490. || || 150 Einleitung es im Artikel 9 Absatz 2 des Staatsgrundgesetzes vom Jahre 1867 nur: „Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen ... wird vom Staate aner¬ kannt." Der deutschen Sprache war also keine Präferenz zugesprochen wor¬ den.399 Die österreichischen Liberalen waren allerdings geneigt, das Gesetz so auszulegen, daß Deutsch eben doch Staatssprache sei bzw. aufgrund des Ge¬ wohnheitsrechts zu dieser erklärt werden müsse; ihre Bestrebungen zeitigten aber keinen Erfolg.400 Beim Sprachgebrauch der gemeinsamen Institutionen war die Gesetzeslücke noch größer, da darüber weder der Gesetzartikel XII des Jahres 1867 hoch das Stäatsgrundgesetz Verfügungen enthielt. Vermutlich galt der deutsche Sprachgebrauch als so sehr selbstverständlich, daß man österrei- chischerseits das Deutsche sogar als die Dienstsprache der ungarischen Honved ansah.401 Der § 11 des Ausgleichsgesetzes, der Führung, Kommando und innere Organisation der Armee in die Kompetenz des Herrschers überstellte, konnte wohl auch so ausgelegt werden, daß auch die Bestimmung der Dienstsprache mit zur Kompetenz des Monarchen gehörte. Dies bezog sich aber auf die Kommunikation zwischen der Armee und sonstigen Behörden nicht mehr so selbstverständlich. Gegen den Beschluß der ungarischen Delegation konnte man daher unter Berufung auf Rechtsnormen nur schwer opponieren. Die Aufgabe war jedenfalls gestellt, darüber zu entscheiden, wer in der Streitfrage zwischen der ungarischen Delegation und dem gemeinsamen Kriegs- . minister Recht hatte, ob sich demnach die Verpflichtung zum ungarischen 1 Sprachgebrauch nur auf die ungarischen Regimenter und Ergänzungsbezirks- I kommandos beschränkte oder sich auf sämtliche Behörden der gemeinsamen \ Armee erstreckte. Das Forum dieser Entscheidung bzw. zumindest eines Ent- 1 Scheidungsversuches konnte allein der gemeinsame Ministerrat sein. Die Frage wurde in jener Sitzung (am 28. März 1893) behandelt, die 94 Millionen Gulden für die Armeentwicklung genehmigte.402 Obwohl das Protokolf den Gegenstand der Beratung nicht besonders nennt, kam die eingehende und langwierige De¬ batte einem selbständigen Tagesordnungspunkt gleich. Die debattierenden Parteien gruppierten sich in äußerst interessanter Weise. Daß der Trennungsstrich zwischen der österreichischen und der ungarischen Regierung verlief, ist nicht erstaunlich, es war die gleiche Aufstellung wie seinerzeit bei der Auseinandersetzung über die Bezeichnung der gemeinsamen Armee. Die „Gemeinsamen" spalteten sich hingegen: Der Monarch und der Chef des_Generalstabs bekannten sich zum Standpunkt der österreichischen Regierung, der gemeinsame Außenminister und der gemeinsame'Kjriegsminister sympathisierten hingegen mit der ungarischen Regierung. Interessant ist auch, daß in dieser eigentlich staatsrechtlichen Debatte nicht die staatsrechtlichen Argumente im Vordergrund standen. Der Herrscher'fieß allerdings fühlen, daß er vom ungarischen Delegationsbeschluß nur jenen Teil für gesetzmäßig hielt, 399 Stourzh, Die Gleichberechtigung der Volksstämme 1014 400 Ebd. 1041-1.045. 401 Wertheimer, Graf Julius Andrässy Bdf 1, 353.) 402 GMR. v. 28. 3. 1893, RMRZ. 379. V || || Einleitung 151 der auf dem Gesetzartikel VI des Jahres 1840 beruhte, und auch nach Taaffes Meinung gehörte die ganze Angelegenheit in die Kompetenz der Krone; noch einmal wies er darauf hin, daß zur Dienstsprache der Armee auch die Korre- spondenzsprache gehöre. Damit hatte sich aber das Arsenal der staatsrechtli¬ chen Argümente auch schon erschöpft. Die das Wort führenden Opponenten des ungarischen Delegationsbeschlusses hielten es anscheinend für viel vorteil¬ hafter, mit politischen und die militärischen Zweckmäßigkeiten in den Vorder¬ grund stellenden Argumenten zu operieren. Zu den ersteren gehörte, daß falls der Beschluß der ungarischen Delegation rechtskräftig würde, in Österreich für --landesüblichen Sprachen ähnliche Ansprüche erhoben werden könn¬ ten, sich aber auch Ungarn einer ähnlichen kroatischen Forderung nicht wider¬ setzen könnte, und schließlich die Prophezeiung, Ungarn werde dann auch die Dienstsprache der gemeinsamen Armee in Frage stellen. Diese Argumente' nahmen sich Taa'ffe und Welsersheimb gegenseitig aus dem Mund, letzterer operierte aber hauptsächlich mit militärischen Zweckmäßigkeiten: Die in der Korrespondenzsprache vorgenommene Änderung werde schließlich die Armee einem Turm von Babel gleichen lassen. Generalstabschef Beck prognostizierte für den Fall einer Mobilmachung ein völliges Chaos und Anarchie. Wie die Gegner des ungarischen Delegationsbeschlusses setzten auch seine Verteidiger kaum staatsrechtliche Argumente ein. Einzig der ungarische Mini¬ sterpräsident Wekerle erklärte, ein etwaiges Bestreben, die kroatische Sprache auf den Rang einer Staatssprache zu erheben, entbehre jeder gesetzlichen Grundlage. Die militärischen Zweckmäßigkeitsargumente wurden ungarischer- seits damit beantwortet, daß eine Änderung der Korrespondenzsprache die Dienstsprache nicht alteriere, und auch der gemeinsame Kriegsminister Bauer unterstrich, daß die sich aus der Unkenntnis der deutschen Sprache ergebenden Probleme in keinem Zusammenhang mit der geplanten Änderung der Korre¬ spondenzsprache stünden. Das gewichtigste ungarische Argument war jedoch Politischer Natur: Der frühere Beschluß sei unter Mitwirkung des damaligen ungarischen Ministerpräsidenten als Kompromiß zustande gekommen, weshalb für dessen Änderung die derzeitige Regierung die Verantwortung nicht überneh¬ men könne. Der gemeinsame Außenminister hielt es nicht für möglich, bei einer Beantwortung des Beschlusses hinter den in den vergangenen Jahren gegebenen Versprechen zurückzubleiben; die Nichteinhaltung der Versprechen könnte die ungarische Delegation bei den zusätzlichen Bewilligungen für die Armee ungün¬ stig beeinflussen. Der gemeinsame Außenminister und der gemeinsame Kriegsminister votier¬ ten nach einer sich lange hinziehenden Debatte unmißverständlich für. die Annahme des Beschlusses der ungarischen Delegation, ohne damit das Gefallen des Herrschers zu finden, da er die Debatte kurzerhand beendete und erklärte, die Angelegenheit sei noch nicht entscheidungsreif. Einen Monat später wurde sie in der Beratung unter Vorsitz Kälnokys abermals auf die Tagesordnung gesetzt, doch führte auch dieser ausführliche Meinungsaustausch zu keinem Ergebnis.403 Zur Lösung kam es unerwartet rasch mit einer beruhigenden Erklä- 403 GMR. v. 22. 4. 1893, RMRZ. 381. || || 152 Einleitung rung des gemeinsamen Kriegsministers am 17. Juni 1893 in der ungarischen Delegation, der mit dem Datum vom 21. Mai 1893 eine Verordnung des gemein¬ samen Kriegsministers folgte, die vollauf dem Geiste des ungarischen Delega¬ tionsbeschlusses entsprach. Des gleichen Inhalts war auch cfie für die Organe des ungarischen Staates am 4. August 1893 erschienene Verordnung des Innen¬ ministers.404 Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates enthalten keinerlei Informationen über die Beweggründe der Lösung im Sinne des ungarischen Standpunktes, vermutlich lag aber der gleiche Grund vor wie bei der Bezeich¬ nung der gemeinsamen Armee: daß sich die ungarische Regierung öffentlich derart verpflichtet hatte, fiel am schwersten ins Gewicht. Es war dies ein neuerli¬ cher ungarischer Erfolg, der nur dadurch etwas getrübt wurde, daß die ungari¬ sche Regierung in Zukunft häufig um die Einhaltung der Verordnung kämpfen mußte.405 Die österreichischen Regierungsmitglieder wiederum sollten darin Recht erhalten, daß die ungarischen Sprachforderungen durch die Änderung der Korrespondenzsprache der gemeinsamen Armee nicht endgültig befriedigt I waren: Ungarn brachte sehr bald auch die Änderung der Dienstsprache der | gemeinsamen Armee auf die Tagesordnung. -- --- Die Auslegung des Einquartierungsgesetzes Die Gesetze über Teilfragen der gemeinsamen Angelegenheiten kamen im allgemeinen nach langwierigen Auseinandersetzungen zustande. Die Meinungs¬ verschiedenheiten wurden im Laufe von Absprachen eliminiert, daher ergaben sich im Laufe der Durchführung und Anwendung zumeist keine Probleme. Eine Ausnahme bildete das 1879 verabschiedete Gesetz über die Einquartierung der gemeinsamen Armee und der Landwehr,406 das dem gemeinsamen Ministerrat viel Arbeit schaffen sollte. Daß gewisse Paragraphen des Einquartierungsgesetzes von ungarischer und österreichischer Seite unterschiedlich interpretiert wurden, stellte sich zuerst im gemeinsamen Ministerrat vom 30. April 1889 heraus.407 Der gemeinsame Kriegsminister berichtete in dieser Sitzung darüber, daß er infolge der galizi- schen TruppenVerlegungen 1888 den Budgetvoranschlag überschritten habe, da wegen der Verlegungen unvorhergesehene Barackenbauten erforderlich waren. Der ungarische Ministerpräsident bestritt die Rechtmäßigkeit der Überschrei¬ tung nicht, bezweifelte aber, ob es begründet sei, den Barackenbau aus dem gemeinsamen Budget zu finanzieren, statt das betreffende Land zu belasten. So könne im Sinne des Einquartierungsgesetzes die Errichtung des Gebäudes des Zirkularverordnung des kgl. ung. Innenministers Nr. 2963/eln. in Angelegenheit der Korrespon¬ denz zwischen den militärischen und ungarischen Behörden. Magyarorszägi Rendeletek Tara 27 (1893) 1076-1077. 405 7/MT. Ung.MR. v. 11. 3. 1891. 3. Über die Korrespondenzsprache der militärischen Behörden OL., K. 27, Karton 54. 406 Magyar Törvenytär 1879-1880 148-178. 407 GMR. v. 30. 4. 1889. RMRZ. 356. || || Einleitung 153 Korpskommandos von Przemysl keinesfalls zu Lasten des gemeinsamen Bud¬ gets erfolgen. In der zweiten Sitzung am gleichen Tage zitierte der österreichi¬ sche Finanzminister den diesbezüglichen Paragraphen des Einquartierungsge¬ setzes und legte diesen so aus, daß er die Finanzierung des betreffenden Baues ermöglichte.408 Als der ungarische Ministerpräsident bei seiner Ablehnung blieb, verwahrte sich der österreichische Finanzminister in der folgenden Sitzung gegen den Kauf des Grundstückes für das zu erbauende Budapester Garnisons¬ spital zu Lasten des gemeinsamen Budgets, weil das Einquartierungsgesetz dies nicht ermögliche. Der ungarische Ministerpräsident protestierte zwar gegen eine Gleichsetzung beider Bauvorhaben, mußte aber der Streichung beider Budget¬ posten zustimmen.409 Im Interesse der Aufhebung der Meinungsverschiedenheit beauftragte die ungarische Regierung in ihrer Sitzung vom 7. Juni 1889 den Verteidigungsmini¬ ster, ein Fachgutachten zu erstellen,410 was dieser korrekt und unvoreingenom¬ men tat. In seinem dem Ministerrat am 22. Februar 1890 vorgelegten Fachgut¬ achten stellte er fest, weder das Einquartierungsgesetz noch dessen Durchfüh¬ rungsverordnung böten eindeutige Stellungnahmen zur Entscheidung der Streit¬ frage. Ausgehend von der bisherigen Praxis könne der Bau des Korpskomman¬ dogebäudes zu Lasten des gemeinsamen Budgets erfolgen, die Baukosten der OfFizierswohnungen müsse hingegen das betreffende Land tragen. Der Kauf des Baugrundes für das Budapester Garnisonsspital könne ebenfalls zu Lasten des gemeinsamen Budgets geschehen.411 Dieser einem Kompromiß gleichende Standpunkt wurde jedoch von österreichischer Seite nicht akzeptiert, und beide umstrittenen Posten wurden im gemeinsamen Ministerrat im Haushaltsplan 1891 gestrichen.41- Das gleiche wiederholte sich noch zweimal. In der Sitzung vom 21. September 1891 berichtete auf Aufforderung des Monarchen der österreichische Finanzminister Steinbach, die Vereinbarung zwischen den bei¬ den Regierungen sei in nicht zu ferner Zeit zu erwarten,413 aber in der im folgenden Jahr abgehaltenen Sitzung hielt man immer noch bei der Streichung der beiden Posten.414 Inzwischen war auch ganz unabhängig von der umstrittenen Frage die Modi¬ fizierung des Einquartierungsgesetzes notwendig geworden. Die ungarische Regierung hielt nämlich aus der Sicht des Budgets die Einführung der einzelnen Gemeinden in die Mietklassen alle fünf Jahre für nachteilig und wünschte die Festlegung einer längeren Zeitspanne. Der ungarische Finanzminister Wekerle 408 CMR. v. 30. 4. 1889, RMRZ. 357. 409 CMR. v. 5. 5. 1889, RMRZ. 359. 410 MIMT Ung.MR.y. 7. 6. 1889. 16. Über die Auslegung des militärischen Einquartierungsgeset¬ zes, (JL., K.. 27, Karton 45. 4" Ung MR- v- 22- 2- {890. 3. In Angelegenheit der Frage, welche von den den Zwecken der Armee dienenden Gebäuden auf gemeinsame Kosten gebaut werden können OL K 27 Karton 46. '> 412 GMR. v. 26. 4. 1890, RMRZ. 362. 413 GMR. v. 21. 9. 1891, RMRZ. 372. 414 GMR. v. 9. 5. 1892, RMRZ. 376. || || 154 Einleitung beantragte im gemeinsamen Ministerrat vom 27. April 1890 eine Festlegung auf fünfundzwanzig Jahre.415 Der gemeinsame Kriegsminister verschloß sich diesem Antrag nicht, verlangte aber, daß sich die Modifizierung auch auf die Regelung der aus dem gemeinsamen Budget zu bezahlenden Bauvorhaben erstrecken müsse.416 Der ungarische Ministerrat befaßte sich in seiner Sitzung vom 20. Juni 1890 mit dieser Angelegenheit und hieß die geplante Modifizierung gut.417 Auch die österreichische Regierung erklärte sich einverstanden, mit dem Vorbehalt, daß der Vereinbarung auch der gemeinsame Kriegsminister zustimmen müs¬ se.418 Als dessen Zustimmung nicht erfolgte, mußte die ungarische Regierung mit Bedauern feststellen, daß auch die österreichische Regierung ihre Zustim¬ mung zurückzog.419 Fünf Jahre mußten vergehen, bis die Meinungsverschieden¬ heiten beseitigt wurden und die Modifizierung des Einquartierungsgesetzes als Gesetzartikel XXXIX des Jahres 1895 in Kraft trat. Die größte Streitfrage wurde so gelöst, daß die Einstufung der Gemeinden in die Mietklassen für die Dauer von zehn Jahren bestimmt wurde.420 Die ursprüngliche Streitfrage über die aus dem gemeinsamen Budget zu errichtenden Gebäude aber blieb offen. Die Frage des Korpskommandos von Przemysl und des Fester Garnisonsspitals wurde in der hier behandelten Periode nicht erledigt, ein Beweis dessen, welche Funktionsstörungen die abweichende Auslegung der Gesetzes über Detailfra¬ gen der gemeinsamen Angelegenheiten verursachen konnte. VII. Die Funktionsbedingungen Bei der bisherigen thematisch geordneten Behandlung der vor den gemeinsamen Ministerrat gelangten Angelegenheiten wurden selbstverständlich auch amtsge¬ schichtliche oder - wenn notwendig - institutionshistorische Aspekte ebenso wie Fragen des Entscheidungsmechanismus, der Interessen- und Positionssphären berücksichtigt. Da aber die konkreten Angelegenheiten im Mittelpunkt standen, waren die weitere Perspektive, die gesamte Funktion des gemeinsamen Minister¬ rates weniger im Blick. Nun bleibt noch zu fragen, welche Stellung der gemein¬ same Ministerrat in derpolitischen Struktur der Monarchie einnahm, welche \ Interessen seine Entscheidungen zur Geltung brachten, bzw. der Durchsetzung i welcher Interessen sie im Wege standen, und welchen Einfluß die Position ' sicherte. Im folgenden versuchen wir diese vor allem im Lichte der konkreten Fragen darzustellen. 415 GMR. v. 27. 4. 1890, RMRZ. 363. 416 GMR. v. I. 5. 1890, RMRZ. 367. 22IMT.' Ung.MR. v. 20. 6. 1890. 2. In Angelegenheit der Modifizierung der Gesetze bezüglich der militärischen Einquartierung, der militärischen Witwen und Waisen sowie der Alkohol- steuer und in der des Österreichisch-ungarischen Lloyd, OL., K. 27, Karton 47. 23/MT. Ung.MR. v. 26. 6. 1890. 1. In Angelegenheit der Modifizierung der Gesetze bezüglich der militärischen Einquartierung, der Versorgung der Militärwitwen und -waisen, sowie der Alkoholsteuer, OL., K. 27, Karton 47. 419 48/MT. Ung.MR. v. 19. 11. 1890. 8. Über die Modifizierung des militärischen Einquartierungs¬ gesetzes, OL., K. 27, Karton 48. 420 Magyar Törvenytär 1894-1895 296. || || Einleitung 155 Befugnis und Entscheidungsmechanismus Bei einer Untersuchung der Befugnis stößt der Forscher sofort auf ein halb terminoJogisches, halb staatsrechtliches Problem: Bildeten die gemeinsamen ^Minister zusammen eine Regierung? Das'ungarischeTusgleichsgesetz und das österreichische Btaatsgrund'gesetz gebrauchen in dieser Beziehung übereinstim- mend den Ausdruck „gemeinsames Ministerium".421 Der terminologische Aspekt des Problems ergibt sich daraus, daß im Ungarischen der Ausdruck „Ministerium im vorigen Jahrhundert die Regierung und die einzelnen Mini¬ sterien zugleich bedeutete. Daß das Wort Ministerium das Synonym des Begrif¬ fes Regierung war, geht aus dem Gesetzartikel III des Jahres 1848 über die Bildung des verantwortlichen Ministeriums hervor, der in einzelnen Paragra¬ phen statt von Regierung durchweg vom Ministerium spricht.422 Es besteht kein Grund zu der Annahme, daß die ungarischen Verfasser der 1867er Gesetze unter dem gemeinsamen Ministerium nicht eine gemeinsame Regierung verstanden, n den ernten Jahrzehnten nach dem Ausgleich harmonierte die staatsrechtliche rSSüu118 V? 18 UngarischefseTts wurde bei der ersten Delegaüonssitzung im Jahr 1868 nur der Ausdruck Reichsministerium bean¬ standet, doch man gab sich damit zufrieden, daß österreichischerseits darunter das gemeinsame Ministerium verstanden wurde0^war bezweifelte bei einer Gelegenheit Andrassy, daß die gemeinsamen Minister korporativ eine Regie¬ rung bilden, 4 doch gebrauchte auch er vor- und nachher häufig die Ausdrücke gememsame Regierung und gemeinsames Ministerium.425 Auch in der hier behandelten Zeitspanne war dieser Wortgebrauch ganz selbstverständlich Käl- noky sprach beispielsweise in der Sitzung vom 25. September 1886 nacheinander vom gemeinsamen_Ministerium und von der gemeinsamen Regierung,426 woge¬ gen sich Kalman Tisza mit seinem ausgeprägten Sinn ffiFdie staatsrechtlichen .u8f j n'CA1 VfWahrte- Ja in der Sitzung vom 5. Januar 1888 gebrauchte er selbst den Ausdruck gemeinsames Ministerium, und aus dem Textzusammen- fiang geht hervor, daß er darunter den gemeinsamen Ministerrat verstand.427 Auch in den Protokollen des ungarischen Ministerrates kam der Ausdruck gemeinsames Ministerium häufig und stets als Synonym für gemeinsame Regie- rung vor. Die ungarische Regierung verwahrte sich auch nicht gegen den Ausdruck gememsame Regierung im Text internationaler Verträge- das 1880 geschlossene Handelsabkommen mit Deutschland wurde vom Parlament so 421 Magyar Törvenytär 1838-1868 337 - Helbing, Das österreichische Gesetz vom Jahre 1867 über die gemeinsamen Angelegenheiten 73. ~ 422 '" Magyar Törvenytär 1836-1868 218-22G----« 423 Wertheimer, Graf Julius Andrässy Bd. 1M19-420. 424 Somogyi, Einleitung XV. 425 Vgl. GMR. v. 24. 2. 1878, HHStA., PA. I, Karton 290 426 GMR. v. 25. 9. 1886, RMRZ. 331. 427 GMR. v. 5. 1. 1888, RMRZ. 348. AJahhrree1m88s5,10O1LM., KK. V2l7l,0Kv aYrto"n «38 2-' nUngA.M^R.levg.e2n0h.e9it.1d8e8s5g.e2m. eIninAsanmgeenlegHeanuhsehitaldtessplgaenmeseivnosam- men Haushaltsplanes vom Jahre 1886, OL., K. 27, Karton 40. || || 156 Einleitung inartikuliert, daß sich in dessen Präambel auch die ominöse Bezeichnung „k. u. k. österreichisch-ungarische Regierung" befand.429 Jene Version, daß die gemeinsamen'Minister keine Regierung bildeten, kam zuerst in dem Entwurf einer Antwort des ungarischen Ministerpräsidenten Bänffy vor, die er auf eine im ungarischen Abgeordnetenhaus vorgebrachte Interpellation zu geben beabsichtigte. In dem Entwurf stand, daß die gemeinsamen Minister „kein einheitliches Cabinet bilden" und jene Ministerkonferenzen, an denen neben clen gemeinsamen Ministern auch Regierungsmitglieder der beiden Staaten teilnehmen, keine regelrechten Ministerräte seien.430 Zu diesem Punkt des Ant¬ wortentwurfes bemerkte der gemeinsame Außenminister, daß anstelle von „ein¬ heitliches" das Attribut „eigentliches" zweckmäßiger wäre, den meritorischen Teil des Problems berührte er aber nicht.431 Und zu jener Zeit war im gemeinsa¬ men Außenministerium bereits eine „Staatsrechtliche Notiz" fertiggestellt, de¬ ren Verfasser mit verschiedenen Argumenten untermauert hatte, daß der Aus-, druck „k. u. k. Regierung" in staatsrechtlicher Hinsicht völlig korrekt seifig Damit begann ein endloses staatsrechtliches Tauziehen, das bis zum Ende der Monarchie andauefte.433 Das schon die Zeitgenossen trennende staatsrechtliche Problem beschäftigte r auch die Geschichtsschreibung, die österreichisch-ungarische Gegenüberstel- ! lung reproduzierte sich aber glücklicherweise nicht. Eva Somogyi faßte ihre ! Meinung wie folgt zusammen: „Es ist wahrlich nicht eindeutig, ob diegemeinsa- I men Minister eine Regierung bildeten odefmcht, ob der Vorsitzende des ge- ' meinsamen Ministerrates als Reichsminister zu betrachten ist oder nicht, offen¬ sichtlich ist jedoch, daß derartige Tendenzen unter'dem Zwang der Praxis zur Geltung kamen."434 Ihrer elastischen Auslegung entsprechend führte sie auch eme ferminofogische Neuerung in Gestalt des Ausdrucks^ „gemeinsames Regi- _ment" ein, was vermutlich so zu verstehen ist, daß es sich um keinejRegjerung, aber um eine Art Regierung handelte. Das ist keine allzu glückliche Neuerung, denn abgesehen davon, daß der Ausdruck Regiment seinerzeit V so auch im Ausgleichsgesetz - tatsächlich zur Bezeichnung der Regierung gebraucht wur- de^Mvürde dies nur die terminologischen Probleme vermehren. Miklös Komjä- i , thy gelangte zu der Schlußfolgerung, daß „während des Ersten Weltkrieges der I gemeinsame Ministerrat unterwegs war zur RegieFungjIer österreichisch-ungä- I / rischen Monarchie, zur Reichsregierüng zu werHen`U3yWartef Goldinger teilt diese Meinung nicht: „Öb man allerdingsTniFRecht sagen kann, daß der 429 Magyar Törvenytär 1879-1880 286. 430 Entwurf einer von Herrn kgl. ung. Ministerpräsidenten Baron Bänffy dem Abgeordneten Gabriel Ugron zu erteilenden Antwort. (Von Sr. Exzellenz Baron Bänffy mitgeteilt.) HHSxA., PA. I, Karton 630. 431 Abschrift einer Note an den kgl. ung. Ministerpräsidenten Baron Bänffy v. 4.10. 1895, HHStA., PA. I, Karton 630. -432 Staatsrechtliche Notiz v. Juni 1895, HHStA., PA. I, Kartorf 63itl 433 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates[i7-28. ] 434 Somogyi, Einleitung XV. y 435 Magyar Törvenytär 1836-1868 337. /SA 436 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen MinisterratekyO. ) || || Einleitung 157 gemeinsame Ministerrat in seinem letzten Stadium, in den Jahren des ersten Weltkrieges, doch eine Art Reichsregierung wurde, wie Komjäthy meint, ist von der Struktureller eher zu verneinen."437 ~- In den geschichtswfssehschaftjichen Lntgfpfetationemwefmßehen sich bei der Beurteilung des RegierungscharaktersrStaatsrechffunBiFuhktidTil'recht weitge- hencTTbei Eva Somogyi handelt es sich um beides, bei Miklbs Komjäthy und Walter GoldingereKer nur um letztere. BeTemeFBetrachtung des Problems aus JL?in staatsrechtlicher Sicht sind wir der Meinung, daß die zeitgenössische öster¬ reichische Auffassung die richtigste war, indem sie den Ausdruck k. u. k. Regie¬ rung für korrekt erachtgteund die Vollzugsgewalt der österreichisch-ungari¬ schen Monarchie in 4en dreljRegierungen verkörpert sah.438 Das war übrigens - wie gesehen -- auch die ursprüngliche, zur Zeit des Ausgleiches vertretene und jiber ein Vierteljahrhundert lang bejbehaUene ungarische~Aüffa'ssüng. Zwar bestimmte das ungarische Ausgleichsgesetz die Befugnis des gemeinsamen Mini¬ steriums nur im negativen Sinne („hinsichtlich jener Gegenstände, die weder dem Regiment)der Länder der ungarischen Krone, noch den besonderen Regi- der übrigen'Länder Seiner Majestät unterstellt sind"),439 in anderem Zusammenhang stellte es aber klär fest, daß „es sich um den kollektiven und gemeinsamen Schutz" und seine beiden Instrumente, die auswärtigen Angele¬ genheiten unh das Kriegswesen, handelte. Auswärtige Angelegenheiten und Kriegswesen sind aber die beiden wichtigsten Merkmale der Staatssouyeränität, genau jöne Attribute, die der Vollzugsgewalt ziikommen. Daß die ungarische Regierung zugunsten einer anderen Körperschaft von der souveränen Aus¬ übung dieser Rechte Abstand genommen hatte, geht daraus hervor, daß das Gesetz zur Erledigung"cficser Angelegenheiten nicht alleirf die 'Verantwortlich¬ keit der einzelnen Minister, sondern auch die des'gesamten Ministeriums fest- stellte.440 Gleichzeitig legte dieses Gesetz (zusammen mit dem entsprechenden österreichischen) hinsichtlich der auswärtigen Angelegenheiten ausdrücklich fest, daß diese „im Einvernehmen der Ministerien [d. i. Regierungen] beider Parteien und mit deren Zustimmung" erledigt werden müssen.441 Auch hinsicht¬ lich des Kriegswesens sanktionierte es inVielen Beziehungen (so bei der Bestim¬ mung des Verteidigungssystems) die besonderen Rechte beider Regierungen.442 Die ungarische Regierung übertrug also gemeinsam mit der österreichischen die Ausübung eines Teiles ihrer souveränen Rechte einer Körperschaft, auf die sie selbst einen Einfluß'hatte und für deren Entscheidungen sie deshalb auch selbst 437 Goldinger, Die Zentralverwaltung in Cisleithanien 174. ^_^ 438 Vgl. Anm. 432. - Es lohnt sich zu bemerken, daß in einem Fall auch Andrässy vonQrePRegierungen sprach: „Für den Sprecher ist die Frage die, ob der Minister des Äußeren allein die Kreditforde¬ rung durchbringen kann, sobald nicht die Ministerien beider Reichshälfteneinverstanden sind. Diese Frage kann nur mit nein beantwortet werden, aber vereint und von demseibenTTefFTnkTn geleitet/können es die drei Ministerien gewiß." GMR. v. 2^77. 1878. HHStA PA I Karton 290. -- 439 MaPYar Törvenytär 1836-1868 337. 440 441 EBd. 335. 442 Ebd. 336. || || 158 Einleitung verantwortlich war. Und diese Körperschaft war ausschließlich der gemeinsame Ministerrat. Im staatsrechtlichen Sinn ist also der gemeinsame Ministerrat - unseres Erachtens - als gemeinsame Regierung der österreichisch-ungarischen Monarchie zu betrachten. Die Gewährleistung der Staatssouveränität - nach dem Wortlaut des ungari¬ schen Ausgleichsgesetzes der Einsatz der Verteidigung und ihrer beiden Instru¬ mente, der auswärtigen Angelegenheiten und des Kriegswesens - involvierte von der staatlichen Existenz nur die politischen Entscheidungen von primärer Wichtigkeit: vor allem die Bestimmung der außenpolitischen Strategie, die Feststellung dessen, welcher Staat oder Staaten die Sicherheit gefährdeten und wie die Gefahr am sinnvollsten abgewehrt werden könne - mittels der Bündnis- politik, der Demonstration der eigenen Kraft oder geradezu der Ultima ratio des Staates, des Krieges. Dazu gehörte weiter die Findung des Standpunktes hinsichtlich von Krisen und Kriegen, die nicht auf eigene Initiative hin entstan¬ den waren, aber die internationale Position des Staates berührten, die Entschei¬ dung, ob die Neutralität, die Verpflichtung gegenüber einer kriegführenden Partei oder die bewaffnete Einmengung am zweckmäßigsten war. Schließlich - da die Monarchie eine Großmacht war - gehörte auch die Stellungnahme in Fragen der militärischen Expansion, der Gebietseroberung, die Entscheidung darüber dazu, ob es notwendig und zweckmäßig wäre, das Territorium der Monarchie zu erweitern. In den Gesetzen war natürlich weder von außenpoliti¬ scher Strategie, noch von internationaler Position und auch nicht von Kriterien der Großmachtstellung die Rede. Die Entscheidungsfindung darüber gehörte jedoch zum Bereich der Sicherung der Souveränität. Als die ungarische und die österreichische Regierung den „kollektiven und gemeinsamen Schutz" beschlos¬ sen, übertrugen sie die mit der äußeren Funktion des Staates verbundenen Kompetenzen dem gemeinsamen Ministerrat„,u ' Der Forscher stößt hier auf die wesentlichste, gleichsam eigentliche Frage. Denn wohl hat es aus gewisser Sicht eine Bedeutung, ob das Gremium der gemeinsamen Minister oder der gemeinsame Ministerrat als Regierung galt oder nicht, doch bestimmt diese staatsrechtliche Qualifizierung die tatsächliche Be¬ fugnis dieser Körperschaft nicht. Die Geschichte kannte im vorigen Jahrhundert und kennt auch heute vieleTSefspiele für aus staatsrechtlichem Aspekt vollkom¬ mene Regierungen, die die tatsächliche Vollzugsgewalt dennoch nicht verkör¬ perten. Dem Forscher stellt sich auch in diesem Fall in erster Lime die Träge, ob der gemeinsame Ministerrat von den ihm durch die beiden Regierungen übertragenen Berechtigungen Gebrauch machen konnte und tatsächlich machte, ob er die Körperschaft war, welche die zum Begriffsbereich der Souve¬ ränität gehörenden primär wichtigen politischen EntscheiHungen getroffen hat. Miklös Komjäthy gab in seiner Studie über die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates und seine Funktion während des Weltkrieges auf diese Frage eine verneinende Antwort. Seine Argumentation baute er auf drei historisch-logi- scEen Pfeilern auf. Seiner Meinung nach ist die Angst der ungarischen politi¬ schen Führung vor einem Reichsparlament die efne der retardierenden Kräfte. Sie hatte zur Folge, daß sicfi äüch die' Kompetenz des gemeinsamen Mihisterra- || || Einleitung 159 parlai-T1-?ntarischcn Gegengewichts - einengte. Die andere war die Manifestation des Herrscherwillehs, der im Ideal des Absolutismus wurzelte - und auch in diesef Körpersehaft eine eher beratende als mit eigener Kompetenz .„^"sgestattete Institution sehen wollte. Und die dritte schließlich war die Habs- burger-Trad'üon, die bei den auswärtigen Angelegenheiten eine korporative -.bAc.hbearbeitung schon immer ausschloß. Komjäthy wies wohl - wie weiter oben zitiert - auf gewisse Tendenzen hin, die zur Zeit des Weltkrieges den gemeinsamen Ministejrat zu einer Regierung der Monarchie gestalten wollten er kommt aber letztlich zu dem Schluß, daß „... der als höchstes Regierungsor¬ gan gedachte gemeinsame Ministerrat kaum mehr war als das.höchste beratende Organ derKrone und ein Debattenforum, wo versucht wurde,'die oft entgegen^ gesetzten Interessen der österreichischen und ungarischen Regierung und ihre entgegengesetzten Anschauungen in Einklang zu bringen".443 Komjäthy leitete seine Meinung in erster Linie von der Funktion des gemein¬ samen Mmisterrates während des Weltkrieges ab, stützte sie aber auch auf eine Analyse dreier früherer Protokolle von 1878, 1908 und 1914. Uns scheint die Praxis bzw. der politische Entscheidungsmechanismus des gemeinsamen Mini¬ sterrates m den anderthalb Jahrzehnten nach dem Ausgleich diese Anschauung teils zu bestätigen und teils zu widerlegen. Die Praxis der ersten Jahre nach dem Ausgleich erweckt den Eindruck, daß der gemeinsame Ministerrat ein echtes forurn der politischen Entscheidungsfindung war. Als im Sommer 1870 der deutsch-französische Krieg ausbrach, beriet der gemeinsame Ministerrat das r'gf Verhalten der Monarchie im Zusammenhang mit der politischen Lage und faßte nach einer eingehenden und weithin scharfen Debatte den Beschluß daß die Monarchie den Standpunkt der abwartenden Neutralität einnehmen und gleichzeibg mit der durch die Lage gebotenen Rüstung beginnen solle.444 Nach den ersten französischen Niederlagen war es abermals der gemeinsame Ministerrat, der in seiner Sitzung vom 22. August beschloß, die frühere preußen- und russenfeindhche Lime trotz der veränderten Umstände beizubehalten und Frankreich Unterstützung zur Erhaltung seiner territorialen Integrität zu ge¬ wahren. Als Rußland im Herbst 1870 die sich auf die Neutralisierung des Küstengebietes des Schwarzen Meeres beziehenden Artikel des Pariser Vertrags von 1856 einseitig kündigte, nahm der gemeinsame Ministerrat vom 14. Novem¬ ber 1870 dahingehend Stellung, daß der einseitige russische Schritt zurückgewie- Sen44TM^de" unddie Monarchie entsprechende Gegenmaßnahmen treffen müs¬ se. Die Beschäftigung des gemeinsamen Ministerates mit der Außenpolitik ging bei dieser Gelegenheit so weit, daß er sogar die Instruktionen der zur Londoner Konferenz reisenden österreichisch-ungarischen Delegierten erörter¬ te und guthieß.447 Das große Dokument des außenpolitischen Richtungswech- 443 444 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates *83-843 KHSrÄ PÄ. h lCarton 285. - Unverkürzter Text des Prow/co/ÄTDröszEGl, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 286-296 e 445 GMR. v. 22. 8. 1870. HHStA., PA. I, Karton 285. 446 GMR. v. 14. 11. 1870, HHStA., PA. I, Karton 285 447 GMR. v. 17. 12. 1870, HHStA., PA. I, Karton 285 || || 160 Einleitung sels, das Memorandum Beusts vom 18. Mai 1871, in dem der gemeinsame Außenminister die Schaffung eines FreuncfscHäftlichen Verhältnisses zu Deutschland beantragte, wurde zwar nicht vom gemeinsamen Ministerrat be¬ handelt, aber auf Wunsch der österreichischen und der ungarischen Regierung angefertigt und war beiden Ministerpräsidenten und - in großen Zügen - auch beiden Delegationen bekannt.448 Gegen Hohenwarts staatsrechtlichen Versuch brachte Beust im Herbst des gleichen Jahres als eines der wichtigsten Argumente vor, daß die Erfüllung der böhmischen Wünsche eine Modifizierung der von den Delegationen angenommenen außenpolitischen Richtlinie nach sich ziehen wür¬ de.449 Auch in den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates in der zweiten Hälfte der 70er Jahre sind meritorische politische Entscheidungen zu finden. Am 24. August 1878 entschied das Gremium nach der Okkupation von Bosnien- Herzegowina, daß dessen Annexion - obwohl sie in österreichischen Kreisen heftig gefordert wurde - zwecklos sei und die Souveränität des türkischen Sultans und die Symbole der Souveränität auch weiterhin anerkannt werden müßten.450 Im Laufe der 70er Jahre kann aber der obige Fall eher als Ausnahme denn als Regel gelten. Andrässy, der im November 1871 ernannte neue gem,einsame Außenminister, legte sein außenpolitisches Programm im Februar J872Jnicht _ dem gemeinsamen Ministerrat, sondern einer riulitärpolitischen Konferenz un- ter Teilnahme des Monarchen, des Generalinspektors der Armee und des ge- 'Ämeinsamen Kriegsmihisters vor, und diese bestätigte, daß die Außenpolitik der Monarchie künftig auf die Verteidigung gegen Rußland ausgerichtet werden müssjVPyAm 29. Januar 1875 beschloß das gleiche_Gremium auf Antrag des "gemeinsamen Außenministers, daß die österreichisch-ungarischen Streitkräfte, falls es auf der Balkanhalbinsel zu gären beginne, in Bosnien-Herzegowina einmarschieren und die beiden Provinzen in jdie Monarchie einverleiben müs¬ sen.452 Zur im Sommer 1875 begonnenen Orientkrise traf (Ter gemeinsame "Tvfinisterrat anders als im Falle seiner Praxis während des deutsch-französischen Krieges keine einzige politische Entscheidung, und auch der Budapester Vertrag vom Jahre 1877, der die Monarchie in einem eventuellen russisch-türkischen Krieg zur wohlwollenden Neutralität gegenüber Rußland verpflichtete, wurde ^geschlossenröhhe daß der gemeinsame Ministerrat darüber informiert wurde. Die durch den russisch-türkischen Krieg"Tüld die entsdheidenden militäriscßeri* Erfolge Rußlands entstandene neue Situation wurde ebenfalls nicht vom ge¬ meinsamen Ministerrat, sondern von der militärpolitischen Konferenz beraten. Ihr legte Andrässy am 15. Januar 1878,seinen Antrag vor, gegen die in eine strategische Sackgasse geratene russische Armee eine militärische Aktion zu unternehmen, und sieTällte auch die Entscheidung über die militärischen Vorbe- 448 Lutz, Zur Wende der österreichisch-ungarischen Außenpoliti 449 GMR. v. 20. JO. 1871, HHStA., PA. I, Karton 286. 450 GMR. v. 24. 8. 1878, HHStA., PA. I, Karton 290. 451 Lutz, Politik und militärische Planung 29-44^) 452 Diöszegi, Die Außenpolitik der Österreichiscf-Ungarischen Monarchie 321-332. || || Einleitung 161 Jungen, einschheßlich der Mobilisierung.453 t)er gemeinsame Ministerrat trat wohl danach ebenfalls zweimal zusammen und führte über die Lage eine einge¬ hende politische Debatte, aber im Bewußtsein der bereits gefallenen Entschei¬ dung, daß die Monarchie zur Stärkung ihrer eigenen Lage militärische Vorberei¬ tungen unternehmen würde. Der gemeinsame Ministerrat konnte nur noch darüber beschließen, für die Vorbereitungen die vom gemeinsamen Außenmini¬ ster verlangte Summe bereitzustellen.454 Die militärpolitische Konferenz trat auch im April wiederholt zusammen und traf der veränderten Situation entspre- / chend immer neue politische Entscheidungen.455 Sie blieb auch nach dem Rück- I tritt Andrässys jenes Forum, in dem die wichtigen Fragen der Außenpolitik beraten und meritorische Entscheidungen getroffen wurden. Der gemeinsame Außenminister Haymerle, der sein Amt im Herbst 1879 antrat, legte seinen ersten Lagebericht ebenfalls dort vor. Die Konferenz vom 6. Januar 1880 nahm den Standpunkt ein, daß Rußland nach wie vor als erstrangiger Gegner der Monarchie zu betrachten sei, und wies zugleich den von den militärischen Kreisen vertretenen Gedanken eines Präventivkrieges gegen Italien zurück.456 Im Lichte der anderthalb Jahrzehnte langen Praxis zeichnen sich drei Typen der zum Begriffsbereich der Souveränität und der „kollektiven und'gemeihsa- men Verteidigung" gehörenden Entscheidungen ab. Im ersten Fall war der gemeinsame Ministerrat selbst das Forum der Entscheidung, das mit völliger Autorität, ohne jede Unter- oder Beiordnung das letzte Wort über das außenpo¬ litische Verhalten der Monarchie sprach. Hierbei fungierte also der gemeinsame Ministerrat als tatsächliche Vollzugsgewalt. Für diesen Typ der Entscheidung liefern die zur Zeit des deutsch-französischen Krieges getroffenen Entscheidun¬ gen zahlreiche Beispiele. Im zweiten Fall fiel die Entscheidung anderswo, zu¬ meist in der militärpolitischen Konferenz. Der gemeinsame Ministerrat wurde davon informiert, seine Befugnis beschränkte sich aber darauf, zur finanziellen Deckung der schon getroffenen Entscheidung Stellung zu nehmen. Bei solchen Gelegenheiten hatte der gemeinsame Ministerrat keine Durchführungsbefugnis seine Funktion erinnerte mehr an die Tätigkeit emer über den Staatshaushalt debattierenden, gesetzgebenden Körperschaft. Dafür bieten die beiden in der Endphase des russisch-türkischen Krieges abgehaltenen Ministerräte ein gutes Beispiel. Auch im dritten Fall wurde die Entscheidung schließlich anderswo getroffen, und zwar wiederum in der militärpolitischen Konferenz, nun aber ohne den gemeinsamen Ministerrat zu befragen, ja sogar ohne ihn zu informie¬ ren. Der gemeinsame Ministerrat hatte in solchen FäHen überhaupt keine Funktion und konnte nicht einmal als Schattenregierung betrachtet werden. Die ^;Z,f/aß,teS Resümee cler am 15- 1. 1878 unter Ah. Vorsitze stattgehabten Konferenz, KA. MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 70, Nr. 59. 454 GMR. v. 7. bzw. 24. 2. 1878, HHStA., PA. I, Karton 290. Protokoll der unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 16. 4. 1878 stattgehabten betreffend die mit Rücksicht auf die gegenwärtige allgemeine politische Lage etwa zu ergreifenden militärischen Maßregeln,_KA., MKSM. 69-1/29 ex 1878. Protokoll der am 7. 1. 1880 unter Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers und Königs stattgehab¬ ten Konferenz über die allgemeine militärisch-politische Lage, KA., MKSM. 20-1/1 ex 1880. || || 162 Einleitung die außenpolitische Strategie bestimmenden beiden militärpolitischen Konfe¬ renzen zu Beginn der Tätigkeit Andrässys bzw. Haymerles als Außenminister sind gute Beispiele für die völlige Bedeutungslosigkeit des gemeinsamen Mini¬ sterrates. Die Frage, ob der gemeinsame Ministerrat von der ihm durch die beiden Regierungen übertragenen Befugnis Gebrauch machen konnte und tatsächlich machte, ob er die Körperschaft war, welche die zur Souveränität gehörenden Entscheidungen von primärer politischer Wichtigkeit traf, kann also kaum eindeutig mit Ja oder Nein beantwortet werden. Die Antwort kann nur heißen: zuweilen ja, zuweilen nein. In Sachen der „kollektiven und gemeinsamen Vertei¬ digung" übte der gemeinsame Ministerrat wohl eine Vollzugsgewalt aus, seine Autorität war aber keinesfalls vollkommen und seine Ausübung der Macht mußte er sich mit anderen Körperschaften teilen. Auf die Frage, warum der gemeinsame Ministerrat nur das oberste Bera¬ tungsorgan und das interessenvereinende Diskussionsfbruni der Krone blieb, gab Miklös Komjäthy eine überzeugende Antwort, deren wichtigste Argumente ^weiter oben bereits zitiert wurden. Ihm fiel aber die Ambivalenz in der Macht¬ struktur der Monarchiejiicht auf, die Tatsache, daß der gemeinsame Minister¬ rat zu gewissen Zeiten und Gelegenheiten die tatsächliche Vollzugsgewalt aus¬ übte. Da er dies nicht sah, interpretierte und erklärte er es auch nicht. Dies bleibt alsq uns Vorbehalten, die wir diese Ambivalenz glauben beweisen zu können. Mit Miklos Komjäthy ist anzunehmen, daß die Antwort auch in diesem Fall nicht in erster Linie im Bereich des Staatsrechtes zu suchen ist. Denn die gewisse ~RechtsJücke innerhalb der staatsrechtlichen Regelung - daß nämlich niemals genau festgelegt wurde, welche konkreten Angelegenheiten in den Zuständig¬ keitsbereich des gemeinsamen Ministerrates gehörten - und die daraus resultie¬ renden Befughlsflüktuatiohen geben noch keine befriedigende Erklärung dafür, warum das staatsrechtliche Pendel bald in Richtung des einen, bald des anderen Extrems ausschlug. Die Antwort muß gewiß in der politischen Sphäre gesucht werden, vor allem in der Reichsdisposition der beiden führenden Nationen, der österreichischen und der ungarischen, darinTwie sie ihre eigenen Interessen mit jenen cies Reiches zu identifizieren verstanden und in welchem Maß sie bestrebt waren, ihre Interessen auf Reichsebene zum Ausdruck zu bringen. Falls diese Tendenz intensiv und kräftig war, wurden die gemeinsamen Institutionen und Positionen aufgewertet, waren doch die gemeinsamen Institutionen - darunter vor allem der gemeinsame Ministerrat - die Foren, in denen das auf Reichsebene erhobene Nationalinteresse am wirksamsten vertreten werden konnte. An zwei¬ ter Stelle sind die persönlichen Beziehungen zu erwähnen, ob die führenden "Nationen über so gewicht!ge~politIsche Persönlichkeiten verfügten, daß sie die mit den Reichsinteressen identifizierten Nationafinfefessen mit entsprechender Autorität zum Ausdruck bringen und die MäueFäurchbrechen konnten, die die "Häbsburger-Tradition vor ihnen aufgebäut hatte. Schließlich konnte die Auf-' 'wertuhg des gemeinsamen'Mihisteriätes, die Stärkung seiner Vollzugsbefugnis, auch durch innere und äußere Krisensituationen gefördert werden, denn diese verlangten Entscheidungen auf möglichst breiter politischer Basis. || || Einleitung 163 Unserer Meinung nach geht die politische Entscheidungspraxis in den andert¬ halb Jahrzehnten nach dem Ausgleich, der Aufstieg des gemeinsamen Minister¬ rates zum Entscheidungsträger und dann sein Absinken zur Bedeutungslosigkeit, auf ein ganz spezifisches Zusammenwirken dieser genannten Faktoren zurück.' In den ersten Jahren bestand eine tatkräftige Reichsdisposition sowohl des . österreichischen,als auch des ungarischen Nationalismus. Die Österreicher be- , / fürchteten eine preußische Expansion -- ein nulifansch zusammengeschlossenes ` Groß-Preußen stellte für Österreich eine drohende Gefahr dar, schrieb die Neue j nl- Freie Presse457 und die Ungarn erfüllte die Existenz Rußlands mit Schrecken,., , so sehr, daß das Blatt Pesti Naplö die Bezeichnung „ungarischer Politiker" all " ' f 1 '. denen entzog, die nicht die russische für die Hauptgefahr Unga7ns"hlelte£®>Die „kollektive und gemeinsame Verteidigung" schien aktueller denn je zu sein, und für die Manifestation des auf Reichsebene erhobenen nationalen Standpunktes war der gemeinsame Ministerrat das entsprechendste Forum. Für die Manife¬ station der Eigeninteressen waren auch die personellen Gegebenheiten günstig. An der Spitze der ungarischen Regierung stand Gyula Andrässy, der zu jener Zeit bedeutendste Politiker mit dem feinsten Gespür für den Großmachtstatus der Monarchie, ohne und gegen den Außehpöliti'k zu betreiben einfach unmög¬ lich war. Sein Gegenspieler, der aus Sachsen stammende Beust, war am wenig¬ sten dazu geeignet, die Tradition Metternichs zu vertreten. Unter solchen politi¬ schen und personellen Bedingungen konnte unter Umgehung des gemeinsamen Ministerrates keine Entscheidung getroffen werden, zumal auch die kritische Lage infolge des deutsch-französischen Krieges die Autorität dieser Körper¬ schaft noch mehr betonte. Durch den Rücktritt_B_eusts und die Ernennung Andrässys zum Außenminister änderten sich hingegendie Bedingungen radikal. Die deutschösterreichische hberare Partei, bisher die bedeutendste Reprasen-' tantin des Reichsinteresses, vej-lor - nachdem sie die Versöhnung mit Bismarck- Deutschland erzwungen hatfe -'ihr Interesse an der Außenpolitik und versank in totale Apathie. Charakteristischerweise erklärte der österreichische Minister¬ präsident Fürst Auersperg im gemeinsamen Ministerrat vom 24. Februar 1878, als ein Krieg gegen Rußland zur Debatte stand, er halte sichTncht'fur berufen! die politischen Beziehungen der Lage zu_ berühren.459 Die politische Führungs¬ schicht Ungarns war demgegenüber in den 70er Jahren mit unverminderter Intensität bestrebt, die Außenpolitik der Monarchie zu magyarisieren, aller- . dings änderte sich auch bei ihr die Form der Interessenartiküiätibn'.Hnfolge der Krisen in der ersten Hälfte der 70er Jahre ging der außenpolitische Einfluß der ungarischen Regierung zurück, und Kaiman Tisza, der die Phase der Stabilisie¬ rung einleitete, konnte - obwohl gleichfalls eine bedeutende Persönlichkeit - in außenpolitischer Hinsicht doch nicht mit Andrässy verglichen werden. Die wesentlichste Änderung trat aber dadurch ein, daß ein 'ungarischer Politiker // gemeinsamer Außenminister geworden war und sich dämrt cfiU'MÖglfchkert [/ || || 164 Einleitung , einer direkten Vertretung des ungarischen Standpunktes zu ergeben schien, was die Bedeutung des gemeinsamen Ministerrates, der die ungarischen Interessen nur in indirekter Weise durchsetzte, aus ungarischer Sicht verringerte. Auch Andrässy neigte dazu, dem Vorbild von Kaunitz und Metternich folgend, den Einfluß dieser Körperschaft auszuschließen und dadurch die Regeln der Kabi- ,_nettspolitik zur Geltung zu Bringen. Bei einer Gelegenheit, gerade im Februar 1878, äußerte er zwar verärgert zum Wiener deutschen Botschafter, daß er nicht über die Befugnis eines' absoluten Ministers verfüge,460 nach seinem Rücktritt aber rühmte er sich dessen, daß sich ein deutschösterreichischer Außenminister keine acht Tage hätte halten können und eine tschechische Regierung gar innerhalb von vierundzwanzig Stunden am Ende gewesen wäre.461 Seine Selbst- Sicherheit gründete darauf, daß er - als Ungar - tun konnte, was er wollte, ohne verdächtigt zu werden, daß er die Monarchie an Rußland ausliefern wolle. Da i er von österreichischer Seite nichts zu befürchten hatte und sich von Ungarn her I gedeckt fühlte, konnte er seinen autoritären Neigungen ohne Risiko freien Lauf / lassen und den gemeinsamen Ministerrat zur Routinearbeit der Vorbereitung des gemeinsamen Staatshaushaltes verdammen. Die militärpolitische Konferenz * aber, die zu seiner Zeit in vielen Beziehungen die frühere Kompetenz des gemeinsamen Ministerrates übernommen hatte, war eine Kreatur des Herr¬ schers und störte daher seinen Leitungsstil „eine Person, ein Wille" im Sinne Metternichs kaum. Haymerle hingegen, der vom Habitus her Ändrässy in nichts ähnelte, paßte sich, indem er ebenfalls die militärpolitische Konferenz präferier- te, einfach der von seinem berühmten Vorgänger geschaffenen Praxis an. Nach Darstellung der Vorgeschichte und der Typisierung des Entscheidungs¬ mechanismus in der Monarchie bleibt nur noch die eigentliche Frage zu beant¬ worten, wie sich dies alles in der behandelten Periode, der Zeitspanne zwischen 1883 und 1895, gestaltete, welchen Platz damals der gemeinsame Ministerrat in der Entscheidungsstruktur einnahm, wefcHe Rolle er in den zum Begriffsbereich der Souveränität gehörenden grundlegenden Fragen, bei der Entscheidung der Probleme der „kollektiven und gemeinsamen Verteidigung" spielte. Aufgrund der zur Verfügung sfehehden ünd im 'Band veröffentlichten Proto¬ kolle kann mit völliger Gewißheit festgestellt werden, daß der gemeinsame Ministerrat in dieser Periode nichUdas Forum der Entscheidungen über die grundlegenden Fragen der Souveränität war. Er hatte nicht das letzte Wort über die außenpolitische Strategie, die Sicherung der Machtstellung der Monarchie oder das zweckmäßige Verhalten in kritischen Situationen. Der gemeinsame Ministerrat gewann seine unmittelbar nach dem Ausgleich besessenen Befugnis¬ se auch in jener Periode nicht zurück, in der er als tatsächliche Vollzugsgewalt fungierte. Andererseits känrT- wenn auch nicht mit gleich großer Sicherheit - festgestellt werden, daß in grundlegenden Fragen der Souveränität auch keine andere Körperschaft, namentlich die militärpolitische Konferenz, Entsclieidun- 460 Stolberg an Bülow v. 22. 2. 1878, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Bonn. I. A. B. q (Türkei) 125. adh. 8. Vol. 2. 461 Vgl. Anm. 56. || || Einleitung 165 gen traf, ohne daß darüber der gemeinsame Ministerrat informiert worden wäre Protokohe über derartige Beratungen, wie sie zur Zeit Andrässys im Februar 1872 und Januar 1875, bzw. zur Zeit Haymerles im Januar 1880 stattfanden, kamen zumindest bisher im Archiv der Militärkanzlei nicht zum Vorschein Der gemeinsame Ministerrat hatte zwar seine frühere Bedeutung unter Kälnoky mein zurückgewonnen, aber es wurden keine Entscheidungen über ihn hinweg getroffen wie unter Außenminister Andrässy. In der Entscheidungsstruktur der Monarchie war der gemeinsame Ministerrat zu dieser Zeit eine Institution der Durchführung von Entscheidungen. Die Entscheidungen über grundlegende Fragen der „gemeinsamen und kollektiven Verteidigung" selbst wurden zumeist anderswo getroffen, konnten aber erst nach seiner Befragung, im Einvernehmen mit ihm und unter seiner Mitwirkung in Kraft treten. Da die bisherigen Darstellungen zumeist konkrete Angelegenheiten behan¬ delten, stand der Entscheidungsmechanismus relativ im Hintergrund der Be¬ trachtung. Ihn etwas schärfer zu beleuchten, dazu scheinen sich die Beratungen in der Krisenperiode, um die Wende der Jahre 1886/87 und 1887/88, sowie über die Heeresentwicklung 1892/93 am besten zu eignen. Die Protokolle der Beratungen an der Jahreswende 1886/87 beleuchten be¬ sondersgut den Aufgabenkreis der Mitwirkenden am gemeinsamen Ministerrat. Die militärpolitische Situationsanalyse erstellte der Generalstabschef, der auch die zu treffenden militärischen Maßnahmen beantragte. Seine Vorschläge wur¬ den von zwei militärischen Konferenzen erörtert, an deren erster auch die beiden Landesverteidigungsminister teilnahmen, an der zweiten nur die höchsten mili¬ tärischen Würdenträger. Letztere, am 21. Dezember 1886, enthielt zwei für die Art der Entscheidungsfindung beachtenswerte Momente. Erstens wurde kein politischer Lagebericht gegeben. Obwohl der Monarch die politischen Auswir¬ kungen der zu treffenden Maßnahmen erwog, dominierten in den getroffenen Maßnahmen allein die militärischen Gesichtspunkte. Zweitens -- und für unser Thema ist dies das wichtigere -- erklärte der Herrscher den einzuberufenden gemeinsamen Ministerrat nur für die Votierung der Kosten der Vorkehrungen für zuständig und verzichtete auf eine Meinungsäußerung des Gremiums über deren politische Notwendigkeit. Zudem verbot er ausdrücklich, den Ministern v°n gewissen Punkten der Vorschläge des^Generalstabschefs Kenntnis zu ge- ben. Danach ist es ganz natürlich, daß Kalnoky sich im gemeinsamen Mini- sterrat am 5. Januar 1887 nur noch auf die Geldmittelbeschaffung für die militärischen Maßnahmen beschränkte. Gar nicht natürlich, aber ebenso eine I Tatsache ist, daß der gemeinsame Ministerraflur sich keine weitergehende Befugnis beanspruchte, sonffemach incBe oben erö7terte,'lahgwierige'Fihahz- ' debafte vertiefte, um seine anschließende Entscheidung dann darauf zu be¬ schränken, den beanspruchten Betrag den Delegationen zur Bestätigung vorzu¬ legen.463 Die Protokolle der Beratungen um die Wende der Jahre 1887/88 sind ein 462 Vgl. Anm. 187. 463 Vgl. Anm. 188 und 189. || || 166 Einleitung Beleg dafür, daß der gemeinsame Ministerrat neben der Mitwirkung bei der Beschaffung der nötigen Geldmittel auch zum Forum der Erklärung des Einver¬ ständnisses mit den Entscheidungen politischen Charakters werden konnte. Äußerlich glich das Drehbuch vollauf dem ein Jahr früheren: Der Generalstabs¬ chef beantragte die militärischen Maßnahmen, die militärische Konferenz ent¬ schied über sie, und der gemeinsame Ministerrat stimmte der Deckung der Kosten zu. Auch der Geschäftsgang glich dem vorjährigen, indem der Monarch wiederum nur mit der Zustimmung des gemeinsamen Ministerrates zu den Kosten rechnete und gewisse Informationen verheimlichen wollte - wenn nun auch nicht vor dem gemeinsamen Ministerrat, sondern vor der österreichischen Regierung, da es sich um eine eventuelle Mobilisierung der Landwehr handel¬ te.464 Diesen gemeinsamen Ministerrat unterscheidet aber wesentlich von dem ein Jahr früheren, daß Kälnoky nicht nur auf der Genehmigung der sich ergebenden Kosten bestand, sondern auch auf einer Entscheidung über das Verhalten der Monarchie gegenüber den russischen militärischen Schritten und über die Durchführung der von den militärischen Autoritäten beantragten Gegenmaßnahmen.465 Es kam dann zwar nicht zu einer ausgesprochen politi¬ schen Entscheidung, aber zu einer eingehenden politischen Debatte, und an ihrem Ende wurde die Notwendigkeit militärischer Gegenmaßnahmen bestätigt, die Deckung der Unkosten genehmigt und beschlossen, den Kostenvoranschlag der Militärführung den Delegationen vorzulegen. Die Erklärung des Einver¬ ständnisses mit der Entscheidung politischen Charakters war aber im gegebenen Fall von mindestens ebensolcher Bedeutung wie die Genehmigung der finanziel¬ len Mittel. Die Protokolle der Beratungen an der Wende von 1892/93 erbringen den Beweis, daß der gemeinsame Ministerrat in_Ausnahmefallen auch Entschei¬ dungsbefugnis hatte. Das die militärische Rückständigkeit der Monarchie do- kumentiefe'nde Memorandum und den Armee-Entwicklungsplan fertigte der Generalstabschef an, aber dafür war er ja letztlich zuständig.466 Seine Elaborate behandelte am 16. November 1892 eine militärische Konferenz, ohne wirklich zu entscheiden. In seinem Schlußwort legte der Monarch nur den weiteren Geschäftsgang fest: Das Memorandum solle dem gemeinsamen Außenminister, den beiden Ministerpräsidenten, dem gemeinsamen Finanzminister und den beiden Landesverteidigungsministern zugeleitet und dann von der unter dem Vorsitz Kälnokys abzuhaltenden Konferenz, also vom gemeinsamen Minister¬ rat, behandelt werden.467 Dabei reduzierte er dessen Befugnis wiederum nur auf eine Stellungnahme zu den Kosten. Da aber die militäriscfie Konferenz nur über Informationscharakter verfügte, lag offensichtlich auch die Entscheidung dar¬ über, ob die beantragte Entwicklung überhaupt notwendig sei, beim gemeinsa¬ men Ministerrat. Kälnoky legte jedenfalls den Auftrag für den gemeinsamen 464 Vgl. Anm. 193. 465 Vgl. Anm. 194. 466 Vgl. Anm. 268. 467 Vgl. Anm. 371. || || Einleitung 167 Ministerrat so aus und eröffnete die Beratung am 2. Februar 1893 damit, daß die Körperschaft im Interesse der Sicherheit der Monarchie die beantragten Maßnahmen zur Behebung der in den Ausrüstung entstandenen Mängel bera¬ ten solle. Die Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates äußerten sich dann auch in dieser Weise. Der erste Redner, der ungarische Ministerpräsident, hielt es ebenso wie der sich später äußernde österreichische Ministerpräsident in erster Linie für wichtig, sein Einverständnis sowohl mit der Situationsanalyse des Generalstabschefs als auch mit den beantragten Maßnahmen zum Ausdruck zu bringen. Die Vereinbarung, die bei der zweiten Beratung zu Protokoll ge¬ nommen wurde, enthielt dann nur die Bestätigung der Finanzmittel und deren jährliche Raten,468 doch auch so war es offensichtlich geworden, daß der gemein¬ same Ministerrat, indem er die Armee dem Niveau der europäischen Gro߬ mächte näher bringen wollte, eine in den Begriffsbereich der „kollektiven und gemeinsamen Verteidigung" gehörende Entscheidung politischen Charakters traf. Diese Beispiele belegen, daß der gemeinsame Ministerrat, wenn er auch seine Rolle aus der Zeit unmittelbar nach dem Ausgleich nicht zurückgewinnen konnte, in der Entscheidungsstruktur der Monarchie eine bedeutendere Stellung bekleidete als im Jahrzehnt zuvor. Das wird kaum an 'einer Änderung der _Reichsgesinnung der führenden Nationen gelegen haben. TÖie Österreicher leg- ten nach wie vor ein gleichgültiges Verhalten zu den großen Fragen der Außen¬ politik an den Tag und zeigten allein dann gewisse Aktivitäten, wenn - wie dies bei den staatsrechtlichen Fragen zu sehen war - vom Schutz der" scheinbaren Einheit des Reiches die Rede war. In den Ungarn waren Neigung und Bestre¬ bungen zurJVIagyarisierung der Reichsaußenpolitik weiter lebendig, werinsich auch seit Beginrider 90er Jahre schon Tendenzen zur Trennung von Reichs- und JJSgarisghem Interesse zeigten. Der ungarische Einfluß im Sinne einer Äuswei-''" tung der Rolle der gemeinsamen Institutionen und damit auch des gemeinsamen Ministerrates wird daher wohl kaum stärker gewesen sein als in den dem Ausgleich folgenden Jahre. Daß es'dennoch zu einer Ausweitung der Rolle kam, ist vermutlich in erster Linie auf persönliche Ursachen zurückzuführen. Dabei ist gar nicht vor allem an Kalman Tisza und die ihm folgenden ungarischen Ministerpräsidenten, an ihre Aktivitäten in den gemeinsamen Angelegenheiten zu denken, obwohl Kaiman Tisza in dieser Hinsicht eine bestimmende Rolle spielte, sondern an die persönliche Einstellung des gemeinsamen Außenmini¬ sters GustavjCälnoky. Als nach dem Tode Heinrich Haymerles erstmals davon die Rede war, daß er, der damalige Petersburger Botschafter, den Posten des gemeinsamen Außenministers übernehmen soll, brachte er in einem langen Brief seine Einwände vor, unter anderem, daß ein Berufsdiplomat zur Bekleidung dieses Postens keinesfalls geeignet sei. Der gemeinsame Außenminister müsse eine Persönlichkeit sein, die sich wenigstens der Unterstützung.des einen der beiden Parlamente erfreue und auf die RegierungenuHdTärteien einen-'gesetz¬ lich wohl nichtgaranfrerten, aber immerhin bestimmenden - Einfluß auszuüben 468 Vgl. Anm. 273. || || 168 Einleitung fähig wäre.469 Auch ohne daß er dies direkt äußerte, war es klar, daß er an einen solchen Einfluß dachte, über den Andrässy verfügt hatte. Als er dann trotz seiner Vorbehalte den ehrenvollen, aber lästigen Auftrag annehmen mußte, war ihm klar, derartige Reichskanzlerallüren wie Andrässy nicht annehmen zu können. Deshalb mußte er unter anderem jenem Forum, in dem sich die Reichsbestrebungen der führenden Nationen, namentlich der Ungarn artiku¬ lierten, also dem gemeinsamen Ministerrat, eine größere Rolle als bisher sichern. Und es ergab sich ganz von selbst, daß sich seine Neigungen, die der Beurteilung seines Amtes als gemeinsamer Außenminister entsprangen, in den kritischen Perioden noch nachdrücklicher zeigten. Die Beratung der Angelegenheiten und die Durchsetzung der Interessen Der gemeinsame Ministerrat hatte nicht nur zu den grundlegenden Fragen der Souveränität Stellung zu nehmen, sondern sich auch mit den alltäglichen und fortlaufenden Angelegenheiten sowie den gelegentlichen Teilproblemen der „kollektiven und gemeinsamen Verteidigung" zu befassen - und besonders mit diesen. Seine Tätigkeit bestand zum überwiegenden Teil aus der Erörterung des Budgets der gemeinsamen Angelegenheiten, der Vorbereitung der mit der ge¬ meinsamen Verteidigung verbundenen Gesetze, der Abstimmung der Gesichts¬ punkte von Außenhandelsabkommen und der Klärung staatsrechtlicher Fra¬ gen. Diese Aufgaben waren zwar nicht so bedeutungsvoll wie etwa die Fragen von Krieg und Frieden, doch mußten sie im Interesse eines funktionierenden Staatsmechanismus erledigt werden, wenn es nicht zu schweren Funktionsstö¬ rungen kommen sollte. Für derartige Angelegenheiten hatten sich im gemeinsa¬ men Ministerrat schon gewisse allgemeine Formeln herausgebildet. Der Ministerrat, die Beratung der Regierungsmitglieder, hatte in den verfas¬ sungsmäßig parlamentarischen Systemen die Aufgabe, sämtliche Angelegenhei¬ ten der Vollzugsgewalt zu erledigen. Wie dies die Regierungsgeschichte beweist, hatte jede Regierung in der Sachbearbeitung ihre eigene, recht breite Skala entwickelt. So nahm der ungarische Ministerrat den Antrag des Vertreters irgendeines Fachministeriums zur Kenntnis, stimmte eventuell zu, beauftragte einzelne Minister, ein Fachgutachten vorzulegen, ermächtigte den Ministerprä¬ sidenten, von Fall zu Fall nach eigenem Ermessen zu entscheiden, erklärte sich zur Sachentscheidung nicht in der Lage, einigte sich über eine Angelegenheit, eventuell auch einstimmig, und traf schließlich in den meisten Fällen eine gültige Entscheidung. Im Vergleich zur Praxis des ungarischen oder eines anderen Ministerrates scheinen die Formeln des gemeinsamen Ministerrates sehr ärmlich zu sein. Zurkenntnisnahme, Beauftragung, Zustimmung und Ermächtigung fehlen völlig, es kommen nur Entscheidungen (oder die Erklärung der Beschlu߬ unfähigkeit) vor, aber auch sie in begrenzter Anzahl und auf gewisse Fälle bezogen, hauptsächlich auf den Haushaltsplan und auf das Verfahren. In ande- 469 Kälnoky an Källay v. 14. 10. 1881, HHStA., PA. I, Karton 471. || || Einleitung 169 ren Fällen besprach der gemeinsame Ministerrat sehr häufig nur die Angelegen¬ heit, ohne auf deren endgültige Erledigung bedacht zu sein. Daß die Formeln der Sachbearbeitung des gemeinsamen Ministerrates arm¬ seliger als üblich waren und die Erledigung der Angelegenheiten nicht immer in ihm erfolgte, resultierte aus der spezifischen Rechtsstellung dieser Körper¬ schaft. Der gemeinsame Ministerrat galt im staatsrechtlichen Sinn als gemeinsa- _!BS ;Regierung und war dies nach seiner Funktion eigentlich auch,''von den übrigen Regierungen unterschied er sich aber doch. Letztere verfügten über sämtliche Berechtigungen zur Vollzugsgewalt und kannten auf der Ebene der Exekutive keinerlei Teilung der Macht. Über diese volle Souveränität in inner- politisdien Angelegenheiten verfügten auch die damalige österreichische und ungarische Regierung. (Diese Souveränität war auch insofern vom Gesetz ga¬ rantiert, als es dem gemeinsamen Ministerium ausdrücklich verboten war, sich in die Angelegenheiten der beiden Regierungen einzumischen.470 Daß sich dies auch in der Praxis so verhielt, geht unter anderem aus den Äußerungen Kälno- kys hervor, in denen der gemeinsame Außenminister beanstandete, daß die beiden Regierungen seine Meinung nicht berücksichtigen.471) Demgegenüber war der gemeinsame Ministerrat nicht einmal in seinem eigenen Zuständigkeits¬ bereich, der „kollektiven und gemeinsamen Verteidigung", völlig souverän, weil er in der Außenpolitik den im Gesetz verankerten Einfluß der beiden Regierun¬ gen zur Kenntnis nehmen und im Bereich des Kriegswesens damit rechnen / hmußte, daß er seine Konzeptionen, sofern es sich um den Personalstand oder Finanzmittel handelte, nur im Einvernehmen mit den beiden Regierungen und unter ihrer Mitwirkung durchsetzen konnte. Aus diesem System der Aufteilung der Macht auf drei Pole folgte, daß der gemeinsame Ministerrat anders als die üblichen Ministerräte, abgesehen von den befristeten Angelegenheiten wie vor allem der Vorbereitung des Haushaltsplans, nicht entscheidungspflichtig und auch nicht gezwungen war, die ihm vorgelegten Angelegenheiten mit irgendei¬ nem Beschluß abzuschließen, weil die endgültige Erledigung einer Angelegen¬ heit auch durch unmittelbare Verhandlungen zwischen der österreichischen und der ungarischen Regierung sowie zwischen den beiden Regierungen und dem gemeinsamen Ministerrat erfolgen konnte. MiklösKomjälhy schloß vermutlich aus der Häufigkeit des bloßen Gedanken- austauschs ohne Entscheidung darauf, daß der gemeinsame Ministerrat kaum mehr war als das höchste Beratüngsorgan dier Krone.4*2 fieser Eindruck^kähn sich auch dadurch noch'verstärken, daß der Monarch, sofern er am gemeinsa¬ men Ministerrat teilnahm, häufig Wendungen verwendete, daß er etwas (z. B. eine Erklärung) zur Kenntnis nehme, einen Antrag annehme, etwas entscheide oder beschließe. Die allerhöchste Kenntnisnahme, Zustimmung oder Entschlie- ßung'TVären alles Formeln aus der Zeit des Absolutismus, als der Ministerrat 470 Magyar Törvenytär 1836-1868 337. 471 Abschrift eines Privatschreibens an den k. k. Ministerpräsidenten Grafen Taaffe v. 15. 10. 1893, HHStA., PA. I, Karton 469. 472 Vgl. Anm. 443. || || 170 Einleitung tatsächlich nicht mehr war als das höchste Ratgebergremium der Krone, das als solches über keinerlei Entscheidungsbefugnis verfügte. Andererseits bediente sich der Monarch nur beschränkt und in ganz bestimmten Fällen dieser For¬ meln: er gab seine Zustimmung, wenn in der betreffenden Frage bereits ein Konsens zustande gekommen war, und erhob etwas nur dann zum Beschluß, wenn sämtliche Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates damit einverstanden waren. Der Herrscher hörte also seine Minister nicht nur an und entschied dann selbst, sondern er brachte unter dem Mantel der aus der Zeit des Absolutismus adaptierten Terminologie den kollektiven Willen des gemeinsamen Ministerra¬ tes zum Ausdruck. Und das Konsensprinzip kam auch dann zur Geltung, wenn es zur endgültigen Erledigung einer Angelegenheit außerhalb des gemeinsamen Ministerrates kam. Die unbedingte Einstimmigkeit im Entscheidungsverfahren des gemeinsamen Ministerrates war sein Spezifikum, das ihn von den anderen Gremien unter¬ schied. In der üblichen Ministerratspraxis gab es nämlich neben den einstimmi¬ gen auch die Mehrheitsentscheidungen, das Kriterium der Gültigkeit einer Entscheidung war nicht die Zustimmung sämtlicher Mitglieder. Bei Mehrheits¬ entscheidungen von Einparteien- oder sonstigen Regierungen mit absoluter Mehrheit nahm der die Entscheidung nicht mittragende Minister diese entweder zur Kenntnis oder er schied freiwillig oder auf Aufforderung des Ministerpräsi¬ denten aus der Regierung aus. Somit stand auch hinter der Mehrheitsentschei¬ dung früher oder später eine einheitliche Regierung. Für den gemeinsamen Ministerrat war dieser Weg nicht gangbar. Meinungsverschiedenheiten traten freilich auch bei den gemeinsamen Angelegenheiten zutage, und es kam auch vor, daß sich die Demissionsabsicht artikulierte. Kälnoky ersuchte 1884 wegen der russenfeindlichen Antwortadresse des ungarischen Parlaments um seine Enthebung473 und trat wegen seines Konfliktes mit dem ungarischen Minister¬ präsidenten auch zurück,474 Kalman Tisza drohte 1889 wegen der Bezeichnung der gemeinsamen Armee mit seinem Rücktritt,475 und auch Taaffe stellte diesen aus demselben Grunde in Aussicht, noch dazu gerade im gemeinsamen Minister¬ rat.476 Aber im gemeinsamen Ministerrat eine Mehrheitsentscheidung zu treffen und nachher die Einstimmigkeit durch einen Personenwechsel wiederherzustel¬ len, war unmöglich und unzweckmäßig zugleich; unmöglich, weil über die Ressorts der gemeinsamen Minister zwar allein der Monarch verfügte, aber hinsichtlich der beiden Regierungen auch er an die Parlamentsregeln gebunden war und einen über die Parlamentsmehrheit verfügenden Ministerpräsidenten nicht einfach seines Amtes entheben konnte, unzweckmäßig, weil ein eventueller Personenwechsel nichts gelöst hätte und der neue Minister ebenso der Repräsen¬ tant der Interessen der Gesamtmonarchie oder der österreichischen oder ungari¬ schen Interessen gewesen wäre wie sein freiwillig zurückgetretener oder seines 473 Kälnoky an Kaiser Franz Joseph v. 13. 10. 1884, HHStA., PA. I, Karton 471. 74 Engel-Jänosi, Graf Kälnokys Rücktritt als Außenminister 246-255. 475 Vgl. Anm. 384. 476 Vgl. Anm. 391. || || Einleitung 171 Amtes enthobener Vorgänger. Der gemeinsame Ministerrat glich in dieser Beziehung dem Parlament eines Bundesstaates, in dem die Mandätsträger nicht Politiker mit unterschiedlichen Ansichten waren, sondern die den Bund bilden¬ den Staaten selbst, die als solche'durch nichts anderes ersetzt werden konnten. Mit der Eventualität aber, daß der betreffende Staat samt seinem Mandat aus de0. BHndesstaat austreten könnte, wollte der gemeinsame Ministerrat ebenso¬ wenig rechnen wie im allgemeinen ein Bundesparlament. Denn die Repräsentan- ten der österreichischen und ungarischen Nationalinteressen fühlten 'sich poli-' : tisch an die Monarchie gebunden, und die Repräsentanten der übernationalen ; Interessen fanden in der Existenz des multinationalen Staates den Sinn ihres 1 Daseins. Diese drei bei weitem nicht in allem harmonierenden Interessengrup- pen besaßen soviel politische Einsicht, diese von niemandem gewünschte Mög¬ lichkeit nicht durch gegenseitige Majorisierung im gemeinsamen Ministerrat zu riskieren. Die Praxis der einstimmigen Entscheidung im gemeinsamen Ministerrat bein¬ haltete theoretisch auch, daß schließlich doch kein Konsens zustandekam und eine Angelegenheit nicht abgeschlossen wurde, unerledigt blieb. Aus dem Geset¬ zesantrag über die Kriegsleistungen wurde^ niemals ein Gesetz, weil sich die österreichische bzw. die ungarische Regieruhg in der anscheinend unbedeuten¬ den Teilfrage der Entschädigungskommission festgelegt hatten und keine der Parteien nachgeben konnte oder wollte.477 Ähnlich erging es der Novelie des Pferdestellungsgesetzes, deren Entwurf an der Unüberbrückbarkeit der staats¬ rechtlichen Differenzen über die Feststellung des Pferdebestandes scheiterte.478 Die militärärztliche Akademie konnte deshalb nicht wieder errichtet werden, weil die ungarische Regierung nicht von ihrer Notwendigkeit überzeugt werden konnte.479 Der Zolltarif vom Jahre 1883 aber wurde vorübergehend von der Tagesordnung genommen, weil die österreichische Regierung nicht bereit war, den Reichsrat zu einer außerordentlichen Sitzung einzuberufen.480 Wenn es auch nicht gelang, die gegensätzlichen Meinungen zu überbrücken, konnte in einem Teil dieser Fälle doch irgendeine Lösung gefunden werden. Das Gesetz über die Kriegsleistungen wurde bekanntlich durch einen Verordnungsentwurf ersetzt, und die Mängel des Pferdestellungsgesetzes wurden durch eine Rationalisierung des Pferdeassentsystems behoben. Infolge des politisch notwendigen Einstim¬ migkeitsprinzips lauerte in der Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates ständig das unzulässige Gespenst der Beschlußunfähigkeit. Die Beschlußunfähigkeit blieb "denndclTerhe Ausnahme, die Einstimmigkeit als Vorbedingung der Entscheidung kam'im überwiegenden Teil der Angelegen¬ heiten doch zustande. Die Gleichheit der Ansichten war aber nicht von vorn¬ herein gegeben, und es kam wirklich selten vor, daß die Vertreter aller drei Machtpole in einer Frage völlig gleicher Meinung gewesen wären, ja es mangelte 477 Vgl. Anm. 169-173. 478 Vgl. Anm. 162. 479 Vgl. Anm. 179. 480 Vgl. Anm. 321. || || 172 Einleitung auch häufig am Konsens zwischen den gemeinsamen Ministern. Der gemeinsa¬ me Außenminister hielt den Finanzvoranschlag des gemeinsamen Kriegsmini¬ sters für zu hoch,481 der gemeinsame Finanzminister war bei der Inartikulierung des Grenzabkommens mit Rumänien anderer Ansicht als der gemeinsame Außenminister,482 und in der Frage der Bezeichnung der gemeinsamen Armee bestanden Differenzen zwischen dem gemeinsamen Kriegsminister und dem gemeinsamen Finanzminister.483 Die markanteste Trennungslinie verlief natür¬ lich zwischen den gemeinsamen Ministern und den beiden Regierungen, aber sehr oft gerieten auch die Mitglieder der österreichischen und der ungarischen Regierung aneinander. Wie konnte unter solchen Umständen dennoch eine Übereinstimmung der Ansichten als Vorbedingung einer einstimmigen Ent¬ scheidung zustande kommen? Eine theoretisch mögliche Überbrückung der Ansichten war der Kompro- miß, die auf gegenseitigen Zugeständnissen beruhende Vereinbarung. Dies wür¬ de die in der Praxis des gemeinsamen Ministerrates häufigste Form. Beim gemeinsamen Haushaltsplan, zumal beim Budget des gemeinsamen Kriegsres¬ sorts, wichen in der ersten Runde die Meinung des gemeinsamen Kriegsmini¬ sters und die der beiden Regierungen erst einmal voneinander ab, aber letztlich kam immer eine Übereinkunft zustande, im allgemeinen, indem sowohl der gemeinsame Kriegsminister als auch die beiden Landesregierungen nachgaben. Bei der Verlängerung des Wehrgesetzes vom Jahre 1889 plante der gemeinsame Kriegsminister ursprünglich eine unbefristete (also nicht mehr auf 10 Jahre beschränkte) Festsetzung des Rekrutenkontingents, nahm aber auf Wunsch der ungarischen Regierung davon Abstand und zeigte sich auch zu anderen Modifi¬ zierungen bereit.484 Über den mit Rußland zu schließenden Handelsvertrag kam 1894 eine Vereinbarung so zustande, daß die ungarische Regierung der von der österreichischen Regierung beantragten Fixierung der Getreidezölle zustimmte und die österreichische Regierung dafür den ungarischen Wunsch nach unver¬ ändertem Roggenzoll akzeptierte.485 Die Möglichkeit zum Kompromiß war freilich nicht nur von der Vereinba¬ rungsbereitschaft der Partner, sondern auch von der Natur der Angelegenheiten abhängig. Wenn man über das Wie einer Sache (gemeinsames Budget, Gesetz usw.) entscheiden mußte, war die Möglichkeit einer Annäherung bzw. gegensei¬ tiger Zugeständnisse von vornherein gegeben. Ging es jedoch darum, ob etwas sein sollte oder nicht, war ein Kompromiß ausgeschlossen. Die zur Entschei¬ dung erforderliche Einstimmigkeit konnte in solchen Fällen nur zustande kom¬ men, wenn eine Partei ihren Standpunkt aufgab und den der anderen Partei übernahm. Das war die andere Möglichkeit zur Eliminierung entgegengesetzter Anschauungen, die in der Praxis des gemeinsamen Ministerrates ebenfalls häu- 481 Vgl. Anm. 131. 482 Vgl. Anm. 371. 483 Vgl. Anm. 386 bzw. 388. 484 Vgl. Anm. 246. 485 Vgl. Anm. 348. || || Einleitung 173 fig vorkam. Die ungarische Regierung wollte beispielsweise anfangs vom Land¬ sturmgesetz nichts hören, dann stellte sie gewisse Bedingungen und schließlich akzeptierte sie es so, wie es sich die militärische Führung ursprünglich gedacht hatte.486 Die Änderung der Bezeichnung der gemeinsamen Armee war der österreichischen Regierung vom Beginn an unerwünscht, und auch der gemein- same Außenminister sympathisierte mit ihr nicht, letztlich stimmten sie aber dennoch dem Antrag der ungarischen Regierung zu.487 Die Neuregelung der Korrespondenzsprache zwischen den Organen der gemeinsamen Armee und den ungarischen Behörden stieß sowohl bei der österreichischen Regierung als auch beim Generalstabschef auf heftigen Widerstand, und endlich siegte doch der ungarische Standpunkt.488 Die österreichische Regierung verschloß sich ursprünglich dem Bau der militärischen Zwecken dienenden Eisenbahnlinie Stanislau-Woronienka, gab dann aber ihren Widerstand auf und folgte den Wünschen der militärischen Führung.489 Dies alles ging freilich nicht leicht vor sich, und der Preisgabe des Standpunktes bzw. der Akzeptierung der Meinung der anderen Partei gingen langwierige Auseinandersetzungen voraus. Der Preisgabe des Standpunktes lagen jeweils andere konkrete Motivierun¬ gen zugrunde, aber im Spiegel der einzelnen Fälle zeichnen sich dennoch gewisse allgemeine Tendenzen ab. Der ursprüngliche Standpunkt mußte aufgegeben werden, wenn aus irgendeinem Grunde eine politische Zwangslage entstand und dadurch eine echte Wahl im Grunde unmöglich geworden war. Dies ergab sich, als die Bezeichnung der gemeinsamen Armee geändert werden sollte, weil die Gefahr drohte, daß die Krone auf der einen Seite sämtlichen ungarischen j Parteien auf der anderen gegenüberstand. Daß Kaiman Tisza diese Lage ab- ' sichtlich provoziert hatte, indem er seine Absicht in 5er Delegation vorher öffentlich gemacht hatte, ist von anderem Aspekt aus sehr wohl beachtenswert. Jedenfalls war eine Zwangslage entstanden, die nur eine Entscheidungsmöglich¬ keit zuließ. Ebenso mußte der ursprüngliche Standpunkt aufgegeben werden, wenn eine Konstellation „zwei gegen eins" entstand, sich also eine Partei mit ihrem Standpunkt gegenüber den beiden anderen isolierte. Zu dieser Konstella¬ tion kam es beim Landsturmgesetz, als die ungarische Regierung den gemeinsa¬ men Ministern und der österreichischen Regierung gegenüberstand, beim Streit über die Korrespondenzsprache der gemeinsamen Armee, als sich der gemeinsa¬ me Außenminister und der gemeinsame Kriegsminister mit der ungarischen Regierung auf die gleiche Plattform stellten gegen die österreichische Regierung, und ebenso auch bei der Eisenbahnlinie Stanislau--Märamarossziget, als aber¬ mals die österreichische Regierung allein blieb. Die Formel „zwei gegen eins" hatte freilich stark den Anschein, daß die allein gebliebene Partei majorisiert wurde und sich dem Mehrheitsbeschluß unterwarf. Tatsächlich aber zog sie nur die Konsequenz aus der entstandenen Situation und gab ihre Zustimmung 486 Vgl. Anm. 145-157. 487 Vgl. Anm. 384-392. 488 Vgl. Anm. 402-404. 489 Vgl. Anm. 311. || || 174 Einleitung selbst. Von einer Majorisierung, einer dauernden Überstimmung irgendeiner Partei konnte schon darum keine Rede sein, weil die Vertreter der drei Interes¬ sengruppen abwechselnd in die Isolation gerieten und sich die Fälle so im allgemeinen ausglichen. Die letztere Feststellung bezieht sich auf Angelegenheiten militärischer Natur nicht oder nur mit Vorbehalt. Obwohl in diesen Fällen im großen und ganzen die beiden Regierungen der vom gemeinsamen Kriegsminister vertretenen mili¬ tärischen Führung gegenüberstanden, setzte sich zumeist der Wille der letzteren durch. So verhielt es sich in der Angelegenheit des Militärbudgets, wo zwar die Entscheidung stets auf der Grundlage eines Kompromisses erfolgte, sich aber das Budget ständig erhöhte, und noch mehr im Falle der strategischen Eisenbah¬ nen, gegen welche die beiden Regierungen stets opponierten, aber dann schlie߬ lich doch zum Bau gezwungen wurden. Man könnte meinen, daß in dieser Beziehung die Chancengleichheit der drei Interessen nicht zur Geltung kam, sondern das der Gesamtmonarchie zweifelsfrei dominierte, und zwar deshalb, weil die beiden Regierungen gewissen Attributen der Souveränität entsagt, sich zur „kollektiven und gemeinsamen Verteidigung" entschlossen und dadurch die Bedingungen für die Selbständigkeit und Priorität des Kriegswesens gleichsam institutionell geschaffen hatten. Diese Erklärung wäre jedoch njcht vollständig. Zur Zeit der auf dem Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht beruhenden Massen¬ armeen war die Verselbständigung des Kriegswesens ein allgemeines europäi¬ sches Phänomen, dem das „zivile" Regiment überallmachtlos gegenüberstand. Der Finanzminister opponierte in Frankreich, in Deutschland, aber auch in Rußland gegen die astronomischen Zahlen des Kriegsbudgets, dennoch wurden der größte Teil der männlichen Bevölkerung eingezogen und ausgebildet und ein beträchtlicher Anteil des Nationaleinkommens in Kriegsausrüstungen, Befe¬ stigungen und wirtschaftlich völlig überflüssige strategische Bahnen gesteckt. Die Selbständigkeit und Priorität des Kriegswesens waren ein Erfordernis der Zeit, und der militärische Sektor zwang seinen Willen überall der zivilen Gesell- schaft auf. Infolgedessen kann die staatsrechtliche Einrichtung der Monarchie nicht "als die Ursache der Priorität des Kriegswesens betrachfet werden, sondern als ihre spezifische Erscheinungsform. Die Positionen und die Persönlichkeiten An den gemeinsamen Ministerkonferenzen nahmen bei den verschiedenen Gelegenheiten verschiedene staatliche Würdenträger teil. Es kam vor, daß nur die drei gemeinsamen Minister am Verhandlungstisch saßen, bei anderen Gele¬ genheiten waren außer ihnen auch die Ministerpräsidenten und andere Minister der beiden Regierungen anwesend, bei wieder anderen ließ sich nur die eine Regierung vertreten, oder es erschienen auch der Generalinspektor der Armee und der Generalstabschef. Hinter den Teilnehmern im Ministerrang saß häufig eine Anzahl von Fachreferenten. Wen betrachteten aber die Zeitgenossen und wen kann der Forscher als Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates betrach- || || Einleitung 175 ten? Die zuletzt genannten, die Fachreferenten, keinesfalls. Diese wurden vom Protokollführer zumeist nicht einmal beim Namen genannt oder wenn doch, dann erhielten sie das Protokoll nicht zur Einsicht, obwohl man in dieser Hinsicht auch nicht immer konsequent war. Der Sektionschef im gemeinsamen Kriegsministerium Lambert, der an den meisten Budgetverhandlungen teilge¬ nommen hat, erhielt das Protokoll gewöhnlich nicht zur Einsichtnahme, jenes der Beratung vom 23. September 1886 aber doch. In dieser Beziehung kann die Information des gleichen Protokolls maßgebend sein, wonach die Fachreferen¬ ten, die sich für die Dauer des politischen Gedankenaustausches entfernt hatten, danach zurückgekehrt sind.490 Ihre Abwesenheit für die Dauer der politischen Debatte kann nur so verstanden werden, daß sie keine Mitglieder des gemeinsa¬ men Ministerrates waren. Miklös Komjäthy schreibt, da der gemeinsame Ministerrat aus dem kaiserli¬ chen Ministerrat heryorgegangen ist, gehörten in den Begriff des gemeinsamen Ministerrates' ursprünglich nur die gemeinsamen Minister, und die Teilnahme der Mitglieder der beiden Regierungen sei an irgendeine konkrete Angelegenheit gebunden gewesen.491 Dies belegt er mit den Protokollen der ersten Periode, welche „vollberechtigte" und „nicht vollberechtigte" Mitglieder derBeratungen in der Weise unterschieden, daß nur die ersteren das Protokoll mit Sichtvermerk versahen.492 piese Ansicht bekräftigt auch eine viel spätere Äußerung staats- rechtlicherNatur. Goluchowski erklärte 1895 im Zusammenhang mitder schon erwähnten Interpellation Ugrons, daß jene ministeriellen Besprechungen, an denen außer den gemeinsamen Ministern auch die beiden Ministerpräsidenten und andere Ressortminister teilnahmen, streng genommen kaum als gemeinsa¬ mer Ministerrat bezeichnet werden könne.493 Die Praxis bestätigte und bekräf¬ tigte diese restriktive Theorie nicht. Eva Somogyi zitiert einen Brief von Lajos Thallöczy, dem Sektionschef im gemeinsamen Finanzministerium, aus dem Jahre 1904, wonach die drei gemeinsamen Minister seines Wissens niemals zu einer gemeinsamen Beratung zusammengekpmmen sind.494 Und auch wenn "cliese Feststellung^nicht ganz zutreffend ist, weil solche Beratungen doch vorge¬ kommen sind - in der hier Behandelten Zeitspanne von zwölf Jahren beispiels- weise zweima1495 - hatte er im wesentlichen recht: Am gemeinsamen Ministerrat nahmen im allgemeinen nicht nur die gemeinsamen Minister, sondern auch die Vertreter der beiden Regierungen teil. Manche Momente weisen daraufhin, daß sich wenn schon nicht die Theorie, so doch das Amtsverfahren und die Termino¬ logie der Praxis annäherten. Darin, daß die Protokölle auch durch die österrei¬ chischen uncTungarischen Minister signiert wurden, erblickt Miklös £omjäthy eine rechtliche Approbation dessen, daß sie Mitglieder des gemeinsamen Mini- 490 GMR. V. 25. 9. 1886. RMRZ. 331. „ 491 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates 30-32 - 492 Ebd. 117, Anm. 107. -' Abschrift einer Note an Se. E. den Herrn kgl. ungj^inisterpräsidenten Freiherm von Bänffy in Budapest v. 7. 9. 1895, HHStA., PA. I, Karton(36(EV 494 Somogyi, A kozös rriinisztertanäcs müködese. Mairffskript 2. 495 GMR. v. 4. 10. 1885, RMRZ. 327 - GMR. v. 11. 1. 1888, RMRZ. 349. || || 176 Einleitung sterrates waren.496 In einem Vortrag aus dem Jahre 1877, der die Zirkulierung der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates enthält, kommt für die gemeinsa¬ men Minister ebenso wie für die an der Beratung teilnehmenden Ministerpräsi¬ ! denten und Minister der Ausdruck „Konferenzmitglied" vor, was schwerlich anders ausgelegt werden kann, als daß Andrässy, der Verfasser des Vortrags, eine Zweiteilung des gemeinsamen Ministerrates für sinnlos hielt.497 Eine solche Teilung gab es auch nicht. An der Gesamtverantwortung der gemeinsamen Minister waren - wie dies das Ausgleichsgesetz festlegte - durch ihre Einflu߬ nahme auf die gemeinsamen Angelegenheiten auch die beiden Regierungen beteiligt. Diese Verantwortung konnten sie nur so übernehmen, daß sie bei den Entscheidungen als Partner gleichen Ranges fungierten. Die in der Ausgleichs¬ epoche entstandene und auch später auftauchende damalige Auffassung, „voll¬ berechtigte" und „nicht vollberechtigte" Mitglieder des gemeinsamen Minister¬ rates zu unterscheiden und den Begriff des gemeinsamen Ministerrates auf die Beratung der gemeinsamen Minister zu beschränken, hatte wohl keine staats¬ I rechtliche Basis. Der gemeinsame Ministerrat war und konnte aus staätsrechtli- cher Sicht nichts anderes sein als die Beratung der gemeinsamen Minister und der Ministerpräsidenten (eventuell anderer Mitglieder) der beiden Regierungen. Im gemeinsamen Ministerrat führte - sofern der Monarch nicht anwesend war - der gemeinsame Außenminister den Vorsitz. Die Ernennung in dieses Amt beruhte auf einer kaiserlichen Entscheidung: Indem der Herrscher jemanden zum Minister des kaiserlichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten ernannte, beauftragte er ihn gleichzeitig mit dem Vorsitz im gemeinsamen Ministerrat. Die Entscheidung des Monarchen war von jedem parlamentari¬ schen Einfluß unabhängig, selbstverständlich aber nicht von den politischen Verhältnissen. 1866 wurde Beust Außenminister, weil seine Person Österreichs Ansprüche gegenüber Deutschland symbolisierte. 1871 wurde Andrässy er¬ nannt, weil eine Frontbildung jegenüber Rußland als zeitgemäß erschien, und 1881 Kälnoky, weil mit der zaristischen Großmacht ein Modus vivendi gefun- den ~werden müßte. Die politische Erwägüng Bezog'sich jedoch nur auf die Bekleidung des Postens eines Außenministers, die Wahrnehmung des Vorsitzes im gemeinsamen Ministerrat war dann eine einfache Folge der Ernennung zum Außenminister. Warum es deren Folge war, kann teils durch die Rechtskonti¬ nuität, teils durch eine staatsrechtliche Überlegung erklärt werden. Wenn ein¬ mal der gemeinsame Ministerrät Rechtsnachfolger des kaiserlichen Ministerra¬ tes war - und das war er dann ist es selbstverständlich, daß das Amt des Vorsitzenden des einstigen kaiserlichen Ministerrates auf den Vorsitzenden des gemeinsamen Ministerrates überging. Und wenn die österreichische und die v4\,.\ ungarische Regierung die mit der „kollektiven und gemeinsamen Verteidigung" verbundenen Berechtigungen einer änderen Körperschaft übertrugen, mußte in v° o dieser Körperschaft selbstverständlich der erste Lenker der „kollektiven und 496 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates 32. 497 Au. Vortrag in betreff der Zirkulation der Ministerratsprotokolle v. 9. 1. 1877. Andrässy, HHStA., PA. I, Karton 558. || || Einleitung 177 gemeinsamen Verteidigung", also der gemeinsame Außenminister den Vorsitz führen. Im Ausgleichsgesetz war nichtsdestoweniger vom Vorsitzenden des gemeinsamen Ministerrates (freilich auch vom gemeinsamen MImsterrat) keine Rede, vermutlich, weil die ungarischen Rechtsschöpfer damit jenen Fundamen- . talgrundsatz nicht schwächen wollten, wonach „das gemeinsame Ministerium ·j neben den gemeinsamen'Ängefegenheiten die Angelegenheiten der Landesregie- prung weder des einen noch des anderen Teils verwalten, auf sie keinen Einfluß ! nchmeh darf".498 Aber daß das Vorgehen des Monarchen als mit dem Geiste des Ausgleichsgesetzes im Einklang stehend galt, wurde ungarischerseits - zumin¬ dest negativ - bestätigt: Über ein Vierteljahrhundert lang hat weder eine Regie¬ rung noch die Opposition dagegen protestiert. Der Mangel einer positivrechtli¬ chen Regelung rächte sich aber auch hier. Wie bereits erwähnt, stellte Gabor - ^gron ^95 im ungarischen Abgeordnetenhaus die Frage, welchen Inhalt die Bekänntgäbe habe, daß der gemeinsame AußenministergleichzeitijfzümVorsit- zenden des gemeinsamen Ministcrfates bestellt wurde, und ob sich dieser Auf¬ trag nur auf die internen Beratungen der gemeinsamen Minister beziehe.499T)ie 1 Utigänscfie Regieruhg, die ihzwfschen auch zur Verneinüng des Bestehens einer „gemeinsamen Regierung" gelangt war, die sich wedeFauf die Rechtskontinui¬ tät noch auf eine staatsrechtliche Überlegung berufen konnte, gab im Einver¬ nehmen mit dem gemeinsamen Außenminister, der einer Zuspitzung der staats¬ rechtlichen Auseinandersetzung aus dem Wege gehen wollte, eine recht kindi- sche Antwort. Ohne den zweiten Teil der Frage Gabor Ugrons überTTäüpt zu befuhren, erklärte sie, daß der gemeinsame Außenminister den Vorsitz führe, weil er im Rang den beiden Ministerpräsidenten übergeordnet sen Dezso Bänf- _Jy, der d^e"Ängelegenheit offensichtlich bagatellisieren "wollte, ging noch einen Schritt weiter, indem er in seinem Antwortschreiben an Goluchowski auch erwähnte, der Monarch hätte eigentlich auch den rangältesten Ministerpräsi- denten beauftragen können, habe das aber auf Ansuchen des gemeinsamen Außenministers gestrichen.500 Goluchowskis Argumentation, daß diese Auffas- sungjalsch sei und zu überflüssigen Diskussionen führen könnte, war vermut¬ lich nchtig. Als sich um vieles später bloß die Frage stellte, ob der gemeinsame Finanzminister für eine bestimmte Gelegenheit den Vorsitz übernehmen könnte, verwahrte sich der damalige ungarische Ministerpräsident sofort dagegen.501 Jedenfalls kann behauptet werden, daß die aur die Ugron-Interpellatiön erteilte Antwort zur staatsrechtlichen Klärung des VorsitzesTm gemeinsamen Minister¬ rat nicht viel beigetragen hat. Im Antwortentwurf auf die Interpellation Ugrons war auch davon die Rede, warum es zweckmäßig sei, daß gerade der gemeinsame Außenminister den 498 Magyar Törvenytär 1836-1868 337. 499 Entwurf einer von Herrn kgl. ung. Ministerpräsidenten Baron Bänffy dem Abgeordneten ^ 1 ' TT ' ` ' ' "on Sr. Exzellenz Baron Bänffy mitgeteilt.), HHSxA., 500 Ebd. 501 Tagebuch von Istvän Buriän. Eintragung vom 3. Oktober 1913. Reformätus Egyetemes Konvent Leveltära (Archiv des Reformierten Landeskonventes). Budapest. Nachlaß Istvän Buriän. || || 178 Einleitung Vorsitz im gemeinsamen Ministerrat führe. Bänffy schrieb, daß der gemeinsame Außenminister kraft seines Amtes von den speziellen Interessen der beiden Staaten der Monarchie nicht beeinflußt werden könne und im Laufe der Ver¬ handlungen daher in der Lage sei, einen neutralen Standpunkt einzunehmen.502 Die Gründe dieser Auffassung sind eingängig. Wenn einmal die ungarische Regierung das Bestehen einer gemeinsamen Regierung bezweifelte, folgte dar¬ aus logischerweise, daß der gemeinsame Ministerrat auf die Beratungen zwi¬ schen den beiden Regierungen beschränkt werden mußte. Goluchowski war damit offensichtlich nicht einverstanden, da er sehr gut wußte, daß sich der gemeinsame Ministerrat nicht nur mit den Beziehungen zwischen den beiden Staatsgebieten befaßte, er erhob jedoch gegen diesen Punkt des Entwurfes keinen Einspruch; anders sein Amtsvorgänger Kälnoky, der noch vor seiner Ernennung niederschrieb, obwohl der gemeinsame Außenminister kein Partei¬ mann sein müsse, könne er doch nicht parteilos sein.503 Diese Bemerkung bezog sich natürlich in erster Linie darauf, daß der gemeinsame Außenminister nicht ohne parlamentarische Unterstützung bleiben konnte, veranschaulichte aber zugleich auch, daß die Neutralität nicht das wichtigste Attribut des gemeinsa¬ men Außenministers war. Und im Vorsitz des gemeinsamen Außenministers war dieser vermittelnde Zug tatsächlich enthalten, ohne daß er diesen je völlig ausschöpfte. Seine Vermittlung zeigte sich nicht so sehr in den Auseinanderset¬ zungen zwischen den beiden Regierungen als beim Ressortbudget des gemeinsa¬ men Kriegswesens, also bei den Gegensätzen zwischen dem gemeinsamen Kriegsminister und den beiden Regierungen. Kälnoky stellte sich als Vorsitzen¬ der des gemeinsamen Ministerrates nicht immer eindeutig auf die Seite des gemeinsamen Kriegsministers, sondern billigte sehr oft die Mäßigungsbestre¬ bungen der beiden Regierungen. Bei einer Gelegenheit formulierte er die An¬ sicht, es sei die Aufgabe des gemeinsamen Ministerrates, den Mittelweg zwi¬ schen dem militärischen Bedarf und den finanziellen Möglichkeiten zu finden.504 Es kam aber auch vor, daß der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates in der auf der Tagesordnung befindlichen Diskussionsfrage nicht neutral blieb und vermittelte, sondern sich klar auf die Seite einer Partei stellte und damit die Streitfrage auch entschied. So geschah es in der Frage der Bezeichnung der gemeinsamen Armee, als er sich gegen die österreichische Regierung den Stand¬ punkt der ungarischen Regierung zu eigen machte,505 und ebenso auch bei der Debatte über die Erneuerung des russischen Handelsvertrages, als er die öster¬ reichische gegen die ungarische Regierung unterstützte.506 Und schließlich kam es sehr häufig vor, daß der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates nicht vermittelte, aber sich auch keinem Standpunkt anschloß, sondern - wie es Eva Somogyi treffend formulierte - „das Reichsinteresse vertrat, die Interessen der 502 Vgl. Anm. 493. 503 Kälnoky an Källay v. 14. 10. 1881, HHSxA., PA. I, Karton 471. 504 Vgl. Anm. 134. 505 Vgl. Anm. 385. 506 Vgl. Anm. 348. || || Einleitung 179 über den Ländern und Ressorts stehenden Gesamtmonarchie".507 Als er sich in den Betratungen vom Dezember 1887 und Januar 1888 von den Präventiv¬ kriegskonzeptionen des Generalstabs und der ungarischen Regierung distan¬ zierte, gab er zweifellos diesen Gesichtspunkten der Gesamtmonarchie Aus¬ druck.508 Der Begriff Gesichtspunkt der Gesamtmonarchie bedarf in diesem Fall einer weiteren Erläuterung. Denn letztlich dachte auch der Chef des Generalstabs in den Kategorien der Gesamtmonarchie, wenn er auf einem Präventivschlag gegen den zu erwartenden russischen Angriff bestand, und sogar die antirussi¬ sche Strategie der ungarischen Regierung war eine mögliche Variante der Au¬ ßenpolitik der Monarchie. Deshalb ist zu präzisieren, daß der gemeinsame Außenminister und Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrats hier und im allgemeinen den Gesichtspunkt der Monarchie in einer Weise vertrat, daß er gegenüber dem Militär den politischen Komponenten größere Bedeutung gab, während er gegenüber der ungarischen Regierung eher die für die Monarchie keineswegs günstigen Kräfteverhältnisse berücksichtigte. Daß aber tatsächlich Gesichtspunkte der Gesamtmonarchie aufeinanderstießen, kann daran ermes¬ sen werden, daß sich der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates - wie dies auch die betreffenden Protokolle beweisen - später selbst dem Standpunkt seiner Diskussionspartner näherte.509 Amtsgeschichtlich ist es übrigens nicht unwesentlich, daß der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates auch in seiner zweiten Eigenschaft als Inhaber des Portefeuilles für auswärtige Angele¬ genheiten an den Beratungen teilnahm. In einer regelrechten Regierung übten die Inhaber der einzelnen Ressorts ihre Tätigkeit in einer korporativen Subordi¬ nation aus. Inwieweit dies im Falle des gemeinsamen Außenministers und der Außenpolitik zutraf oder nicht, wurde bereits bei den Fragen von Kompetenz und Entscheidungsmechanismus eingehend erörtert. Zu ergänzen ist hier nur noch, daß es in den letzten Amtsjahren Kälnokys üblich war, daß der gemeinsa¬ me Außenminister vor der Behandlung des Haushaltsplanes der gemeinsamen Angelegenheiten dem gemeinsamen Ministerrat eingehende außenpolitische Informationen gab.510 Zur Zeit Goluchowskis wurde es auf Initiative Kälnokys zur Regel, daß er anläßlich der Erörterung des Budgets der gemeinsamen auswärtigen Angelegenheiten eingehend über die Außenpolitik orientierte.5" Uber die Probleme der Streitkräfte erfolgte - abgesehen von der Behandlung des Armee-Entwicklungsprogramms von 1893 - keine derartige Orientierung im gemeinsamen Ministerrat.512 Die Körperschaft reklamierte dies auch nicht, weil ja Kommando, Leitung und innere Organisation der Streitkräfte in die Kompe¬ tenz des Monarchen gehörten. Dessenungeachtet beschäftigte sich der gemein¬ same Ministerrat unvergleichlich mehr mit den Fragen der Streitkräfte als mit 507 Somogyi, Einleitung XVI. 508 Vgl. Anm. 125 und 126. 509 Vgl. Anm. 136. 510 Vgl. Anm. 139. 511 Somogyi, Einleitung XXXII. 512 Vgl. Anm. 273. || || 180 Einleitung der Außenpolitik. Die Darstellung der Probleme der Streitkräfte im gemeinsa¬ men Ministerrat war Aufgabe des gemeinsamen Kriegsministers. Er mußte die Zustimmung der Körperschaft zum Jahresbudget und zu den Spezialkrediten erreichen und auch die die gemeinsame Verteidigung regelnden Gesetzentwürfe bestätigen lassen - undankbare Aufgaben in einer überwiegend zivilen Körper¬ schaft, denn selbst wenn sich die Vorstellungen der Militärführung durchsetz¬ ten, mußte der gemeinsame Kriegsminister oft persönliche Niederlagen einstek- ken. Bylandt-Rheidt bekam nur bei den Spezialkrediten Schwierigkeiten, Bauer aber lange Zeit hindurch auch bei der Durchsetzung des Jahresbudgets. Daß die beiden hohen Militärs sich bei der Erörterung außenpolitischer Fragen zurück¬ hielten - nur Bauer äußerte einmal eine von Kälnoky abweichende Meinung513 - läßt sich zum Teil mit dieser isolierten Lage erklären. Vor allem aber waren die gemeinsamen Kriegsminister deshalb zurückhaltend, weil sie sich in politi¬ schen Fragen nicht für zuständig hielten. Der gemeinsame Kriegsminister kam in der Hierarchie der Armee nach dem Generalinspektor der Armee und dem Generalstabschef bestenfalls an dritter Stelle, und da ihn diese Hierarchie gewissermaßen zu einer Etappenstellung verurteilte, verhielt er sich auch im gemeinsamen Ministerrat im Bewußtsein dieser Position. Ganz anders der Chef des Generalstabs Beck, der zwar am gemeinsamen Ministerrat nur gelegentlich teilnahm, wenn er aber zugegen war, das Wort nicht wieder abgab: bei Behand¬ lung des Landsturmgesetzes ebenso wie in den einander folgenden Besprechun¬ gen über die strategischen Eisenbahnen, bei der Durchsetzung des großen Armee-Entwicklungsprogramms ebenso wie anläßlich der Entscheidung über die Korrespondenzsprache der Armee. Selbst wenn er nicht anwesend war, lag sein Schatten über dem Gremium. Kälnoky debattierte am 18. Dezember 1887 auch in seiner Abwesenheit mit ihm, als er sich mit den Konzeptionen eines Präven¬ tivkrieges der militärischen Kreise nicht einverstanden erklärte,514 und er näher¬ te sich seiner Auffassung, als er in der Beratung von 29. April 1889 die russischen Truppenverlegungen als politisch motiviert bezeichnete.515 - Neben dem ge¬ meinsamen Kriegsminister nahm der Chef der Marinesektion im Kriegsministe¬ rium regelmäßig am gemeinsamen Ministerrat teil, doch war er zumeist nur physisch anwesend. Der gemeinsame Finanzminister wurde wie die beiden anderen gemeinsamen Minister vom Monarchen ernannt. Auch bei seiner Ernennung kam kein Parla¬ mentseinfluß zur Geltung, wohl aber ein gewisses Gewohnheitsrecht. Istvän Buriän schrieb nach einer Dienstzeit von neun Jahren 1912 verbittert in sein Tagebuch, er habe abdanken müssen, weil nicht zwei gemeinsame Minister Ungarn sein dürften.516 Das traf aber wohl auch umgekehrt zu: Von den drei gemeinsamen Ministern mußte einer immer Ungar sein. Nur damit ist zu 513 Vgl. Anm. 133. 514 Vgl. Anm. 125. 515 Vgl. Anm. 128. 516 Tagebuch von Istvän Buriän. Eintragung vom 15. Februar 1912. Archiv des Reformierten Landes¬ konventes. Budapest. Nachlaß Istvan Buriän. || || Einleitung 181 erklären, daß in dem halben Jahrhundert Dualismus das gemeinsame Finanzwe¬ sen 30 Jahre lang von ungarischen Politikern gelenkt wurde. Die Befugnis dieses Ressorts war recht eng bemessen: die Verwaltung der aus der Quote einfließen¬ den Beträge und später die Lenkung der Angelegenheiten von Bosnien-Herzego¬ wina. Dementsprechend verursachte das gemeinsame Finanzministerium dem gemeinsamen Ministerrat nicht viel Arbeit; sie erschöpfte sich in der Erörterung des Ressortbudgets und der Besprechung einiger Angelegenheiten der okkupier¬ ten Provinzen. (Diese hatten in den Jahren 1878-1879 ihre Konjunktur, da auf der Tagesordnung des damals häufig zusammentretenden gemeinsamen Mini¬ sterrates fast ausschließlich Bosnien-Herzegowina stand.) Der gemeinsame Fi¬ nanzminister Benjamin Källay hatte daher - obwohl er fast immer am Verhand¬ lungstisch saß - in den sein Ressort unmittelbar betreffenden Angelegenheiten nicht viel mitzureden. Er äußerte sich hauptsächlich im Zusammenhang mit Verfahrensfragen, mit der Verwendung von gemeinsamen Geldern und in ver¬ schiedenen finanztechnischen Angelegenheiten, und seine fachgemäßen Stellun¬ gnahmen fanden in der Körperschaft zumeist Zustimmung. In der Außenpolitik meldete er sich -- obwohl er auch auf diesem Gebiet als anerkannter Experte galt, nur selten zu Wort,517 sein Beitrag zur Frage der Bezeichnung der gemeinsamen Armee fiel schwer ins Gewicht.518 Das Ausgleichsgesetz enthielt die Verfügung, daß die Außenpolitik im Ein¬ vernehmen und mit Zustimmung beider Regierungen geschehen müsse.519 Ihr Einvernehmen und ihre Zustimmung konnten naturgemäß in erster Linie die beiden Regierungschefs erklären. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerra¬ tes belegen, daß der österreichische Ministerpräsident Taaffe im höchsten Regie¬ rungsforum der Monarchie von diesem ihm gesetzlich zugesicherten Recht im allgemeinen keinen Gebrauch machte. Zustimmung äußerte er nur selten, Ein¬ spruch aber erhob er niemals. Ebenso passiv verhielt er sich in den Fragen des Militärwesens, bei der Erörterung der strategischen Eisenbahnen oder den Budgetverhandlungen, und niemals eilte er seinen die spezifisch österreichischen Interessen verteidigenden Ministerkollegen zur Hilfe. In seiner Passivität kam sicherlich die Gleichgültigkeit der deutschösterreichischen Bevölkerung gegen¬ über der Außenpolitik zum Ausdruck, möglicherweise haben aber auch andere persönliche oder politische Motive mitgespielt. In seiner Gedankenwelt blieb die Monarchie auch nach 1867 ein einheitliches Ganzes, und der österreichische Landesteil war nicht mehr als eine einfache Provinz. In dieser Statthalter-Posi¬ tion fühlte er sich nicht zuständig, seine Meinung über die Angelegenheiten der Gesamtmonarchie zu äußern, und hielt es für unter seiner Würde, für die Priorität von Teilinteressen zu kämpfen. Dies ist wohl der Grund für jene Vehemenz, mit der er im gemeinsamen Ministerrat, aus seiner gewohnten Gleichgültigkeit gebracht, gegen die den Anschein der Reichseinheit gefährden¬ den ungarischen Bestrebungen zur Änderung der Bezeichnung der gemeinsamen 517 Vgl. Anm. 119. 518 Vgl. Anm. 388. 519 Magyar Törvenytär 1836-1868 335. || || 182 Einleitung Armee520 und zur Modifizierung der Korrespondenzsprache der gemeinsamen Armee52' focht. Daß die österreichische Regierung die Gestaltung der Außenpo¬ litik doch mit einigem Interesse verfolgte, ging im gemeinsamen Ministerrat interessanterweise aus den Äußerungen der Finanzminister hervor. Dunajewski reklamierte im Herbst 1886 - seinem polnischen Namen und seiner Herkunft treu - ein Auftreten gegen die russischen Machinationen in Bulgarien,522 und Steinbach berührte 1891 das Grundproblem der außenpolitischen Strategie, indem er es überflüssig nannte, sich in ein Wettrüsten mit Rußland einzulas¬ sen.523 Ebenfalls die Finanzminister brachten die österreichischen Vorbehalte gegen die übertriebenen Budgetansprüche des gemeinsamen Kriegsministeriums zum Ausdruck, und es zeugt von nicht geringem Mut, daß Dunajewski gelegent¬ lich erklärte, der Staat habe auch andere Zwecke, als bloß das Heer zu erhalten und Krieg zu führen.524 Diese Auftritte waren auch nicht immer erfolglos. Die Handelsminister, Pino und Bacquehem, die bei den Verhandlungen über die strategischen Eisenbahnen den österreichischen'Standpunkt verteidigten, mu߬ ten dagegen stets Niederlagen verbuchen. Sie konnten sich nur damit trösten, daß sie bei den Handelsverträgen der ungarischen Regierung nicht unterlegen waren und es ihnen gelang, in jedem Fall wenigstens einen Kompromiß zu erreichen. Der Landesverteidigungsminister Welsersheimb hatte - im Gegensatz zu seinen zivilen Ministerkollegen - nicht mit der Zwangsvorstellung einer doppelten Loyalität zu kämpfen. Er war, ähnlich Taaffe, ein eindeutiger Für¬ sprecher der Interessen der Gesamtmonarchie - im Falle des Landsturmgeset¬ zes, dessen Fürsprecher er war, mit vollem Erfolg, in dem der Korrespondenz¬ sprache der gemeinsamen Armee hingegen erfolglos. Auch dieser in der Gedan¬ kenwelt Radetzkys lebende Soldat mußte erfahren, daß die Zeit, als die Armee von den sich aus der Multinationalität der Monarchie ergebenden Problemen frei blieb, vergangen war. Die markanteste Persönlichkeit des gemeinsamen Ministerrates neben dem gemeinsamen Außenminister war zweifellos der ungarische Ministerpräsident Kalman Tisza. Er hatte keine derartigen Skrupel wie Taaffe, und in Angelegen¬ heiten der Gesamtmonarchie hielt er vorbehaltlos an den gesetzlich garantierten Rechten der ungarischen Regierung fest. Ohne Umschweife erklärte er, mit der Kooperationspolitik mit Rußland nicht einverstanden zu sein und die Lösung in einem bewaffneten Zusammenstoß mit der zaristischen Großmacht zu erblik- ken. Er konnte sich zwar damit nicht durchsetzen, seine ständigen Reklamatio¬ nen spielten aber eine Rolle dabei, daß es 1886 zu einer Korrektur dieser Politik kam und der gemeinsame Außenminister nach Abschluß der kriegerischen Krise der Jahre 1887-1888 seine eigenen Ansichten einer Revision unterzog. Im ganzen Verhalten Kalman Tiszas war aber eine gewisse Ambivalenz zu spüren. 520 Vgl. Anm. 311. 521 Vgl. Anm. 402. 522 ygi Anm 122. 523 Vgl. Anm. 133. 524 GMR. v. 26. 9. 1887, RMRZ. 343. || || Einleitung 183 Während er ohne Unterlaß auf ein energischeres Auftreten der Monarchie gegenüber Rußland drängte, war ihm das wichtigste Instrument der „kollekti¬ ven und gemeinsamen Verteidigung", die Armee, keine Herzenssache. Er wider¬ setzte sich bis zuletzt der Schaffung des Landsturms, opponierte gegen den Bau der strategischen Eisenbahnen und wollte ständig das Jahresbudget des Ressorts für Kriegswesen kürzen; selbst dann noch war die Sparsamkeit sein Hauptge¬ sichtspunkt, als ein bewaffneter Zusammenstoß drohte. Der Schlüssel für dieses Verhalten dürfte irgendwo in der Neuformulierung des Verhältnisses zwischen dem Reichs- und dem nationalen Interesse zu suchen sein. Kalman Tisza bekannte sich vermutlich nicht mehr zum Standpunkt von Ferenc Deäk, wo¬ nach „das eine Ziel die stabile Beibehaltung der Monarchie ist, das wir keinem anderen Gesichtspunkt unterzuordnen wünschen".525 Das verrät auch sein einer besseren Sache werter Eifer, die staatsrechtlichen Begriffe, wie die Neuformulie¬ rung der österreichisch-ungarischen Beziehung526 und die Bezeichnung der ge¬ meinsamen Armee, zu klären.527 Die Nachfolger Kalman Tiszas haben leider seine während fünfzehn Jahren an der Spitze der Regierung erworbene Autori- tät und Einfluß nicht mitgeerbt. Szapäry und Wekerle kümmerten sich als frühere Finanzminister eher nur um die Fragen des Staatshaushaltes, Bänflfy hingegen lebte sich in einer völlig unfruchtbaren terminologischen Kritik aus. Neben dem alles besser wissenden Kalman Tisza und den beiden Finanzexper¬ ten als Regierungschefs konnten die ungarischen Finanzminister im gemeinsa¬ men Ministerrat nicht die Rolle spielen wie ihre österreichische Kollegen: sie waren zumeist nur stumme Teilnehmer der Beratungen. Die Handelsminister Kemeny, Szechenyi und Lukäcs taten das gleiche wie ihre österreichischen Mmisterkollegen: sie verteidigten die ungarischen Wirtschaftsinteressen und erreichten in den umstrittenen Angelegenheiten wenigstens Kompromisse. In der Angelegenheit der strategischen Eisenbahnen standen - der unterschiedli¬ chen Ressortverteilung entsprechend - auf ungarischer Seite die Verkehrsmini¬ ster in der Frontlinie der Auseinandersetzung und verteidigten den Standpunkt der ungarischen Regierung mit wirksameren Argumenten als ihre österreichi¬ schen Kollegen - Gabor Baross legte gelegentlich einen regelrechten Gegenan¬ trag vor --, aber auch ihre wirksameren Argumente zeitigten keine günstigeren Ergebnisse. Bei Fejerväry, dem ungarischen Landesverteidigungsminister, lag die Ambivalenz sozusagen in seiner Persönlichkeit: seine militärische Vergan¬ genheit band ihn an den Hof, seine Position aber an die ungarische Regierung. Den Widerspruch löste er in einem Soldaten würdiger Art und identifizierte sich eindeutig mit dem Standpunkt der ungarischen Regierung; wenn es sich um die ungarische Honved handelte, kannte er weder Pardon noch Hindernis. An den Beratungen des gemeinsamen Ministerrates nahm häufig auch der Monarch teil und hatte dann selbstverständlich den Vorsitz. Seine Stellung 525 Deäk Ferenc beszedei 1861-1866 314. 526 Vgl.Anm.375. 527 Vgl. Anm. 384. 528 Vgl. Anm. 302 und 303. || || 184 Einleitung innerhalb der Staatsstruktur nach 1867 war ziemlich kompliziert und wider¬ sprüchlich. Seine frühere absolute Herrscherbefugnis bewahrte er zum Teil dadurch, daß er die gemeinsamen Minister nach seinem persönlichen Gutdün¬ ken ernannte und Führung, Kommando und innere Organisation sämtlicher Streitkräfte als Angelegenheiten der Krone galten, zugleich mußte er die auf verfassungsmäßiger Grundlage beruhende Souveränität der Regierungen beider Staaten zur Kenntnis nehmen. Im Spiegel der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates scheint sich der Herrscher der Schranken seiner Position bewußt gewesen zu sein und in dieser verfassungsmäßigen Körperschaft keine absoluten Herrscherallüren ausgespielt zu haben. Es kam allerdings vor, daß er aus seiner Rolle fiel: 1889 kanzelte er den ungarischen Ministerpräsidenten wegen der angeblichen Presseindiskretion wie einen Höfling ab,529 und 1891 wies er den österreichischen Handelsminister einfach an, für die Streckenfestlegung der strategisch wichtigen Eisenbahnlinie Stanislau-Woronienka zu sorgen.530 Sol¬ ches blieb aber die Ausnahme, Teilnahme und Vorsitz des Monarchen im gemeinsamen Ministerrat beschränkte sich zumeist darauf, das bereits erörterte und angenommene gemeinsame Budget in einem formellen Akt zur Kenntnis zu nehmen und die Regierungen aufzufordern, dieses vor den Delegationen mit vollem Nachdruck zu vertreten. Freilich kam es auch vor, daß der Herrscher die bereits ausgehandelte Vereinbarung nicht bloß zur Kenntnis nahm, sondern sich auch selbst in die Debatte einschaltete. Bei solchen Gelegenheiten vermittel¬ te er ebenso wie der regelmäßig den Vorsitz führende gemeinsame Außenmini¬ ster auch selbst, stellte sich auf die Seite einer Partei oder äußerte geradewegs seine eigene abweichende Meinung, letzteres besonders bei Fragen der Streit¬ kräfte, die ihm vor allem am Herzen lagen. So bestand er auf der Schaffung des Landsturms, auf dem baldigen Bau der strategischen Eisenbahnen und oft auch - gegen seinen eigenen Außenminister - auf der ständigen Erhöhung des Mili¬ tärbudgets. Der gemeinsame Ministerrat respektierte die Meinung des Monar¬ chen nicht immer. Im Jahre 1891 kam es zu dem beispiellosen Fall, daß über einen ausländischen Kredit für die Aufrüstung die ganze Körperschaft gegen ihn stimmte.531 Der Herrscher nahm dieses Ergebnis ohne weiteres zur Kenntnis. Wie er solche Niederlagen aufnahm und verarbeitete, ist eher schon eine psycho¬ logische als eine amtsgeschichtliche Frage. Aus der Sicht der letzteren ist es beachtenswert, was er im ungarischen Ministerrat erklärte, daß nämlich die Minister eine selbständige Meinung haben könnten, nach der Entscheidung aber den Regierungsstandpunkt vertreten müßten.532 Es scheint, daß er diese Regel auch für sich als verbindlich betrachtete. 529 Vgl. Anm. 391. 530 Vgl. Anm. 311. 531 Vgl. Anm. 267. 532 8/MT. Protokoll der am 24. Februar 1892 in Budapest abgehaltenen Ministerkonferenz unter dem Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät, OL., K. 27, Karton 51. || || Einleitung 185 VIII. Die Protokolle Die technischen Fragen des gemeinsamen Ministerrates, also die Absendung der Einladungen, die Protokollführung und -beglaubigung sowie die Einholung der Kenntnisnahme des Monarchen erledigte die Präsidialsektion des gemeinsamen Außenministeriums. Diese war im Dezember 1867 ursprünglich als „Reichs¬ kanzlei entstanden, galt aber auch damals weder als administrative noch als exekutive Behörde, sondern nur als geschäftsführende Kanzlei des Reichskanz¬ lers und erhielt kurz darauf die Bezeichnung Präsidialsektion. Ihr Aufgabenbe¬ reich wurde durch ein Statut von Ende 1867 als Erledigung der mit der Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates verbundenen technischen Aufgaben be¬ stimmt.533 Obwohl es im Statut nicht erwähnt wurde, kam es gelegentlich vor, daß diese Funktion die Militärkanzlei des Monarchen versah. In solchen Fällen kamen die mit dem gemeinsamen Ministerrat verbundenen Dokumente (Einla¬ dungen, Protokolle) ins Archiv der Militärkanzlei, und die Präsidialsektion registrierte den betreffenden offiziellen Akt.534 Es kam aber auch vor, daß von einem unter Mitwirkung der Militärkanzlei einberufenen gemeinsamen Mini¬ sterrat die Präsidialsektion überhaupt keine Kenntnis erlangte.535 Miklös Komjäthy stellte zu den Formfragen der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates fest, daß diese Protokolle hinsichtlich ihrer Form in die Reihe der Protokolle des österreichischen Reichsministerrates gehören. Die Protokolle wurden mit zwei Aktennummern versehen, von denen die erste die Nummer der Konferenz im jeweiligen Kalenderjahr und die zweite die laufende Nummer des gemeinsamen Ministerrates war. Das Rubrum der Protokolle bestand aus zwei Blättern, auf dem ersten befanden sich die Unterschriften der Teilnehmer, auf dem zweiten waren die Teilnehmer und der Gegenstand der Beratung angeführt. Hierauf folgte der Text des Protokolls selbst, und auf der letzten Seite befand sich die Unterschrift des Protokollführers, das Vidi des gemeinsamen Außenmi¬ nisters und die Kenntnisnahme des Herrschers.536 Die Protokolle aus der Zeit von 1883 bis 1895 weisen ebenfalls diese Form auf. Sie schließen sich mit ihrer laufenden Nummer den Protokollen der vorher¬ gehenden Epoche an und tragen bis zum 26. September 1884 die Signatur RMP (Reichsministerratsprotokolle) und vom 7. April 1885 an RMRZ (Reichsmini¬ sterratszahl). Auf dem einen Rubrumblatt ist die mit Datum versehene Unter¬ schrift der Anwesenden zu finden. Aus der Datierung ist ersichtlich, daß die Beglaubigung in der Zeitspanne von einer Woche bis zu einem Monat nach der Beratung erfolgte. Im Zusammenhang mit der Beglaubigung ist die amtshistori- Punktationen zum organischen Statute der Präsidialsektion des mit Ungarn gemeinschaftlichen Ministerium für auswärtige Angelegenheiten (Reichskanzlei). Genehmigt mit Ah. Entschlie¬ ßung v. 23. 12. 1867 und 19. 2. 1868, HHStA., PA. I, Karton 558. 534 Siehe die Aufzeichnungen im Zusammenhang mit den Ministenäten vom 11. bzw 25 November 1883, HHStA., PA. XL, Karton 293. 535 Gern. Beratung v. 20.11.1884, KA„ MKSM. 20-1/12-2 de 1884, bzw. Konferenz v. 30.10 1887 ebd. 20-1/9-2 ex 1887. 536 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates 88-89. || || 186 Einleitung sehe Kleinigkeit zu erwähnen, daß der ungarische Ministerpräsident Kälmän Tisza das Protokoll stets mit der Formel „lättam Tisza" (gesehen, Tisza) in ungarischer Sprache beglaubigte. Auf dem zweiten Rubrumblatt sind der Zeit¬ punkt und der Vorsitzende der Beratung angeführt, dem folgt die Liste der Teilnehmer und dann die Bezeichnung des Beratungsgegenstandes. Auf der letzten Seite ist die Unterschrift des Protokollführers und des gemeinsamen Außenministers sowie die Kenntnisnahme des Monarchen zu finden, allerdings fehlen diese in einigen Fällen, wie etwa auf dem Protokoll 325 RMRZ vom 27. September 1885. Die in der Militärkanzlei angefertigten Protokolle des gemein¬ samen Ministerrats weichen in einigen Formalbezügen von denen aus der Präsidialsektion ab. Die Protokolle erhielten nicht in jedem Fall eine laufende Nummer und Zeitpunkt, Vorsitzende und Tagesordnung wurden in einem einleitenden Titel angeführt. Auf der letzten Seite ist der Zeitpunkt der Anferti¬ gung des Protokolls vermerkt, aber ohne Kenntnisnahme des Monarchen. Den in der Präsidialsektion angefertigten Protokollen sind - mit wenigen Ausnah¬ men - keine Beilagen beigefügt, bei den von der Militärkanzlei angefertigten kamen fast in jedem Fall Promemorien und Vorlagen vor. Auf die Beilagen wird auf den Rubrumseiten des Protokolls verwiesen, sie selbst sind jedoch nicht immer vorhanden. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrats zitieren die Diskussionsbeiträ¬ ge Wort für Wort. In dieser Beziehung unterscheiden sie sich von den Protokol¬ len des ungarischen Ministerrats, die nur die Vorlage und den Beschluß wieder¬ geben, nicht aber die Diskussionsbeiträge (abgesehen von solchen Fällen, wo der Monarch den Vorsitz führte; dann wurde nach der Praxis des gemeinsamen Ministerrats vorgegangen537). In den Protokollen des gemeinsamen Ministerrats fehlt jede Spur von stenographischen Aufzeichnungen, die Detailliertheit und Gründlichkeit der Protokolle läßt aber darauf schließen, daß die Reden steno¬ graphisch aufgezeichnet wurden. Dennoch war die wörtliche Wiedergabe nicht vollkommen, da sehr oft summarische Sätze zu finden sind, irgendein Minister habe seine Meinung in einem längeren Vortrag expliziert538 oder die Teilnehmer hätten längere Zeit debattiert.539 Nach den stenographischen Aufzeichnungen wurden die Protokollkonzepte angefertigt, die bereits im Archiv aufbewahrt wurden. Das endgültige, zur Beglaubigung und zur Kenntnisnahme des Monar¬ chen bestimmte Protokollexemplar war eine Reinschrift, die ein Schreiber vom Konzept angefertigt hatte. Für gewöhnlich wurde eine Reinschrift verfaßt, und es galt als Ausnahme, wenn ein Protokoll oder Protokollteil, wie einige Seiten des Protokolles Nr. 338 RMRZ vom 30. Januar 1887, noch ein zweites Mal abgeschrieben wurden. Ebenso war es eine Ausnahme, daß von einer Beratung, wie von dem am 28. Juni 1896 in der Militärkanzlei abgehaltenen gemeinsamen Ministerrat, kein Protokoll angefertigt wurde,540 oder daß vom Protokoll 326 537 Vgl. Anm. 532. 538 GMR. v. 22. 9. 1885, RMRZ. 322. 539 Ebd. 540 K.A., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 90, Nr. 13. || || Einleitung 187 RMRZ sowohl das Konzept als auch die Reinschrift verlorengingen. Letztere sind nur durch einen Hinweiszettel mit dem halben Satz „wird umgearbeitet" bezeugt. Die Teilnehmer an der Beratung bestätigten - wie bereits erwähnt - mit ihrer Unterschrift auf dem Rubrum, daß der Protokollinhalt mit dem übereinstimm¬ te, was sie in der Konferenz gesagt hatten. Sofern sie es für nicht richtig hielten, führten sie Änderungen durch. Die Änderungen waren in der Mehrzahl Korrek¬ turen: Die für ungenau erachteten Wörter oder Sätze wurden durchgestrichen und die Richtigstellung in den Text oder auf den Seitenrand geschrieben, es kamen aber auch längere Einfügungen vor.541 Die Korrekturen oder Einfügun¬ gen änderten manchmal den ursprünglichen Protokolltext völlig und verliehen diesem einen ganz anderen Sinn. Obzwar in der Archivkunde der verbesserte Text als authentisch gilt, kann die Forschung auf einen Vergleich des ursprüngli¬ chen Textes mit dem verbesserten nicht verzichten. Es ist nicht auszuschließen, daß der Originaltext des Protokollführers und nicht der geänderte Text die in der Konferenz abgegebenen Äußerungen richtig wiedergab. In einer früheren Studie meint der Autor bewiesen zu haben, daß die „Richtigstellung" Andrässys im Protokoll des gemeinsamen Ministerrates vom 18. Juli 1870 falsch und der Originaltext des Protokolls authentisch ist.542 Daß die sehr viel korrigierenden Teilnehmer sich nicht ganz sicher waren, das verrät eine einmalige Randbemer¬ kung von Dunajewski und Pino, wonach keiner der beiden genau wiederholen konnte, was er in der Beratung gesagt hatte.543 Was im gemeinsamen Ministerrat wirklich geäußert und welche Entschei¬ dung getroffen wurde, ist freilich nicht erst ein Problem des Forschers, sondern war schon eins der Teilnehmer selbst. Der ungarische Ministerpräsident Kal¬ man Tisza wandte sich am 7. Juni 1876 brieflich an den gemeinsamen Außenmi¬ nister Andrässy und beanstandete, daß das gemeinsame Kriegsministerium die Summe für die Renovierung der Kavalleriekaserne in Nagyenyed nicht überwei¬ se, wo doch seines Wissens dieser Betrag im gutgeheißenen Haushaltsplan des Ressorts für gemeinsames Kriegswesen enthalten war, und er erst jetzt erfahre, daß laut dem gemeinsamen Kriegsministerium dieser Betrag gestrichen worden sei. Gleichzeitig verlieh er seinem Wunsch Ausdruck, daß die ungarische Regie¬ rung über jene Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates, die sie betreffen einen Protokollauszug erhalte.544 Dieser Reklamation verdankt der Forscher, daß er in die Zirkulierungspraxis der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates bzw. in deren Neuregelung Ein¬ sicht nehmen konnte. Für die Angelegenheit interessierte sich nämlich auch der Monarch selbst, und der Sektionschef im Außenministerium Orczy erteilte dem ihn aufsuchenden Ministerialrat Braun eingehende Auskunft. Demnach wurde das Protokoll vor der Kenntnisnahme des Herrschers den Teilnehmern einmal ` Vgl- z- B- Einfügung Dunajewskis im Protokoll v. 30. 6. 1887, RMRZ. 338. - - Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 52-54. 543 GMR. v. 7.-8. 4. 1885, RMRZ. 321, Anmerkung b. 544 Tisza an Andrässy v. 7. 6. 1876, HHStA., PA. I, Karton 558. || || 188 Einleitung zugesandt, sie erhielten aber im allgemeinen keine Kenntnis über die von ihren Kollegen durchgeführten Änderungen. Orczy hielt den Wunsch des ungarischen Ministerpräsidenten auf Zusendung von Protokollauszügen für undurchführ¬ bar, wohl aber für möglich, daß die Regierungen eine komplette Abschrift des Protokolls erhielten oder die Protokolle - damit die Regierungen von den durchgeführten Änderungen Kenntnis erhielten - ein zweites Mal zirkulierten. Braun fand dies von der bisherigen Praxis so sehr abweichend, daß er eine Genehmigung des Herrschers für erforderlich hielt.545 Dementsprechend erhielt Orczy die Weisung, eine diesbezügliche Vorlage anzufertigen.546 In dieser wie¬ derholte Orczy im Namen Andrässys seinen Standpunkt über eine zweite Zirku- lierung, fügte jedoch hinzu, daß die nachträglichen Bemerkungen nicht ins Protokoll zu schreiben, sondern in einer gesonderten Notiz mitzuteilen seien, aufgrund deren der gemeinsame Außenminister im Text des Protokolles Ände¬ rungen durchführen konnte. Statt der Protokollauszüge bevorzugte Orczy aber¬ mals eine Zusendung von Abschriften.547 Der Monarch stimmte dem zu, und Andrässy verständigte beide Ministerpräsidenten von der neuen Vorgangs¬ weise.548 Diese minutiöse Regelung ging - wie auch Miklös Komjäthy feststellte - nicht in die Praxis über.549 Es gibt keinerlei Hinweis dafür, daß die Teilnehmer das Protokoll zum zweiten Mal erhalten hätten, und auch kein Beispiel dafür, daß die Protokollabschriften den Regierungen übermittelt worden wären. Wenn ein Teilnehmer an den früheren Protokollen interessiert war, dann verlangte und erhielt er das Original, wie z. B. am 1. Mai 1884 der ungarische Landesverteidi¬ gungsminister das Protokoll der Beratung vom 25. September 1882.550 Aber auch ein derartiges Ansuchen kam sehr selten vor. Die Protokolle ruhten zumeist nach ihrer Anfertigung unangetastet im Archiv, und ihr Nachleben begann erst, als sie zur Quelle der Geschichtsforschung wurden.' Orczy an Andrässy v. 16. 12. 1876, HHSxA., PA. I, Karton 558. 546 Schwegel an Orczy v. 27. 12. 1876, HHStA., PA. I, Karton 558. 547 Au. Vortrag in betreff der Zirkulation der Ministerratsprotokolle v. 9. 1. 1877, HHStA., PA. I, Karton 558. 548 Andrässy an Tisza bzw. Auersperg v. 17. 1. 1877, HHStA., PA. I, Karton 558. 549 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates 93. 550 HHStA., PA. I, Karton 561. || ||