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Einleitung - Retrodigitalisat (PDF)

EINLEITUNG

                        Die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates
                                                1883-1895

 I. Historischer Hintergrund (9) - II. Die Außenpolitik (35) - III. Das Kriegs¬
 wesen (48) - IV. Die strategischen Eisenbahnen (102) - V. Die Wirtschaftsge¬
 meinschaft und der Außenhandel (116) - VI. Die staatsrechtlichen Fragen (132)
 - VII. Die Funktionsbedingungen (154) - VIII. Protokolle (185)

                                    I. Historischer Hintergrund

 Der gemeinsame Außenminister Graf Gustav Kälnoky diktierte 1888 ein um¬
 fangreiches Memorandum. Er saß damals bereits seit sieben Jahren am Schreib¬
 tisch Metternichs und verfügte über Erfahrungen, die verallgemeinert werden
konnten. Die wichtigste Erfahrung faßte er in einem Satz mit negativem Aus¬
klang zusammen. Die Freiheit der außenpolitischen Entscheidungen hängt von
der Stärke der inneren Gewalt ab. Und seines Erachtens waren es gerade diese
Gewalt und Stärke, die der Monarchie fehlten. Sie fehlten, weil die einzelnen
Nationen in Richtung der Staaten jenseits der Grenzen gravitierten. Den ge¬
meinsamen Außenminister beunruhigte besonders das Verhalten der Rumänen
in Ungarn und der Ukrainer in Galizien, er konstatierte aber auch die bei den
Deutschösterreichern zutage tretenden zentrifugalen Strömungen mit großer
Besorgnis. Die Konklusion der Analyse war teils das Drängen auf eine duldsa¬
mere Regierungspolitik, die einer weiteren Entfremdung der Nationen Einhalt
gebieten sollte, teils eine Stärkung der nationalen Basis der Außenpolitik.
Kälnoky schloß seine Erörterungen damit, daß die Außenpolitik auch weiterhin
aufjenen beiden Nationalitäten fußen müsse, die ihre politische Bedeutung von
der Monarchie erhalten und über den stärksten nationalen Hintergrund verfü¬
gen: also auf der ungarischen und der österreichischen.1

1

    Memorandum. Die Nationalitätenfrage in Österreich-Ungarn und ihre Rückwirkung auf die
    äußere Politik der Monarchie. Nach Diktaten Sr. E. des Herrn Grafen Kälnoky, Minister des
    kais. Hauses und des Äußeren, HHSxA., PA. XL, Interna, Karton 316
|| ||  10 Einleitung

                                          Die inneren und äußeren Gegebenheiten

    Das Memorandum des gemeinsamen Außenministers verwies auf die idivi-
 duelle und wesentlichste Eigenart der Monarchie: die mögliche Disharmonie
 der nationalen Interessen und des Staatsinteresses. Für die Nationalstaaten des
Westens, deren Außenpolitik eine direkte Widerspiegelung des nationalen Inter¬
esses war, existierte dieses Problem ebensowenig wie für das multinationale
 Rußland, dem das zahlenmäßige Übergewicht der russischen Bevölkerung die
nötige Einheit garantierte. Für Franzosen und Deutsche ebenso wie für die
Russen war es eine Selbstverständlichkeit, daß sie innerhalb des Rahmens des
gegebenen Staates leben, eine andere Lebensform kam für sie gar nicht in
Betracht. Diese objektive Koinzidenz des nationalen und Staatsinteresses ge¬
währleistete die Existenz des Staates und zugleich auch die Wirksamkeit seiner
Manifestationen nach außen. Für die elf Nationen der Monarchie bestand diese
objektive Koinzidenz der Interessen nicht, die Beziehung zwischen Nation und
Staat hing von den subjektiven Faktoren Einsicht und Erfahrung ab. Freilich
konnte auch aus Einsicht und Erfahrung ein gemeinsames Interesse entstehen,
und es entstand auch tatsächlich. Die Mehrzahl der Nationen der Monarchie
nahm aus politischer Überlegung Abstand vom naturgemäßen Ziel des Natio¬
nalismus, vom selbständigen Staat, und suchte ihr Fortkommen innerhalb der
Grenzen des multinationalen Staatsgebildes. Dieses Verhalten entsprang teils
einer Beurteilung der internationalen Lage, teils der Erwägung der Zukunfts¬
möglichkeiten innerhalb des Reiches. Bei Beurteilung der äußeren Lage stand
das Bewußtsein der Gefährdung im Vordergrund. Die in der Monarchie leben¬
den Völker fürchteten sich vor der Expansion der umgebenden Mächte und
gelangten zu der Überzeugung, selbständig, außerhalb des Rahmens der Mon¬
archie, der Expansion nicht standhalten zu können. Ihre Hoffnung auf nationa¬
les Überleben innerhalb der Monarchie begründeten sie mit der spezifischen
ethnischen Zusammensetzung, mit einem gewissen Kräftegleichgewicht zwi¬
schen den Nationen, das ihrer Ansicht nach keine Nation von der Möglichkeit
der Ausübung einer beschränkten Souveränität ausschloß. Die zur Interessen¬
vereinbarung inspirierenden subjektiven Faktoren Einsicht und Erfahrung kön¬
nen sich jedoch mit der Zeit auch wandeln und führen dann eventuell nicht zur
Kooperation, sondern zur Trennung der Interessen. Für die Generation der
Jahrhundertwende stellte die bisher geltende Meinung über die Notwendigkeit
der Monarchie oder über die Möglichkeit eines Fortkommens innerhalb der
Monarchie keineswegs mehr ein Axiom dar. Was Kälnoky im Falle der Rumä¬
nen, Ukrainer und Deutschösterreicher mit Besorgnis konstatierte, war die
Folge dieser beginnenden Metamorphose. Er hätte den Kreis ohne weiteres
noch ausdehnen können. Im folgenden Jahr erwies sich bei der Parlamentsde¬
batte über das Wehrgesetz, daß auch die ungarische Loyalität keine Selbstver¬
ständlichkeit mehr war. Die Disharmonie zwischen nationalen und Staatsinter¬
essen war perspektivisch ein katastrophales Symptom, hatte aber auch unmittel¬
bar schwerwiegende Auswirkungen: sie verminderte die Wirksamkeit der Mani¬
festationen des Staates nach außen.
|| || Einleitung                                                                           11

    Der Außenpolitik der Monarchie mangelte es schon infolge sonstiger Ursa¬
 chen an der erforderlichen Wirkung. Franz Joseph kritisierte gelegentlich im
 gemeinsamen Ministerrat verärgert, daß man die Außenpolitik - wie er sagte
 -mit allzugroßer Vorsicht handhabte.2 Der Monarch suchte die Ursache freilich
 nicht in der Disharmonie von nationalen und Staatsinteressen - die Kategorie
 der Nation war ihm im Grunde fremd sondern einfach in der Schwäche der
 Armee. Er war der Meinung, daß es der Außenpolitik infolge der ungenügenden
 Entwicklung der Armee an einem der Großmachtstellung der Monarchie ge¬
 bührenden Einfluß mangele. Diese Diagnose des Herrschers war jedoch ziemlich
 oberflächlich. Es mag sein, daß man von den Kraftquellen etwas mehr für die
 Entwicklung der Armee hätte aufwenden können, doch existierte die Gro߬
 machtstellung als solche nur in der Gedankenwelt des Monarchen und nicht in
 der Wirklichkeit. Die Monarchie war nur an den traditionellen Maßstäben der
 Machtstellung gemessen eine wirkliche Großmacht. Ihre Grenzen umfaßten ein
größeres Gebiet als das vereinigte Deutschland, ihre Bevölkerungszahl war
höher als die Englands oder Frankreichs. Die modernen Kennzeichen der
Macht gestalteten sich aber keineswegs so günstig. Ende des 19. Jahrhunderts
konnte sich eine dauernde und intensive internationale Aktivität ausschließlich
auf der Grundlage einer an der Weltproduktion in bedeutendem Ausmaß
beteiligten, industrialisierten Volkswirtschaft entwickeln. Die Monarchie kam

diesem Maßstab nicht einmal nahe. Seit dem Ausgleich hatte sich zweifellos eine
bedeutende Entwicklung vollzogen, jedoch nur gegenüber dem Ausgangs¬
niveau; im Vergleich mit anderen Ländern war eher eine Verschlechterung zu
verzeichnen. Die Vergleichszahlen der Pro-Kopf-Produktion waren Ende des
Jahrhunderts ungünstiger als um die Mitte des Jahrhunderts. In der Industrie
betrug sie beispielsweise in Deutsch-Österreich Mitte des Jahrhunderts noch
drei Viertel von jener in Deutschland, am Ende des Jahrhunderts nur noch kaum
die Hälfte. Beim Vergleich der Gesamtmonarchie mit Deutschland war die
Differenz zu Lasten der ersteren noch größer. Und das verhältnismäßig niedrige
Niveau der Pro-Kopf-Produktion vermochten auch die sich aus den mächtigen
Dimensionen ergebenden globalen Zahlen nicht auszugleichen, wie dies in
Rußland der Fall war. Die Monarchie war an der Weltindustrieproduktion auch
am Ende des Jahrhunderts nur in einem unbedeutenden Ausmaß beteiligt. Der
gerade den inneren Akkumulationsbedarf befriedigende österreichisch-ungari¬
sche Kapitalismus erzeugte noch keinen nennenswerten Kapitalüberschuß, wes¬
halb die Monarchie nach wie vor keinen für die moderne außenpolitische
Aktivität unerläßlichen Kapitalexport verwirklichen konnte. Da sie sich müh¬
sam auf ein agrarisch-industrielles Niveau hinaufgearbeitet hatte, galt sie unter
den Industriemächten fast als Entwicklungsland, und weil sie mit ihnen nicht
Schritt halten konnte, verlor sie viel von ihrer Machtstellung.

   Die Disharmonie der nationalen und Staatsinteressen sowie die zurückgegan¬
gene Machtposition hätten sich weniger fühlbar ausgewirkt, wenn sich die
Monarchie auf einer einsamen Insel oder an der Peripherie Europas befunden

2 GMR V. 29. 11. 1901. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates 1896-1907, 271.
|| ||  12 Einleitung

 hätte. Ihre geopolitische Lage war aber alles eher als günstig, vor allem infolge
 der ganz spezifischen Verteilung der in der Monarchie lebenden Nationalitäten.
 Von den elf Nationen der Monarchie lebten nur fünf insgesamt oder mit dem
 größeren Teil ihres ethnischen Bestandes innerhalb der Grenzen des Reiches:
 Ungarn, Tschechen, Slowaken, Slowenen und Kroaten. Die übrigen - Deutsch¬
 österreicher, Polen, Ukrainer, Rumänen, Serben und Italiener - gehörten zur
 ethnischen Gemeinschaft der benachbarten Nationalstaaten oder multinationa¬
 len Reiche. Die Grenzen durchschnitten kompakte ethnische Einheiten in der
 Weise, daß der größere Teil des ethnischen Bestandes sich jenseits der Grenzen
 befand. Welche Folgen eine derartige Situation im Jahrhundert des Nationalis¬
mus haben kann, das zeigte schon der deutsche und italienische Vereinigungs¬
prozeß, als Österreich aus Deutschland verdrängt wurde und die Lombardei
und Venetien verlor. Die umgebenden Staaten waren freilich durch ihre Interes¬
sen gewissermaßen mit der Monarchie verbunden. Serbien und Rumänien
erhofften sich Unterstützung gegen die türkische bzw. russische Bedrohung,
Deutschland erblickte in ihr seinen zukünftigen und später tatsächlichen Ver¬
bündeten, Rußland aber verband samt Deutschland die sich aus der gemeinsa¬
men Aufteilung Polens ergebende Interessengemeinschaft mit der Monarchie.
Was die Dauerhaftigkeit dieser Bande betrifft, vermochte sich niemand in eine
Prophetie einzulassen, daß sie sich aber nicht kräftigten, sondern vielmehr
schwächten, das bewiesen die selbst die Regierungsebene erreichende italieni¬
sche Irredenta sowie die gegen die Monarchie gerichteten wiederholten serbi¬
schen und rumänischen Pressekampagnen. Als der österreichische Ministerprä¬
sident Taaffe 1883 anläßlich de Trauerfeierlichkeiten zu Wagners Begräbnis
dem Herrscher darüber Bericht erstattete, daß eine vieltausendköpfige Menge
Bismarck und Moltke hochleben ließ, war er trotz der wiederholten Beruhigun¬
gen aus Berlin gewiß nicht grundlos besorgt.3 Und unabhängig davon, ob deren
Interessen die umgebenden Staaten nun kräftig oder schwach mit der Monar¬
chie verbanden, lag die Gefahr in der Situation selbst verborgen. Die mögliche
Staatenbildung an den Grenzen der Monarchie nach italienischem Muster
berührte infolge der spezifischen ethnischen Verteilung die lebenswichtigen
Gebiete des multinationalen Staatsgebildes und setzte damit seine Existenz aufs
Spiel.

   Die geopolitische Lage der Monarchie war auch unabhängig von der drohen¬
den Bildung von Nationalstaaten außerordentlich ungünstig. Von ihren acht
Nachbarn waren nur vier kleine Länder: Rumänien, Serbien, Montenegro und
die Schweiz; vier hingegen - Rußland, Deutschland, Italien und die Türkei -
galten als Großmächte. Theoretisch ist freilich auch eine schwache Nachbar¬
schaft nicht eindeutig günstig, können doch die angrenzenden Kleinstaaten
unter den Einfluß expansiver Mächte geraten und dadurch die Gefährdung
steigern. Die Nachbarschaft von Großmächten hingegen ist mit der Gefahr
selbst identisch, in dieser Beziehung verursachte allein die mit einer inneren
Krise kämpfende Türkei keine Sorgen, sie war nicht nur unfähig zur Expansion,

3 Taaffe an Kaiser Franz Joseph v. 11. 3. 1883, HHStA, Kab. A., Geheimakten, Karton 19.
|| || Einleitung  13

 sondern sogar zur Selbstverteidigung. Demgegenüber stellte Italien, das 1890
 30 Millionen Einwohner zählte und über eine mobilisierbare Armee von nahezu
 2 Millionen Mann verfügte, schon eine ernste Gefahr dar, vorerst allerdings nur,
 wenn es zum Verbündeten einer gegen die Monarchie auftretenden Großmacht
 würde. Die beiden benachbarten Großmächte, Deutschland und Rußland,
 waren demgegenüber jede für sich um das Vielfache stärker als die Monarchie!
 Deutschland mit seinen 50 Millionen Einwohnern verfügte über ein mobilisier¬
 bares Heer von fast 3 Millionen und Rußland mit 100 Millionen Einwohnern
 über ein solches von fast 4 Millionen. Demgegenüber vermochte die Monarchie
 mit ihren 40 Millionen Einwohnern nur ein Heer von weniger als 2 Millionen
 zu mobilisieren. Darüber hinaus verfügte Deutschland über ein größeres Indu¬
 striepotential und eine höher entwickelte Infrastruktur. Aber dank der Eisen¬
 bahnbauten in den 70er und 80er Jahren war auch Rußland in der Lage, seine
größere Streitmacht rascher als die Monarchie zu konzentrieren.4 Dabei machte
sich Rußland die sich aus seiner gewaltigen Bevölkerung ergebenden Möglich¬
keiten noch nicht völlig zunutze. Laut Berechnungen des österreichisch-ungari¬
schen Generalstabschefs erreichte Rußland seine Kriegsstärke von fast 4 Millio¬
nen durch Inanspruchnahme von 3,8% seiner Gesamtbevölkerung, Deutschland
nahm für den gleichen Zweck 6,5% und Frankreich 10,4% der Bevölkerung in
Anspruch.5 Es war vorauszusehen, daß die begonnene Modernisierung die
Kriegsstärke der russischen Armee innerhalb kurzer Zeit verdoppeln würde.
Ungeachtet dessen war nichts davon zu bemerken, daß die angrenzende Gro߬
macht die Absicht hätte, ihr bedrückendes Übergewicht der Monarchie gegen¬
über geltend zu machen. Im Gegenteil, beide Mächte hielten die Aufrechterhal¬
tung der Monarchie und ihrer Großmachtstellung für notwendig - Bismarck
teils gezwungen, teils aus Berechnung. Der Kanzler erklärte bereits 1867, daß
eine durch die Annektierung österreichischer Gebiete erzielte Gebietsvergröße-
rung für Preußen das größte Unglück wäre,6 gegen eine französische Revanche
wegen der Annektierung von Elsaß-Lothringen aber hielt er das Dreikaiser¬
bündnis für die beste Garantie.7 Auch war ihm klar, daß die Existenz der
Monarchie Deutschland größere Bewegungsfreiheit gegenüber einem allzu star¬
ken Rußland sichere. Die Gesichtspunkte und Motive der zaristischen Außen¬
politik gegenüber der Monarchie wurden nicht so klar formuliert. Daß für
Rußland die Existenz der Monarchie, und gerade die in einer dualistischen
staatsrechtlichen Form bestehenden Monarchie, nicht ohne Nutzen sei, hat man
wiederholt zum Ausdruck gebracht. Der Dualismus war eine Garantie gegen¬
über dem Föderalismus, der auch die polnischen Interessen Rußlands verletzt

4 K. k. Chef des Generalstabes. Memoire betreffend den Ausbau des Eisenbahnnetzes zur Be¬
     schleunigung des Aufmarsches der Armee im Kriegsfall gegen Rußland August 1887 KA.
     MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 12.

5 Denkschrift über die allgemeinen militärischen Verhältnisse Ende 1882 mit einem Anhänge
     Darstellung der russischen Kriegsvorbereitungen seit dem Jahre 1886. Zum reservierten Dienst-
     gebrauche als Manuskript gedruckt, 38-41, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 90 Nr 3
     Die auswärtige Politik Preussens 1858-1871 Bd. VIII, 547-548.

7 Bismarck, Die gesammelten Werke 6/b, 506.
|| ||  14 Einleitung

hätte,8 zugleich stellte er infolge seines österreichisch-ungarischen Charakters
für die slawischen Bewohner auf dem Balkan keine wirkliche Konkurrenz dar.9
Aber daß man in Petersburg überhaupt am Bestehen der Monarchie festhielt,
das entsprang in erster Linie einem Unsicherheitsgefühl. Gortschakow erklärte
1864, daß Rußland durch die Existenz Österreichs vor der anarchistischen
Unruhe geschützt werde.10 Alexander II. aber äußerte 1870 im Gespräch mit
dem österreichisch-ungarischen Gesandten Chotek über die Türkei, daß diese
für sie eine gelöste Chiffre sei, aber alles, was nachher folge, neuerliche Kompli¬
kationen in sich berge." Diese Worte bezogen sich wahrscheinlich auch auf
Österreich. Das durch die Auflösung der Monarchie entstehende Vakuum
vermochten nur zwei Großmächte auszufüllen: Deutschland oder Rußland.
Aus russischer Sicht wäre ersteres zu gefährlich gewesen, letzteres aber hätte ein
solches Risiko bedeutet, das Rußland damals noch nicht auf sich nehmen
wollte. - Es bestand also weder in Berlin noch in Petersburg die Absicht, das
erdrückende Übergewicht gegen die Monarchie geltend zu machen. Die zwi¬
schenstaatlichen Beziehungen werden letztlich aber nicht von den Absichten,
sondern den Fähigkeiten gestaltet. Und daß sowohl Deutschland wie auch
Rußland fähig waren, die Monarchie zu vernichten, konnte im letzten Drittel
des Jahrhunderts in Österreich niemand mehr bezweifeln.

                            Die außenpolitische Strategie: die Verteidigung gegenüber
                                     Rußland und die Expansion auf dem Balkan

   In jenen anderthalb Jahrzehnten zwischen 1881 und 1895, als Graf Gustav
Kälnoky am Schreibtisch Metternichs saß, waren die äußeren Umstände der
Monarchie im wesentlichen die gleichen wie zu Beginn der 70er Jahre, als die
außenpolitische Strategie ausgearbeitet wurde. Man mußte nach wie vor mit der
benachbarten Großmacht, mit dem drohenden russischen Übergewicht, sowie
damit rechnen, daß an den südöstlichen Grenzen eine nationale Staatenbildung
vor sich gehen könne, die zahlreiche Unsicherheitsfaktoren in sich barg. Für die
Anwendung der außenpolitischen Strategie standen schon reichlich positive und
negative Erfahrungen zur Verfügung. Die Gedanken der Entscheidungsträger
drehten sich in diesen Jahren, gleichsam als adäquate Widerspiegelung der
Situation, fast ausschließlich um Rußland. Früher hatte Rußland nur Andrässy
Tag und Nacht beschäftigt, jetzt belastete der Koloß im Norden das Bewußtsein
aller. Nun bekannten sie einmütig, daß die Bedrohung nur von Rußland ausge¬
hen könne, höchstens die Motivation war unterschiedlich. Andrässy meinte, die
russische Politik sei traditionell expansiv, also unabhängig von der Person des

8 Novicow ä Westman, le llj24 octobre 1871, AVPR., Fond Kanceljarija, 1871, d. 121.
9 Novicow ä Westman, le 16/28 octobre 1871, AVPR., Fond Kanceljarija, 1871, d. 121.
10 Platzhoff, Die Anfänge des Dreikaiserbundes 283 ff.
" Conversation du Comte Chotek avec S. M. de toutes les Russies ä Peterhof, le 14 aoüt 1870,

     HHStA., PA. X, Karton 62.
|| || Einleitung  15

 Zaren, Franz Joseph hingegen leitete die mögliche russische Aggression - seiner
 konservativen Ideenwelt entsprechend - von etwaigen inneren Veränderungen
 ab. Er befürchtete schon 1876, daß sich der Krieg gegen die Türkei dadurch,
 daß der Zar übergangen worden sei, in einen slawischen Revolutionskrieg
 verwandeln könnte.^ Als dann Alexander II. das Opfer eines Attentats wurde,
 sah er seine Besorgnis bestätigt. Im Sommer 1884 schrieb er seinem Außenmini¬
 ster, sein Mißtrauen gegenüber den russischen inneren Verhältnissen wurzele so
 tief, daß er einer Dauerhaftigkeit der friedlichen Verhältnisse nicht traue.13 Der
 Generalstabschef Feldmarschalleutnant Beck war über das russische militäri¬
 sche Übergewicht besorgt. Im Kriegsfall konnte Rußland doppelt so viele
 Divisionen marschbereit machen wie die Monarchie, und dies stellte letztere vor
 fast unlösbare Aufgaben. Der Generalstabschef gab der Monarchie im Falle
 einer militärischen Konfrontation keinerlei Chance. Selbst eine noch so ausge¬
 zeichnete und gut geführte Armee würde -- schrieb er in einem seiner zahlreichen
 Situationsberichte -- bei solchen Kräfteverhältnissen schließlich doch unterlie¬
gen.14 Der ungarische Ministerpräsident Kaiman Tisza wurde vom gleichen
Verdacht und von der gleichen Sorge gequält wie Andrässy, von der Zwangsvor¬
stellung einer russischen Expansion und dem die Monarchie umgebenden slawi¬
schen Ring.15 Er machte so wenig Hehl aus seiner Ansicht, daß er 1884 im
ungarischen Parlament einen ausgesprochen russenfeindlichen Adreßentwurf
verabschieden ließ, an dem er trotz vorheriger Verwahrung des gemeinsamen
Außenministers nicht bereit war, etwas zu ändern.16 Der gemeinsame Außenmi¬
nister Kälnoky teilte die aus konservativen Wurzeln genährte Sorge des Monar¬
chen, aber ihn, der als Botschafter zwei Jahre in Petersburg verbrachte, beein-
druckten besonders die russischen Dimensionen und Ambitionen. Er gewann
die Überzeugung, Rußland sei unermeßlich groß, seine Kraftquellen seien uner¬
schöpflich und die Russen von einer uferlosen Herrschersucht und einem gren¬
zenlosen Glauben an die Zukunft getrieben.17 Aufgrund seiner in Petersburg
gewonnenen Eindrücke hielt er einen eventuellen Krieg mit Rußland für das
größte Unglück.

   Die aus unterschiedlichen Wurzeln genährte Angst vor dem zaristischen
Rußland führte auch in den 80er Jahren nicht dazu, daß man in Wien von den
Großmachtambitionen Abstand genommen und auf die Möglichkeiten auf dem
Balkan verzichtet hätte. Zudem war es schließlich doch nicht gelungen, Bosnien-
Herzegowina zu annektieren, die österreichisch-ungarischen Truppen konnten
sich nur unter dem Titel einer unbefristeten Okkupation in den beiden Balkan-

17 Diöszegi, Die Außenpolitik der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 334.
 3 Kaiser Franz Joseph an Graf Kälnoky v. 26. 7. 1884, HHStA., PA. I, Karton 460.

     Über die militärisch-politische Lage v. 1. 12. 1886. Beck FZM., KA., MKSM., Separatfaszikeln,
     Fase. 69, Nr. 29.
15 GMR. v. 24. 2. 1878, HHStA., PA. LX, Karton 290.

     Telegramm in Ziffern an den kgl. ung. Ministerpräsidenten von Tisza v. 12. 10. 1884, HHStA.,
     PA. I, Karton 471 - Telegramm des Ministerpräsidenten von Tisza v. 13. 10. 1884, ebd.
     Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 61 bzw. 66.
|| || 16 Einleitung

Provinzen aufhalten. In den führenden Kreisen war man sich darüber einig, daß
die Einverleibung früher oder später erfolgen müsse, und das hätte eine Gebiets¬
vergrößerung bedeutet, selbst wenn man die Annexion in die Fiktion der Recht¬
mäßigkeit gehüllt hätte.18 Die Ambitionen beschränkten sich auch nicht auf die
Annexion. Die Idee eines Vordringens bis zum Ägäischen Meer, die in den 70er
Jahren formuliert wurde, war im Denken der militärischen Kreise, einem unte¬
rirdischen Gewässer gleich, weiterhin lebendig und trat bei gegebener Gelegen¬
heit auch an die Oberfläche.19 Kälnoky stimmte diesen extremen Ansichten nicht
bei. Die Idee eines Vordringens bis Saloniki hielt er noch viele Jahre lang für
ebenso undurchführbar wie gefährlich.20 Der Gedanke eines schrittweisen Vor¬
dringens war aber auch ihm nicht fremd, und dabei hatte Serbien für ihn eine
Schlüsselstellung. Noch als Botschafter in Petersburg schrieb er, daß die Monar¬
chie sich ihrer Stellung auf dem Balkan nur dann sicher sein könne, wenn sie
Serbien unter ihre Herrschaft bringe.21 Und als zu Beginn seiner Amtszeit als
Außenminister das Memorandum fertiggestellt wurde, das die Aufgaben der
Ostpolitik beschreibt, finden sich darin die schon aus den 70er Jahren wohlbe¬
kannten Gedanken wieder, da die Monarchie ihre Stellung in Deutschland
verloren habe und auch Italien weiterhin nicht mehr das Ventil für eine westeu¬
ropäische Expansion sein könne, bleibe nur der Osten übrig. Die Monarchie
könne es nicht dulden, daß man ihr den natürlichen Weg einer Expansion
versperrt.22

                                        Die Mittel der Außenpolitik: die Bündnispolitik
                                                         und die bewaffnete Macht

    Die zum Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre ausgebauten Bündnisbe¬
ziehungen sollten der Monarchie, unter Berücksichtigung der nicht ausreichen¬
den inneren Kraft, ihre außenpolitischen Ziele zu erreichen helfen. Da sich aber
die Monarchie bei den Abschlüssen ihrer Verträge nicht in einer starken Posi¬
tion befand, enthielten diese zahlreiche innere Widersprüche, förderten die
Expansion keineswegs und dienten auch der Verteidigung nur zum Teil. Der
Zweibund enthielt den Casus foederis für den Fall eines österreichisch-ungari-
schen-russischen Balkankonfliktes nicht, und im Dreibund erwiderte man italie-
nischerseits die durch Österreich-Ungarn in Aussicht gestellte bewaffnete Hilfe¬
leistungsverpflichtung nur mit der Neutralität. Dessenungeachtet maß man in
 Wien den Bündnisbeziehungen, namentlich aber dem Vertragsverhältnis mit

 18 Kälnoky an Kaiser Franz Joseph v. 22. 10. 1884^ HHStA., PA. I, Karton 471.
 19 Beiträge zur Klarstellung der bei einer etwaigen Änderung des Status quo auf der Balkanhalbin¬

      sel in Betracht zu ziehenden Verhältnisse v. 14. 4. 1897, HHStA., PA. I, Karton 474.
 20 Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 57.
 21 Kälnoky an Haymerle v. 7. 9. 1880, HHStA., PA. I, Karton 455. - Aehrenthal legte das so aus,

       daß Kälnoky die Annektierung von Serbien wünschte. Denkschrift des Freiherrn von Aehrenthal.
       September 1895, HHStA., PA. I., Karton 461.
 22 Denkschrift des Grafen Teschenberg über die Orientpolitik Österreich-Ungarns. Darlegung der
       gegenwärtigen Situation v. 2. 9. 1884, HHStA., PA. I, Karton 469.
|| || Einleitung                                                                        17

 Deutschland, außerordentliche Bedeutung bei, Kälnoky erblickte im engen
 Bündnis mit Deutschland jenen Rückhalt, ohne den er es für unvorstellbar hielt,
 daß die Monarchie überhaupt gegen Rußland bestehen könne.23 Es ist daher
 natürlich, daß, als sich Deutschland geneigt zeigte, den Zweibund zu erneuern,
 dies von Österreich-Ungarn mit Freuden aufgenommen wurde und es am \2.
 März 1883 zu einer Verlängerung des Vertrages auf weitere fünf Jahre kam.24
 Die Monarchie schloß jedoch nicht nur ein Schutzbündnis, sondern war schon
 auf deutschen Druck im Jahr 1881 auch mit dem großen Rivalen, Rußland, eine
 Vertragspartnerschaft eingegangen. Haymerle zögerte damals, diesen Vertrag
zu unterzeichnen, aber schließlich tat er es doch, in der Hoffnung, daß die
 Monarchie als Gegenleistung für den im nordöstlichen Teil der Balkanhalbinsel
entstandenen russischen Einfluß im südwestlichen Teil der Halbinsel freie Hand
bekommen werde.25 Die Ostrumelien und Bosnien-Herzegowina betreffenden
Paragraphen des Vertrages von 1881 richteten sich tatsächlich auf die Begren¬
zung der Interessensphären.26 Kälnoky maß Verhandlungen eine andere Bedeu¬
tung bei. Schon als Petersburger Botschafter schrieb er an Haymerle, gegenüber
Rußland gebe es allein die Alternative, entweder mit ihm zu verhandeln oder
es nach Asien zurückzudrängen. Da letzteres gar nicht in Betracht kommen
konnte, blieb seines Erachtens nichts anderes übrig als eine Vereinbarung,
welche die östlichen Interessen der Monarchie gewährleistete und die Gefahr
eines Krieges in Grenzen hielt.27 Als die Frist des für drei Jahre abgeschlossenen
Dreikaiserbündnisses ablief und beide Partner dessen Erneuerung beantragten,
nahm er das Angebot deshalb wieder günstig auf, weil er in diesem Vertrag eine
relative Garantie für die Monarchie erblickte.28 Am halsbrecherischen Unter¬
nehmen einer Abgrenzung der Interessensphären - wie er sich ausdrückte -
wollte er sich nicht als Partner beteiligen.29 Es liege nicht im Interesse der
Monarchie, den Zerfall der Türkei zu beschleunigen, und im übrigen zeigten die
Erfahrungen, daß Rußland die übernommenen Pflichten nicht immer einhalte.30
Das Dreikaiserbündnis wurde schließlich am 27. März 1884 in im wesentlichen
unveränderter Form erneuert.31 Die Möglichkeit eines Positionsgewinnes auf
dem Balkan ließ freilich auch den in Kategorien der Großmachtpolitik denken¬
den Außenminister nicht völlig kalt. Die Möglichkeit einer Vereinbarung über
die österreichisch-ungarischen und die russischen Interessensphären, an der
Deutschland nur als Garantiepartei teilnehmen würde, erwog er im späteren
wiederholt.32

23 Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 63.

      Pribram, Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879-1914 28-29
      Die grosse Politik III, 149.
26 Pribram, Die politischen Geheimverträge 14.
27 Kälnoky an Haymerle v. 18. 2. 1881, HHStA., PA. I, Karton 456
     Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 591.
29 Ebd. 597.
30 Ebd. 605.

31 Pribram, Die politischen Geheimverträge 35-36.
32 Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 637.
|| || 18 Einleitung

   Das zu Beginn der 80er Jahre entstehende Bündnissystem trug zweifellos viel
zur Sicherheitsgarantie der Monarchie bei. In Wien führte es aber keineswegs
zu einem Gefühl der Beruhigung. Es ist ein Dilemma jedes Bündnisvertrages,
ob die Vertragspartner gegebenenfalls die übernommenen Verpflichtungen ein-
halten werden, und dieses Dilemma war in der Monarchie stärker als anderswo.
Ein Gefühl vollkommener Sicherheit vermochte nur das Bewußtsein der eigenen
Stärke zu erwecken. Und diese Stärke konnte die rechte Hand der Außenpolitik,
die bewaffnete Macht, sein. Im militärischen Denken standen im vorigen Jahr¬
hundert - in Adaptierung der napoleonischen Grundsätze - zwei Gesichtspunk¬
te im Vordergrund: die Truppenstärke und die Beweglichkeit. Gegen Rußland
erstere einzusetzen, dazu gab es eigentlich keine Möglichkeit. Dies verhinderte
bereits die gegenüber Rußland viel geringere Bevölkerungszahl der Monarchie,
aber auch das Wehrgesetz, das durch Begrenzung des Kriegsstandes die konse¬
quente Durchsetzung der allgemeinen Wehrpflicht erschwerte. Unter solchen
Bedingungen war es jedoch keineswegs gleichgültig, ob man im eventuellen
Krieg den entsprechenden Kriegsstand würde halten und die Verluste ersetzen
können. Das war nur möglich, wenn entsprechend ausgebildete Reserven zur
Verfügung stünden, und laut Berechnungen des Generalstabs gab es in dieser
Beziehung schwere Mängel: Ein erheblicher Teil der Wehrpflichtigen hatte
keine Ausbildung genossen, die kurze Zeit der Wehrpflicht aber beraubte die
Armee eines wertvollen Teiles der noch wehrfähigen männlichen Bevölkerung.
Zu Beginn der 80er Jahre wurden bedeutende Kraftanstrengungen zur Behe¬
bung dieser Mängel unternommen. Man beabsichtigte, die im Wehrgesetz
enthaltenen verschiedenen Freistellungen einzuschränken und neue Muste¬
rungsnormen anzuwenden.33 Um den Kreis der Reservisten zu erhöhen, sollte
der Landsturm per Gesetz institutionalisiert werden, was zur Verlängerung der
Wehrpflicht um zehn Jahre geführt hätte.34 Zwar herrschte im Kreise der militä¬
rischen Führung über die geplanten Maßnahmen nicht völliges Einvernehmen,
und auch von seiten der Regierungen war mit dem Widerstand staatsrechtlichen
Charakters zu rechnen, dennoch näherten sich die Vorstellungen der Verwirkli¬
chung.

   Der tatsächliche Trumpf gegenüber Rußland war freilich nicht die Truppen¬
stärke, sondern die Beweglichkeit. Die militärische Führung Österreich-
Ungarns sah in einem Krieg gegen Rußland nur dann eine Chance für die
Monarchie, wenn sie rascher mobilisieren und mit ihren Einheiten den
Kriegsschauplatz erreichen konnte, noch bevor Rußland seine vielfache Über¬
macht zur Geltung brachte. Anfang der 80er Jahre konzentrierte sich der
Generalstab dementsprechend darauf, die Bedingungen der Mobilisierung und
des strategischen Aufmarsches zu verbessern. Zwischen 1881 und 1883 be-

 33 Memoire über die ungünstigen Verhältnisse der Ergänzung der bei der mobilen Armee entste¬
      henden Abgänge, dann über die zu diesem Zwecke höchst wünschenswerten Verbesserungen
      des Wehrgesetzes und der Durchführungsbestimmungen zu demselben. (Ohne Datum, vermut¬
      lich Mai 1885), KA., MKSM. 20-1/10-3 de 1885.

 34 Landsturmfrage v. Dezember 1883. Popp GM., KA., MKSM. 20-1/1-2 de 1883.
|| || Einleitung  19

kämpfte er den nicht unbedeutenden konservativen Widerstand innerhalb der
Armee und setzte im System der Heeresergänzung die Anwendung des moder¬
nen Territorialprinzips durch. Die Rekruten und im Mobilisierungsfall die
Reservisten mußten von da an nicht zu den „Nationalregimentern", sondern zu
der ihrem Wohnort nächstgelegenen Einheit einrücken.35 Die Anwendung des
Territorialprinzips verkürzte die Mobilisierungsdauer um drei bis fünf Tage.

   In der österreichisch-ungarischen Militärdoktrin stand seit dem Zeitpunkt,
als die Möglichkeit eines Krieges gegen Rußland aufgetaucht war, stets die
strategische Offensive im Vordergrund. So war es auch 1872, als die russenfeind¬
liche außenpolitische Strategie erarbeitet wurde,36 1876, als man mit der Mög¬
lichkeit eines russischen Krieges rechnete,37 und auch 1878, als wegen des
russischen Vertragsbruches die Chancen eines Krieges erwogen wurden.38 Die
österreichisch-ungarische strategische Planung hielt auch zu Beginn der 80er
Jahre am Grundsatz einer strategischen Offensive fest,39 aber teils wegen der zu
erwartenden mehrseitigen Inanspruchnahme der Wehrmacht (die sich aus einem
eventuellen italienischen Angriff und aus den Unruhen auf dem Balkan ergeben
könnte), teils wegen der raschen Aufstockung der russischen Streitmacht40
tauchten damals auch defensive Vorstellungen auf. Der im September 1881
erstellte Aufmarschplan legte den Nachdruck deshalb auf die Verteidigung
Westgaliziens, um das Vordringen der Russen in Richtung Wien zu verhin¬
dern.41 Der Gedanke einer strategischen Offensive gewann seine frühere Bedeu¬
tung wieder, als sich der Standpunkt des deutschen Generalstabs änderte und
an der Ostfront eine wesentlich stärkere Beteiligung deutscher Kräfte zu erwar¬
ten war, als bis dahin angenommen. Der deutsche Generalstab rechnete ur¬
sprünglich mit keinem Zweifrontenkrieg, er gedachte seine Hauptkräfte gegen
Frankreich einzusetzen und sich an der Ostfront defensiv zu verhalten. Moltke
und Waldersee beurteilten die Lage jetzt so, daß die forcierte Entwicklung der
russischen Armee die Vorteile, die sich aus der rascheren Mobilmachung des
deutschen Heeres ergeben, in wenigen Jahren zunichte machen könnte, daher
wollten sie in Änderung der ursprünglichen Reihenfolge an der Ostfront größere
Kräfte einsetzen, ja befaßten sich sogar mit dem Gedanken eines Präventivkrie¬
ges, um der russischen militärischen Übermacht zuvorzukommen.42 Der öster¬
reichisch-ungarische Generalstabschef Beck erhielt im Sommer 1882 Kenntnis
von der neueren deutschen strategischen Konzeption43 und beantragte in mehre¬
ren Memoranden die Abänderung des österreichisch-ungarischen Aufmarsch-

35 HlavaC, Die Armeeorganisation der Jahre 1881-1883 238-275.
36 Lutz, Politik und militärische Planung in Österreich-Ungarn 35.
37 Diöszegi, Die Außenpolitik der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 339.
38 Kurzgefaßtes Resümee der am 15. Jänner 1878 unter Ah. Vorsitze stattgehabten Konferenz,

     KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 70, Nr. 39.
39 Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 199.

     Zajontschkowskij, Vojennüje reformü 1860-1870 godov v Rossii 352.
     Aufmarschelaborat für den Kriegsfall mit Rußland, KA., MKSM. 69-3/1 ex 1881.
     Canis, Bismarck und Waldersee 85.
     Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 211.
|| || 20 Einleitung

planes. In diesen handelte es sich wieder um den raschen Aufmarsch und eine
strategische Offensive.44 Die Grundprinzipien genehmigte der Monarch Anfang
Januar 1883, dementsprechend erstellte der Generalstabschef im April 1883 das
endgültige Elaborat, in dem unter anderem festgelegt wurde, daß am dreißigsten
Tag der Mobilisierung alle drei österreichisch-ungarischen Armeen zur Aufnah¬
me der Kriegshandlungen bereit sein müßten.45 Dies alles brachte natürlich nicht
nur die Möglichkeiten, sondern auch die Wünsche zum Ausdruck. Damit der
Aufmarsch tatsächlich rechtzeitig erfolgen und die drei Armeen wirklich kampf¬
bereit sein konnten, mußten noch zahlreiche Bedingungen erfüllt werden. Der
Generalstabschef bezeichnete den weiteren Ausbau der nach Nordosten führen¬
den strategischen Eisenbahnlinien, die Sicherstellung des Pferdebestandes und
der Gespanne als die wichtigsten Aufgaben. Die Verwirklichung der Vorschläge
gehörte nicht mehr zum militärischen, sondern zum politischen Aufgabenbe¬
reich und war unter den gegebenen staatsrechtlichen Verhältnissen kein leicht
zu lösendes Problem. Ein Teil der Vorschläge wurde dessenungeachtet fortlau¬
fend realisiert, und Mitte der 80er Jahre konnte der österreichisch-ungarische
Generalstab schon mit größerer Zuversicht einem stets befürchteten östlichen
Krieg entgegenschauen.

                                                    Die bulgarische Krise

   In den Beziehungen zwischen der Monarchie und Rußland kam nicht zum
Ausdruck, daß man in Wien Rußland als potentiellen Feind betrachtete und der
gesamte Staatsapparat in den Dienst der Erfordernisse eines möglichen Krieges
gegen Rußland gestellt wurde. Anläßlich der Erneuerung des Dreikaiserbünd-
nisses stattete Franz Joseph 1884 einen Besuch in Rußland ab, den Alexander
III. mit einem Besuch in Österreich erwiderte. Von beiden Seiten erklangen
freundliche Äußerungen über die Vorteile einer auf konservativer Grundlage
beruhenden Zusammenarbeit. Obzwar die Besorgnis über die inneren Zustände
Rußlands nach wie vor bestand (der Monarch schrieb gerade damals von einem
eigenen, tief wurzelnden Mißtrauen)46, verhielt sich auch Kälnoky zu dieser
Zusammenarbeit wie Andrässy in den 70er Jahren: er erblickte in ihr ein Mittel
zur Vorbeugung von Komplikationen.47 Der wirkliche Prüfstein der Zusam¬
menarbeit war wie in den 70er Jahren, so auch jetzt, der Balkan.

   Ein Problem ergab sich durch die am 18. September 1885 in revolutionärer
Weise erfolgte Vereinigung von Bulgarien und Ostrumelien. Die Lage war viel
komplizierter als in den 70er Jahren, als man gegen den unter russischem Einfluß
stehenden „großen südslawischen Staat" auftreten mußte. Jetzt aber war die

44 Umarbeitung des Aufmarschelaborates für den Kriegsfall gegen Rußland. Vortrag des Chefs
      des Generalstabes v. 21. 12. 1882, KA„ MKSM. 69-2/1 ex 1883.

45 Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 29. 4. 1883 hinsichtlich des Aufmarschelaborates für
      den Kriegsfall gegen Rußland, KA., MKSM. 69-2/1-3 ex 1883.

46 Kaiser Franz Joseph an Grafen Kälnoky v. 26. 7. 1884, HHSxA., PA. I, Karton 460.
47 Rutkowski, Gustav Graf Kalnoky 591.
|| || Einleitung                                                                                  21

 Monarchie vertraglich dazu verpflichtet, die Union anzuerkennen, falls diese
 „infolge Kraft der Dinge erfolgte.48 Eine Änderung des im Berliner Vertrag
 vorgeschriebenen Status cjuo, die slawische Staatenbildung und die Schwächung
 der türkischen Positionen standen aber auch jetzt nicht auf der Liste der wün¬
 schenswerten Entwicklungen. Die bulgarische Union hatte im Gegensatz zu der
 Situation vor sieben Jahren eine ausgesprochen russenfeindliche Spitze: Die
 Vereinigung vollzog sich trotz des Verbotes und der Mißbilligung des Zaren.
 Letztere sprach wiederum dafür, das „fait accompli" zur Kenntnis zu nehmen,
 konnte dies doch zum völligen Aufhören des russischen Einflusses auf Bulgarien
 führen. Die Vergrößerung Bulgariens war hingegen nicht hinzunehmen, ohne
 daß Serbien, das zur Interessensphäre der Monarchie gehörte, eine territoriale
 Kompensation erhalte. Im übrigen war die Monarchie zur Unterstützung der
 serbischen Territorialansprüche vertraglich verpflichtet.49

    Solche gegensätzlichen Überlegungen und der Mangel entsprechender Infor¬
mationen erschwerten natürlich eine Entscheidung, und der Monarch selbst
 hielt die Wiederherstellung des Status quo für ebenso vorstellbar wie die Aner¬
kennung der Union.50 Als aber der Wiener russische Botschafter „den ostrumeli-
schen revolutionären Putsch" im Auftrag des Zaren zum offenen Vertragsbruch
erklärte und die Wiederherstellung des Status quo als einzig möglichen Ausweg
bezeichnete, war die Alternative schon unangebracht: Kälnoky verpflichtete
sich an der Seite Rußlands zur Wiederherstellung des Status quo.51 Über die
Ursache der Entscheidung bekam der russische Botschafter nur Phrasen vom
schlechten Beispiel des Vertragsbruches und vom Ansehen der Mächte zu
hören; die wirklichen Motive des gemeinsamen Außenministers lagen jedoch
tiefer. Nach wie vor bereitete ihm die Möglichkeit eines Zusammenstoßes mit
Rußland Sorgen. Seinem Bruder schrieb er, für einen ähnlichen Staat wie den
ihren sei es ein Glück, wenn er mit Rußland in gutem Verhältnis lebt, ein
schlechtes Verhältnis sei ein Unglück und ein Krieg geradewegs eine fürchterli¬
che Kalamität.52 Daraus folgte logischerweise, daß die Angelegenheit der bulga¬
rischen Union dem Verhältnis zu Rußland untergeordnet wurde; wenn der
Zarismus restaurieren wollte, mußte man ihm auf diesem Weg folgen. Die
Entscheidung stimmte zweifellos mit der außenpolitischen Wertordnung der
Monarchie überein, indem die Priorität des russischen Verhältnisses von nie¬
mandem bezweifelt wurde. Ihr Schönheitsfehler war nur, daß sie der benachbar¬
ten Macht, deren Übermacht man so sehr fürchtete, bei der Rückgewinnung
ihrer verlorenen Position behilflich war. Andrässy, der die Priorität der russi¬
schen Beziehungen nicht automatisch mit dem guten Verhältnis zu Rußland
gleichsetzte, gelangte zu einer völlig anderen Konklusion und war der Meinung,

     Pribram, Die politischen Geheimverträge 14
49 Ebd. 20.

50 Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 284-295.

     ?^iZ,ZLZWeier Unterredungen des Grafen Kälnoky mit dem Fürsten Lobanow v. 10. und 11.
J2 D. 1885, HHStA., Kab. A., Geheimakten, Karton 19.

     Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 332.
|| || 22 Einleitung

daß man sich im Konflikt zwischen Rußland und Bulgarien entschieden auf die
Seite des letzteren stellen müsse.53

   Sehr bald erwies es sich jedoch, daß die Erklärung der von Furcht geleiteten
österreichisch-ungarischen Kooperationsbereitschaft allein zur Sicherung der
Harmonie zwischen den beiden Mächten nicht ausreichte. Das ungeduldige
Serbien griff im November 1885 Bulgarien an, und nachdem es eine schwere
Niederlage erlitten hatte, verhinderte nur eine österreichisch-ungarische diplo¬
matische Intervention die Besetzung Belgrads. In Wien war man der Meinung,
daß man eine Zertrümmerung des Schützlings Serbien nicht zulassen dürfe
- eine an sich wohl logische Vorstellung, die aber mit der Hauptzielsetzung, der
Zusammenarbeit mit Rußland, nicht harmonierte. Selbstverständlich rief das
einseitige österreichisch-ungarische Vorgehen in Rußland Kränkung und Zorn
hervor, zumal die in Aussicht gestellte österreichisch-ungarische Unterstützung
Rußland letztlich gar nichts nützte. Umsonst erklärte die Botschafterkonferenz
von Konstantinopel die Union für nichtig, niemand vermochte dem Beschluß
Geltung zu verschaffen, und schließlich war der Zar gezwungen zuzustimmen,
daß der Sultan im April 1886 den bulgarischen Fürsten zum Regenten von
Ostrumelien ernennt. Diese Zustimmung dürfte aber nur eine scheinbare gewe¬
sen sein. Die einstige Befreiungsmacht Rußland konnte und wollte nicht aner¬
kennen, daß in Bulgarien nicht ihr Wille zur Geltung komme. Im August 1886
stürzten russenfreundliche bulgarische Offiziere Alexander Battenberg, und im
September erschien ein russischer General in Sofia, um Ordnung zu machen.
Kälnoky war im Interesse der weiteren Zusammenarbeit mit Rußland geneigt,
dem Zarismus auch bei diesen groben Aktionen zu assistieren, doch sah er sich
gezwungen, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten. Die russischen Aktionen
in Bulgarien verursachten im ungarischen Parlament große Aufregung,54 und
Kalman Tisza erklärte in Beantwortung der Interpellationen, daß er eine Poli¬
tik, die auf die russische Besetzung Bulgariens gerichtet sei, nicht vertreten
 könne.55 Für Kälnoky wurde die innere Situation kritisch. Noch im Jahr 1880
 hatte Andrässy gegen eine Erneuerung des russischen Bündnisses argumentiert
 und Haymerle mitgeteilt, zur Zeit des russisch-türkischen Krieges habe es ihm
 übermenschliche Anstrengungen gekostet, die Zusammenarbeit mit Rußland
 aufrechtzuerhalten, obwohl er, als Ungar, nicht verdächtigt werden konnte, eine
 russische Politik zu betreiben. Er fügte noch hinzu, daß es Haymerle, als
 Deutscher, in einer ähnlichen Lage keine acht Tage hätte aushalten können, und
 ein Ministerium tschechischer Färbung hätte eine solche Politik keine vierund¬
 zwanzig Stunden durchgehalten. Es hätte nämlich den Verdacht nicht abwehren
 können, die Interessen der Monarchie zugunsten einer rassischen oder Kamaril¬
 la-Politik aufgeopfert zu haben.56 Kälnokys Lage war im September 1886

  53 Andrässy an Kaiser Franz Joseph v. 24. 11. 1885, HHStA., Kab. A., Geheimakten, Karton 18.
  54 Az 1884. EVI SZEPTEMBER HÖ 2I-ERE HIRDETETT ORSZAGGYÜLES KEPVISELÖHAZÄNAK NAPLÖJA

       7-11.
  55 Dm grosse Politik V., 126-127.
  56 Haymerle an Kaiser Franz Joseph v. 21. 2. 1880, HHStA., Kab. A., Geheimakten, Karton 18.
|| || Einleitung  23

gespenstisch der ähnlich, wie sie Andrässy über ein eventuelles früheres Ministe¬
rium tschechischer Färbung zeichnete. Der einer parlamentarischen Basis und
der nationalen Unterstützung entbehrende gemeinsame Außenminister hatte
nur die Wahl zwischen Demission57 und einer Änderung der Außenpolitik. Er
entschied sich für letztere. Im Budgetausschuß der Delegation erklärte er offen:
Eine auch nur vorübergehende russische Okkupation Bulgariens würde eine
Verletzung der bestehenden Verträge bedeuten, was die Monarchie nicht dulden
würde.58 Der Außenminister versuchte sich freilich auf diplomatischem Wege
zu rechtfertigen,59 doch wurde durch alle seine Äußerungen deutlich, daß mit
jener Politik, die aus Furcht vor einem Zusammenstoß mit Rußland die Auf¬
rechterhatung des guten Verhältnisses mit diesem um jeden Preis in den Vorder¬
grund stellte, Schluß gemacht wurde. Der Vorfall von 1886 hat die internen
Zusammenhänge der außenpolitischen Entscheidungen - unabhängig von den
personellen Konsequenzen - von einer neuen Seite beleuchtet. Es erwies sich,
daß auch in der multinationalen Monarchie die Außenpolitik nicht auf Dauer
das nationale Allgemeinbefinden ignorieren konnte.

                                          Die beiden kriegerischen Spannungen

   Als Kälnoky auf ungarischen Druck hin mit der Politik eines um jeden Preis
guten Verhältnisses zu Rußland Schluß machte, strebte er keineswegs einen
Konflikt mit der zaristischen Großmacht an. Dem neuernannten österrei¬
chisch-ungarischen Sofioter Generalkonsul sagte er noch im August, daß die
Monarchie eine freie und glückliche Entwicklung Bulgariens wünsche, sich aber
mit Rußland wegen Bulgariens in keinen Konflikt einlassen werde.60 Aus der
Änderung der österreichisch-ungarischen Außenpolitik entstand dennoch ein
Konflikt, und zwar von derartiger Intensität, daß auch ein bewaffneter Zusam¬
menstoß der beiden Großmächte auf der Tagesordnung stand. In der über ein
Jahr dauernden Krisenperiode war Rußland die initiative Partei, geleitet von
einem ziemlich anachronistischen, aber immerhin schwerwiegenden Motiv: der
Verletzung des Prestiges. Für die in Bulgarien erlittene Serie von Mißerfolgen
mußte auf irgendeine Weise Genugtuung verschafft werden, und es lag auf der
Hand, den untreu gewordenen Verbündeten verantwortlich zu machen. Ende
1886 sandten der Petersburger österreichisch-ungarische Botschafter und der
Militärattache alarmierende Berichte nach Wien über die gegen die Monarchie
gerichteten Kriegsvorbereitungen.61

   Prestigeverletzung an sich ist freilich kein ausreichender Grund für den

     Die Möglichkeit eines auf inneren Druck erfolgenden Abdankungszwanges erwähnte Kälnoky
     gegenüber dem Wiener russischen Botschafter schon ein Jahr früher. Vgl. Anm. 51.
     Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 407.
59 Ebd. 408-409.
     Tagebuch des österreichisch-ungarischen Generalkonsuls in Sofia Istvän Buriän, Eintragung vom
     9. 8. 1886. Das Tagebuch befindet sich im Privatbesitz.
     Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 418.
|| || 24 Einleitung

Beginn eines Krieges. Das laute Säbelgerassel in Petersburg galt auch eher den
panslawistischen Kreisen als der Monarchie, man wollte mit dieser Geste die
Kritiker der vom Mißerfolg verfolgten bulgarischen Politik besänftigen. In
Wien erinnerte man sich aber noch zu gut daran, daß der Zar auch 1877 keinen
Krieg gewollt und der exaltierte Patriotismus dennoch dahin geführt hatte,
weshalb die alarmierenden Nachrichten aus der russischen Hauptstadt sehr
ernst genommen wurden. Die Kriegsgefahr konnte zu keinem ungünstigeren
Zeitpunkt kommen. Seit dem Abschluß des Zweibundes galt es in Wien als
Axiom, daß man gegen Rußland nur an der Seite Deutschlands Krieg führen
könne. Die neuentstandenen deutsch-französischen Spannungen bewogen aber
nun den deutschen Generalstab, sich im wesentlichen abermals auf die West¬
grenze zu konzentrieren und im Osten die Monarchie im Grunde im Stich zu
lassen. In Erwägung der sich so gestaltenden Kräfteverhältnisse gelangte der
österreichisch-ungarische Generalstabschef zu der deprimierenden Folgerung,
daß die österreichisch-ungarische Armee gegen die doppelt so starke russische
Kriegsmacht unbedingt unterliegen werde.62 Was konnte man tun? Es wäre
logisch gewesen, in der für die Monarchie drittrangigen bulgarischen Frage
dennoch Rußland nachzugeben. Das wäre aber innenpolitisch nicht nur unmög¬
lich, sondern auch unzweckmäßig gewesen. So sehr das ungarische Veto auch
die Ausgestaltung eines aus Machtgesichtspunkten optimalen Verhaltens ver¬
hinderte, kam der vom Allgemeinbefinden isolierten Außenpolitik der plötzlich
entstandene nationale Eifer im Endergebnis doch zugute. Aehrenthal, der viel
von der nationalen Basis der Außenpolitik hielt, schrieb später, daß die Ungarn
in der Krise der 80er Jahre einem feurigen Rosse gleich die Monarchie mit sich
gerissen hätten,63 und auch der sich über den Einfluß des Parlaments häufig
beklagende Kälnoky gestand ein, daß es ohne die ungarische Unterstützung
keine wirksame Außenpolitik gebe.64 Und da ein Zurückweichen nicht mehr
möglich war, blieb nichts anderes übrig, als die militärischen und politischen
Voraussetzungen eines für das nächste Frühjahr befürchteten Krieges zu verbes¬
sern. Der Generalstabschef beantragte die Einrichtung der jüngst verabschiede¬
ten Landsturm-Institution65 sowie die Einleitung jener Maßnahmen, die den
Aufmarsch beschleunigten und die Wirksamkeit der Verteidigung steigerten,
und nahm auch die Vorbereitung zur Mobilmachung in Aussicht.66 In der
militärischen Konferenz unter Vorsitz des Monarchen wurden die Konzeptio¬
nen des Generalstabschefs gutgeheißen.67 Der gemeinsame Ministerrat gab seine

62 Über die militärisch-politische Lage v. 1. 12. 1886. Beck FML., KA., MKSM., Separatfaszikeln,
     Fase. 69, Nr. 29.

63 Hantsch, Außenminister Alois Lexa Graf Aerenthal 523.
64 Vgl. Anm. 1.
65 Vorsorgen hinsichtlich des Landsturmes als Vorbereitung für den Krieg mit Rußland v. 11. 12.

      1886. Beck FML., KA., MKSM. 20-1/11-2 de 1886.
66 Vorbereitungsmaßnahmen für den Krieg mit Rußland, KA., MKSM. 20-1/12-2 de 1886.
67 Protokoll der am 17. 12. 1886 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät stattgehabten

     kommissioneilen Beratung überjene Maßnahmen, welche behufs Formation von Landsturmab¬
     teilungen im Falle eines im Frühjahre 1887 eingetretenen Krieges, in nächster Zeit zu treffen
|| || Einleitung  25

 Zustimmung zur Beschaffung der benötigten Finanzmittel,68 die die außeror-
 dentiiche Session der Delegationen im März 1887 verabschiedete.69 Für ver¬
 schiedene Zwecke und mit gewissen Vorbehalten wurden dem gemeinsamen
 Kriegsminister insgesamt 52,5 Millionen Gulden zur Verfügung gestellt, die
 noch durch die von den Parlamenten der beiden Reichsteile genehmigten Beträ¬
 ge in Höhe von 19,5 Millionen Gulden ergänzt wurden.70 Dies war kein unbe¬
 deutender Betrag, er machte fast die Hälfte des ordentlichen jährlichen Heeres¬
 budgets aus, dennoch änderte er an den Kräfteverhältnissen im wesentlichen
 nichts. Die Wehrmacht der Monarchie war auch damit kaum größer als die
 Hälfte der russischen, und die zur Beschleunigung des Aufmarsches aufgewen¬
 deten Beträge erhöhten ihre Mobilität nicht wesentlich. An den Kräfteverhält¬
 nissen änderte auch die Bündnispolitik nichts. Bei der Erneuerung des Dreibun¬
des im Februar 1887 übernahm die Monarchie die Verantwortung dafür, daß
der Status quo auf dem Balkan ohne Zustimmung Italiens nicht geändert
würde,71 und dann schloß sie sich dem Übereinkommen Italiens mit England
an, das die Bewahrung des Status quo am Mittelmeer proklamierte.72 Diese
Bindungen bedeuteten jedoch nicht mehr Divisionen gegen Rußland. So ist es
sehr verständlich, daß der besorgte Kälnoky im Mai 1887 die Botschaft nach
Petersburg sandte, es sei die unveränderte Absicht der Monarchie, die auf
friedlicher und konservativer Grundlage beruhende Bündnispolitik mit Ru߬
land fortzusetzen.73

   Dieses Amerbieten hätte aber in Petersburg nur dann einen Wert gehabt,
wenn es mit einer Unterstützung der russischen Bestrebungen in Bulgarien
emhergegangen wäre. In der russischen Hauptstadt hatte man den Eindruck,
daß nach wie vor das Gegenteil der Fall war. Die bulgarische Nationalversamm¬
lung wählte im Sommer 1887 Ferdinand von Coburg zum Fürsten, der bald
danach den Thron bestieg. Obwohl Wien mit dieser Wahl tatsächlich nichts zu
tun und Ferdinand sogar von der Annahme seiner Wahl abgeraten hatte,74 war
man in Petersburg der Meinung, der neue Fürst sei ein Mann Österreichs, was
den Zorn über die Monarchie weiter schürte. Ohnehin hatte man die im Laufe
des Frühlings getroffenen österreichisch-ungarischen Militärmaßnahmen als
Manifestation der russenfeindlichen Angriffsabsicht betrachtet; nun, nach den
Ereignissen in Bulgarien, mußte eine Antwort erfolgen. Es kam zu einer Eskala¬
tion, wie sie schon früher und auch später häufig Krisensituationen unsteuerbar

     wären. KA., MKSM. 20-1/11-2 de 1886. - Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr k u k
     apost. Majestät am 21. Dezember stattgehabte Konferenz, betreffend „Vorbereitungsmaßnah-
     men für den Krieg mit Rußland", KA., MKSM. 20-1/12-2 de 1886
68 GMR. v. 5. 1. 1887, RMRZ. 335.

7o Kolmer, Parlament und Verfassung in Österreich IV, 52-54.

     Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 429.
     Pribram, Die politischen Geheimverträge 42-43
72 Ebd. 52-53.

73 Kälnoky an Wolkenstein v. 7. 5. 1887, HHSxA., PA. I, Karton 460.

     Denkschrift des Freiherm von Aehrenthal im Mai-Juni 1895 über die Beziehungen Österreich-
     Ungarns zu Rußland, HHStA., PA. I, Karton 474.
|| || 26 Einleitung

werden ließ. Der militärische Sektor trat aus seiner politischen Subordination
heraus und begann selbständig zu agieren. Der russische Generalstab war sich
des Vorteils des österreichisch-ungarischen (und des deutschen) Gegners durch
dessen rascheres Mobilisierungstempo bewußt und fürchtete, nach erneuten
österreichisch-ungarischen Truppenkonzentrationen in eine noch nachteiligere
Lage zu geraten.75 Die Antwort konnte nur eine weitere TruppenVerstärkung
sein: Im November 1887 wurde eine Reiterdivision an die galizische Grenze
verlegt. Dem österreichisch-ungarischen Generalstab war die marschbereite
russische Macht ohnehin schon zu stark, und als noch eine Reiterdivision
hinzukam, kam der Generalstabschef zu der Überzeugung, die Russen könnten
den österreichisch-ungarischen Aufmarsch leicht verhindern, und dadurch mü߬
te die Monarchie schwere Verluste hinnehmen, noch bevor sie die Kampfhand¬
lungen beginnen könnte.76 Im Gegenzug beantragte auch er, zwei Divisionen
nach Galizien zu verlegen. Darauf hätte eine weitere russische TruppenVerstär¬
kung und dieser wieder eine österreichisch-ungarische folgen und schließlich
aufgrund der beiderseitigen Angst der Krieg beginnen können, ohne daß dies
die Politiker auf der einen oder anderen Seite gewollt und im voraus beschlossen
hätten. Die politische Führung in allen drei Hauptstädten stand vor der Frage,
ob sie der militärischen Logik einer Eskalation der Kräfte folgen oder die
Priorität der Politik wiederherstellen sollte.

   Der tatsächliche Schauplatz des Konfliktes zwischen politischer und militäri¬
scher Führung war freilich nicht Wien, sondern Berlin. Moltke und Waldersee
übten ungemein starken Druck auf Bismarck aus, der militärischen Entfaltung
der östlichen Großmacht zuvorzukommen und einen Präventivkrieg gegen
Rußland zu beginnen.77 Der österreichisch-ungarische Generalstab hatte Vorbe¬
halte hinsichtlich eines Winterfeldzuges. Da er aber eine weitere Verstärkung
der russischen Kräfte befürchtete und auch selbst mit dem Gedanken eines im
Frühjahr zu beginnenden Präventivkrieges sympathisierte, wurde er schließlich
zum Sprachrohr des deutschen Generalstabs bei seiner eigenen Regierung.78
Und obwohl er keinen solchen Druck auf die politische Führung ausübte, wie
dies in Deutschland der Fall war, hatte sein Standpunkt schon deshalb Gewicht,
weil er von der stärksten außenpolitischen Strömung innerhalb der Monarchie
gestützt wurde. Kaiman Tisza erklärte, wenn man mit Sicherheit auf Deutsch¬
land rechnen könne, liege kein Grund vor, dem Krieg durch Inanspruchnahme
künstlicher Mittel aus dem Wege zu gehen.79 Kälnoky lag jedoch nichts ferner,
als sich ohne triftigen Grund mit Rußland in einen Krieg einzulassen, und er

75 Der russische Generalstab machte sich schon ein Jahrfrüher darüber Sorgen. PalotaS, Osztrak-
      magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 421.

76 Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 3. 12. 1887. Unsere militärische Lage in Galizien, KA.,
      MKSM. 20-1/10-2 ex 1887.

77 Canis, Bismarck und Waldersee 220.
78 Protokoll der am 8. 12. 1887 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in der Hofburg zu

      Wien stattgehabten kommissionellen Beratung über die eventuell in Galizien zu ergreifenden
      Maßnahmen, KA., MKSM. 20-1/10-2 ex 1887.
79 GMR. v. 18. 12. 1887, RMRZ. 348.
|| || Einleitung  27

bestand hartnäckig auf der Priorität der Politik. Sein Standpunkt war der
gleiche wie vor vier Jahren: In einem Krieg gegen Rußland sei nur das Elend
selbst vorhersehbar, das auf das Volk zukäme, die Folgen wären unermeßlich.80
Von dieser Grundstellung aus glaubte er nicht und wollte nicht glauben, daß
die Truppenkonzentrationen den Prolog des Krieges bildeten, und warnte von
vornherein davor, daß man über die allernotwendigsten militärischen Vorkeh¬
rungen hinaus den Russen Grund zu neuen Gegenmaßnahmen gebe.81 Und er
tat, was in einer solchen Situation die erste Pflicht jedes Staatsmannes ist, er
holte Informationen ein, und die Nachrichten rechtfertigten ihn. Der am 16.
Dezember eintreffende Bericht des Petersburger österreichisch-ungarischen Bot¬
schafters besagte, die russischen Truppenbewegungen dienten keinem offensiven
Zweck, viel wahrscheinlicher sei, daß man mit ihnen in der bulgarischen Frage
einen Druck auf die Monarchie ausüben wolle.82 Im Besitz dieser Information
teilte er am 17. Dezember dem Wiener deutschen Militärattache entschieden
mit, daß er einem Präventivkrieg gegen Rußland, den auch die österreichisch¬
ungarischen Militärkreise befürworten, nicht zustimme.83 Tags darauf erklärte
er im gemeinsamen Ministerrat dem ungarischen Ministerpräsidenten, der eben¬
falls mit Krieg rechnete, daß für Deutschland der Casus foederis nur im Falle
eines russischen Angriffs auf die Monarchie in Kraft trete.84 Sein Auftreten
zeigte in beiden Richtungen Wirkung: Die Militärs waren wohl nach wie vor
besorgt, ihre Gesichtspunkte wurden jedoch wieder der Politik untergeordnet,
und auch die Kriegslust des ungarischen Ministerpräsidenten ebbte in Ermange¬
lung der deutschen Unterstützung ab. Es war nur noch ein Nachspiel, daß der
russische Botschafter am 23. Dezember am Ballhausplatz erschien und den
gemeinsamen Außenminister der friedlichen Absichten des Zaren versicherte.85
Durch die Veröffentlichung des Zweibundes im Februar 1888 trat auch eine
Ernüchterung der ungarischen Öffentlichkeit ein. Die durch militärische De¬
monstrationen und Gegendemonstrationen entstandene Krise wurde somit
dank einer Gewährleistung des Primats der Politik ohne bewaffneten Zusam¬
menstoß gelöst. Der Fall enthielt jedenfalls eine Art Mahnung, die später nicht
immer entsprechend beherzigt wurde. Er zeigte, daß in der Zeit der Massenar¬
meen die Truppenbewegungen allein Ursache von Konflikten und dadurch auch
eines Krieges sein können.

   Die mit der ostrumelischen Revolution begonnene und in kriegerischen Span¬
nungen mündende Krise nahm für die außenpolitische Führung der Monarchie
kein ungünstiges Ende. Das Vertragsverhältnis mit Rußland, das sich auf die
Balkanangelegenheiten bezogen, aber auch auf anderen Gebieten die Gegensät¬
ze moderiert hatte, bestand zwar nicht mehr, aber das Vertragsnetz, mit dem

80 Rutkowski, Gustav Graf Kälnoky 300.
81 Vgl. Anm. 78.
82 Vgl. Anm. 74.

83 Kälnoky an Szechenyi v. 17. 12. 1887, HHStA., PA. I, Karton 534.
84 Vgl. Anm. 79.

85 Kälnoky ä Wolkenstein le 23 decembre 1887. Zitiert von Aehrenthal in der in Anm. 74 erwähnten
     Denkschrift.
|| || 28 Einleitung

sich die Monarchie umgeben hatte, blieb erhalten, ja wurde sogar dichter
geflochten. In den folgenden Jahren kam es zur Erneuerung des Vertrages mit
Serbien (1889),86 mit Deutschland (1889),87 mit Italien (1891)88 und mit Rumä¬
nien (1892),89 ja in den kritischen Tagen vom Dezember 1887 wurde durch den
Abschluß des Orientdreibundes auch das schon stets erwünschte und vermißte
Vertragsverhältnis mit England gesichert.90 Rußland wurde gleichzeitig für
lange Zeit aus Bulgarien verdrängt und stand, nachdem 1890 auch sein Ver¬
tragsverhältnis zu Deutschland abgebrochen war, in der internationalen Politik
völlig isoliert da. Zur Zeit der Krise hielt die außenpolitische Führung auch dem
Druck der inneren Kräfte erfolgreich stand. Die ungarische Ungeduld erzwang
wohl den Abbruch der Zusammenarbeit mit Rußland, konnte aber die Annah¬
me des Programms einer kriegerischen Lösung der Krise nicht durchsetzen. Und
noch wichtiger war, daß Kälnoky den Primat der Politik auch gegenüber dem
Generalstab mit seiner simplen militärischen Logik durchzusetzen vermochte.

                                                     Die Folgen der Krise

   Dessenungeachtet scheinen die Argumente der Befürworter eines Präventiv¬
krieges nicht ganz ohne Einfluß auf den gemeinsamen Außenminister geblieben
zu sein. Namentlich zwei Argumente machten ihn nachdenklich. Der ungarische
Ministerpräsident gab seiner Ansicht Ausdruck, daß die verschiedenen Natio¬
nen der Monarchie wohl ihre Pflicht erfüllen würden. Ob sich aber die Lage
nicht doch infolge der russischen Machinationen innerhalb der nächsten Jahre
ändern würde, schien ihm zumindest fraglich.91 Der Generalstabschef aber
betonte ständig, daß die russischen Truppenkonzentrationen entschiedene Ma¬
nifestationen der Angriffsabsicht seien.92

   Kälnoky ließ im gemeinsamen Ministerrat die Fragestellung Kalman Tiszas
unbeantwortet, diktierte aber danach ein langes Memorandum, in dem er
anscheinend mit dem ungarischen Ministerpräsidenten polemisierte.93 Durch
die Betonung der ungarischen Staatsidee entfremde die ungarische Regierung
gerade die in Ungarn lebenden Rumänen und trage damit dazu bei, daß sie in
Richtung eines rumänischen Nationalstaates gravitierten. Kritik richtete er aber
auch an die österreichische Regierung, der er vorwarf, daß sie durch die Favori-
sierung des polnischen „Elementes" nicht nur die Zusammenarbeit mit Deutsch¬
land und Rußland erschwere, sondern auch die Ukrainer den slawischen subver¬
siven Tendenzen ausliefere. Er äußerte sich auch besorgt darüber, daß die

86 Pribram, Die politischen Geheimverträge 57-60.
87 Ebd. 29.
88 Ebd. 64-69.
89 Ebd. 69-73.
90 Ebd. 51-56.
91 GMR. v. 18. 12. 1887, RMRZ. 346.
92 VgL Anm. 76.
93 Vgl. Anm. I.
|| || Einleitung                                                                                       29

 Regierung mit ihrer ständigen Umwerbung der Tschechen die deutsche Bevöl¬
 kerung Österreichs entmutige. Die Therapie, die der gemeinsame Außenminister
 empfahl, war recht widerspruchsvoll. Einerseits stellte er fest, daß die Außenpo¬
 litik nach wie vor auf den Österreichern und Ungarn aufgebaut werden müsse,
 andererseits setzte er sich für die Stärkung des Gesamtmonarchie-Bewußtseins
 ein, um die innere Basis der Außenpolitik zu erweitern. Beides ließ sich kaum
 miteinander vereinen. Das wirkliche Problem lag aber nicht in der widersprüch¬
 lichen Beschaffenheit der Therapie, sondern darin, daß der gemeinsame Außen¬
 minister keinerlei Einfluß auf die Regierungspolitik der beiden Länder hatte.
 Kälnoky machte Taaffe einige Jahre später Vorwürfe, im Zusammenhang mit
 der geplanten Wahlrechtsreform seine Meinung nicht eingeholt zu haben.94 Das
 Memorandum über die Zusammenhänge von Nationalitätenfrage und Außen¬
 politik besitzt somit bloß ideengeschichtliche Bedeutung. Es weist darauf hin,
 daß sich der gemeinsame Außenminister dessen bewußt war, wie überladen das
 Schiff war, das er auf den Gewässern der internationalen Politik zu steuern
 hatte.

    Viel größer war die praktische Bedeutung jener Denkschrift, in der der
gemeinsame Außenminister - vermutlich unter dem Eindruck der Argumenta¬
tionen militärischer Kreise - die Ursachen der kriegerischen Spannung und
deren internationale politischen Tendenzen analysierte.95 Schon die Fragestel¬
lung selbst weist auf eine Annäherung an den Standpunkt seiner Diskussions¬
partner hin: Woher kam diese Strömung, die den Zaren fast in einen Krieg
gegen seine friedlichen Nachbarn hinriß? Die Antwort formulierte aber schon
der Politiker. Kälnoky sah die Ursache weder in der an sich unbedeutenden
bulgarischen Angelegenheit noch im sogenannten Ostproblem, da man in Pe¬
tersburg sehr gut wußte, daß zu dessen Lösung die damalige Situation nicht
geeignet war. Die einzige und ausschließliche Ursache war Deutschland mit
seinem militärischen Übergewicht in Europa, welches den Zweibund für Ru߬
land unannehmbar machte. Rußland wurde nämlich dadurch aus Europa ver¬
drängt, und es drohte die Gefahr, daß es auch seinen östlichen Einfluß verlor.
Wo gab es einen Ausweg aus dieser Lage? Kälnoky hielt es nicht für ausge¬
schlossen, daß es gelingen werde, den Zaren gegenüber den inneren russischen
Strömungen wieder zur Politik der Zusammenarbeit zu bewegen, oder aber
Frankreich von Rußland zu trennen, was die panslawischen Ambitionen abküh¬
len würde. Zu diesen Möglichkeiten äußerte er sich jedoch recht skeptisch. Seine
Erörterungen schloß er damit, daß ein bewaffneter Zusammenstoß Deutsch¬
lands und der Monarchie mit Rußland früher oder später unvermeidlich sei und
die Frage, ob das slawische Rußland auf dem europäischen Kontinent herrschen
werde oder nicht, allein durch das Schwert entschieden werde.

   An dieser Denkschrift für den Herrscher ist vor allem interessant, wie sich
die Ansichten Kälnokys gewandelt hatten. Der gemeinsame Außenminister war

94 Abschrift eines Privatschreibens an den k. k. Ministerpräsidenten Taaffe v. 15.10.1893 HHStA
     PA. I, Karton 469.

95 Geheim v. 1. 1. 1888, HHStA., PA. I, Karton 469.
|| || 30 Einleitung

aufgrund seiner Erfahrungen dorthin gelangt, wo für Andrässy der Ausgangs¬
punkt war: Rußland habe die Fähigkeit und auch die Absicht, die Monarchie
von der Landkarte verschwinden zu lassen. Ob tatsächlich eine solche Absicht
bestand und ob der Zarismus aus Angst vor der deutschen Übermacht und dem
Zweibund seine auf die Konservierung der mitteleuropäischen Verhältnisse
gerichtete Politik tatsächlich aufgegeben hätte, ist auch heute nicht mit Sicher¬
heit zu entscheiden. Aus der damaligen Analyse, die russische hegemonistische
Bestrebungen und eine Aggressionsabsicht voraussetzte, folgte jedenfalls, daß
eine um jeden Preis konfliktvermeidende Politik ihren Sinn und ihre Aktualität
verloren hatte. Demgegenüber schien eher der Standpunkt aktuell, der mit dem
Krieg nicht als „fürchterlicher Kalamität", sondern als Realität rechnete und
sich nicht auf die Suche nach Modalitäten der Kriegsvermeidung, sondern nach
einer Verbesserung der Bedingungen für den Waffengang konzentrierte. Dies
aber war im Endergebnis der Standpunkt von Kälnokys Gegenspielern. Der
gemeinsame Außenminister setzte allerdings in den Krisentagen die Priorität der
Außenpolitik vor den inneren Strömungen und das Primat der Politik über die
militärische Logik durch, doch mußte er - da er in der Zukunft gleichfalls mit
der Gewißheit des Krieges rechnete - in der praktischen Politik die Meinung des
ungarischen Ministerpräsidenten und des Generalstabschefs adaptieren.

   Der stets vorsichtige Kälnoky blies freilich auch nachher nicht die Kriegsfan¬
fare, aber bei der für sicher gehaltenen Kriegsperspektive mußte er sich sowohl
der Bündnispolitik als auch den militärpolitischen Fragen in anderer Weise
nähern. Das neue Verständnis der Bündnispolitik wurde schon 1889 beim
Berliner Kaisertreffen ersichtlich. Gegenüber seinen inneren Gegenspielern hat¬
te Kälnoky bisher immer betont, daß sich der Casus foederis im Zweibund nicht
auf den Balkan beziehe und der Vertrag einen ausgesprochen defensiven Cha¬
rakter habe. In der Denkschrift für den Monarchen96 stellte er nun die Frage,
ob Deutschland wohl jetzt, da sich Rußland offensichtlich auf die Eroberung
Konstantinopels vorbereitete, in der Ostfrage auch weiterhin gleichgültig blei¬
ben könne? Die Fragestellung enthielt schon die verneinende Antwort und
gleichzeitig den Wunsch, daß der Casus foederis auch auf den Balkan ausge¬
dehnt werde, also genau das, was Kalman Tisza dem gemeinsamen Außenmini¬
ster gegenüber ständig, aber bisher erfolglos betont hatte. Der gemeinsame
Außenminister gab in seinem Memorandum auch dem Charakter des Zweibun¬
des eine neue Deutung. Wegen der russischen Truppenkonzentrationen könne
der Krieg jederzeit ausbrechen, und wenn die Monarchie mit Rußland in einen
Krieg gerate, müsse Deutschland unbedingt an der Seite der Monarchie stehen.
Das „unbedingt" konnte auch heißen: selbst wenn der defensive Charakter des
Krieges nicht eindeutig ist. Dies aber war der Standpunkt des österreichisch¬
ungarischen Generalstabschefs, gegen den sich Kälnoky bisher entschieden
verwahrt hatte. Jetzt hielt er es ebenfalls für notwendig, daß es zwischen den
beiden Generalstäben zu vorherigen Besprechungen komme und die Bedingun¬
gen der militärischen Zusammenarbeit rechtzeitig geklärt würden. (Bekanntlich

% Kälnoky an Kaiser Franz Joseph v. 31. 7. 1889, HHSxA., Kab. A., Geheimakten, Karton 79.
|| || Einleitung  31

 war er im Dezember 1887 ebenso wie Bismarck gegen eine unmittelbare
 Fühlungnahme der beiden Generalstäbe.) Zu den Verhandlungen kam es dann
 in Berlin, und Kaiser Wilhelm II. sagte Generalstabschef Beck zur höchsten
 Befriedigung des gemeinsamen Außenministers, wenn die Monarchie aus wel¬
 chem Grund auch immer mobilisiere, werde der Tag der österreichisch-ungari¬
 schen Mobilisierung zugleich auch der Tag der deutschen Mobilmachung sein.97

    Für die Entwicklung des Heeres zeigte der gemeinsame Außenminister im
 allgemeinen großes Verständnis, und über die Notwendigkeit einer Verstärkung
 der Wehrmacht der Monarchie bestand im Grunde genommen kein Gegensatz
 zwischen der außenpolitischen und der militärischen Führung. Beachtenswert
 ist aber, daß Kälnoky, wenn er von den inneren Mängeln der Außenpolitik der
 Monarchie sprach, die Armee niemals erwähnte und bei kritischen Gelegenhei¬
 ten immer vor militärischen Schritten warnte, die als provokativ qualifiziert
 werden könnten. Selbst im Bewußtsein eines unvermeidbaren Krieges war er
 dagegen, daß der militärische Gesichtspunkt Vorrang gegenüber den politischen
 Überlegungen gewönne. Als der Monarch 1891 davon sprach, es sei zweckmä-
ßig, für die Aufrüstung eine ausländische Anleihe in Anspruch zu nehmen,
äußerte Kälnoky ebenso wie die anderen Minister eine gegenteilige Meinung.
Die Monarchie werde im Falle der Aufnahme einer Anleihe durch den Wider¬
stand im Lande zur Kapitulation gezwungen, noch bevor sie sich in einen Krieg
eingelassen hätte.98 Trotzdem maß der gemeinsame Außenminister nach 1888
den militärischen Gesichtspunkten sichtlich eine viel größere Bedeutung bei.
Der Generalstabschef fertigte 1892 eine umfangreiche Studie über die Entwick¬
lung des europäischen Kriegswesens in den letzten fünfundzwanzig Jahren99 mit
der Schlußfolgerung an, daß die Monarchie sowohl im. Stand der Ausgebildeten
und des stehenden Heeres als auch in der Ausrüstung der Armee weit hinter den

übrigen Großmächten zurückgeblieben war. Dementsprechend formulierte er
zahlreiche Anträge, unter anderem wünschte er Erhöhungen bei der Anzahl der
Berufsoffiziere, beim Personalstand der Kompanien, beim Pferde- und Waffen¬
bestand sowie den weiteren Ausbau des Festungssystems. Darüber hinaus ver¬
langte er beträchtlich mehr Finanzmittel: von 1894 an wollte er über das
jährliche Kriegsbudget hinaus binnen fünf Jahren 94 Millionen Gulden für die
Streitkräfte aufwenden. Kälnoky setzte sich im gemeinsamen Ministerrat ent¬
schieden für den Antrag des Generalstabschefs ein und empfahl wärmstens, den
Mehrbetrag ins Budget aufzunehmen. Seiner Argumentation hätte sich auch ein
Soldat nicht zu schämen brauchen. An der Grenze stehe eine riesige Berufsar¬
mee, die wann immer in Aktion treten und die Grenze durchbrechen könne.
Daran ändere die Tatsache nichts, daß die politische Lage jetzt günstiger sei als
früher. Die militärische Lage Rußland gegenüber sei nicht minder gefährdet.100

 97 Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte 338.
 98 GMR. v. 21. 9. 1891, RMRZ. 377.

    Denkschrift über die allgemeinen militärischen Verhältnisse Ende 1892 mit einem Anhänge
    Darstellung der russischen Kriegsvorbereitungen seit dem Jahre 1886. Zum reservierten Dienst-
    gebrauche als Manuskript gedruckt, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 90 Nr 3
100 GMR. v. 2. 2. 1893, RMRZ. 377.
|| || 32 Einleitung

   Die Schritte im Bereich der Bündnispolitik und die Maßnahmen zur Entwick¬
lung des Heeres sind Beweise dafür, daß sich um die Wende von den 80er zu
den 90er Jahren nicht nur die Auffassung des gemeinsamen Außenministers
geändert hat, sondern auch die Außenpolitik selbst. Die Bemühungen um die
Ausweitung und Konkretisierung des Casus foederis und die Maßnahmen zur
Erhöhung des Personalstandes der Armee waren praktische Manifestationen
der einen bewaffneten Zusammenstoß mit Rußland perspektivisch für unver¬
meidlich haltenden politischen Konzeptionen. Widersprüchlich daran war nur,
daß diese Schritte die Wahrscheinlichkeit des Krieges, der für die Monarchie
nach wie vor unerwünscht war, noch erhöhten. Der Wunsch nach Ausweitung
des Casus foederis war dabei weniger gefahrvoll, da die Entscheidung nicht
allein von Wien abhing und der neue Kaiser in Berlin trotz seiner großsprecheri¬
schen Äußerungen schließlich doch an der Bismarckschen Vorsicht festhielt. Die
Verstärkung des Personalbestandes besonders der Einheiten in Galizien repro¬
duzierte und stabilisierte hingegen jene Situation, die im Dezember 1887 aus rein
militärischen Gründen schon einmal fast zum Krieg geführt hätte. Zudem war
die Monarchie infolge ihrer beschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten im
Bereich der Aufrüstung nicht wirklich konkurrenzfähig, und die teuflische
Spirale der Aufrüstung konnte dahin führen, daß die die militärische Logik
adaptierende politische Führung in einer erneuten kritischen Lage die Freiheit
ihrer Entscheidungen verlieren konnte.

                                        Die Zunahme beunruhigender Symptome

    In der ersten Hälfte der 90er Jahre gingen im internationalen Leben zahlrei¬
che für die Monarchie nachteilige Änderungen vor sich, die vor allem die
Bündnispolitik betrafen. Die Zurückweisung der Erneuerung des Rückversiche¬
rungsvertrages veranlaßte Rußland im Juni 1890, sich auf Frankreich zu orien¬
tieren und den Abschluß eines russisch-französischen Bündnisses zu erwägen.
Die Folge dieser Neuorientierung war der Abschluß eines Konsultativpaktes im
August 1891 und eines Militärabkommens im August 1892, das die Vertrags¬
partner zur Hilfeleistung bei einem Angriff Deutschlands auf Frankreich bzw.
bei einem solchen Deutschlands oder Deutschlands und Österreich-Ungarns
auf Rußland verpflichtete. Für die Monarchie bedeutete der Vertrag einerseits,
daß ein Krieg im Westen automatisch den Beginn eines Krieges im Osten
auslöse, und andererseits, daß die Vertragspartner im Falle eines Krieges im
Osten unter allen Umständen mit der Einmischung Frankreichs rechnen mu߬
ten. Daß ersteres nicht bloß eine theoretische Möglichkeit darstellte, hatte der
Wiener russische Militärattache dem österreichisch-ungarischen Generalstabs¬
chefmit zynischer Offenheit bestätigt, in dem er erklärte, im Falle eines Konflik¬
tes werde Deutschland im Westen sofort angegriffen, und natürlich auch die
Monarchie.101 Der Schutzschirm des Zweibundes war damit eigentlich zu einem

 101 Die grosse Politik VII, 223.
|| || Einleitung  33

magnetischen Pol geworden, der das in der Ferne, am Firmament des internatio¬
nalen Lebens zuckende Wetterleuchten gefährlich anzog. Auch die militärischen
Kräfteverhältnisse versprachen der Monarchie im Falle eines im Westen und
Osten gleichzeitig aufflammenden Krieges nichts Gutes. Der deutsche General¬
stab hatte bisher in der Frage geschwankt, ob der Schwerpunkt im Westen oder
im Osten liegen werde, und wollte bald die französische, bald die russische Front
bevorzugen. Nach dem französisch-russischen Militärbündnis hörte dieses
Schwanken auf, für den deutschen Generalstab wurde die Priorität der West¬
front eindeutig. Der neue Generalstabschef Schlieffen teilte 1892 Beck offen mit,
er werde im Kriegsfall die Mehrheit der deutschen Wehrmacht im Westen
konzentrieren und im Osten insgesamt nur 16 Divisionen stationieren. Mit
voller Kraft wolle er sich gegen Rußland erst nach einem Sieg über Frankreich
wenden.102 Damit würde Österreich-Ungarn gezwungen, sich gegen die 88 russi¬
schen Divisionen auf seine 43 Divisionen zu verlassen. Das waren schlechte
Bedingungen für einen Krieg, da selbst die Mittel für eine erfolgreiche Verteidi¬
gung fehlten. Mit Recht stellte der österreichisch-ungarische Generalstabschef
1894 fest, daß die Armee der Monarchie der Lösung einer derartigen Aufgabe
nicht mehr gewachsen sein werde. Der besorgte Generalstabschef stellte im
Blick auf die Zukunft auch die Frage, was denn geschehen würde, wenn Italien
aus einer verbündeten zu einer neutralen oder gar feindlichen Macht werden
sollte? Dann, so lautete seine entmutigende Antwort, werde bei derart veränder¬
ten Kräfteverhältnissen das Heer nicht in der Lage sein, die Sicherheit der

Monarchie zu gewährleisten.103
    In der ersten Hälfte der 90er Jahre veränderte sich auch das Verhältnis der

Monarchie zu England nachteilig. Zwar hatte der Inselstaat niemals als ganz
sicherer Partner der Monarchie gegolten, aber unbezweifelbar wahrte England
die Unversehrtheit des Türkischen Reiches und schützte Konstantinopel vor
einer Expansion Rußlands. Eine Meinungsverschiedenheit konnte nur über die
Mittel entstehen, mit denen dieses gemeinsame Ziel erreicht wurde. Die macht¬
politischen Veränderungen bewogen nun die Lenker der englischen Außenpoli¬
tik dazu, die Splendid Isolation stufenweise aufzugeben und zu versuchen, die
Anzahl der Gegner zu verringern. Da unter den Kolonialmächten Frankreich
als gefährlichster Rivale galt, schien es notwendig, den jahrzehntelangen Span¬
 nungszustand zu Rußland zu entschärfen. Damit sank der Wert der Meerengen
 und Konstantinopels erheblich, und die seit hundert Jahren verfolgte Politik der
 Integrität der Türkei verlor ihren früheren Sinn. Vor diesem Hintergrund mußte
 die Argumentation Kälnokys für eine weitere Zusammenarbeit sich in London
 als völlig wirkungslos erweisen.104 Wie sich die Zeiten gewandelt hatten, war
 daran zu erkennen, daß auch der für seine Türkenfreundschaft bekannte kon¬
 servative Politiker Salisbury (seit 1895 abermals Premierminister) es für zulässig
 hielt, wenn die strategisch wichtigen Punkte in russischem Besitz verblieben. Die

102 Glaise-Horstenau, Franz Josephs Weggefährte 346.
103 Au. Vortrag v. 23. 1. 1894, Beck FZM., KA., MKSM., Archiv Beck-Rzikowsky, Nr. 226.
104 Bridge, From Sadowa to Sarajevo 196.
|| || 34 Einleitung

Führer der Monarchie mußten früher oder später zur Kenntnis nehmen, daß
der Beitritt zum östlichen Dreibund das letzte Aufflammen der traditionellen
britischen Ostpolitik gewesen war.

   Die Lage verschlimmerte weiter, daß die unter österreichisch-ungarischem
Einfluß stehenden Balkanstaaten allmählich der Monarchie entglitten. In Bul¬
garien wurde im Mai 1894 der seit sieben Jahren regierende österreichfreundli¬
che Ministerpräsident Stambulow gestürzt, und bald danach folgte die aus den
bulgarischen inneren Verhältnissen heraus fällige bulgarisch-russische Versöh¬
nung. In Serbien brachen im Sommer 1894 Unruhen aus, und die wiederholten
Regierungskrisen wiesen stark österreichfeindlichen Charakter auf. Es schien
sehr zweifelhaft zu sein, ob der im Jahr 1895 ablaufende Vertrag Österreich-Un¬
garns mit Serbien erneuert werden konnte. Nur Rumänien schien weiterhin ein
verläßlicher Partner zu bleiben, aber in Sofia und in Belgrad war der österrei¬
chisch-ungarische Einfluß mit russenfeindlichem Inhalt kaum aufrechtzuerhal¬
ten.

   Beunruhigende Symptome zeigten sich aber nicht nur jenseits der Grenzen,
sondern auch in der Monarchie selbst. Die drohende Disharmonie der nationa¬
len und Staatsinteressen, die infolge der spezifischen multinationalen Struktur
stets bestanden hatte, begann zu Beginn der 90er Jahre gefährliche Gestalt
anzunehmen. Die Deutschösterreicher, die zahlenmäßig stärkste Volksgruppe,
hatten sich bisher schon als recht gleichgültig gezeigt, ihre letzte entschiedene
Aktion war im Jahr 1871 die Erzwingung der Versöhnung mit Deutschland
gewesen. Seither zeichneten sie sich durch hochgradige Interessenlosigkeit aus,
in der Außenpolitik der Monarchie wollten und konnten sie auch nicht rich¬

tunggebend sein. Der desorientierte deutschösterreichische Nationalismus raffte
sich zu Beginn der 80er Jahre zwar wieder auf, erweckte jedoch nicht die
Konzeption eines „anderen Deutschlands" zu neuem Leben, sondern identifi¬
zierte sich mit dem tatsächlich bestehenden Deutschland. Die Gleichgültigkeit
gegenüber der Monarchie steigerte sich vom Anfang der 90er Jahre noch weiter,
und andererseits nahm der Separationsgedanke Ausmaße an, die allmählich
auch die Existenz des Reiches gefährdeten. Im Verhältnis zwischen ungarischer
Nation und Reich kam es ebenfalls zu nachteiligen Änderungen. Statt der Treue
zur Monarchie drangen immer mehr nationale Sonderinteressen in den Vorder¬
grund. Die Beziehungen zwischen Ungarn und dem Reich wurden für überflüs¬
sig und die dualistische Einrichtung für schädlich erklärt, erstere, weil man
meinte, daß im konsolidierten Europa der eine Sicherheit bietende Rahmen der
Monarchie weniger nötig sei, letztere in der Ansicht, daß die Zollunion die
wirtschaftliche Entwicklung Ungarns hemme und das gemeinsame Heer ebenso
wie die gemeinsame Außenpolitik die ungarische Souveränität unzulässig ein¬
schränkten. Von den 90er Jahren an mußte der gemeinsame Außenminister
nicht mehr befürchten, daß seine Politik in der Delegation angegriffen wurde
und der ungarische Ministerpräsident im gemeinsamen Ministerrat ein außen¬
politisches Programm vorlegte, das die ungarischen Vorstellungen zum Aus¬
druck brachte. Diese Erscheinung wurde in Wien anfangs mit Befriedigung zur
Kenntnis genommen. Sehr bald kam man aber darauf, daß infolge der ungari-
|| || Einleitung  35

sehen Gleichgültigkeit der stärkste Motor der Politik der Monarchie auszuset¬
zen begann. Im Verhalten der übrigen Völker der Monarchie war keine der
österreichischen und der ungarischen ähnliche Veränderung zu bemerken. Die
Tschechen blieben trotz der ungünstigen Erfahrungen austrophil, die Kroaten
nährten ihre großkroatischen Illusionen weiter, und die Polen wußten ihre
gegenüber der russischen und der deutschen günstigere Stellung zu schätzen. Die
Loyalität dieser Völker war ein wichtiger Faktor, doch vermochte sie die zuneh¬
mende Gleichgültigkeit der Österreicher und der Ungarn nicht auszugleichen.
Durch die Veränderung der nationalen Standpunkte wurde die innere Kohäsion
der Monarchie weiter geschwächt, und zwar gerade zu einer Zeit sich steigern¬
den Nationalbewußtseins, als der Nationalismus in ganz Europa die breitesten
Gesellschaftsschichten erfaßt hatte.

   Unter solchen inneren und äußeren Verhältnissen hatten jene, denen das
Geschick des Reiches am Herzen lag, wenig Grund zur Hoffnung. In den
inneren Verhältnissen trat keine Klärung ein, beide Teile der Monarchie versan¬
ken in aussichtslose nationale und staatsrechtliche Streitigkeiten. Die äußeren
Umstände begannen sich allmählich tatsächlich zu bessern, und entgegen den
pessimistischen Prognosen folgte eine anderthalb Jahrzehnte währende Ruhe¬
periode. Die verhältnismäßige Ruhe ergab sich teils daraus, daß die Nationalbe¬
wegungen auf dem Balkan nach dem großen Anlauf der 70er und 80er Jahre
vorläufig an Intensität verloren, teils daraus, daß sich das zaristische Rußland
vom Nahen Osten ab und dem Fernen Osten zuwandte und seine Machtambi¬
tionen in Asien befriedigen wollte. In Wien befreite man sich immer mehr vom
Druck der slawischen Umklammerung, und Goluchowski, der neue gemeinsa¬
me Außenminister, erklärte sogar schon, daß eine Gefahr nicht mehr von den
nördlichen Grenzen her drohe und die Monarchie seitens der zaristischen Macht
auf Ruhe und Frieden rechnen könne.105 Und wenn sich diese Diagnose auch
als übertrieben optimistisch erwies, gewann die Monarchie zweifellos ein histori¬
sches Moratorium von anderthalb Jahrzehnten zur Regelung ihrer Verhältnisse.

                                        II. Die Außenpolitik

Ein Forscher, welcher sich die Zeit vom Herbst 1883 bis zum Herbst 1885 über
die Außenpolitik der Monarchie aufgrund der Protokolle des gemeinsamen
Ministerrates informieren will, muß sich mit ziemlich spärlichen Informationen
zufriedengeben. Daß diese Politik im Grunde genommen auf die Verteidigung
gegenüber Rußland ausgerichtet war, geht aus den Protokollen wohl hervor,
aber welche Mittel und warum gerade diese in einer bestimmten Weise zur
Erreichnung ihrer Ziele in Anspruch genommen werden sollten, darüber schwei¬
gen die Dokumente. Der Forscher erfahrt nichts darüber, ob man sich diese
Verteidigung an der Seite Deutschlands vorgestellt hat oder eventuell bereit war,
zur Vermeidung der Konfrontation auch mit Rußland einen Vertrag zu schlie-

105 GMR. v. 28. 11. 1904. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates 1896-1907 426.
|| || 36 Einleitung

ßen. Selbst darüber erhält er keinerlei Information, daß die Monarchie eine
spezifische Interessensphäre hatte, nämlich den Balkan, der auf der Liste der
außenpolitischen Prioritäten an vorderer Stelle stand. Am ehesten bekommt er
noch Auskunft über ein Mittel der Außenpolitik, die Armee, aber die Konzep¬
tionen diesbezüglicher Initiativen bleiben, wenn man nur den Text der Protokol¬
le liest, im Dunkel. Im Lichte anderer Dokumente werden die Protokolle jedoch
sofort gesprächiger und verleihen den bisherigen Kenntnissen einen tieferen
Inhalt.

   Der Monarch eröffnete den gemeinsamen Ministerrat vom 4. Februar 1883
mit der Betonung, daß, obwohl kein unmittelbarer Grund zur Beunruhigung
bestehe, ein Krieg gegen Rußland im Laufe der Zeit unvermeidlich sein werde
und man sich auf diesen nach Möglichkeit vorbereiten müsse.106 Dieser Mini¬
sterrat und vier weitere verliefen im Zeichen dieser Vorbereitung. In jedem
wurden Themen militärischen Charakters erörtert, was außer den Punkten der
Tagesordnung auch die archivalische Hinterlegung der Protokolle veranschau¬
licht : alle wurden im Archiv der Militärkanzlei des Herrschers untergebracht.
Vier von diesen erhielten eine regelrechte RMRZ-Nummer und einen Vermerk¬
zettel im Karton der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates,107 für das fünfte
fehlen - obwohl es sich inhaltlich wie formal um einen regelrechten gemeinsa¬
men Ministerrat handelte - auch diese Archiv-Signaturen.108 In den Beratungen
herrschte - obwohl der Monarch nur von einem möglichen Krieg sprach - eine
ziemlich gespannte und nervöse Atmosphäre. Generalstabschef Beck beschrieb
am 4. April die Schwierigkeiten eines Aufmarsches gegen Rußland und bean¬
tragte den Bau der den Aufmarsch beschleunigenden und sonstigen militäri¬
schen Zwecken dienenden Eisenbahnlinien. Bei gleicher Gelegenheit urgierte der
österreichische Landesverteidigungsminister Welsersheimb die Schaffung des
Landsturms, wobei er betonte, daß die an zwei oder eventuell drei Fronten
kämpfende Monarchie ohne den Landsturm nicht genügend Soldaten bereitstel¬
len könne. Der Vertreter des gemeinsamen Kriegsministers trug vor, daß die
Armee in Ermangelung des Kriegsleistungsgesetzes im Falle einer Mobilisierung
nicht über genügend „Landesfuhren" verfügte, und sprach sich für eine tunlichst
baldige Verabschiedung eines solchen Gesetzes aus. Am 6. Februar kamen zwei
neue Themen zur Sprache: das Pferdestellungsgesetz und der Zustand der
Karpatenstraßen, ferner wurde erneut die Frage des Eisenbahnbaues behandelt.
Der Generalstabschef betonte abermals, daß er ohne den Bau der beantragten
Eisenbahnlinien den Erfolg des militärischen Aufmarsches nicht garantieren
könne.109 Die Angelegenheit des Eisenbahnbaus, das Pferdestellungsgesetz und
die Gesetze über die Kriegsleistung sowie über den Landsturm standen auch auf

106 GMR. v. 4. 2. 1883, RMRZ. 311, KA., MKSM. 20-1/6-4 von 1883.
107 GMR v. 4. 2. 1883, RMRZ. 311 - GMR. v. 6. 2. 1883, RMRZ. 312 - GMR. v. II. 11. 1883,

      RMRZ. 316 - GMR. v. 23. 11. 1883, RMRZ. 317.
108 Gern. Beratung v. 20. 11. 1884, KA., MKSM. 20-1/12-2 de 1884.
109 Protokoll der unter Ah. Vorsitze am 6. 2. 1883 stattgehabten Konferenz, KA., MKSM.

      20-1/6-7 von 1883.
|| || Einleitung                           37

 der Tagesordnung des gemeinsamen Ministerrates vom 11. und 25. November,
 und da seitens der Regierungen der beiden Staaten verschiedene Einwände
 vorgebracht wurden, argumentierten die Militärs immer nervöser und ungedul¬
 diger für ihre Anträge - durchaus begründet, wie die Tatsache beweist, daß die
 Sitzung vom 20. November 1894 die Angelegenheit des Landsturmes und der
 Kriegsleistung immer noch als in Vorbereitung befindliche Gesetzentwürfe
 behandelte.

    Der Historiker kann ohne Zuhilfenahme sonstiger Schriften, allein aus dem
 Text der Protokolle, feststellen, daß die beantragten Maßnahmen berufen wa¬
 ren, die beiden Grundvoraussetzungen einer modernen Kriegsführung, die
 Truppenstärke und die Mobilität, besser zu sichern. Der Landsturm sollte im
 Falle einer Mobilmachung zusätzliche Kräfte teils zum unmittelbaren Einsatz
 in der Armee, teils zu ihrer Ergänzung zur Verfügung stellen, der Eisenbahnbau,

 die ausgehobenen Pferde und die Landesfuhren sollten den möglichst schnellen
 Transport des Heeres an den Kriegsschauplatz sichern. Warum dies alles gerade
im Laufe des Jahres 1883 aktuell wurde, beleuchten andere Schriften. Der
Generalstabschef kehrte teils aufgrund der eingeführten Heeresreformen und
teils der vom deutschen Generalstab erhaltenen Informationen wieder zu der
vorübergehend inaktuell gewordenen Konzeption der strategischen Offensive
gegen Rußland zurück.110 Es handelt sich freilich nicht darum, daß der General¬
stab einen Präventivkrieg gewollt oder die politische Führung mit einem baldi¬
gen Krieg gerechnet hätte. Die rasche Vorbereitung war dazu nötig, daß wenn
es aus irgendeinem Grund doch zum Zusammenstoß käme, die Monarchie sich
die Vorteile einer deutschen Schwerpunktbildung im Osten nutzbar machen und
die militärische Initiative an sich reißen könne. Die militärische Planung erfolgte
in Unterordnung unter die Politik, und obwohl sich der gemeinsame Außenmi¬
nister außerordentlich reserviert verhielt, war es bei diesen Beratungen immer
fühlbar, daß das Militär für sich kein Entscheidungsrecht beanspruchte. Kälno-
ky erklärte gelegentlich, er lege aus seiner Sicht der Dinge Gewicht darauf, daß
die galizischen Befestigungen so bald wie möglich den Zustand der totalen
Verteidigungsfähigkeit erreichen.111 Seine Bemerkung läßt die völlige Harmonie
der politischen und militärischen Führung ebenso empfinden wie seine Mei¬
nung, daß die außenpolitische Führung in dem Bewußtsein, ein starkes Heer
hinter sich zu haben, über größere Bewegungsfreiheit verfüge.

   In den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates ist ein ganzes Jahr lang
keine Spur davon zu finden, daß im September 1885 durch die Vereinigung von
Bulgarien mit Ostrumelien eine internationale Krise begann, die sowohl die
Stellung der Monarchie auf dem Balkan als auch ihr Verhältnis zu Rußland sehr
empfindlich berührte. Der Forscher erfährt aus anderen Quellen, daß sich die
Monarchie nach einigem Schwanken zur Wiederherstellung des Status quo an
der Seite Rußlands verpflichtet hatte und an dieser Politik trotz des im Novem¬
ber 1885 ausgebrochenen serbisch-bulgarischen Krieges auch festhielt. Kälnoky

110 Vgl. Anm. 44.
111 GMR. v. 26. 9. 1884, RMRZ. 320.
|| || 38 Einleitung

war der Überzeugung, daß es für die Monarchie ein Glück sei, wenn sie zu
Rußland gute Beziehungen pflegte - und er wollte einem Krieg, dieser fürchterli¬
chen Kalamität, unter allen Umständen aus dem Wege gehen. Dafür war er
sogar zur Kenntnis zu nehmen bereit, daß russenfreundliche Offiziere im August
1886 den bulgarischen Fürsten Alexander Battenberg, der die Vereinigung
durchgeführt hatte, stürzten und im September ein russischer General unter dem
Vorwand in Bulgarien erschienen war, Ordnung zu schaffen. Mit seiner Politik,
die Zusammenarbeit mit Rußland in den Vordergrund zu stellen, isolierte er sich
völlig gegenüber den führenden Nationen der Monarchie, in welch großem
Maße, darüber unterrichtet unter anderem das Protokoll der Sitzung des ge¬
meinsamen Ministerrates vom 25. September 1886.112

   Die Unzufriedenheit gegenüber der Außenpolitik brachte das Mitglied der
österreichischen Regierung, Finanzminister Dunajewski zum Ausdruck. Erst
verlangte er nur Aufklärung über die außenpolitische Lage der Monarchie, mit
der Begründung, in der Bevölkerung herrsche große Unruhe, sodann erklärte
er, wenn die Einzelaggressionen Rußlands weiter geduldet würden, werde man
schließlich an einen Punkt geraten, wo bereits die vitalen Interessen der Monar¬
chie verletzt werden. Der ungarische Ministerpräsident Kaiman Tisza sprach
zwar nicht über ähnliche Unruhen in Ungarn, aber daß im ungarischen Abge¬
ordnetenhaus mit der Außenpolitik zusammenhängende Interpellationen einge¬
bracht wurden, war den Mitgliedern des gemeinsamen Ministerrates bekannt,
ja wahrscheinlich sogar deren Inhalt. Der ungarische Ministerpräsident ließ nur
über die deutsche Außenpolitik dahingehend kritische Bemerkungen fallen, daß
Deutschland jetzt einen geringeren Druck auf Rußland ausübe als früher. Aber
im Endergebnis war auch diese Kritik Tiszas gegen Kälnoky gerichtet, weil
seines Erachtens aufgrund der Gegenseitigkeit ein anderes deutsches Verhalten
begründet gewesen wäre. Gegen die Kritik nahm auch der gemeinsame Außen¬
minister Argumente für seine eigene Politik in Anspruch. Vor allem äußerte er
sich beruhigend über die russischen Absichten in Bulgarien, indem er sagte, daß
sich der Zar an die Vereinbarungen halten werde, Bulgarien nicht okkupieren
wolle, und obwohl die panslawische Presse dauernd agitiere, sei ein militärisches
russisches Auftreten nicht zu erwarten. Im weiteren sprach er von der ungünsti¬
gen Position der Monarchie. Deutschland konzentriere sein Augenmerk auf
seine Westgrenze, im Sinne des Zweibundes sei es auch nicht verpflichtet, die
Monarchie in Bulgarien zu unterstützen, England beginne seinen Standpunkt
aufzugeben, daß man Indien in Konstantinopel verteidigen müsse. Die Türkei
hingegen sei derzeit eher russenfreundlich als russenfeindlich. Wollte die Mon¬
archie in dieser Situation eine Aktion beginnen, würde sie sicherlich allein
bleiben. Die Anwesenden konnten aus diesen Worten folgern, daß die bisherige
Politik richtig war, sie konnten ihnen aber auch entnehmen, daß künftig ein
ebensolches reserviertes Verhalten zweckdienlich sei. In Wirklichkeit ergab sich
keine derartige Konklusion, vielmehr näherte sich der Außenminister dem
Standpunkt seiner Kritiker. So sehr er die gefährliche Beschaffenheit der russi-

112 GMR. r. 25. 9. 1886, RMRZ. 331.
|| || Einleitung  39

 sehen Absichten bestritt und so unvorteilhaft er die Position der Monarchie
 beurteilte, erklärte er doch selbst, daß die Zeit kommen könne, da die Monar¬
 chie aus ihrer zurückhaltenden Stellung heraustreten müßte. Wenn Rußland
 einen Vertragsbruch begehe und in Bulgarien Gewalt anwende, dann hätte die
 Monarchie keine Wahl mehr. Diese Äußerung ließ die Absicht einer Änderung
 der bisherigen Politik ahnen, und daran änderte auch nichts, daß der Außenmi¬
 nister noch im gleichen Zusammenhang die Kontinuität der Außenpolitik be¬
 tonte.

    Obwohl der gemeinsame Ministerrat der bulgarischen Krise keine Aufmerk¬
 samkeit schenkte, behandelte er an der Jahreswende 1886/87 um so mehr deren
 Folgen. Die in den oben erörterten Beratungen schon angedeutete Änderung
 der Außenpolitik der Monarchie trat tatsächlich ein, Rußland konnte künftig
 nicht mehr mit der Unterstützung seines Vertragspartners rechnen. Und da die
 Kraftanstrengungen des sich selbst überlassenen Rußland am Widerstand Bul¬
 gariens zerschellten, wandte sich der Zorn der in ihrem Ansehen verletzten
zaristischen Großmacht gegen die Monarchie. Bekanntlich rechnete man in
Wien im Dezember 1886 ernstlich damit, daß es im Frühling 1887 zu einem
Krieg mit Rußland kommen wird. Dementsprechend arbeitete man eifrig daran,
die militärische Ausgangslage für den bevorstehenden Zusammenstoß zu ver¬
bessern.

    Die Protokolle der Beratungen an der Jahreswende 1886/87 bieten einen
Einblick in die militärischen Planungen und Budgetvorbereitungen. Von den
militärischen Konferenzen, die sich teils mit der Errichtung des Landsturmes,113
teils mit den vorbereitenden Maßnahmen befaßten,114 darf man schon deshalb
keine außenpolitischen Situationsanalysen erwarten, weil diese in Abwesenheit
des gemeinsamen Außenministers stattfanden. Aus der Denkschrift des Gene¬
ralstabschefs geht jedenfalls hervor, daß die ungünstige militärpolitische Situa¬
tion, die sich aus der zu erwartenden Inanspruchnahme Deutschlands im We¬
sten ergab, dringende Kraftanstrengungen erforderte.115 Bemerkenswert ist
aber, wie wenig in den vier Beratungen116 vom Januar 1887 über die infolge der
politischen Lage zu treffenden militärischen Vorkehrungen von der politischen
Lage selbst gesprochen wurde. Man debattierte darüber, auf welche Weise die
entstehenden Kosten gedeckt werden können. Über die politische Lage sagte
Kälnoky in der Beratung vom 5. Januar nur, daß man im Frühjahr oder Herbst
mit dem Ausbruch des Krieges rechnen müsse. Warum, wo und wie dies
geschehe, darüber blieb er die Antwort schuldig. Aus der Vorgeschichte kann
man folgern, daß er ein russisches militärisches Auftreten gegen Bulgarien
erwartete. Diese Annahme wird durch seine Äußerungen in der Beratung bestä¬
tigt, daß die über die bulgarische Frage begonnenen Verhandlungen in Kon-

113 Vgl.Anm.67.
114 Vgl. Anm. 67.
115 Vgl. Anm. 62.

116 GMR. v. 5. 1. 1887, RMRZ. 335 - GMR. v. 7. 1. 1887, RMRZ. 336 - GMR. v. 29 1 1887
     RMRZ. 337 - GMR. v. 30. 1. 1887, RMRZ. 338.
|| || 40 Einleitung

stantinopel die im Osten bestehende Gefahr vermindern. Gleichzeitig erwähnte
er aber auch die Eskalation der Spannungen im Westen und einen möglichen
deutsch-französischen Krieg, der durch Rußlands unberechenbares Verhalten
auch im Osten zu einem Konflikt führen könnte. Tags darauf wiederholte er
seine Äußerungen über die Gefahr eines Krieges im Westen und fügte hinzu, die
Ungewißheit und Gefahr seien aus der allgemeinen europäischen Lage und der
kolossalen Aufrüstung der Großmächte entstanden. Die Teilnehmer an der
Beratung fügten den Ausführungen des gemeinsamen Außenministers keine
Bemerkungen hinzu und unterbrachen ihn auch nicht durch Fragen. Dies waren
Anzeichen des Einverständnisses sowohl mit der Kriegsprognose des Situations¬
berichts als auch mit den beantragten militärischen Maßnahmen, wie sie anders
gar nicht zu erwarten waren, hatten doch wenige Monate früher sowohl die
Österreicher als auch die Ungarn ein energischeres Verhalten des damals noch
unsicheren gemeinsamen Außenministers reklamiert. Wenn somit die Protokol¬
le des gemeinsamen Ministerrates vom Januar 1887 auch sehr spärliche Infor¬
mationen über die Außenpolitik liefern, demonstrieren sie doch gut den zwi¬
schen den beiden Regierungen und dem gemeinsamen Außenminister bestehen¬
den Gleichklang der Anschauungen.

   Der Konsens bestand auch in der ersten Phase der praktischen Durchführung
der Beschlüsse. Als Ergebnis der Beratungen im Januar berief der Monarch die
außerordentliche Session der Delegationen ein, der der gemeiname Kriegsmini¬
ster sein Ansuchen bezüglich der Gewährung eines außerordentlichen Kredits
in der Höhe von 52,5 Millionen Gulden vorlegte. Als Ergebnis der Anstrengun¬
gen beider Regierungen faßten die Delegationen am 7. März 1887 einen positi¬
ven Beschluß: 24 Millionen stellten sie dem gemeinsamen Kriegsminister sofort
und 28 Millionen für den „Fall einer unvermeidlich dringenden Notwendigkeit"
zur Verfügung."7 Der Vorbehalt bedeutete, daß die 28 Millionen nur in An¬
spruch genommen werden dürften, wenn sich die außenpolitische Lage weiter
verschlimmert und die Kriegsgefahr steigt. Und an diesem Punkt endete das
Einvernehmen zwischen den beiden Regierungen und den gemeinsamen Mini¬
stern. Der gemeinsame Kriegsminister ersuchte Mitte April die beiden Regie¬
rungen, auch vom Eventualkredit 9 Millionen verwenden zu dürfen,"8 worüber
der gemeinsame Ministerrat im gleichen Monat in drei Sitzungen beriet.119 Zur
außenpolitischen Lage führte Kälnoky aus, daß die Kriegsgefahr jetzt geringer
geworden sei als zwei Monate früher, er betonte jedoch, daß die Quellen der
Beunruhigung nach wie vor vorhanden seien und sich die Armee daher aufjede
Eventualität vorbereiten müsse. Der gemeinsame Finanzminister Källay wies
auf die Ungewißheit der russischen und bulgarischen Lage hin, der gemeinsame

117 Kolmer, Parlament und Verfassung IV, 52-54.
118 12/MT. Ung.MR. v. 17. 4. 1887. 1. Über die Inanspruchnahme eines Teiles des für den

     außerordentlichen Kriegsbedarf votierten Kredites, OL., K. 27, Karton 42. - Siehe auch den
     Brief Kälnokys v. 25. 4. 1887, HHSxA., PA. I, Karton 562.
119 GMR. v. 16. 4. 1887, RMRZ. 339 - GMR. v. 19. 4. 1887, RMRZ. 340 - GMR. v. 20. 4. 1887,
     RMRZ. 341.
|| || Einleitung  41

 Kriegsminister Bylandt-Rheidt hingegen sprach von den großen russischen
 Militärlieferungen in Polen. Die anwesenden Mitglieder der beiden Regierungen
entnahmen dem allem nur, daß gegenwärtig keine Kriegsgefahr bestehe, und
waren nicht bereit, auch die weiteren Folgen zu berücksichtigen. Der österrei¬
chische Ministerpräsident Taaffe erklärte, daß man das Vertrauen der Vertre¬
tungskörperschaften in die Regierung nicht erschüttern dürfte, der ungarische
Ministerpräsident Kaiman Tisza aber sprach offen aus, daß man einen Eventu¬
alkredit nur in Anspruch nehmen dürfte, wenn sich die Lage tatsächlich wieder
verschlechtert. Nach langen Auseinandersetzungen beschloß man endlich doch,
6 von den verlangten 9 Millionen dem gemeinsamen Kriegsminister zur Verfü¬
gung zu stellen. Der Fall zeitigte jedenfalls eine Lehre und veranschaulichte die
Widersprüche, die in der inneren Basis der Außenpolitik zutage traten. Die
gleichen Personen, die einen energischeren Schutz der Interessen der Monarchie
reklamierten, stellten - wenn es sich um materielle Opfer handelte - die nationa¬
len Sonderinteressen vor das Reichsinteresse.

    Die Verschlimmerung der außenpolitischen Lage, von der Kalman Tisza nur
als theoretische Möglichkeit sprach, wurde nur zu bald Wirklichkeit. In Peters¬
burg wollte man sich nicht damit zufriedengeben, daß im Sommer 1887 Ferdi¬
nand von Coburg, der als österreichisch-ungarischer Schützling galt, den bulga¬
rischen Fürstenthron bestieg, und traf Maßnahmen, die den Nachbarn Grund
zur Beunruhigung boten. Der Generalstabschef Beck legte in einer langen
Denkschrift im August dar, nachdem sich ein Viertel der russischen Armee
schon zu Friedenszeiten in den europäischen Grenzprovinzen aufhalte, bestehe
die Gefahr, daß sie im Falle eines Konfliktes in Ausnützung ihrer Übermacht
in Galizien eindringe und den Aufmarsch der österreichisch-ungarischen Armee
verhindern könne. Dieser katastrophale Folgen zeitigenden Gefahr könne man
nur Vorbeugen, wenn die Kriegsführung der Monarchie in der Lage wäre,
innerhalb kürzester Zeit Truppen in das gefährdete Gebiet zu senden. Eine
Konzentration werde ausschließlich durch den weiteren Ausbau der strategisch
wichtigen Eisenbahnlinien möglich, dementsprechend legte er konkrete Vor¬
schläge für die wichtigsten Eisenbahnbauten vor.120 Im gemeinsamen Minister¬
rat vom 26. September sagte Kälnoky -- vermutlich unter dem Eindruck der
beginnenden neuerlichen Dislokation der russischen Armee -, daß die Kriegsge¬
fahr jetzt größer sei als im Frühjahr.121 Dessenungeachtet verhandelte die Kon¬
ferenz vom 30. Oktober, die das Memorandum des Generalstabschefs erörterte,
noch in einer ruhigen Atmosphäre und behandelte den weiteren Ausbau der
strategisch wichtigen Eisenbahnlinien unter dem Aspekt eines möglichen, nicht
aber eines auf der Tagesordnung stehenden Krieges.122 Der gemeinsame Außen-

     K. k. Chef des Generalstabes. Memoire betreffend den Ausbau des Eisenbahnnetzes zur Be¬
     schleunigung des Aufmarsches der Armee im Kriegsfall gegen Rußland im August 1887, KA.
     MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 12.
121 GMR. v. 26. 9. 1887, RMRZ. 343.

122 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 30. 10. [1887] in Wien
     stattgehabte Konferenz betreffend den Ausbau des Eisenbahnnetzes zur Beschleunigung des
     Aufmarsches der Armee im Kriegsfälle gegen Rußland, KA., MKSM. 20-1/9-2 ex 1887.
|| || 42 Einleitung

minister meldete sich bei den wiederholten Beratungen kein einziges Mal zu
Wort.

   Die Lage wurde kritisch, als im Dezember in Wien bekannt wurde, daß die
russische Militärführung eine ganze Reiterdivision an die galizische Grenze
verlegt hatte. Generalstabschef Beck wandte sich in einem dringenden Memo¬
randum an den Monarchen, in dem er seiner Meinung Ausdruck verlieh, daß
die russischen Vorbereitungen auf einen baldigen Krieg hinwiesen. Die militäri¬
sche Lage der Monarchie in Galizien erachtete er für unhaltbar und beantragte
eine sofortige Truppenverstärkung.123 Daraufhin berief der Monarch für den 8.
Dezember eine Kommissionsberatung ein,124 zu der außer den militärischen
Führern auch der gemeinsame Außenminister eingeladen wurde. Kälnoky wu߬
te davon, daß der deutsche Generalstab einen Präventivkrieg gegen Rußland
betrieb und daß man mit diesem Gedanken auch in österreichisch-ungarischen
Militärkreisen sympathisierte. Da er seiner bisherigen Politik entsprechend
einem bewaffneten Zusammenstoß mit Rußland auch weiter aus dem Wege
gehen wollte, legte er in der Beratung in seinem außenpolitischen Situationsbe¬
richt die Argumente so an, daß aus diesen die Zweck- und Sinnlosigkeit eines
Präventivkrieges hervorgehen sollten. Er wies darauf hin, daß man an der
deutschen Bündnistreue wohl nicht zweifeln könne, machte jedoch darauf auf¬
merksam, daß sich der Casus foederis nicht auf den Balkan bezog. Das Verhält¬
nis zu Rußland könne als völlig normal bezeichnet werden und sei in letzter Zeit
unverändert geblieben. Die in Russisch-Polen erfolgten Truppenkonzentratio¬
nen dürften nicht als politische Frage betrachtet werden, sondern seien einzig
die Durchführung einer schon längst geplanten Dislokation. Seine Situations¬
analyse schloß er damit, daß die in Polen stehenden Kräfte seines Erachtens
keineswegs dazu ausreichten, Rußland einen Angriffskrieg zu ermöglichen. Die
an der Beratung teilnehmenden Militärs fügten den Ausführungen des Außen¬
ministers keine Bemerkungen hinzu, so daß die Konferenz nicht zum Schauplatz
eines Zusammenstoßes zwischen der politischen und militärischen Führung
wurde. Erzherzog Albrecht, der Generalinspektor der Armee, beschrieb die
Schwierigkeiten eines von den Deutschen gewünschten Winterfeldzuges, mit
dem sich auch Generalstabschef Beck einverstanden erklärte. Gleichzeitig stellte
dieser fest, wenn die Russen die Truppenkonzentrationen fortsetzten, wäre die
Monarchie gezwungen, sich trotz des ungünstigen Zeitpunktes in einen Krieg
einzulassen. Damit brachte er zum Ausdruck, daß er hinsichtlich der Lage
anderer Meinung war als der gemeinsame Außenminister. Bemerkenswerterwei¬
se äußerte auch der Herrscher wiederholt seine Meinung, im Grunde überein¬
stimmend mit der des gemeinsamen Außenministers, daß man einen baldigen
russischen Angriff nicht befürchten müsse. Er hielt es jedoch nicht für ausge-

123 Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 3. 12. 1887. Unsere militärische Lage in Galizien, KA.,
      MKSM. 20-1/10-2 ex 1887.

124 Protokoll der am 8. 12. 1887 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in der Hofburg zu
      Wien stattgehabten kommissionellen Beratung über die eventuell in Galizien zu ergreifenden
      Maßnahmen militärischer Natur, KA., MKSM. 20-1/10-2 ex 1887.
|| || Einleitung                                                              43

 schlossen, daß auf dem Balkan weitere diplomatische und eventuell sogar
 militärische Konflikte entstünden. Die Konferenz einigte sich schließlich darauf,
 mit den Vorbereitungen für eine TruppenVerstärkung in Galizien zu beginnen
 und sich wegen der Deckung der entstehenden Mehrausgaben an den gemeinsa¬
 men Ministerrat zu wenden.

    Zur Besprechung dieser militärischen Vorbereitungen trat der gemeinsame
 Ministerrat im Dezember zweimal zusammen.125 Kälnoky bot am 18. Dezember
 einen Überblick über die außenpolitische Lage. Daß er mit dem Gedanken der
 militärischen Kreise eines Präventivkrieges nicht einverstanden war, sprach er
 dabei offener aus als in der militärischen Konferenz, da er aber die Notwendig¬
 keit der entstehenden Kosten begründen mußte, malte er die außenpolitische
 Situation in weit düstereren Farben. Er berichtete, daß Rußland allmählich drei
 Viertel seiner Armee in die westlichen Grenzprovinzen verlegt hatte, was bedeu¬
 tete, daß diese Anzahl jener gleichkam, die die beiden Nachbarn nach erfolgter
 Mobilisierung erreichen konnten. Dies alles bedeutete für die Nachbarn einen
 unerträglichen Druck und zwang sie, darauf früher oder später zu reagieren.
 Das Bild schien offenbar sehr düster ausgefallen zu sein, denn Kalman Tisza,
 der als erster das Wort ergriff, drängte sofort auf energische Gegenmaßnahmen
und schloß, auf die russischen Machinationen auf dem Balkan verweisend,
damit, man könne dem Krieg nicht durch Inanspruchnahme künstlicher Mittel
entgehen. Da der österreichische Ministerpräsident Taaffe seine Übereinstim¬
mung mit Kalman Tisza erklärte, war nun der gemeinsame Außenminister
gezwungen, sich auf jene Position zurückzuziehen, die er auch in der militäri¬
schen Konferenz eingenommen hatte: daß der mit den Deutschen geschlossene
Vertrag ausschließlich defensiven Charakter habe und man mit dem Einver¬
ständnis der Bevölkerung nur im Falle eines Defensivkrieges rechnen könne. Im
zweiten Teil der Beratung mußte er dann wieder einen harten Ton anschlagen.
Kalman Tisza beantragte nämlich, während er auf einen Krieg drängte, in einer
jeder Logik entbehrenden Weise die Verminderung der vorgesehenen Militär¬
ausgaben. Kälnoky sprach nun von einer ausgesprochenen Kriegsgefahr und
von den Kriegsvorbereitungen Rußlands und antwortete dem ungarischen Mi¬
nisterpräsidenten mit einer an ihm ungewohnten Ironie, daß ohne Ausgaben
weder die Beibehaltung der bisherigen Politik noch die militärischen Vorberei¬
tungen möglich seien. Darauf vermochte auch Kalman Tisza nichts zu antwor¬
ten und stimmte samt den übrigen dem außerordentlichen militärischen Kredit
von 16 Millionen zu. Der gemeinsame Außenminister erklärte sich gleichsam
als Entgegnung damit einverstanden, daß die außenpolitische Lage Anfang
Januar neuerlich besprochen werde.

   Bis zu dieser Beratung hatten sich wesentliche Veränderungen vollzogen.
Kälnoky konnte dem gemeinsamen Ministerrat mitteilen, daß der Zar seinen
friedlichen Absichten Ausdruck verliehen und die weiteren Truppenkonzentra¬
tionen eingestellt, während in Berlin der Reichskanzler endgültig das Überge¬
wicht über den Generalstab erlangt habe, der einen Krieg urgierte. Zur Ände-

1-5 GMR. v. 18. 12. 1887, RMRZ. 346 - GMR. v. 19. 12. 1887, RMRZ. 347.
|| || 44 Einleitung

rung des russischen Standpunktes aber fügte er den Kommentar, daß vermut¬
lich die Entschiedenheit der benachbarten Mächte ernüchternd gewirkt habe.
Dabei wußte er sicherlich, daß eher die Zurückhaltung mit militärischen Gegen¬
aktionen zum Erfolg geführt hatte. Diese Informationen mußten auf die Anwe¬
senden überraschend gewirkt haben, da Kaiman Tisza sofort sein Bedauern
darüber ausdrückte, daß man in Berlin vom Präventivkrieg Abstand genommen
hatte. Aber der Meinungsaustausch nahm im weiteren einen recht akademi¬
schen Charakter an. Man erörterte, was in dem Fall geschehen würde, daß die
eintretende relative Ruhe zu Rußlands Vorteil ausfiele und der Zarismus die
Aufrüstung so lange fortsetze, bis er gegenüber der Monarchie zu einem unauf-
holbaren Vorteil käme, und die Minister beider Regierungen sprachen darüber,
daß es vielleicht doch gut wäre, in Berlin im Interesse eines eventuellen Sommer¬
krieges zu intervenieren. Gegenüber diesem Ansuchen konnte sich der gemein¬
same Außenminister fest im Sattel fühlen. Er wiederholte seine früheren Argu¬
mente, für Deutschland trete der Casus foederis nur im Falle eines russischen
Angriffs in Kraft, und betonte wiederholt, in Deutschland wolle nur das Militär
einen Krieg und auch die dortigen Voraussetzungen im Personalstand seien
nicht dazu geeignet, sich zu einem Schritt so großer Tragweite zu entschließen.
Außerdem arbeite die Zeit nicht unbedingt für Rußland. Und als beide Regie¬
rungen immer wieder ungeduldig auf Taten drängten, schloß er die Debatte mit
den Worten ab, die Situation sei wohl nicht günstig und die Ursachen des Übels
bestünden noch immer, doch es bleibe momentan nichts anderes übrig, als sie
zu ertragen. Da infolge der veränderten Umstände ein sachlicher Beschluß nicht
gefaßt werden konnte, schien der gemeinsame Ministerrat die Entschlußlosig-
keit mit Ersatzhandlungen kompensieren zu wollen. Auf Antrag Kalman Tiszas
wurde die Verfahrensweise der Beschaffung von Kriegskrediten beschlossen, um
im Falle der Mobilmachung die erforderlichen Beträge so bald wie möglich
beschaffen zu können.126

   Daß die unmittelbare Kriegsgefahr beseitigt schien, ist auch an der Arbeits¬
ordnung des gemeinsamen Ministerrates in den folgenden Jahren ersichtlich.
Das oberste Regierungsforum der Monarchie hat mehrmals im Laufe der Jahre
1886-1887 die außenpolitische Lage in außerordentlichen Sitzungen erörtert
und auf Antrag des Vertreters des Kriegsressorts bei mehreren Gelegenheiten
außerordentliche Maßnahmen getroffen. Nach dem 5. Januar 1888 wurden
geraume Zeit keine solchen außerordentlichen Sitzungen abgehalten; der ge¬
meinsame Ministerrat trat nur zusammen, wenn die Genehmigung des den
Delegationen zu unterbreitenden gemeinsamen Budgets fällig wurde. Die
Kriegsangst hatte dessenungeachtet tiefe Spuren hinterlassen. Daß der
Generalstabschef im März in der Konferenz über die militärisch-politische Lage
von weiteren zu erwartenden russischen Truppenkonzentrationen sprach und
wirksame Gegenmaßnahmen forderte,127 kann nicht überraschen, weil er schon

126 GMR. V. 5. 1. 1888, RMRZ. 348.
127 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 10. 3. 1888 in Wien

     stattgehabte Konferenz. Gegenstand der Beratung waren: a) Die Anträge des Chefs des Gene¬
      ralstabes zur Steigerung der Wehrkraft der Monarchie, b) Die Anträge des Reichskriegsministe¬
      riums für das Heeresbudget pro 1889, KA., MKSM. 20-1/1-2 ex 1888.
|| || Einleitung                           45

 immer der Überzeugung war, der russischen militärischen Übermacht nur be¬
 gegnen zu können, wenn die Monarchie schon vor der Mobilisierung in Galizien
 rechtzeitig über eine beträchtliche Kriegsmacht verfüge. Und normal war auch,
 daß Kälnoky im gemeinsamen Ministerrat vom 29. April 1888 unter anderem
 damit für die Annahme des Kriegsbudgets argumentierte, daß in Rußland die
 bereits begonnenen Truppenverlegungen fortgesetzt würden.128 Ein beachtens¬
 wertes neues Moment war, welchen Sinn der gemeinsame Außenminister diesen
 Truppenverlegungen gab. Im Dezember des Vorjahres, auf dem Gipfelpunkt
 der Krise, hatte er sie bekanntlich als Durchführung des schon seit langem

 vorgesehenen Diskolationsplanes bezeichnet, der als solche keinen politischen
 Inhalt hätte. Jetzt erklärte er hingegen entschieden, daß es der Zweck der
 Trappenverlegungen sei, den politischen Aktionen der russischen Regierung
 militärischen Nachdruck zu verleihen. An welche politische Aktionen er dachte,
 geht aus anderweitigen Äußerungen des gemeinsamen Außenministers hervor.
 Kälnoky setzte voraus, daß sich Rußland infolge des drückenden deutschen
 Übergewichts und des Zweibundes früher oder später zu einem Angriff ent¬
 schließen würde.129 Bei einer solchen Voraussetzung mußte er aber anerkennen,
 daß der Generalstabschef Recht hatte, wenn er eine beschleunigte Armee-Ent¬

wicklung und eine Truppenkonzentration in Galizien verlangte. Dem Vorschlag
des Generalstabschefs entsprechend wurden im Laufe des Jahres zwanzig Ba¬
taillone nach Galizien verlegt, und es fehltjede Spur davon, daß der gemeinsame
Außenminister dagegen Einwand erhoben hätte. Dann mußte er aber damit
rechnen, daß Rußland die TruppenVerstärkung mit Truppenverstärkungen be¬
antworten und so schließlich unabhängig von der Politik die Aufrüstung selbst
zur Quelle des Konflikts würde. Daß der gemeinsame Außenminister unter dem
Eindruck der großen Krise diesen gefährlichen Weg betrat, beweisen unter
anderem die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates.

   Die Tendenz, daß sich die Außenpolitik den militärischen Gesichtspunkten
unterordnete, trat in den Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates im folgen¬
den Jahr klar zutage. Kälnoky erklärte in der Sitzung vom 30. April 1889, daß
sich die politische Lage beruhigt habe. Da aber Massenarmeen einander gegen¬
überstanden, konnte ein unerwarteter Zwischenfall in jedem Augenblick eine
Entscheidung erfordern.130 Es mag freilich sein, daß er nur im Interesse des zu
genehmigenden Budgets für das Kriegsressort so scharf formulierte, aber mit
dieser Erklärung hatte er anerkannt, daß der Krieg nicht nur ein Mittel der
Politik war, sondern sich auch verselbständigen konnte. Die besagte Tendenz
war nicht geradlinig, es gab auch Anzeichen für die Wiederherstellung des
natürlichen Verhältnisses zwischen Politik und Kriegswesen. Im gemeinsamen
Ministerrat vom 26. April 1890 sprach Kälnoky abermals vom Kriegswesen in
Abhängigkeit von der politischen Lage und erklärte, wenn Entspannung einträ-

128 GMR. V. 29. 4. 1888, RMRZ. 352.
129 Vgl. Anm. 95.
130 GMR. v. 30. 4. 1889, RMRZ. 358.
|| || 46 Einleitung

te, werde das Kriegsressort seine Finanzansprüche mäßigen können.131 Der
gemeinsame Außenminister hielt eine Entspannung deshalb für wahrscheinlich,
weil seines Erachtens die inneren und sozialen Probleme die kriegerischen
Ambitionen überall abgekühlt hatten und die Staaten künftig gezwungen sein
würden, ihre Kraftanstrengungen auf die Lösung dieser Probleme zu konzen¬
trieren. Auf die Wiederherstellung der ursprünglichen Beziehungen zwischen
Politik und Kriegswesen verwies auch die Äußerung des Monarchen, eine
energische Außenpolitik sei nur mit einem starken Heer möglich.132 Der Herr¬
scher meinte diese Äußerung natürlich ganz anders, als sie der gemeinsame
Außenminister verstand; er beanstandete gerade eine eventuelle Kürzung des
Militärbudgets, die ja zumindest möglich schien, da sich die beiden Regierungen
unter Berufung auf die Mehrausgaben der letzten Jahre jedweder Erhöhung des
Militärbudgets verschlossen. Ihre Argumentation hatte rein finanziellen Cha¬
rakter, die Finanzminister beriefen sich auf die Notwendigkeit des Gleichge¬
wichts im Staatshaushalt, dem gemeinsamen Außenminister aber blieb es Vorbe¬
halten, sie - wenn er wollte - zur Positionsverbesserung der Politik zu verwen¬
den. Es scheint, daß er dies bis zu einem gewissen Grad auch tat. In der Sitzung
des gemeinsamen Ministerrates am 18. September 1891, in der ebenfalls das
gemeinsame Budget besprochen wurde, gab er einen viel detaillierteren Über¬
blick über die außenpolitische Lage.133 Dabei wiederholte er abermals, daß die
Kriegsvorbereitung leicht zu einer Konflagration führen könne, und deutete
auch die Möglichkeit weiterer russischer Aktivitäten an. Dennoch müsse bei
Bestimmung des Militärbudgets auch das finanzielle Gleichgewicht der Monar¬
chie berücksichtigt werden, die Konferenz habe die Aufgabe, den Mittelweg
zwischen den militärischen Bedürfnissen und den finanziellen Möglichkeiten zu
finden. Den Krieg hielt er nicht für so nahe und wahrscheinlich wie bisher und
widersprach der Meinung des gemeinsamen Kriegsministers Bauer, daß der
Krieg mit Rußland 1894 ausbrechen werde. Anscheinend sympathisierte er eher
mit dem österreichischen Finanzminister Steinbach und dessen Warnung, sich
nicht in ein Wettrüsten mit Rußland einzulassen, denn wenn letzteres in dieser
Beziehung seine demographischen Gegebenheiten voll ausnütze, käme die Mon¬
archie in eine noch ungünstigere Lage. Als einige Tage später der Monarch die
Inanspruchnahme eines großen Auslandskredits zur Aufrüstung beantragte, war
jedenfalls Kälnoky samt einigen anderen Mitgliedern des gemeinsamen Mini¬
sterrates entschieden gegensätzlicher Meinung.134 Sein Schwanken zwischen den
Finanz- und den Kriegsgesichtspunkten fand ein Ende, als der Generalstabschef
Ende 1892 in einer umfangreichen Denkschrift anhand konkreter Angaben
nachwies, daß die Monarchie in der Heeresentwicklung wesentlich hinter den
anderen Mächten zurücklag.135 In den drei Sitzungen des gemeinsamen Mini-

 131 GMR. v. 26. 4. 1890. RMRZ. 362.
 132 GMR. v. 5. 5. 1890. RMRZ. 367.
 133 GMR. v. 18. 9. 1890, RMRZ. 368.
 134 GMR. v. 21. 9. 1891. RMRZ. 372.
 135 Vgl. Anm. 99.
|| || Einleitung                                                                              47

  sterrates im Februar und Marz 1893, die zur Erörterung des vom Generalstab-
  schef verlangten ^atzkredrts einberufen wurden, setzte sich der gemeinsame
  Außenminister eindeutig für den militärischen Standpunkt ein.136 Er argumen-
  tierte mcht md den außenpolitischen Beziehungen, sondern damit, daß in
  Anbetracht der militärischen Vorbereitungen der Großmächte der Krieg jeder¬
 zeit ausbrechen konnte. In der Beratung äußerte nur der österreichische Finanz-
 TMmsfteJj.ei,ne" mentorischen politischen Einwand, der ungarische Ministerprä-
 sident Wekerle und der österreichische Ministerpräsident Taaffe erklärten sich

                            Maßnahmen grundsätzlich einverstanden. Und wenn der
 tur fünf Jahre m Aussicht gestellte zusätzliche Kredit von 94 Millionen an sich
 auch nicht eindeutig beweist, daß der Militarismus die Oberhand gewonnen
 hatte dlustneren die Argumentation und der Beschluß immerhin, daß sich in
 der Monarchie die Neigung verstärkte, die Außenpolitik den militärischen
 Ertordermssen anzupassen.

   · foI,genden Jahr wurde im gemeinsamen Ministerrat über Außenpolitik
 nicht viel und zumeist auch nur im Zusammenhang mit anderen Problemen
 gesprochen. In der Beratung vom 4. März 1894 über den Handelsvertrag mit
 Rußland argumentierte Kälnoky für eine Erneuerung, weil ein eventueller
 Zollkrieg unerwünschte politische Folgen haben könnte.137 Die Erörterung des
 Budgets der Kriegsmarine bot dem gemeinsamen Außenminister Gelegenheit
 von der sich in der russischen Außenpolitik zeigenden neuen Aktivität im
 Mittelmeer zu sprechen.138 Danach mag es einigermaßen überraschen, daß er am
 1 /. April 1895, bei der Besprechung des Staatshaushaltes für das folgende Jahr
einen ausführlicheren außenpolitischen Überblick gab als je zuvor,139 an dem
nicht allein der Umfang, sondern auch der Ton verwundern konnte. Der stets
besorgte gemeinsame Außenminister beurteilte die europäische Lage in jeder
Beziehung als ungefährlich, indem er bemerkte, die Monarchie könne mit
relativer Beruhigung in die Zukunft blicken. Seine optimistische Prognose
beruhte auf drei Faktoren: auf dem auf internen Gründen basierenden Frie¬
denswillen der Regierungen, auf der Unerfahrenheit des neuen deutschen Kai¬
sers und darauf, daß sich der Schwerpunkt des internationalen Lebens auf den
Kolonialraum verlagert hatte. In seiner Zuversicht ging er so weit, wenn auch
nicht m absehbarer Zukunft, so doch grundsätzlich die Möglichkeit einer Sen¬
kung des Militärbudgets in Aussicht zu stellen. Kälnoky hatte sich bisher in
seiner fast anderthalb Jahrzehnte währenden Tätigkeit immer vor perspektivi¬
schen Prognosen gehütet, und die späteren Ereignisse erbrachten zudem den
Beweis, daß seine frühere Vorsicht nicht unbegründet war. Die internen Ursa¬
chen hielten die Regierungen nicht davon ab, das Risiko eines Krieges auf sich
zu nehmen, der neue deutsche Kaiser zeichnete sich keineswegs durch Zurück-

     GRMRZ 3792' 1893' RMRZ' 377 ~ GMR- v- 19 2- 1893 RMRZ- 378 - GMR. v. 28. 3. 1893,

137 GMR. v. 4. 3. 1894. RMRZ. 383.
138 GMR. v. 28. 3. 1894, RMRZ. 384.
139 GMR. v. 17. 4. 1895, RMRZ. 386.
|| || 48 Einleitung

haltung, sondern durch unüberlegte Unternehmungslust aus, und die Monar¬
chie begann statt einer Kürzung des Militärbudgets eine Heeresentwicklung in
größerem Tempo als je zuvor. Die Prognose bewahrheitete sich allein darin, daß
sich die kolonialen Aktivitäten steigerten und daß namentlich infolge der Bin¬
dung Rußlands im Fernen Osten für die Monarchie eine längere Ruhepause
eintrat. Man kann es vielleicht als persönliches Mißgeschick betrachten, daß
nicht mehr Kälnoky in dieser ruhigeren Periode nach so vielen bestandenen
Stürmen die auswärtigen Angelegenheiten der Monarchie lenken konnte.

                                       III. Das Kriegswesen

Die obige Feststellung, daß die Protokolle des gemeinmen Ministerrates über
die Außenpolitik ziemlich spärliche Informationen liefern, gilt für die Belange
der Wehrmacht keineswegs. Ihre Ausrüstung und Versorgung, ihre Ergänzung
im Frieden wie im Krieg sowie ihre Inanspruchnahme bei gegebenen und
möglichen Gelegenheiten und noch viele andere Beziehungen wurden vom
gemeinsamen Ministerrat derart intensiv behandelt, daß der Eindruck entstehen
könnte, er sei als Körperschaft zur Erledigung der Wehrmachtsangelegenheiten
ins Leben gerufen worden. In den neunundsiebzig Beratungen während der hier
behandelten Periode waren in sechzig Fällen Wehrmachtsfragen das eigentliche
Thema des Gedankenaustausches. Sonstige Probleme wie die Außenpolitik und
der später zu erörternde Eisenbahnbau wurden zumeist nur im Zusammenhang
mit dem Kriegswesen besprochen. Dessen Prädominanz ergab sich aus der
Struktur des Verfassungs- und des Staatsrechtes. Der Befehl über die Armee und
innere Heeresorganisation blieb auch nach 1867 in der Befugnis des Monarchen,
die Genehmigung der Ausgaben für die Wehrmacht sowie die Schaffung von
Gesetzen im Zusammenhang mit dem Verteidigungssystem gingen dagegen in
die Kompetenz der Parlamente über. Der gemeinsame Ministerrat war jenes
Forum, das die regulären und außerordentlichen Finanzansprüche der Militär¬
führung erwog und über deren Weiterleitung an die parlamentarischen Körper¬
schaften, die Delegationen, entschied sowie die mit der Wehrmacht verbunde¬
nen Gesetzentwürfe - den Ansprüchen der Militärführung entsprechend -
veranlaßte und mit den Regierungen abstimmte. Das Jahresbudget der Wehr¬
macht war - abgesehen von Mehransprüchen aufgrund außerordentlicher Son¬
derfalle - im allgemeinen mit 20% des Staatshaushalts dessen größter Posten.
Diese Größe allein war Grund genug, daß der militärische Budgetvoranschlag
bei jeder Gelegenheit Gegenstand einer eingehenden Debatte wurde. Die mit der
Wehrmacht verbundene Gesetzgebung betraf so viele Interessen, daß jede Aus¬
weitung oder Modifizierung der Rechtsnormen langwierige Vorbereitungen und
einen gründlichen Meinungsaustausch erforderte. Diese Debatten, namentlich
die Verschleppungen des Militärbudgets, sind für die Nachwelt nicht immer
interessant. Nichtsdestoweniger beleuchten die Protokolle des gemeinsamen
Ministerrates viele eigentümliche Beziehungen der Behandlung und Verwaltung
des Kriegswesens, die von der Geschichtsschreibung bisher nicht entsprechend
berücksichtigt und gewürdigt wurden.
|| || Einleitung                                          49

            Die Wehrmacht zu Beginn der 80er Jahre

     Den staats- und verwaltungsrechtlichen Regelungen sowie der im Laufe der
  Jahre ausgestalteten Praxis entsprechend, fielen in die Kompetenz des gemeinsa-
  men Ministerrates nur der Finanzvoranschlag des Wehrressorts und die mit der
 Wehrmacht verbundene Gesetzgebung. Unvermeidbar kamen jedoch im Laufe
 der Verhandlungen auch die inneren Organisationsprobleme der Wehrmacht
 zur Sprache, weshalb es sinnvoll erscheint, vor der Funktionsbeschreibung des
 gemeinsamen Ministerrates einen kurzen Überblick über das gesamte Militär¬
 wesen zu geben, dem - stellenweise unter Zuhilfenahme eines historischen
 Rückblicks - die Verhältnisse zu Beginn der 80er Jahre zugrunde liegen.

    Die Wehrmacht war eine Institution der Monarchie mit langen und bewähr¬
 ten Traditionen. Dennoch erfuhr sie in den Jahren vor und nach dem Ausgleich
 aufgrund der gewonnenen militärischen Erfahrungen und der politischen Ver¬
 hältnisse zahlreiche wesentliche Veränderungen. Dies bezieht sich vor allem auf

 die oberste Führung der Wehrmacht. Franz Joseph übte in den ersten Jahrzehn¬
 ten seiner Regierungszeit die Rechte des obersten Kriegsherren unmittelbar aus,

 er war der Armeeoberkommandant. Die operative Sachbearbeitung zwischen
 dem Armeeoberkommando und dem Monarchen versah die Militärzentral¬
 kanzlei, die dem Herrscher unmittelbar unterstellt war. Als Folge der militäri¬
 schen Niederlage in der Lombardei im Jahr 1859, die das Prestige der Dynastie
 verletzt hatte, legte der Monarch das Amt des Armeeoberkommandanten nie¬
 der, das 1860 auf das Kriegsministerium bzw. den Kriegsminister überging. Im
 Herbst 1866 wurde es neu errichtet, doch als dem Kriegsministerium beigeord¬

 netes Armeeoberkommando, an dessen Spitze Erzherzog Albrecht, der Sieger
 von Custozza, berufen wurde. Die Funktion des Armeeoberkommandanten
erwies sich mit den 1867 geschaffenen konstitutionellen Verhältnissen als unver¬
einbar, daher wurde das Armeeoberkommando im Februar 1868 aufgelöst.
Erzherzog Albrecht erhielt im März 1869 einen neuen Titel, er wurde zum
Generalinspektor der Armee ernannt und trug diesen Titel bis zu seinem 1895
erfolgten Tode. Die Einführung konstitutioneller Verhältnisse hob die Füh¬
rungsrolle des gemeinsamen Kriegsministers besser hervor, der im Jahrzehnt
nach dem Ausgleich zum operativen Leiter des Kriegswesens wurde. Teils aus
staatsrechtlichen, teils aus persönlichen Gründen wurde jedoch die leitende
Funktion des gemeinsamen Kriegsministers zu Beginn der 80er Jahre allmählich
in den Hintergrund gedrängt und seine Befugnis mehr oder minder auf die
Verrichtung der administrativen Angelegenheiten der Wehrmacht beschränkt.
Die eigentliche Lenkung ging in die Hände von Erzherzog Albrecht, dem
Generalinspektor der Armee, und von Feldmarschalleutnant Beck über, der
1881 Generalstabschef wurde. Der die Angelegenheiten der ungarischen Hon-
ved leitende ungarische und der an der Spitze der österreichischen Landwehr
stehende Landesverteidigungsminister waren in militärischer Hinsicht unmittel¬
bar dem Monarchen unterstellt. Die Vermittlung zwischen dem Herrscher und
den Zentralbehörden (gemeinsames Kriegsministerium, Generalstab und die
beiden Landesverteidigungsministerien) versah die Militärkanzlei Seiner Maje-
|| || 50 Einleitung

stät des Kaisers und Königs. Diese war keine selbständige Behörde, ihre eigentli¬
che Aufgabe bestand in der Administration. Aber der Vorstand der Kanzlei
hatte infolge seiner unmittelbaren Beziehung zum Monarchen auch Einfluß auf
die eigentliche Gestaltung der Militärangelegenheiten.

   Gleichzeitig mit den Veränderungen und aus ähnlichen Beweggründen änder¬
te sich auch vielfach die innere Gliederung der Wehrmacht, doch bewies diese
insgesamt größere Stabilität. Die Wehrmacht bestand von dem Zeitpunkt an,
da die venezianische Flotte endgültig in österreichischen Besitz gelangt war, aus
zwei Teilen, aus Landmacht oder Heer und Kriegsmarine, und diese Gliederung
bestand bis zum Zerfall der Monarchie. Das Heer bildete bis 1867 ein einheitli¬
ches Ganzes. Nach dem Ausgleich kamen die ungarische Honved und die
österreichische Landwehr dazu, und so entstand die Doppelgliederung gemein¬
sames Heer - ungarische Honved und österreichische Landwehr. Die militäri¬
schen Führer, die für ein einheitliches Heer eingetreten waren, nahmen diese auf
staatsrechtlicher Grundlage beruhende Gliederung nur widerwillig zur Kennt¬
nis, akzeptierten dann aber das gemeinsame Heer als die erste und die Honved
bzw. die Landwehr als die zweite Linie der Wehrmacht. Bei der Kriegsmarine
entwickelte sich diese auf staatsrechtlicher Grundlage beruhende Gliederung
nicht. Dieser Teil der Wehrmacht war übrigens im internationalen Vergleich
unbeträchtlich, die österreichische Kriegsmarine stand an Zahl und Qualität der
Kriegsschiffe und Panzerkreuzer weit hinter der Englands, Frankreichs und
Italiens im Mittelmeer zurück und war nur zur Küstenverteidigung geeignet.
Das Heer aber war an Zahl und Ausrüstung auf dem Niveau der Zeit und
konnte sich mit der Armee jeder anderen Großmacht vergleichen. Die Monar¬
chie kam 1869 mit ihren 272 000 Mann im Frieden und 800 000 Mann zur
Kriegszeit Frankreich nahe und blieb kaum hinter dem Norddeutschen Bund
zurück. In diesen Ländern betrug bei einem Friedensstand von 414 000 bzw.
290 000 der Kriegsstand 1 300 000 bzw. 945 000 Mann. (Im Laufe der Jahre
verschlechterte sich dieses Verhältnis für die Monarchie.)

   Der Friedensstand des Heeres ergab sich neben dem Berufsstand (Offiziere
und Unteroffiziere) aus den ihren Präsenzdienst abgeleistet habenden sieben
wehrpflichtigen Jahrgängen. Der Kriegsstand setzte sich aus dem Friedens¬
stand, aus der vor Ableistung des dritten Jahres in den Urlauberstand versetzten
Mannschaft und aus den ihren Präsenzdienst abgeleistet habenden sieben wehr¬
pflichtigen Jahrgängen (der Reserve) zusammen. Zur Ersetzung der Kriegsver¬
luste diente die Ersatzreserve, die 10% des Kriegsstandes ausmachte und nur eine
kurze militärische Ausbildung erhielt. Die dem Heeresverband angehörenden
Personen wurden in einem Grundbuch registriert, dessen Bestand sinngemäß
immer höher als der Kriegsstand war.

   Das Heer bestand den Traditionen und den Erfordernissen der modernen
Kriegsführung entsprechend aus den vier Waffengattungen Infanterie, Kavalle¬
rie, Artillerie und technische Truppen. Nach Größe und Bedeutung stand die
Infanterie an erster Stelle. Als Ergebnis verschiedener Umorganisierungen wa¬
ren bis zum Beginn der 80er Jahre 102 Infanterieregimenter mit einem Friedens¬
stand von je 1647 Mann gebildet worden. Die Infanterie der ungarischen
|| || Einleitung  51

 Honved und der österreichischen Landwehr hinzugerechnet, betrug sie drei
 Viertel des Friedensstandes des Heeres, und ihr Anteil am Kriegsstand war
 ähnlich hoch. Die Infanterieregimenter gliederten sich in Bataillone und Kom¬
 panien auf. Zu jedem Regiment gehörten vier Bataillone und ein Ersatzbatail¬
 lon, jedes Bataillon bestand aus vier Kompanien mit einem Friedensstand von
 je 95 Mann. Die nächsthöhere Einheit über dem Infanterieregiment war die
 Brigade, die zwei oder mehr Infanterieregimenter vereinte. Zwei Infanteriebri¬
 gaden bildeten eine Truppendivision. In den mehrere Truppendivisionen umfas¬
 senden Korps und der mehrere Korps und Truppendivisionen vereinigenden
 Armee waren außer der Infanterie auch andere Waffengattungen vertreten. Die
 Infanterie war bis 1866 mit dem Vorderladegewehr vom System Lorenz ausge¬
 rüstet. Dieses konnte mit dem preußischen Dreyse-Gewehr nicht konkurrieren,
 deshalb war die Ursache der Königgrätzer Niederlage nicht zuletzt im Unter¬
 schied der Schußwaffen zu suchen. Von 1867 an wurde stufenweise der Einzel¬
 lader mit Zündnadel vom System Werndl eingeführt, der natürlich auch mit
 Bajonett versehen war. Diese Waffe war bei der Infanterie über zwanzig Jahre
 lang in Gebrauch, bis zur Mitte der 80er Jahre. An der für die Infanterie
 vorgeschriebenen und angewandten Taktik änderte sich trotz der Entwicklung
 der Schußwaffen kaum etwas. Die Militärführung und die Theoretiker betrach¬
 teten nach wie vor den Bajonettangriff und das Handgemenge als kampf- und
 schlachtentscheidende Faktoren. Sie rechneten aber auch mit der immer größe¬
 ren Treffgenauigkeit, was daraus ersichtlich ist, daß sie im Jahre 1868 statt des

 auffälligen weißen Uniformrocks der Infanterie einen dunkelblauen einführten.
    Die Kavallerie, die zweite Waffengattung innerhalb der Armee, verlor gegen¬

über der früheren Zeit an Bedeutung und betrug weniger als ein Sechstel des
Heeresstandes. Die 41 Kavallerieregimenter des gemeinsamen Heeres führten
noch ihre alten Bezeichnungen Husaren, Dragoner und Ulanen, diese hatten
aber weder hinsichtlich der Ausrüstung noch des Einsatzes eine Bedeutung. Der

Friedensstand eines Kavallerieregiments der gemeinsamen Armee bestand aus
1061 Mann und 962 Pferden. Die Hauptwaffe der Kavallerie war der Säbel, die
Mannschaft wurde außerdem noch mit einem Karabiner (seit 1867 mit dem
genannten Einzellader mit Zündnadel) ausgerüstet. Die Ausrüstung zeigte und
bestimmte den Charakter des Einsatzes: Neben der Aufklärung, der Streife und
der Verfolgung war noch immer die Durchführung der Reiterattacke die Haupt¬
aufgabe des Verbandes, die aber infolge der Entwicklung der Schußwaffen
immer anachronistischer wurde. Die Artillerie, die sich nach ihrem Einsatz in
die Feldartillerie und in die Festungsartillerie gliederte, war nur im gemeinsa¬
men Heer systemisiert, die Honved und die Landwehr verfügten über diese
Waffengattung nicht. 13 Artillerieregimenter der Feldartillerie waren den Trup¬
pendivisionen bzw. Korps zugeteilt und führten dementsprechend die Bezeich¬
nung Divisions- bzw. Korpsartillerieregiment. Der Friedensstand des Divisions¬
artillerieregiments betrug 457 Mann und 230 Pferde, ferner verfügte es über 32
Kanonen in vier Batterien. Die Festungsartillerie war unter anderem im galizi-
schen Krakau und Przemysl, im dalmatischen Cattaro, im istrischen Pola und
in der Festung Trient in Tirol stationiert und versah die speziellen Aufgaben der
|| || 52 Einleitung

Festungsverteidigung und Festungsbelagerung. Die mit Vorderladegeschützen
ausgerüstete Feldartillerie war lange Zeit in den Gefechten nicht sehr wirksam.
Diese Geschütze konnten wegen ihrer geringen Reichweite und der ungelösten
ballistischen Probleme, zumeist mit direkter Visiereinrichtung, nur innerhalb
der Reichweite der feindlichen Infanterie eingesetzt werden. Die 1863 systemi-
sierten Vorderladegeschütze wiesen schon günstigere Eigenschaften auf, und
schließlich bewirkte die Einführung der Hinterladegeschütze im Jahre 1875
einen radikalen Wandel. Im Besitz dieser Kanonen größerer Reichweite und
verläßlicherer Treffgenauigkeit konnte die Feldartillerie ihre Feuerkraft, hinter
den eigenen Einheiten aufgestellt, über diese hinweg einsetzen. Die vierte Waf¬
fengattung, die technischen Truppen, gliederte sich teils in die mit Brückenbau,
Befestigungen usw. beschäftigten Pioniertruppen, teils in die Eisenbahnkompa¬
nien, die den Feldbahnbau und die Reparatur von Eisenbahnstrecken besorg¬
ten, und in die Feldtelegraphen-Abteilungen. Es sei noch bemerkt, daß zur
Versorgung des Heeres mit Verpflegung, Ausrüstung, Waffen und Munition
sowie zu deren Transport ein eigener Apparat zur Verfügung stand, der teils
innerhalb der Einheiten und teils unabhängig von ihnen organisiert war. Für
den Kriegsfall war für den Transport des Heeres und der Vorräte der Armee
in den Operationsraum eine eigene Organisation erforderlich. Für diesen Fall
war der Einsatz der Eisenbahn sowie neben den ärarischen Pferden und Fahr¬
zeugen auch eine beträchtliche Inanspruchnahme der Pferde und Fahrzeuge der
Bevölkerung vorgesehen.

   Das Heeresergänzungswesen verfügte innerhalb des Heeres und der Kriegma¬
rine über eine eigene Organisation. Die Monarchie war in Ergänzungsbezirke
und in die diese zusammenfassenden Militärterritorialbereiche gegliedert, aus
denen die Regimenter bzw. Korps ihren Ersatzstand erhielten, sowohl die
Reservisten als auch die Ersatzreservisten und vor allem freilich die Stellungs¬
pflichtigen. Über die Tauglichkeit und Einteilung der Stellungspflichtigen ent¬
schied die Stellungskommission. Die Ordnung der Heeresergänzung regelten
besondere Rechtsnormen: in Österreich das Gesetz vom 5. Dezember 1868, in
Ungarn der Gesetzartikel Nr. 40 des Jahres 1868. Die Gesetze bestimmten die
Dauer der Wehr- und der Dienstpflicht, das zehnjährige Rekrutenkontingent
sowie dessen Aufteilung auf die beiden Staaten, die verschiedenen Arten der
Befreiung sowie die Musterungsordnung. Im Sinne des Gesetzes war jeder
Mann vom 20. bis zum 32. Lebensjahr wehrpflichtig. Die Dienstzeit bestand aus
drei Jahren. Vom Rekrutenkontingent entfielen auf Österreich jährlich 55 992
 Rekruten und 5592 Ersatzreservisten, auf Ungarn hingegen 39 552 Rekruten
und 3955 Ersatzreservisten. Die Gesetze blieben bis 1889 unverändert in Kraft.
 Die Inanspruchnahme des Pferdebestandes der Bevölkerung für das Heer regel¬
 ten in Österreich das Gesetz vom 13. April 1873, in Ungarn der Gesetzartikel

 Nr. 20 des Jahres 1873.140

       hu Überblick verwendete Arbeiten: Glückmann, Das Heerwesen der österreichisch-ungarischen
       Monarchie - Schmidt-Brentano, Die Armee in Österreich - Rothenberg, The Army of
       Francis Joseph - Die Habsburgermonarchie 1848-1918 V. Die bewaffnete Macht - Magyar-
       orszäg hadtörtenete ket kötetben 2. A kiegyezestöl napjainkig.
|| || Einleitung  53

                                                       Das Landsturmgesetz

     Von der außenpolitischen Lagebeurteilung der Armeeführung, von ihrer
 Ansicht über die Gefährdung der Monarchie sowie von der Militärdoktrin war
 schon weiter oben ausführlich die Rede. Es sei aber noch einmal darauf hinge¬
 wiesen, daß zu Beginn der 80er Jahre auch die militärischen Kreise die Bedro¬
 hung durch Rußland für bestimmend erachteten und die eigentliche Aufgabe
 der Wehrmacht in der Abwehr dieser Gefahr erblickten. Im Kriegsfall rechneten
 sie - immer die Zusammenarbeit mit Deutschland vorausgesetzt -- mit einer
 strategischen Offensive, um eine Entscheidung zu erzwingen, noch bevor die
 russische Wehrmacht ihre zahlenmäßige Überlegenheit geltend machen könnte.
 Bei Erörterung der Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates in politischen
 Fragen wurde bereits davon gesprochen, daß die militärische Führung in den
 Jahren 1883-1884 zwecks Schaffung besserer Voraussetzungen für eine strategi¬
 sche Offensive sowohl die Truppenstärke als auch die Mobilität des Heeres
 steigern wollte, wofür zahlreiche Entwürfe ausgearbeitet und dem gemeinsamen
 Mmisterrat vorgelegt wurden. Deren Schicksal soll nun im Rahmen der mit dem
 Kriegswesen verbundenen Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates zuerst be¬
 sprochen werden, mit der Einschränkung, daß dem Problem der strategischen
 Eisenbahnlinien ein besonderes Kapitel gewidmet wird.

    Die Angelegenheit des Landsturms, die am 4. Februar 1883 vom gemeinsa¬
men Mmisterrat behandelt wurde und auch das Thema der Beratung vom 25.
November 1883 war, hatte schon eine lange Vorgeschichte. Die Notwendigkeit
seiner Errichtung war schon unmittelbar nach dem Ausgleich aufgetaucht. Die
das erste Militärbudget beratende Kommission aus siebzehn Generälen und
Obersten stellte sich im Verhältnis von 14 : 3 auf den Standpunkt, daß die
Wehrpflicht nicht allein aus dem Präsenzdienst und aus der in der Reserve
verbrachten Zeit bestehen könne, sondern darüber hinaus jeder Mann im Alter
von 18 bis 40 Jahren auch landsturm-dienstpflichtig sei.141 Die Konzeption
wurde jedoch nicht realisiert. In Ungarn wurde mit dem Gesetzartikel Nr 42
des Jahres 1868 nur der freiwillige Landsturm inartikuliert,142 in Österreich aber,
mit Ausnahme von Tirol und Vorarlberg, blieb auch diese Form des Land¬
sturms unbekannt. Ende der 70er Jahre wurde die Angelegenheit des Land¬
sturms wegen der ungünstigen Erfahrungen während der bosnischen Okkupa¬
tion wieder aufgegriffen. Die Armee hatte in diesem Unternehmen, das kaum
als Feldzug bezeichnet werden kann, allein an Toten 4165 Mann verloren,143 und
das ließ die möglichen Verluste in einem wirklichen Krieg ahnen. Daß die
Militärführung diese getarnte Form einer Verlängerung der Wehrpflicht wählte.

i49 Schmidt-Brentano, Die Armee in Österreich 88--89.
142 Magyar Törvenytär 1836-1868 484.

143 ^fjLUSTE DER IM Jahre i878 mobilisierten k. k. Truppen 9. - Die Zahl der im Laufe der
     Okkupation kampfunfähig gewordenen Soldaten ist natürlich um vieles höher. Die an der Okkupa¬
     tion von Westbosnien und der Herzegowina teilnehmenden Infanterieregimenter Nr. 23 und 78
     verloren z. B. über 700 an Toten, Verwundeten und Verschollenen. Bencze, Bosznia es Herceeovi-
    na okkupäciöja 200.
|| || 54 Einleitung

war unter den gegebenen politischen und finanziellen Bedingungen vollauf
verständlich. Eine Änderung des Wehrgesetzes erschien nicht erreichbar, und
zur Verlängerung des Präsenzdienstes bzw. der Reservezeit stand die erforderli¬
che finanzielle Deckung nicht zur Verfügung. Der allgemeine Pflichtcharakter
des Landsturms hingegen und seine breite Altersspanne versprachen schier
unerschöpflichen Nachschub, der - da er nur im Krieg fällig wurde - vorder¬
hand mit keinerlei Kosten verbunden war.

   Bei der Schaffung der Institution des Landsturms war der österreichische
Landesverteidigungsminister Welsersheimb die treibende Kraft. Kurz nach sei¬
nem Amtsantritt, am 9. August 1880, erstellte er einen Entwurf für die allgemei¬
ne Landsturmpflicht, den eine Kommission unter dem Vorsitz von Erzherzog
Albrecht erörterte und guthieß. Der Monarch wies den Minister am 23. Septem¬
ber 1880 an, den Entwurf dem österreichischen Ministerrat vorzulegen. Der
Ministerrat nahm den Antrag günstig auf und zeigte sich bereit, den Gesetzent¬
wurf dem Reichsrat zu unterbreiten. Die Vorbereitungen blieben jedoch an
diesem Punkt stecken, weil das Gesetz, das das Wehrsystem der Gesamtmonar¬
chie betraf, nur im Einvernehmen mit der ungarischen Regierung beantragt
werden konnte und die Erwirkung des ungarischen Einverständnisses schon
über die Befugnis des österreichischen Landesverteidigungsministers und der
österreichischen Regierung hinausging. Der Herrscher und der gemeinsame
Kriegsminister wiederum zeigten kein ausreichendes Interesse. Die Angelegen¬
heit bewegte sich erst vom toten Punkt, als in der Planung abermals die Idee
einer strategischen Offensive in den Vordergund trat144 und auch der General¬
 stabschef eine möglichst große Vermehrung des der Armee zur Verfügung
 stehenden Menschenmaterials für nötig erachtete. Der Monarch brachte die
 Angelegenheit am 4. Februar 1883 in der festen Absicht vor den gemeinsamen
 Ministerrat,145 grundsätzliches Einverständnis zu erzielen, also die Zustimmung
 der ungarischen Regierung zu erwirken. Welsersheimb zählte sämtliche militäri¬
 schen Argumente auf, die für eine Landsturmpflicht sprachen: sie werde im
 Kriegsfall der Ergänzung des Heeresbestandes dienen, da hierzu die Ersatzreser¬
 ve nicht ausreicht, und könnte die an der Hauptfront kämpfende Armee sinnvoll
 entlasten. Generalstabschef Beck unterstrich dieses letztere Argument damit,
 daß der Landsturm in Galizien, in Siebenbürgen und in Tirol sehr nützliche
 Dienste leisten könnte, und bat zu erwägen, daß die Dauer der Wehrpflicht in
 allen Ländern wesentlich länger sei als in der Monarchie. Im Anschluß daran
 erklärte es der Monarch geradezu für erschütternd, daß in der Monarchie die
 Wehrpflicht mit dem 32. Lebensjahr aufhöre. Seitens der ungarischen Regierung
 ergriff als erster der ungarische Landesverteidigungsminister Räday das Wort,
 der die militärische Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit des Landsturms nicht
 bezweifelte, aber Vorbehalte hinsichtlich der politischen Zuverlässigkeit formu¬
 lierte und darauf hinwies, daß eine Verlängerung der Wehrpflicht um 10-12

  144 Umarbeitung des Aufmarschelaborates für den Kriegsfall gegen Rußland. Vortrag des Chefs
       des Generalstabes v. 21. 12. 1882, KA., MKSM. 69--2/1 ex 1883.

  145 GMR. v. 4. 2. 1883, RMRZ. 311, KA., MKSM. 20-1/6-4 von 1883.
|| || Einleitung  55

 Jahre im ungarischen Abgeordnetenhaus auf Widerstand stoßen werde. Eine
 mentorische Erörterung der Frage hielt er ohnehin nicht für aktuell, solange
 nicht auch in Ungarn - ähnlich wie in Österreich - entsprechende Vorstudien
 durchgeführt worden seien. Auch der ungarische Ministerpräsident Kalman
 Tisza bestand darauf, vor einem grundsätzlichen Beschluß die Einzelheiten zu
 klaren. Er verschwieg auch die wirklichen Ursachen der Vorbehalte der ungari¬

 schen Regierung nicht, auf die auch der Landesverteidigungsminister schon
 hingewiesen hatte. Im Zusammenhang mit dem Landsturm habe er die ernste
 Sorge, daß dieser mehr schaden als nützen würde. So hielt er es nicht für ratsam,
 den Rumänen Waffen in die Hände zu geben. Die Argumente des Monarchen
 und des Generalstabschefs machten keinerlei Eindruck auf ihn, und auf das
 wiederholte Drängen des Herrschers hin stellte er bloß in Aussicht daß die
 ungarische Regierung mit dem Studium des Problems beginnen werde. Die
 Beratung wurde somit im Endergebnis erfolglos geschlossen, und auch das vom
 Monarchen verlangte grundsätzliche Einverständnis kam nicht zustande. Die
 „Bereitschaft zum Studium" legten die beiden Parteien in unterschiedlicher
 Weise aus. Der Herrscher bezeichnete sie als großen Fortschritt und faßte sie
 gleichsam als Prolog des Einverständnisses auf. Die ungarische Regierung
 hingegen meinte, daß sie mit dem Studium des Problems und unter diesem
 Vorwand auf ihrem ablehnenden Standpunkt beharren konnte.

    Wie sehr unterschiedlich die Ereignisse der Beratung vom 4. Februar ausge¬
 legt wurden, stellte sich bald heraus. Die österreichische Regierung wandte sich,
davon ausgehend, daß die ungarische Regierung bereit sei zuzustimmen, mit
dem Ansuchen an die ungarische Regierung, sie möge es formal bewilligen, daß
der die gemeinsamen Angelegenheiten der beiden Länder betreffende Gesetzent¬
wurf dem Reichsrat vorgelegt werde. Die ungarische Regierung, die gegen ihr
Versprechen das Studium der Angelegenheit des Landsturms noch nicht einmal
begonnen hatte, antwortete auf das Ansuchen, sie halte die Vorlage eines
derartigen Gesetzentwurfes während der gegenwärtigen Session des ungarischen
Abgeordnetenhauses nicht für möglich und könne auch dem Ansuchen der
österreichischen Regierung nur aufgrund einer vorherigen Bevollmächtigung
der ungarischen Gesetzgebung nachkommen. Und als der Ministerpräsident die
Einladung zum gemeinsamen Ministerrat vom 25. November erhalten hatte
faßte der ungarische Ministerrat den dringenden Beschluß, daß sich die Regie¬
rung ohne vorherige Bevollmächtigung der Gesetzgebung mit der Angelegenheit
nicht befassen könne; die Vorlage der von der österreichischen Regierung
gewünschten Gesetzvorlage sei auch ansonsten nicht zweckmäßig, weil sie eine
staatsrechtliche Auseinandersetzung provozieren würde.146 Danach konnte der
gemeinsame Ministerrat vom 25. November nur noch ein Dialog von Gehörlo¬
sen sein. Welsersheimb und Beck brachten wieder ihre militärischen Argumente
vor, wobei sie die Betonung diesmal darauf legten, wie sehr die Armee der
Monarchie im Kriegsfälle zahlenmäßig hinter dem Heer der übrigen Groß-

146

     33/MT. Ung.MR. v. 20. 11. 1883. I. Besprechung mehrerer die Wehrfähigkeit der Monarchie
     betreffenden Fragen. II. Das Gesetz über den Landsturm, OL., K. 27, Karton 37.
|| || 56 Einleitung

mächte Zurückbleiben würde. Kalman Tisza hingegen wiederholte die mit dem
Widerstand des Parlamentes verbundenen Argumente und gab abermals seinem
Zweifel an der Zweckmäßigkeit eines aus Rumänen und Ruthenen bestehenden
Landsturms Ausdruck. Der einzige Fortschritt war, daß er übereinstimmend
mit seinem Antwortschreiben an die österreichische Regierung seine Bereit¬
schaft erklärte, die vorherige Zustimmung der ungarischen Gesetzgebung einzu¬
holen. Diese Erklärung - obwohl sie den Beginn eines Wandels in der ungari¬
schen Regierung anzeigte - erfuhr jedoch keine besondere Beachtung, da sich
im Laufe der Debatte herausstellte, daß auch innerhalb der Militärführung kein
Einverständnis über die Modalitäten des Landsturms bestand und der gemein¬
same Kriegsminister Bylandt-Rheidt im Gegensatz zu Welsersheimb den Land¬
sturm auf acht Jahrgänge der Männer nach Ableistung des Präsenzdienstes
beschränken wollte. Der Monarch war gezwungen einzugestehen, daß die Frage
noch nicht beschlußreif war, und mußte die militärische Klärung der Frage
anordnen.

   Zur Entscheidung über die endgültige Beschaffenheit des Landsturms kam
es in der Beratung am 8. Januar 1884 unter dem Vorsitz des Monarchen, an der
der Generalinspektor der Armee, der gemeinsame Kriegsminister, der Chef des
Generalstabs, der österreichische Landesverteidigungsminister und der Vor¬
stand der Militärkanzlei Seiner Majestät teilnahmen.147 Zuvor hatten der ge¬
meinsame Kriegsminister und der österreichische Landesverteidigungsminister
in einer umfangreichen Studie ihren Standpunkt niedergelegt, und auch der
Generalinspektor der Armee verfaßte eine Eingabe, in der er für die allgemeine
Landsturmpflicht Stellung nahm.148 Die Hauptgesichtspunkte der Studien faßte
Generalmajor Popp, Vorstand der Militärkanzlei, zusammen und erwog die
möglichen Vor- und Nachteile der beiden Konzeptionen.149 Der größte Vorteil
der Welserheimbschen Konzeption sei, daß er - da er sich auf 24 Jahrgänge
erstreckte - der Armee große Soldatenmengen zur Verfügung stellte und die
ganze Institution dennoch mit geringen materiellen Mitteln geschaffen werden
konnte. Ihr Nachteil war, daß unausgebildete Menschenmassen in der moder¬
nen Kriegsführung nur schwer verwendbar waren und die Bewaffnung großer
Massen der Bevölkerung zu politischen Schwierigkeiten führen konnte. Dies
letztere lag auch dem Widerstand der ungarischen Regierung zugrunde, der ein
solches Ausmaß annahm, daß eine Akzeptierung des Landsturms in dieser
Form als unmöglich erschien. Der Vorstand der Militärkanzlei wies auch auf
einige Mängel im Entwurf des gemeinsamen Kriegsministers hin, namentlich
darauf, daß er auf einen bedeutenden Teil der waffenfähigen Bevölkerung
verzichtete, hob aber hervor, daß er zugleich sämtliche Mängel der Konzeption
des österreichischen Landesverteidigungsministers beseitigte. Er stellte der Ar-

 147 Protokoll der am 8. 1. 1884 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in Wien stattgehabten
       Beratung über die Landsturmfrage, KA., MKSM. 10-1/1-2 de 1884.

 148 Studie über die Errichtung eines Landsturmes am 15. Dezember 1883. [Bylandt-Rheidt] -
       Entwurf. Gesetz betreffend den Landsturm im August 1883 [Welsersheimb]. - Zur Landsturm¬
       frage. Anfang Jänner 1884. [Eh. Albrecht], KA., MKSM. 20-1/1-2 de 1884.

 149 Die Landsturmfrage im Dezember 1883. Popp GM., KA., MKSM. 20-1/1-2 de 1884.
|| || Einleitung                                                      57

 mee etwa 450 000 Mann wohlausgebildete, disziplinierte Soldaten zur Verfü¬
 gung, die schon zu Friedenszeiten organisiert werden konnten und dieses Insti¬
 tution auch für Ungarn akzeptabel werden ließen. Aufgrund all dessen bean¬
 tragte er, den Entwurf des gemeinsamen Kriegsministers anzunehmen. In der
 Beratung argumentierten beide Militärs für ihre eigene Konzeption und kriti-
 sierten die Mängel des Entwurfes des anderen. Bylandt-Rheidt betonte den
 militärischen Wert des aus ausgebildeten Soldaten bestehenden Landsturms und
 stelle die Brauchbarkeit des allgemeinen Landsturms in Frage. Welsersheimb
 erkannte an, daß ein ausgebildeter Landsturm in militärischer Hinsicht wertvol¬
 ler sei, hob jedoch hervor, daß diese bedeutende Mittel erforderte und der
 Bevölkerung schon zu Friedenszeiten schwere Lasten aufbürdete. Interessanter¬
 weise sprachen beide mehr von der politischen als von der militärischen Seite
 des Problems. Während Bylandt-Rheidt scharf gegen den Versuch der ungari¬
 schen Regierung, sich militärisch selbständig zu machen, Stellung nahm und die

 von Welsersheimb beantragte Variante im ungarischen Abgeordnetenhaus für
 nicht konsensfähig erklärte, machte er sich gleichzeitig den Standpunkt der
 ungarischen Regierung fast zu eigen, indem er aussprach, daß der allgemeine
 Landsturm in vielen Fällen geradezu gefährlich sein könnte. Welsersheimb
 meinte demgegenüber, daß jetzt eine größere Bereitschaft der ungarischen Re¬
gierung zu verzeichnen sei, aber wenn sie sich dennoch weigern sollte, müsse
man den Gesetzentwurf wenigstens dem Reichsrat unterbreiten, denn auch dies
sei besser, als daß nichts geschehe. Der Monarch mußte die in die Debatte
vertieften Militärs darauf aufmerksam machen, daß es sich hier nicht um
politische Gesichtspunkte, sondern um die militärischen Beziehungen des Pro¬
blems handelte. An diesem Punkt ergriff der Generalinspektor der Armee das
Wort und sagte, auf die preußischen Erfahrungen verweisend, daß eine Inan¬
spruchnahme der gedienten Mannschaft als Ersatz der Verluste nicht zweckmä¬
ßig sei. Hierzu seien die jüngeren Jahrgänge viel geeigneter, und der Hauptvor¬
teil des allgemeinen Landsturms bestehe darin, daß er sich diese jüngeren
Jahrgänge sicherte. Der Generalstabschef äußerte sich in ähnlichem Sinn. Zur
Heeresergänzung könne die gediente Mannschaft nicht in Frage kommen, bei
dem derzeitigen niedrigen Stand der Ersatzreserve sei aber die wichtigste Aufga¬
be ein Ersatz der möglichen Verluste. Nach dieser Stellungnahme der beiden
bedeutendsten Persönlichkeiten des Heeres blieb der vom gemeinsamen Kriegs¬
minister empfohlene militärisch ausgebildete Landsturm chancenlos. Dem Er¬
gebnis der Beratung gab der Monarch zwar keine Beschlußform, da er aber den

österreichischen Landesverteidigungsminister mit der Informierung der ungari¬
schen Regierung betraute, bedeutete dies die Annahme der allgemeinen Land¬
sturmpflicht.

   Der Vorstand der Militärkanzlei Seiner Majestät verständigte am 24. Januar
den ungarischen Ministerpräsidenten davon, daß in Angelegenheit des Land¬
sturms zwischen den militärischen Führern ein Einverständnis zustandegekom¬
men war.150 Seinem Brief legte er das Memorandum des Generalstabschefs bei,

150 Popp an Tisza v. 24. 1. 1884, KA., MKSM. 20-1/1-3 ex 1884.
|| || 58 Einleitung

das teils Informationen über die Beratung vom 8. Januar enthielt, teils eine
Erörterung der militärischen Probleme des allgemeinen Landsturms war.151 Die
ungarische Regierung war aber noch immer nicht einverstanden mit dem, was
in Wien geschah. Der Ministerpräsident unterrichtete den Ministerrat darüber,
er sei vom Vorstand der Militärkanzlei offiziell verständigt worden, daß sich die
militärischen Fachkreise zustimmend geeinigt hätten. Gleichzeitig wollte er den
Standpunkt des Ministerrates konstatieren, daß dieser an seinem Beschluß vom
20. November vorigen Jahres festhalte; außerdem sei eine jetzige Vorlage an den
Reichstag in dieser Angelegenheit um so weniger zweckdienlich, als jener allem
Anschein nach den Landsturm-Gesetzentwurf jetzt nicht behandeln würde.
Dessenungeachtet beauftrage er den Landesverteidigungsminister, ein eingehen¬
des Fachgutachten auszuarbeiten, damit sich die ungarische Regierung - wenn
die Frage spruchreif würde - meritorisch äußern könne.152

   Der Beschluß des ungarischen Ministerrates vom 18. März war recht wider¬
sprüchlich. Einerseits hielt er seinen ablehnenden Standpunkt auch weiterhin
aufrecht, andererseits baute er dadurch, daß er den Landesverteidigungsmini¬
ster damit beauftragte, aufgrund des Memorandums des Generalstabschefs und
unter Berücksichtigung der ungarischen Verhältnisse ein Gutachten zu erstellen,
eine goldene Brücke, über die er sich einen Rückzug sicherte, wenn sich dies als
nötig erweisen würde. Und als der Honvedminister Fejerväry am 19. Juni kein
Fachgutachten, sondern einen regelrechten Entwurf zur Schaffung des Land¬
sturms vorlegte, verhielt sich der am 4. Juli zusammengetretene Ministerrat so,
als hätte er seinen Widerstand vergessen.153 Bei Erörterung der Vorlage erinnerte
sich niemand mehr an den früheren gültigen Ablehnungsbeschluß des Minister¬
rates, sondern vertiefte sich in die Beratung der maßgebenden Grundsätze über
den Landsturm. Wann dieser Wandel des ungarischen Ministerrates erfolgt ist,
dessen erste Anzeichen schon im gemeinsamen Ministerrat vom 25. November
1883 wahrnehmbar waren, kann aus den zur Verfügung stehenden Schriften
nicht genau festgestellt werden. Tatsache ist, daß die Beratung vom 4. Juli schon
darauf zielte, den Landsturm, wenn er schon einmal zustande kam, den ungari¬
schen Verhältnissen und Interessen möglichst weitgehend anzupassen. So hielt
es der Ministerrat für nötig, die obere Altersgrenze des Landsturms auf 40 Jahre
herabzusetzen, und für zweckmäßig, Einberufung und Einsatz des Landsturms
an verfassungsmäßige Garantien zu binden. Er stellte die Bedingung, daß der
Landsturm nur einberufen werde, wenn das Land unmittelbar der Gefahr eines
feindlichen Angriffs ausgesetzt sei, und daß zu seiner Einberufung und zum
Einsatz als Heeresergänzung oder außerhalb der Landesgrenzen die vorherige
Zustimmung des Parlaments bzw. Ministerrates erforderlich sei. Schließlich

151 Zur Landsturmfrage. Auf Ah. Befehl verfaßt als Begründung des Gesetzes für den ung.
      Ministerpräsidenten. Übergeben am 20. 1. 1884. Beck m.p., KA., MKSM. 10-17 1-3 ex 1884.

152 SjMT. Ung.MR. v. 18. 3.1884. 3. In Angelegenheit des Landsturmgesetzes, OL., K. 27, Karton
      38.

153 16/MT. Ung.MR. v. 4. 7.1884. 21. In Angelegenheit des Landsturmgesetzes, OL., K. 27, Karton
      38.
|| || Einleitung          59

 beauftragte der Ministerrat den Honvedminister, mit der österreichischen Re¬
 gierung Verhandlungen über den Landsturm-Gesetzentwurf zu beginnen.

    Ob es dann zu diesen Verhandlungen gekommen ist, geht aus den Protokollen
 des ungarischen Ministerrates nicht hervor. Dagegen ist der gemeinsame Mini¬
 sterrat am 20. November 1884 unter anderem zu diesem Zweck zusammengetre¬

 ten. Dies war die dritte Gelegenheit nacheinander, daß die Angelegenheit des
 Landsturms erörtert wurde, doch abweichend von den früheren zwei Sitzungen
 wurde diesmal nicht über die Notwendigkeit, sondern über die Beschaffenheit
 des Landsturms diskutiert. Es lagen zwei Entwürfe vor: einer vom österreichi¬
 schen und der andere vom ungarischen Landesverteidigungsminister. In seinem
 Entwurf setzte der ungarische Honvedminister die Landsturmpflicht - dem
 Beschluß seines Ministerrates entsprechend - vom 19. bis zum 40. Lebensjahr
 fest und unterteilte den Landsturm hinsichtlich des Einsatzes in drei Aufgebote.
 In das erste Aufgebot nahm er die ersten vier Jahrgänge nach Ableistung des
Präsenzdienstes auf. Es sollte neben der Verrichtung sonstiger militärischer
Aufgaben als Ersatzrahmen für die Kriegsverluste dienen. Das zweite Aufgebot
bildeten die drei folgenden Jahrgänge nach Ableistung des Präsenzdienstes,
ebenfalls mit Waffendienst, aber von der Ergänzungspflicht befreit. In das dritte
Aufgebot, zum Dienst ohne Waffen, wurden alle Männer vom 19. bis zum 40.
Lebensjahr aufgenommen, die nicht zu den ersten beiden Aufgeboten gehörten.
Anscheinend hatte Fejerväry keine Kenntnis davon, daß die oberste Militärfüh¬
rung die Kriegsverluste in erster Linie nicht aus den gedienten, sondern aus den
provisorisch freigestellten, jüngeren Jahrgängen ersetzen wollte; dem diesbezüg¬
lichen - allerdings ziemlich kurz gefaßten - Passus der Denkschrift des General¬
stabschefs hatte er wohl nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet. Jedenfalls
rechnete er im ersten Aufgebot mit 180 000 (in den beiden Staaten mit 360 000,
einschließlich der Ersatzreserve mit 440 000) Mann und meinte, damit die
Ansprüche des Generalstabs zu erfüllen, der in seinem Memorandum154 zum
Ersatz der Kriegsverluste 400 000 Mann verlangt hatte. In Kenntnis der Vorge¬
schichte nimmt es nicht wunder, daß der Entwurf Fejervärys weder beim Mon¬
archen noch beim Generalstabschef und beim österreichischen Landesverteidi¬
gungsminister günstige Aufnahme fand. An der Altersgrenze von vierzig Jahren
beanstandeten sie besonders, daß der ungarische Honvedminister die Kriegsver¬
luste ausschließlich durch die Inanspruchnahme der gedienten Mannschaft
ersetzen wollte. Welsersheimb hielt einen langen Vortrag darüber, daß sich
deren militärischer Wert rasch vermindere und daß der ungarische Honvedmini¬
ster das erste Aufgebot des Landsturms mit 180 000 Mann bei weitem zu hoch
angesetzt habe. Schließlich beantragte er, den Paragraphen des Wehrgesetzes
über die provisorische Befreiung im Landsturmgesetz mit der Formulierung zu
ergänzen, daß im Kriegsfall die jüngsten Jahrgänge des Landsturms im Verord¬
nungswege zur Ergänzung der Armee in Anspruch genommen werden können.
Auf diese Weise könnte die Armee aus beiden Staaten mit einer Ergänzung von
150 000 Mann rechnen. Generalstabschef Beck war ja eigentlich selbst mitschul-

154 Vgl. Anm. 151.
|| || 60 Einleitung

dig daran, daß der Entwurf Fejervärys so und nicht anders ausgefallen war, weil
er in seinem Memorandum an die ungarische Regierung im Zusammenhang mit
dem Einsatz des Landsturms an erster Stelle die aus der gedienten Mannschaft
zu bildenden Formationen, an zweiter Stelle den Einsatz des Landsturms im
Sinn von Freischärlern und erst an dritter Stelle kurz und nicht klar genug die
Heeresergänzung behandelt hatte - nun aber eilte er rasch dem österreichischen
Landesverteidigungsminister zur Hilfe. Zuerst besprach er zwar lang und breit
den Inhalt seines Memorandums, schloß aber schließlich damit, daß zum Ersatz
der Verluste die gediente Mannschaft nicht ausreiche und aus der von den zwölf
wehrpflichtigen Jahrgängen provisorisch freigestellten halben Million minde¬
stens 100 000-200 000 Mann für das Heer gewonnen werden könnten. Zur
Zurückweisung dieses konzentrierten Angriffs hatte auch Fejerväry Argumente
militärischen Charakters. Dem österreichischen Landesverteidigungsminister
entgegnete er, die Anzahl der von den provisorisch Freigestellten einzuziehen¬
den Mannschaft sei zu hoch geschätzt. Schließlich erkannte er aber an, daß seine
Diskussionspartner aus militärischer Sicht recht hatten und das gesteckte Ziel
mit größeren Kräften leichter zu erreichen sei. Danach aber konnte er sich nur
noch in seiner politischen Defensivstellung verschanzen. Man müsse zwischen
dem unterscheiden, was militärisch erwünscht und was politisch erreichbar sei;
wenn man die provisorischen Freistellungen in Frage stelle, gefährde man das
Zustandekommen des Landsturmgesetzes. Die übrigen Teilnehmer der Bera¬
tung beteiligten sich mit Ausnahme des Monarchen nicht an der Debatte. Der
gewiß über seine Generalskollegen verärgerte gemeinsame Kriegsminister hüllte
sich während der ganzen Zeit in tiefes Schweigen, der ungarische Ministerpräsi¬
dent aber ließ es zu, daß der Honvedminister das Wort führte. Als aber Fejervä¬
ry in militärischer Beziehung den Kampf aufgab, erachtete er es für richtig, ihn
zu unterbrechen und den Herrscher zu ersuchen, er möge gestatten, daß der
ungarische Ministerrat die obere Altersgrenze des Landsturms und den Einsatz
der provisorisch Freigestellten als Heeresersatz nochmals einer gründlichen
Erwägung unterziehe. Danach erfolgte noch ein langer Gedankenaustausch
über die unterschiedlichen Paragraphen des ungarischen und des österreichi¬
schen Gesetzentwurfes, in dessen Verlauf die Gegensätze zum Teil eliminiert,
zum Teil in der Schwebe gelassen wurden. Aber hinsichtlich des Landsturms an
sich hatte das alles keine besondere Bedeutung mehr. Die Erörterung der
Tagesordnung endete damit, daß auf die Frage des Monarchen sowohl der
österreichische als auch der ungarische Ministerpräsident erklärten, die Entwür¬
fe im Herbst 1885 der Gesetzgebung zu unterbreiten.

   Da es hier nicht um die Geschichte des Landsturms, sondern um den gemein¬
samen Ministerrat geht und der 20. November 1884 die letzte Gelegenheit war,
daß sich dieses Gremium mit dem Landsturm beschäftigte, ist nur noch zu
bemerken, daß dieses nun schon seit vier Jahren verhandelte Gesetz schließlich
doch zustande gekommen ist. Der ungarische Ministerrat beschloß „nach
gründlicher Erwägung" am 17. Dezember 1884 der Altersgrenze von 42 Jahren
zuzustimmen, blieb aber hinsichtlich der provisorisch Freigestellten bei seinem
Standpunkt und hat einen Modifizierungsantrag erst anläßlich der Erneuerung
|| || Einleitung                                                                                         61

des Wehrgesetzes unterbreitet.155 An der Kommissionsberatung am 31. Mai
 1885 unter dem Vorsitz des Herrschers, in der der ungarische und der österrei¬
chische Gesetzentwurf beraten wurden, versprach der ungarische Honvedmini-
ster, er werde den ungarischen Ministerrat zu überreden versuchen daß er die
provisorisch Freigestellten in die Ersatzreserve einreihe.156 Die ungarische Re¬
gierung stimmte am 8. Juni 1885 auf Ansuchen der österreichischen Regierung
zu, den Landsturm statt der bisherigen drei Aufgebote in zwei zu gliedern, aber
in der Frage der provisorisch Befreiten wies sie den Antrag Fejervärys ab.157 So
mußte schließlich die Führung des gemeinsamen Heeres zur Kenntnis nehmen,
daß sie mit den provisorisch Freigestellten aus Ungarn nicht rechnen konnte
zumindest nicht bis zu einer Modifizierung des Wehrgesetzes. Paragraph 5 des

österreichischen Landsturmgesetzes erklärte im Einklang mit Welsersheimbs
Antrag im gemeinsamen Ministerrat, daß die in das erste Aufgebot des Land¬
sturms eingereihten Personen (dieses Aufgebot umfaßte nun die Altersklassen
vom 19. bis zum 37. Lebensjahr) im Kriegsfälle zur Heeresergänzung in An¬

spruch genommen werden konnten, das ungarische Gesetz beschränkte dagegen
diesen Paragraphen auf die „früher militärisch ausgebildeten" Personen Die
vorgelegten Gesetzentwürfe wurden vom ungarischen Abgeordnetenhaus und
vom österreichischen Reichsrat im Februar 1886 verabschiedet und traten nach
Sanktionierung durch den Monarchen am 6. Juni 1886 in Kraft

                                                  Das Pferdestellungsgesetz

   Ähnlich wie in früheren Zeiten war das Pferd auch im vorigen Jahrhundert
ein wichtiges Mittel der Kriegsführung. Obwohl die Bedeutung der Kavallerie
stark zurückgegangen war, beanspruchte diese Waffengattung immer noch sehr
viele Pferde, und auch der Transport von Geschützen, Wagen und Bagage
wurde nach wie vor von Pferden bewerkstelligt. In Friedenszeiten deckte die
Armee ihren Bedarf teils aus eigener Zucht und teils durch Ankauf. Im Mobili¬
sierungsfall erwies sich aber der Friedensstand für den plötzlich erhöhten Bedarf
nicht als ausreichend. Zur Zeit der Massenarmeen wurde daher die allgemeine
Wehrpflicht auch auf die Pferde ausgedehnt, und die Eigentümer wurden gesetz¬
lich dazu verpflichtet, ihre für das Heer geeigneten Pferde diesem gegen entspre¬
chende Entschädigung zu überlassen. Die Armee registrierte die geeigneten

30/MT. Ung.MR. v. 17. 12. 1884. 5. Bezüglich des Landsturmgesetzantrages, OL K 27
Karton 59.                                                                                   '

156 Protokoll der am 31. 5. 1885 in der Hofburg zu Wien unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost.
     Majestät abgehaltenen kommissionellen Beratung über die wegen der ungünstigen Verhältnisse
     bei der mobilen Armee entstehenden Abgänge, wünschenswerten Verbesserungen des Wehrge-

                                      Durchführungsbestimmungen, ferner über das Landsturmgesetz,
JvA., MK!SM. 20--1/10--9 cx 1885.

12/MT. Ung.MR. v. 8. 6. 1885. 3. Bezüglich des Landsturmgesetzantrages. 4. Über die Modifi¬

zierung des Paragraphen 17 des Gesetzartikels XL vom Jahre 1868 über Wehrkraft OL K

27, Karton 39.  ' '' '
|| || 62 Einleitung

Pferde im Grundbuch genauso wie die wehrpflichtigen Personen. Die Deckung
des Pferdebedarfes der Armee im Falle einer Mobilisierung regelten in Ungarn
der Gesetzartikel XX des Jahres 1873, in Österreich das Gesetz vom 16. April
1873. Hinsichtlich der Verteilung des Pferdebedarfes auf die beiden Staaten
verfügten die Gesetze ebenso wie im Falle der wehrpflichtigen Personen: Unter
Berücksichtigung des vorhandenen Pferdebestandes wurde ein entsprechender
prozentueller Schlüssel festgesetzt, der natürlich alljährlich dem Ist-Pferdestand
angepaßt wurde. So sollte beispielsweise nach dem Ergebnis der Pferdezählung
im Jahre 1880 Österreich für 45,61 %, Ungarn aber für 54,39% des Pferdebedarfs
aufkommen. Im Falle einer Mobilisierung der in den beiden Reichshälften
stationierten Einheiten entsprach der Pferdebedarf nicht der prozentuellen Ver¬
teilung der Pferde, deshalb war zu erwarten, daß eine genaue Einhaltung der
Parität zu gewissen Stockungen führen würde. Laut Berechnung des gemeinsa¬
men Kriegsministeriums benötigte das Heer im Mobilisierungsfall 138 880 Pfer¬
de, wovon 74 120 auf die in Österreich und 64 760 auf die in Ungarn stationier¬
ten Einheiten entfielen. Österreich mußte folglich gegenüber der prozentuellen
Verteilung 10 552 Pferde mehr und Ungarn ebensoviel Pferde weniger bereitstel¬
len.158 Das Problem ergab sich aus dem oben erwähnten Schlüssel. Der bei den
Einheiten auftretende Fehlbestand mußte nämlich durch Transporte innerhalb
des betreffenden Staates ergänzt werden, und die benötigten Pferde gelangten
nach einem Eisenbahntransport von oft vielen hundert Kilometern an ihren
Bestimmungsort. So war z. B. für den Ersatz der Fehlbestände bosnischer
Einheiten ein galizischer Militärbezirk vorgesehen, was angesichts der großen
Entfernung zwischen Lemberg und Sarajevo ziemlich zeitraubend war. Der
Hinundhertransport von über 10 000 Pferden verlangsamte im Endergebnis die
gesamte Mobilisierung und konnte einen unersetzbaren Zeitverlust verursachen.

   Zu Beginn der 80er Jahre, als im Zusammenhang mit der geplanten strategi¬
schen Offensive die rasche Mobilisierung zunehmende Bedeutung bekam, er¬
achteten es der Generalstab und das gemeinsame Kriegsministerium für nötig,
dieses System der Pferdestellung zu ändern. Der Chef des Generalstabs wies in
seinem Vortrag vom 21. Dezember 1882 daraufhin, daß im Falle eines Krieges
mit Rußland Krakau, Jaroslau und Lemberg schon in den ersten Tagen von
einem direkten russischen Vorstoß gefährdet wären, was den Aufmarsch der
ganzen österreichisch-ungarischen Wehrmacht verhindern könnte. Einem russi¬
schen Einfall konnte nur vorgebeugt werden, wenn die österreichisch-ungari¬
sche Militärführung an den gefährdeten Punkten teils durch eine intensivere
Ausnutzung des Eisenbahntransportes, teils durch eine günstigere Pferdevertei¬
lung schon in den ersten Tagen der Mobilisierung operationsbereite Kräfte
konzentrierte.159 Die Behebung der Anomalien auf dem Gebiet der Pferdevertei¬
lung erschien sehr einfach: Man mußte von der in staatsrechtlichen Überlegun¬
gen wurzelnden Parität Abstand nehmen und die fehlenden Pferde, unabhängig

158 Die Daten stammen aus der Denkschrift des österreichischen Landesverteidungsministeriums ohne
      Titel und Datum, vermutlich im Februar 1883, KA., MKSM. 20-1/6-6 ex 1883.

159 Vgl. Anm. 144.
|| || Einleitung                                                            63

 von der die beiden Staaten trennenden Grenze, von dort beschaffen, wo dies für
 zweckmäßig erschien. Das Kriegsministerium führte deshalb Verhandlungen
 mit dem ungarischen Honvedministerium zur Änderung des Pferdestellungsge¬
 setzes vom Jahre 1873. Die Initiative wurde ungarischerseits günstig aufgenom¬
 men - wohl weil man in ihr eine Möglichkeit zur Steigerung des Pferdeexportes
 erblickte und es kam eine Vereinbarung hinsichtlich einer Neuformulierung
 der betreffenden Paragraphen zustande. Der ungarische Honvedminister verlas
 am 6. Februar 1883 im gemeinsamen Ministerrat den neuen Text des § 3 des
 Gesetzes, wonach, wenn irgendein Militärterritorialbezirk im Mobilisierungsfall
 die benötigte Anzahl von Pferden nicht bereitstellen konnte, der Fehlbestand
 aus einem benachbarten Militärterritorialbezirk geliefert werden sollte, unge¬
 achtet dessen, zu welchem Teil des Staatsgebietes dieser Militärbezirk gehörte.160
 Zur Änderung war aber auch die Zustimmung der österreichischen Regierung
 erforderlich, und diese willigte nicht ohne weiteres ein. Der österreichische
 Landesverteidigungsminister Welsersheimb erklärte nämlich in der Beratung
 am 4. März 1883 unter dem Vorsitz des Monarchen,161 daß die Position der
 österreichischen Regierung ungewiß sei und er befürchte, daß sich über die
 Modifizierung eventuell eine Parlamentsdebatte ergeben werde. Er versicherte
jedoch dem Monarchen, daß die österreichische Regierung geneigt sei, das
 Pferdestellungsgesetz so auszulegen, wie dies die geplante Modifizierung in
Aussicht nahm. Nachdem der gemeinsame Kriegsminister bezweifelt hatte, daß
die ungarische Regierung ohne Gesetzesänderung diesem Verfahren zustimmen
würde, schloß der Monarch die Beratung damit, daß von Fejerväry, dem neuen
Honvedminister, Informationen über den Standpunkt der ungarischen Regie¬
rung eingeholt werden sollen. Wenn die ungarische Regierung sich ablehnend
zeige, müßten neue Verhandlungen über die Modifizierung des Gesetzes begin¬
nen.

    Die ungarische Regierung zeigte sich tatsächlich nicht geneigt, deshalb wurde
die Angelegenheit des Pferdestellungsgesetzes am 25. November 1883 abermals
auf die Tagesordnung des gemeinsamen Ministerrates gesetzt. Der gemeinsame
Kriegsminister Bylandt-Rheidt berichtete ziemlich resigniert, die Verhandlun¬
gen über die Gesetzesänderung seien ergebnislos gewesen. Die ungarische Regie¬
rung stimmte der seitens des gemeinsamen Kriegsministers beantragten Modifi¬
zierung in dem Sinne zu, wie hierüber auch der ungarische Honvedminister
Räday sprach, die österreichische hingegen nicht. Die neuere Variante aber wies
die ungarische Regierung ab. Die Meinungsverschiedenheit gipfelte in der Ver¬
weigerung der ungarischen Regierung, daß in Ungarn die Organe des gemeinsa¬
men Kriegsministeriums die in den einzelnen Militärbezirken auszuhebende
Anzahl von Pferden bestimmten, die österreichische Regierung hingegen hielt

160 GMR. V. 6. 2. 1883, RMRZ. 312, KA„ MKSM. 20-1/6-5 von 1883.

Protokoll der unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 4. 3. 1883 stattgehabten

Beratung über die Verbesserung der Pferdestellung im Mobilisierungsfalle, KA MKSM 20-

1/6-6 ex 1883.                                                    ''
|| || 64 Einleitung

an diesem Verfahren fest.162 Vermutlich war dies nur ein Vorwand für die
österreichische Regierung, um die weiter oben erwähnten Vorbehalte innenpoli¬
tischen Charakters zu verschleiern. Das in dieser Sache weit mehr zuständige
gemeinsame Kriegsministerium erachtete die ungarische Variante für akzepta¬
bel, und Welsersheimb hielt es auch nicht für zweckdienlich, auf diese Beziehung
im gemeinsamen Ministerrat einzugehen. Kalman Tisza erlaubte sich die Be¬
merkung, wenn das gemeinsame Kriegsministerium die Anzahl der Pferde
bestimmen würde, wäre dies die Ausübung einer Art Exekutivgewalt, was mit
dem Staatsgrundgesetz (offenbar mit dem Gesetzartikel XII des Jahres 1867)
nicht vereinbart werden könnte. Das war eine ziemlich erzwungene Argumenta¬
tion, disponierte der gemeinsame Kriegsminister doch auch über die Wehr¬
pflichtigen aus Ungarn, womit er tatsächlich eine Exekutivgewalt ausübte. Hier
zählte aber nicht die Logik der Argumentation, sondern deren Gewicht. Die
ungarische staatsrechtliche Hartnäckigkeit und die österreichische Doppelzün¬
gigkeit hatten eine vollkommene Pattsituation herbeigeführt, und es bestand
keine Aussicht, sich vom toten Punkt wegzubewegen. Der Monarch schloß die
Beratung mit der vergeblichen Aufforderung, die Minister sollten in persönli¬
chen Besprechungen die Differenzen endlich beseitigen. Auch die weiteren
Verhandlungen zeitigten keinen Erfolg. Die Gesetze vom Jahre 1873, deren
Paragraphen die Mobilisierung erschwerten, blieben auch weiterhin in Kraft,
und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten wurden nur dadurch einigerma¬
ßen gemildert, daß die zum Ersatz dienenden Pferde auf dem möglichst kürze¬
sten Weg zu ihrer Einheit gelangen konnten.

                                                  Das Kriegsleistungsgesetz

   Im Kriegsfall nahm die Armee nicht nur einen Teil des Pferdebestandes der
Bevölkerung in Anspruch, sondern auch deren Wagen und Gespanne. Der
Grund war der gleiche wie bei der Pferdestellung: Der im Frieden vorhandene
militärische Bestand erwies sich im Mobilisierungsfall als unzureichend. Die
Gespanne der Bevölkerung, die zumeist vom Besitzer des Fuhrwerks, aber
jedenfalls von einem zivilen Kutscher gefahren wurden, waren unter Aufsicht
je eines zivilen Geleitmanns dem Truppentrain zugeteilt und wurden zum Trans¬
port der Lebensmittel, Munition und sonstiger Vorräte der Einheit eingesetzt.
Ein Teil der Fahrzeuge, die sog. Vorspannfuhren, wurden nur einen halben oder
ganzen Tag benutzt, ein anderer Teil, die Landesfuhren, wurden für unbestimm¬
te Zeit in Anspruch genommen und gehörten samt ihren Kutschern während
der Zeit der Inanspruchnahme zum Heeresverband. Für die Inanspruchnahme
der Personen und die Benutzung der Gespanne zahlte das Heer eine Entschädi¬
gung. Dieser ganze Mechanismus war jedoch, von der Pferdestellung abgesehen,

162 Über diese Beratungen informiert eine den Titel Pferdestellungsgesetz führende, ohne Verfasser
     und Datum, feststellbar Ende November 1883 verfertigte Denkschrift, KA., MKSM., Separat¬
     faszikeln, Fase. 69, Nr. 32.
|| || Einleitung  65

 nicht gesetzlich geregelt. Anläßlich der bosnischen Okkupation stellte die unga¬
 rische Regierung der Armee im Verordnungswege eine große Anzahl von Ge¬
 spannen zur Verfügung, diese Regelung war aber damals nur provisorisch
 wirksam. Das gemeinsame Kriegsministerium, das auch auf diesem Gebiet
 schon seit langem klare rechtliche Verhältnisse schaffen wollte, hatte damals
 schon einen fertigen Entwurf und begann aufgrund der Erfahrungen vom 1878
 eine intensive Tätigkeit: es erarbeitete den Gesetzesantrag über die Inanspruch¬
 nahme von Fuhren samt Durchführungsverordnung. Infolge der üblichen Ge¬
 mächlichkeit der Abstimmung mit den beiden Regierungen sowie allen interes¬
 sierten Ministerien befand sich aber das Gesetz vier Jahre nach der Okkupation
 immer noch im Stadium der Vorbereitung.163 Die Angelegenheit des Kriegslei¬
 stungsgesetzes erfuhr einen neuen Aufschwung, als sich auch der Generalstab
 zu interessieren begann, da er in den Aufmarschplan gegen Rußland auch eine
große Anzahl von Zivilfahrzeugen einkalkuliert hatte. Der Monarch bestätigte
am 13. Januar 1883 jene Vorlage des Generalstabschefs, welche die Inanspruch¬
nahme von 74 900 Zivilfahrzeugen vorsah, von denen Galizien 61 500 und
Ungarn 13 400 bereitzustellen hatten.164

    Ebenso dringend wie die Erledigung des Landsturm- und des Pferdestellungs¬
gesetzes schien auch die Verabschiedung des Kriegsleistungsgesetzes zu sein,
deshalb setzte der Monarch auch diese Frage auf die Tagesordnung des gemein¬
samen Ministerrates vom 4. Februar 1883.165 Der gemeinsame Kriegsminister
referierte, daß der Gesetzentwurf fertiggestellt und zur Weiterleitung an die
Regierungen den Landesverteidigungsministern übergeben worden sei. Die bei¬
den Minister bestätigten dies, doch Räday fügte hinzu, der ungarische Minister¬
rat habe die Angelegenheit noch nicht eingehend erörtert, und Welsersheimb
deutete an, es sei noch nicht entschieden, ob sich zuerst der Ministerrat oder der

gemeinsame Ministerrat mit dem Entwurf befassen müßte. Daraus hatte es den
Anschein, es gehe allein um Probleme der Vorgangsweise und der Geschäftsord¬
nung. Dem zweimaligen Diskussionsbeitrag Kalman Tiszas konnte man jedoch
entnehmen, daß die ungarische Regierung auch den sachlichen Teil der Angele¬
genheit erwog. Der ungarische Ministerpräsident nannte wohl ein derartiges
Gesetz zweifellos notwendig und versprach auch, daß der Gesetzentwurf erör¬
tert werde, wies aber zugleich auch daraufhin, daß man sich die Sache gründlich

überlegen müsse und auch die möglichen Parlamentsschwierigkeiten nicht außer
acht gelassen werden dürften. Für das Zustandekommen des Gesetzes war diese
Einschränkung kein besonders ermutigendes Vorzeichen. Daß die Anwesenden
dennoch nicht auf Tiszas Vorbehalte reagierten, kann dem Umstand zugeschrie¬
ben werden, daß der ungarische Ministerpräsident außerdem erklärte, wenn der
Krieg plötzlich ausbräche, könne alles, worüber man sich geeinigt hatte, im
Verordnungsweg in Kraft gesetzt werden. Eine Debatte entstand über die

'm Wagner' Geschichte des k. k. Kriegsministeriums II, 178.

     Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 29. 4. 1883 hinsichtlich des Aufmarschelaborates für
     den Kriegsfall gegen Rußland, KA., MKSM. 69-2/1-3 ex 1883
165 Vgl. Anm. 145.
|| || 66 Einleitung

Meinung des Vertreters des gemeinsamen Kriegsministeriums, daß die betref¬
fende Verordnung auch schon im Frieden erlassen werden könne. Der General¬
stabschef hielt eine Konskription der zum Kriegsdienst geeigneten Fuhrwerke
für nötig, Tisza hingegen befürchtete eine sich daraus ergebende Beunruhigung
und hielt eine Datenerfassung „unter der Hand" für zulässig. Der Herrscher
schloß diese Debatte damit, daß genauso wie die alljährliche Pferdezählung,
auch eine Fuhrwerkszählung niemanden beunruhigen dürfte, im übrigen wurde
in der ganzen Angelegenheit kein meritorischer Beschluß gefaßt. In dem gemein¬
samen Ministerrat vom 11. November 1883,166 an dem die Vetreter der ungari¬
schen Regierung nicht teilnahmen, wurde nur die Frage vorgebracht, ob die
Anzahl der in Anspruch zu nehmenden Fuhrwerke dem galizischen Statthalter
zwecks Veröffentlichung bekanntgegeben werden sollte oder nicht. Die militäri¬
schen Führer stimmten ausnahmslos für die Notwendigkeit der Bekanntgabe,
der gemeinsame Außenminister Kälnoky formulierte jedoch gewisse Vorbehalte
und beantragte, daß die betreffenden Daten, um Aufsehen zu vermeiden, auch
in Mähren und anderwärts veröffentlicht werden. Schließlich einigte man sich
auf die Veröffentlichung der galizischen Wagenzahl.

   Im gemeinsamen Ministerrat vom 25. November 1883167 stellte es sich dann
heraus, welches der Inhalt der früheren Überlegungen von Kalman Tisza war.
Der gemeinsame Kriegsminister Bylandt-Rheidt berichtete unter Hinweis auf
die letzte Kommissionsverhandlung, daß die ungarische Regierung nur ein
kurzes Gesetz wünschte und das Gewicht auf die Durchführungsbestimmungen
legen wollte. Gleichzeitig teilte er mit, daß die Kommission den ungarischen
Entwurf als Verhandlungsgrundlage akzeptierte und die Durchführungsbestim¬
mungen unter Berücksichtigung dessen umgearbeitet und an die beiden Regie¬
rungen weitergeleitet wurden. Die Antwort der ungarischen Regierung war
noch ausständig, die österreichische Regierung aber beanstandete das beantrag¬
te Ausmaß der Entschädigungssumme. Tisza entschuldigte sich, indem er auf
die außerordentliche Inanspruchnahme der ungarischen Regierung verwies,
aber der gemeinsame Ministerrat vermochte in Ermangelung der ungarischen
Antwort keinen Schritt vorwärtszukommen. Der lange Gedankenaustausch
darüber, daß das Gesetz wohl notwendig sei, weil ohne ein solches die Durch¬
führung der Vorbereitungen gesetzwidrig gewesen wäre, es aber in Friedenszei¬
ten schwer durchsetzbar sei, war praktisch völlig nutzlos. Im gemeinsamen
Ministerrat vom 20. November 1884 wiederholte sich in anderer Rollenvertei¬
lung das ein Jahr frühere Schauspiel.168 Bylandt-Rheidt teilte mit, daß der
ungarische Entwurf eingetroffen sei, gegen den er keinerlei meritorischen Ein¬
wand habe, die österreichische Regierung blieb aber die Antwort schuldig. Der
neuen Rollenverteilung entsprechend entschuldigte sich jetzt Welsersheimb mit
der Begründung, daß von den zuständigen Ministerien die Stellungnahme des
Finanzministeriums noch ausstehe. So sah sich der gemeinsame Ministerrat in

166 GMR. v. 11. 11. 1883, RMRZ. 316, KA„ MKSM. 20-1/13-2 de 1883.
167 GMR. v. 25. 11. 1883, RMRZ. 317, KA„ MKSM. 20-1/14-12 de 1883.
168 GMR. v. 20. 11. 1884, KA„ MKSM. 20-1/12-2 de 1884.
|| || Einleitung                                                                                       67

 dieser Angelegenheit nach wie vor zum Abwarten gezwungen. Die warnende
 Erklärung des Generalstabschefs, wonach im Mobilisierungsfall der Bedarf des
 Heeres auch ohne gesetzliche Bestimmung befriedigt werde, und die als Selten¬
 heit geltende Erklärung des ungarischen Ministerpräsidenten, daß ein Zustande¬
 kommen des Gesetzes im Interesse der sicheren und ungestörten Versorgung der
 Armee besonders erwünscht sei, sind aus einem anderen Aspekt beachtenswert.
 Die Schlußworte des Monarchen, daß die Verhandlungen so bald wie möglich
 zu beenden seien, muteten nach dem zweimaligen unfruchtbaren Gedankenaus¬
 tausch wie eine Bitte an.

    Die Meinungsverschiedenheit zwischen der österreichischen und der ungari¬
 schen Regierung, wegen der die Angelegenheit der Kriegsleistungen im gemein¬
 samen Ministerrat zweimal gescheitert war, trat in defEehandlung der für die
 Inanspruchnahme zu zahlenden Entschädigung zutage. Ob in den folgenden
 Jahren etwas zur Schlichtung dieser Meinungsverschiedenheit geschah, ist aus
 den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates, aber auch aus den Schriften
 des ungarischen Ministerrates nicht ersichtlich. Anzunehmen ist, daß beide
 Regierungen nach den einige Zeit erfolglosen Verhandlungen die Angelegenheit
 ad acta gelegt haben und sich die Armeeführung gewiß an jene Äußerung des

Generalstabschefs hielt, wonach im Mobilisierungsfall die Bedürfnisse der Ar¬
mee auch ohne Gesetz befriedigt würden. Die Angelegenheit wurde infolge der
um die Jahreswende 1886/87 entstandenen Kriegskrise wieder auf die Tagesord¬
nung gesetzt,169 wobei sich herausstellte, daß die Meinungsverschiedenheit zwi¬
schen den beiden Regierungen noch immer bestand: Die österreichische Regie- 
rung hielt die Kommission, die ihren Sitz im gemeinsamen Kriegsministerium

hatte, zur Beurteilung der Entschädigungsansprüche fürzüständig,"wahrend die --

Iungarische Regierung an der Zuständigkeit des Honvedministeriums festhielt.170

Argumente gab es zur Unterstützung beider Standpunkte reichlich. Österreichi-
scherseits wurde unter anderem damit argumentiert, daß die Befriedigung der

Entschädigungsansprüche zu Lasten des gemeinsamen Budgets erfolgt, ungari-
scherseits hingegen damit, daß sich das beantragte Verfahren schon einmal
bewährt hatte. Aber eigentlich stießen hier politische Ideen aufemander: die 1/
österreichischen Reichsremmiszenzen und die Besorgnis um die ungarische |[
Souveränität. Nur damit kann erklärt werden, daß beide Regierungen indieser '
rem formalen Frage so krampfhaft an ihrem Standpunkt festhielten und der
über em Jahr dauernde Meinungsaustausch, der aus den Protokollen des unga¬
rischen Ministerrates genau verfolgt werden kann, zu keinem Ergebnis führte.171
Inzwischen gelangte die Angelegenheit nochmals vor den gemeinsamen Miniser¬
rat (als die österreichische' Regierung beantragte, daß der Paragraph des Ver-

169 GMR. v. 5. 1. 1887, RMRZ. 335 GMR. V. 29. 1. 1887, RMRZ. 337 - GMR. v. 30. 1. 1887,
     RMRZ. 338.

170

     2/MT. Ung.MR. v.14.1.1887. 8. Der Gesetzantrag und die Verordnung bezüglich der Kriegslei¬
     stungen, OL., K. 27, Karton 41. - 16/MT. Ung.MR. v. 24. 5. 1887. 5. In Angelegenheit der
     Verordnung bezüglich der Einsetzung von Gespannen im Kriegsfall, OL K 27 Karton 42

171

     1/MT. Ung.MR. v. 2. 1. 1888 - 2/MT. Ung.MR. v. 12. 1. 1888 - 4/MT. Ung.MR. v 2 2 1888
     - 5/MT. Ung.MR. v. 22. 2. 1888, OL., K. 27, Kartone 42-43
|| || 68 Einleitung

Ordnungsentwurfes über die Entschädigung einfach weggelassen werden sollte,
was die ungarische Regierung natürlich nicht akzeptierte). Aber auch vor die¬
sem Forum geschah nichts weiter als die Darlegung und Begründung der
Standpunkte.172 Der gordische Knoten wurde schließlich so durchgehauen, daß
man sich über die Bildung von zwei Haupt- und zwei Unterausschüssen einigte.
Diese Lösung konnten beide Regierungen als Verwirklichung ihrer eigenen
Vorstellungen auffassen. Die ungarische Regierung beauftragte den Honvedmi-
nister am 17. März 1888, den Verordnungsentwurf endgültig zu formulieren,
damit dieser nötigenfalls aufgrund der von der Gesetzgebung erhaltenen Voll¬
macht erlassen werden könne.173

                                  Das Militärwitwen- und Waisenversorgungsgesetz

   Gleichzeitig mit den Gesetzentwürfen zur Steigerung der Truppenstärke und
Mobilität des Heeres wurde auch der Entwurf des Militärwitwen- und Waisen¬
versorgungsgesetzes dem gemeinsamen Ministerrat vorgelegt, den dieser bei drei
Gelegenheiten behandelte.174 Der zeitliche Ablauf war kein Zufall: Die vom
Gesetz erwartete Stärkung der Kampfmoral harmonierte sehr gut mit den
Maßnahmen zur Steigerung der Kampfkraft des Heeres. Der Gesetzentwurf
stieß jedoch vorerst auf gewisse grundsätzliche Vorbehalte: Beide Regierungen
wünschten, daß sich das Gesetz nur auf die Hinterbliebenen der im Krieg
gefallenen Soldaten erstreckte, und als sie davon Abstand nahmen, formulierte
die österreichische Regierung Einsprüche finanziellen Charakters. Der österrei¬
chische Finanzminister argumentierte damit, der aus den Einzahlungen der vom
Wehrdienst befreiten Personen gebildete sog. Militärtaxfond reiche zur Durch¬
führung des Gesetzes nicht aus, und beantragte deshalb, daß die zum Verband
des Heeres gehörenden Beamten in dieser Beziehung ebenso behandelt würden
wie die Staatsbeamten. Daraus ergaben sich wieder lang hinziehende Verhand¬
lungsserien und Textabstimmungen, so daß das Gesetz erst im April 1887 in
Kraft trat175 und sich dem Standpunkt der österreichischen Regierung entspre¬
chend auf die Hinterbliebenen der Soldaten (der Offiziere und Mannschaft des
Heeres, der Kriegsmarine, des Landsturms und der beiden Landwehren) be¬
schränkte.

 172 GMR. v. 5.1. 1888, RMRZ. 348.
 173 7!MT. Ung.MR. v. 17. 3. 1888. 1. In Angelegenheit der Verordnung über die gelegentlich einer

      Mobilisierung erforderlichen Gespanne usw., OL., K. 27, Karton 43.
 174 GMR. v. 6. 2. 1883, RMRZ. 312, KA., MKSM. 20-1/6-5 von 1883. - GMR. v. 25. 11. 1883,

      RMRZ. 317-GMR. v. 20. 11. 1884.
 175 Gesetz v. 27. 4. 1887, RGBl. Nr. 41 und GA. XX/1887.
|| || Einleitung  69

                                               Die militärärztliche Akademie

   Die Wiedererrichtung der im Jahr 1786 gegründeten und 1874 aufgelösten
militärärztlichen Akademie, des Josephinums, deren finanzielle Deckung der
gemeinsame Kriegsminister in das Militärbudget vom Jahr 1885 eingebaut
hatte, erforderte keine gesetzliche Regelung. Aber auch dieser Antrag stand mit
der Konzeption einer zahlenmäßigen Stärkung der Armee im Zusammenhang.
Die militärische Führung schrieb nämlich die allzugroße Anzahl der aus gesund¬
heitlichen Gründen befreiten Stellungspflichtigen nicht zuletzt dem Umstand zu,
daß die untersuchenden Militärärzte sich der Sache der Armee nicht mit der
erforderlichen Hingabe widmeten. Der gemeinsame Kriegsminister Bylandt-
Rheidt argumentierte im gemeinsamen Ministerrat unter anderem damit für den
Bilanzposten, daß durch die an der militärärztlichen Akademie ausgebildeten
Ärzte die bei den Assentierungen in Erscheinung tretenden Mißstände beseitigt
werden könnten.176 Der Antrag stieß aber - wie zu erwarten war - auf den
Widerstand der ungarischen Regierung. Daher zeitigte die neuerliche Verhand¬
lung am 26. September 1884 unter dem Vorsitz des Monarchen nur den „Er¬
folg", daß die endgültige Entscheidung von der Stellungnahme des ungarischen
Kultusministers abhängig gemacht wurde.177 Dieser, Agoston Trefort, meinte
in seiner Vorlage im ungarischen Ministerrat vom 11. April 1885, daß die .
Wiedererrichtung des Josephinums gegenjdie kulturelle Selbständigkeit Un-
garns, ja sogar gegen dessen nationale und politische Interessen verstoßen j
würde, uncTbeantragte elne entschiedene Ablehnung der Vorlage.178 Dadurch
war die Angelegenheit völlig chancenlos geworden und kam'nicht nochmals vor
den gemeinsamen Ministerrat. Der Herrscher aber, nahm es Trefort auch nach
Jahren noch übel, daß er die Wiedererrichtung des Josephinums verhindert
hatte.179

                          Die militärischen Maßnahmen um die Jahreswende 1886/87

   Bei Skizzierung des allgemeinen historischen Hintergrundes war bereits die
Rede davon, daß vom Herbst 1885 bis zum Frühjahr 1888 die Haltung der
außenpolitischen und militärischen Führung der Monarchie von der durch die
Vereinigung von Bulgarien und Ostrumelien hervorgerufenen sog. bulgarischen
Krise und die sich daraus ergebende Möglichkeit eines Krieges gegen Rußland
beherrscht war. Nun sind jene ebenfalls erwähnten Maßnahmen, welche die
militärische Führung in dieser Periode getroffen hat oder zu treffen beabsichigte,

176 GMR. v. 24. 9. 1884, RMRZ. 318.
177 GMR. v. 28. 9. 1884, RMRZ. 320.
178 8/MT. Ung.MR. v. 11.4.1885. 1. Über die Abhilfe der sich in der militärärztlichen Körperschaft

     erweisenden Mängel und die Errichtung einer dritten medizinischen Universität. OL., K. 27,
     Karton 39.
179 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in der kgl. Burg zu Ofen am
     17. 6. 1888 stattgehabten Konferenz, KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888.
|| || 70 Einleitung

eingehender zu besprechen und die damit zusammenhängende Tätigkeit des
gemeinsamen Ministerrates darzustellen.

   Der Generalstabschef analysierte am 1. Dezember 1886 in einem umfangrei¬
chen Memorandum die militärisch-politische Lage.180 Er ging davon aus, daß
infolge der Ereignisse auf dem Balkan ein Krieg mit Rußland nicht ausgeschlos¬
sen sei, die Monarchie aber wegen der neuen strategischen Konzeptionen des
deutschen Generalstabs181 mit einer wesentlich geringeren Mithilfe Deutsch¬
lands rechnen müsse, als bisher angenommen wurde. Jener Plan, nach dem der
deutsche Generalstab am zwanzigsten Tag nach der Mobilisierung 35 und der
österreichisch-ungarische am fünfundzwanzigsten Tag 34 Infanteriedivisionen
im Osten konzentrierten und - damit den Russen gegenüber ein Übergewicht
im Verhältnis von 69 : 62 bildend - eine rasche Entscheidung erzwängen, habe
seine Aktualität verloren. In Erwägung der sich durch die neue Situation erge¬
benden Möglichkeiten rechnete der Generalstabschef mit drei Eventualitäten:
mit einem zugunsten Rußlands ausfallenden Kräfteverhältnis, wenn die deut¬
sche Wehrmacht die Hälfte der russischen Wehrmacht bindet; mit einer österrei¬
chisch-ungarischen Niederlage, wenn die Monarchie allein kämpfen muß; und
schließlich mit einer totalen Katastrophe, wenn die Monarchie infolge einer
italienischen Intervention ihre Kräfte an zwei Fronten einsetzen muß. Die
skeptische Situationsanalyse schloß mit einer einzigen praktischen Folgerung:
zu klären, mit welchem Ausmaß deutscher Mitwirkung die österreichisch-unga¬
rische Militärführung rechnen könnte, da die Vorbereitungen dementsprechend
durchgeführt werden müßten. Aus der Natur der Sache ergab sich aber, daß
auch dies eher in die Kompetenz der Diplomatie als der militärischen Führung
gehörte.

   Der stets tatkräftige und energische Generalstabschef erholte sich jedoch
nach einigen Tagen von seiner Lethargie und beschrieb in einer ganzen Reihe
von Memoranden die Aufgaben der militärischen Führung, unter welchen
Umständen die Monarchie sogar allein einen Krieg durchkämpfen könnte. In
der ersten Denkschrift „Vorbereitungsmaßnahmen für einen Krieg mit Ru߬
land"182 reihte er die Aufgaben - je nach der Gewißheit des Krieges - in drei
Gruppen ein. In der ersten Gruppe befaßte er sich mit den sofort zu treffenden
Maßnahmen und bezog sich in zwölf Punkten auf alles, vom Erreichen der
Kampfbereitschaft der Einheiten über die Rüstung bis zur Vorbereitung des
voraussichtlichen Operationsgebietes. Er sah unter anderem die Rückberufung
der Beurlaubten, die vorfristige Einberufung der Rekruten, den Ankauf von
Pferden, die Sicherung des Verteidigungszustandes der Festungen, die Steige¬
rung der Durchlässigkeit von Eisenbahnstrecken, die Ergänzung des Waffen-
und Munitionsvorrates, die Aufstockung der Proviantvorräte und die Organi-

 180 Über die militärisch-politische Lage v. 1.12. 1886, Beck FML., KA., MKSM., Separatfaszikeln,

      Fase. 69, Nr. 29.
 181 Canis, Bismarck und Waldersee 180-192.
 182 Vorbereitungsmaßnahmen für einen Krieg mit Rußland v. 12. 1. 1887, KA., MKSM., Separat¬

      faszikeln, Fase. 69, Nr. 11.
|| || Einleitung  71

sierung des Sanitätsdienstes vor. In die zweite Gruppe reihte er jene Maßnah¬
men ein, die er beim Eintreten der für das Frühjahr zu erwartenden bedrohli¬
chen Lage für nötig hielt. Hier war schon von der Einberufung eines Teiles der
Artillerie- und Kavalleriereserve sowie der Reservisten der galizischen Einheiten
und von außerordentlich großen Pferdekäufen, ferner von der Proviantbevorra¬
tung für die gesamte Armee die Rede. In der dritten Gruppe wurden schließlich
sämtliche Maßnahmen angeführt, die im Falle der Gewißheit eines Krieges
aktuell wurden, falls die Umstände eine Anordnung der allgemeinen Mobilisie¬
rung nicht ermöglichten: bedeutende Einberufungen und Truppenbewegungen
- Schaffung des Kriegsstandes der Infanterie, namentlich der galizischen Einhei¬
ten, Durchführung aller Einberufungen in den gefährdeten Grenzgebieten,
Verlegung einer großen Anzahl von Kavallerie und Festungsartillerie nach
Galizien - sowie die Vorbereitung des Übergangs zur Kriegsfahrordnung der
Eisenbahnen. Wie sich der Generalstabschef den zu erwartenden Krieg vorstell¬
te, kann daran ermessen werden, daß er die feldmäßige Befestigung von Wien,
Budapest und Komorn ebenfalls vorsah. Außer den Maßnahmen zur Vorberei¬
tung der Armee plante der Generalstabschef auch die Schaffung des Land¬
sturms, dem er in Anbetracht der Wichtigkeit der Sache ein eigenes Memoran¬
dum widmete.183 Es war nämlich schon längst seine Überzeugung, daß die aus
ausgedienten Soldaten zusammengestellten Landsturmeinheiten die Armee in
Frontnähe nutzbringend entlasten konnten und ermöglichten, daß sich die
Armee mit voller Kraft auf den entscheidenden Punkt konzentrieren konnte.184
Da man jetzt mit der Wahrscheinlichkeit, ja eventuell mit der Gewißheit des
Krieges rechnen mußte, sah er die Aufstellung einer großen Zahl von Land¬
sturmkompanien vor. In Österreich rechnete er mit 67, in Ungarn mit 60
Infanteriekompanien (wovon 48 Galizien und 28 Siebenbürgen bereitstellen
mußten). Darüber hinaus plante er noch die Aufstellung von 39 bzw. 46 Infante¬
rie-Ersatzbataillonsrahmen und von Kavallerieschwadronen. Im Memorandum
führte er sämtliche Maßnahmen eingehend an, die zur Versorgung dieser Ein¬
heiten mit Waffen und Munition erforderlich waren, ferner die Art der Einberu¬
fungen und der Einrückung. Schließlich stellte er eine Liste mit sämtlichen
Maßnahmen zur Einführung der Kriegsfahrordnung der Eisenbahn bzw. zum

Aufmarsch der Armee mit der Eisenbahn zusammen.185
   Die Memoranden des Generalstabschefs wurden den militärischen Konferen¬

zen unter Vorsitz des Monarchen zur Erörterung und Genehmigung vorgelegt.
In der Beratung vom 17. Dezember 1886, an der der gemeinsame Kriegsmini¬
ster, der Generalstabschef, die beiden Landesverteidigungsminister und der
Vorstand der Militärkanzlei teilnahmen, wurde die Vorlage über den Land-

183 Vorsorgen hinsichtlich des Landsturmes als Vorbereitung für den Krieg mit Rußland v. 11. 12.
     1886, Beck FML., KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 11 und MKSM. 20-1/11-2
     de 1886.

184 Vgl. Anm. 151.
185 Verzeichnis über die zur Durchführung der Kriegsfahrordnung und des strategischen Aufmar¬

     sches im Kriegsfälle „R" auf nachfolgenden Eisenbahnen notwendigen Herstellungen, KA.,
     MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 11.
|| || 72 Einleitung

sturm erörtert.186 Den meritorischen Teil der Angelegenheit betreffende Einwän¬
de wurden nicht erhoben, die Bemerkungen bezogen sich nur auf die Modalitä¬
ten der Durchführung. Im Zusammenhang mit der Aufstellung der Einheiten
beanstandete Welsersheimb die gleichzeitige Einrückung der Reserve und des
Landsturms, Fejerväry hingegen war über die siebenbürgischen Bataillone ru¬
mänischer Nationalität besorgt, und beide verwiesen auf Schwierigkeiten bei der
Aufstellung von Kavallerieschwadronen. Der Monarch aber entschied im Sinne
des Memorandums des Generalstabschefs. Auf Ansuchen des ungarischen Hon-
vedministers stellte er nur in Aussicht, daß einen Teil der Aufstellungskosten der
Kavallerie das gemeinsame Kriegsministerium übernehmen werde. Als die Ab¬
wicklung der Einberufungen erörtert wurde, wiesen beide Landesverteidigungs¬
minister abermals darauf hin, daß die gleichzeitige Mobilisierung der Armee,
der beiden Landwehren und des Landsturms organisatorisch nicht zu bewerk¬
stelligen wäre. Der Monarch ließ diesen Vorbehalt gelten und entschied sich für
ein weiteres Studium der Einberufungszeitpunkte. Nach Erörterung sonstiger
Detailfragen wurde die Konferenz mit dem Beschluß geschlossen, die Angele¬
genheit nach Erarbeitung des Budgets den Regierungen vorzulegen, damit diese
für eine Deckung der Kosten sorgen konnten. Vier Tage später, am 21. Dezem¬
ber, trat die militärische Konferenz abermals zusammen - diesmal ergänzt
durch den Generalinspektor der Armee, aber ohne die beiden Landesverteidi¬
gungsminister -, um über die Vorbereitungsmaßnahmen für einen Krieg gegen
Rußland zu beraten.187 Inzwischen hatte das gemeinsame Kriegsministerium
den Finanzaufwand der Maßnahmen in den ersten beiden Gruppen errechnet,
so daß die Konferenz auch die finanziellen Bezüge berücksichtigen konnte. In
der Beratung erklärte der gemeinsame Kriegsminister sein volles Einverständnis
mit den Maßnahmen in den beiden ersten Gruppen und verwies darauf, daß die
mit großem Kostenaufwand verbundenen Vorratsbeschaffungen einen bleiben¬
den Wert repräsentierten, während die gleichfalls großen Summen für die
Befestigungen im Falle der Friedenserhaltung verloren gehen würden. Mit dem
Kostenaufwand der zur dritten Gruppe gehörenden Maßnahmen hatte er sich
nicht beschäftigt, da diese schon zur Mobilisierung zu zählen waren. Der
Monarch, der die Maßnahmen in den beiden ersten Gruppen für wichtig hielt,
erörterte diese Punkt für Punkt und erklärte sich mit ihnen - von einigen
kleineren Änderungen abgesehen - einverstanden. Die wesentlichsten Modifi¬
zierungen waren, daß er die für den Eisenbahnbau vorgesehenen 3,7 Millionen
Gulden aus dem Kostenvoranschlag des gemeinsamen Kriegsministeriums
strich und auf dessen Antrag 5,2 Millionen für Uniformkäufe einschaltete. Im
Zusammenhang mit den Maßnahmen in der zweiten und dritten Gruppe gab

186 Protokoll der am 17. 12. 1886 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät stattgehabten
     kommissionellen Beratung über jene Maßnahmen, welche behufs Formation von Landsturmab¬
     teilungen im Falle eines im Frühjahr 1887 eintretenden Krieges in nächster Zeit zu treffen wären,
     KA., MKSM. 20-1/11-2 de 1886.

187 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 21. 12. 1886 stattgehabte
     Konferenz, betreffend „Vorbereitungsmaßnahmen für den Krieg mit Rußland", KA., MKSM.
     20-1/12-2 de 1886.
|| || Einleitung  73

der Herrscher seiner Besorgnis Ausdruck, sie hätten provokativen Charakter
und könnten Rußland zu Gegenmaßnahmen bewegen. Der Generalstabschef
betonte aber, daß sie im Falle des Kriegsausbruchs in den Rußland benachbar¬
ten Gebieten nicht mehr getroffen werden könnten. Jedenfalls wurden auch sie
durchgesprochen, und der Monarch strich jene besonders alarmierenden Cha¬
rakters, wie die TruppenVerlegungen nach Galizien und die dort vorzunehmen¬
den Einberufungen. Die Konferenz wurde mit der Vereinbarung beendet, der
Monarch werde zur Besprechung der finanziellen Deckung der Maßnahmen in
der nächsten Woche einen Ministerrat einberufen, in dem die Kostenauswirkun¬
gen der Maßnahmen der ersten Gruppe den Ministern zu übergeben waren. Die
Maßnahmen der zweiten und dritten Gruppe erforderten noch eine Revision
und sollten den Gegenstand weiterer Besprechungen bilden; die Minister sollten
über sie nicht informiert werden.

   Der vom Monarchen in Aussicht gestellte gemeinsame Ministerrat trat erst
nach gut zwei Wochen, am 5. Januar 1887, zusammen.188 Die an der Beratung
teilnehmenden Regierungschefs und Minister befaßten sich aber nicht erst dort
mit dem Finanzbedarf der Militärführung. Aus der Eröffnungsrede des gemein¬
samen Außenministers ging hervor, daß in den Besprechungen der vorhergehen¬
den Tage mit der Möglichkeit eines Kriegsausbruchs im Frühjahr oder Sommer
gerechnet worden sei. Die Regierungen hatten sich daher damit zu befassen, wie
die Mittel zur Kriegsführung aufgebracht werden könnten, und der gleichen
Aufgabe diente auch die jetzige Konferenz. Diese Aufgabenstellung erweckte
bei den Anwesenden kein Mißfallen, vermutlich deshalb, weil die Regierungen
in den vorangehenden Besprechungen sowohl der einen Krieg prognostizieren¬
den Situationsanalyse als auch den zu treffenden militärischen Maßnahmen ihre
Zustimmung gegeben hatten. Es verrät jedenfalls schwere Mängel der Verfas¬
sungsmäßigkeit, daß die außenpolitischen Auswirkungen nicht die beiden Re¬
gierungschefs und nicht einmal der gemeinsame Außenminister, sondern der
Monarch erwogen hatte und daß die Regierungen ihre Zustimmung - falls es
überhaupt zu einer solchen kam - nicht im gemeinsamen Ministerrat, sondern
auf informativem Weg zum Ausdruck gebracht hatten. Aber wie dem auch war,
am 5. Januar begann man über die Kosten und deren Deckung zu beraten.
Bylandt-Rheidt gab die Ansprüche des Heeres bekannt, die sich auf sofortige
23 Millionen und auf weitere 26 Millionen beliefen, die beiden Landesverteidi¬
gungsminister gaben die Kosten der Landwehren und des Landsturms in Öster¬
reich mit höchstens 13,9, mindestens aber 11,8 und in Ungarn mit 8,6 Millionen
Gulden an. Die Art und Weise der Kostendeckung war aber keine so geringe

Aufgabe wie deren Zusammenstellung im gemeinsamen Kriegsministerium, und
der endgültige Beschluß kam erst nach drei weiteren Beratungen189 Ende Januar
zustande.

   Der gemeinsame Ministerrat behandelte die beiden Kostenvoranschläge der

188 GMR. V. 5. 1. 1887, RMRZ. 335.
189 GMR. v. 7. I. 1887, RMRZ. 336 - GMR. v. 30. 1. 1887, RMRZ. 337 - GMR. v. 30. 1. 1887,

     RMRZ. 338.
|| || 74 Einleitung

Militärführung, den der Armee und jenen des Landsturms, bei jeder Gelegenheit
gemeinsam. Im Interesse der Übersichtlichkeit ist es jedoch zweckmäßiger, diese
gesondert darzustellen. Über die Deckung der für das Heer aufzuwendenden 23
Millionen - von denen der gemeinsame Kriegsminister für 16,2 Millionen
sofortige Vollmacht verlangte und erhielt - trat schon in der Beratung vom 5.
Januar der gegensätzliche Standpunkt der österreichischen und der ungarischen
Regierung zutage. Der ungarische Finanzminister beantragte, jenen Fonds, der
aus den Zinsen der in den gemeinsamen Haushalt eingezahlten Beträge gebildet
wurde, die sog. gemeinsamen Aktiven, zur Deckung der Ausgaben zu verwen¬
den, der österreichische Finanzminister empfahl demgegenüber eine Bevor¬
schussung aus dem österreichischen bzw. dem ungarischen Haushalt. Den von
ungarischer Seite gestellten Alternativantrag, in diesem Fall die Delegationen
zu einer außerordentlichen Sitzung einzuberufen, hielt der gemeinsame Außen¬
minister aus außenpolitischen Überlegungen für unannehmbar. Die lange De¬
batte über die Verwendung der gemeinsamen Aktiven, in der der gemeinsame
Finanzminister Källay auch den Präzedenzfall aus dem Jahr 1870 erwähnte,
führte zu keinem Ergebnis. In der Sitzung am 7. Januar unter Vorsitz des
Monarchen geschah nichts anderes als die neuerliche Darlegung und Begrün¬
dung der Standpunkte, und der Herrscher schloß die Debatte schon damals
damit, wenn zwischen den beiden Regierungen keine Vereinbarung zustande
komme, seien die Delegationen einzuberufen. Auch der ungarische Ministerrat
stimmte am 14. Januar für die Einberufung der Delegationen, und im gemeinsa¬
men Ministerrat vom 29. Januar, wo dieses Problem nur kurz berührt wurde,
kam man zur gleichen Vereinbarung. In der Beratung vom 30. Januar unter
Vorsitz des Monarchen erfolgte keine Änderung im Standpunkt der beiden
Regierungen, sondern im Kostenvoranschlag des gemeinsamen Kriegsministers.
Bylandt-Rheidt erklärte, daß zur Deckung der späteren Bedürfnisse die veran¬
schlagten 26 Millionen nicht ausreichen würden und er nach Durchführung der
Berechnungen wahrscheinlich mit einem höheren Finanzbedarf auftreten werde.
Über das Vorgehen des gemeinsamen Kriegsministers kann man sich kein klares
Bild machen. In der militärischen Beratung am 21. Dezember unter Vorsitz des
Herrschers war ursprünglich von 52 Millionen die Rede (in der Verteilung 32,3
 + 19,7), und schließlich ging dieser Betrag als Antrag vor die Delegationen,
vermutlich deshalb, weil die militärische Führung anfangs nicht ihre sämtlichen
 Karten aufgedeckt hatte. Doch schließlich wurde entschieden, daß die finanziel¬
 len Ansprüche einer außerordentlichen Session der Delegationen vorgelegt
 werden müssen. Der ungarische Ministerpräsident beantragte inzwischen im
 Einvernehmen mit dem österreichischen Finanzminister, daß sich die Vollmacht
 der Delegation nur auf die Sofortansprüche bzw. deren Deckung beziehen solle
 und der Kriegsminister den weiteren veranschlagten Betrag (hier handelte sich
 noch um die Aufteilung 23 + 26 Millionen) nur im Falle einer Verschlechterung
 der außenpolitischen Lage und mit Zustimmung der Regierungen in Anspruch
 nehmen dürfe. Der Monarch und der gemeinsame Kriegsminister erhoben - aus
 Unachtsamkeit oder aus Berechnung - keinen Einspruch gegen diesen Antrag
|| || Einleitung  75

und konnten nicht ahnen, daß sie damit glühende Kohlen auf ihr Haupt
sammelten.

   Der Finanzbedarf für den Landsturm und die Ergänzung von Landwehr und

Honved, welchen die Landesverteidigungsminister in der Beratung vom 5.
Januar vorlegten, bezog sich im Gegensatz zum ursprünglichen Entwurf des
Generalstabschefs auf 104 österreichische und 106 ungarische Infanteriebatail¬
lone sowie 50 ungarische Kavallerieschwadronen. Die Konferenz einigte sich
rasch darüber, daß die Kostenvorlage bei den gesetzgebenden Körperschaften
gleichzeitig und mit gleicher Begründung erfolgen solle und die der Begründung
des Antrags dienenden Gesichtspunkte der gemeinsame Außenminister angeben
müsse. Bei der Besprechung der Ausrüstung der Landwehr bzw. der Mittel für
den Landsturm traten aber sofort wieder die Gegensätze zwischen den beiden
Regierungen zutage. Tisza beanstandete, daß der österreichische Landesvertei¬
digungsminister zur Ausrüstung der Landwehr die Gewehre des gemeinsamen
Heeres in Anspruch nehmen wollte, und erreichte auch, daß dies nur mit
Kostenvergütung erfolgen könne. Zugleich verlangte Fejerväry - was mit dem
Standpunkt des ungarischen Ministerpräsidenten nur schwer vereinbar war -,

daß nachdem Ungarn mehr Landsturmeinheiten bereitstellen mußte als Öster¬
reich, die Mittel für die aufzustellende Kavallerie zum Teil das gemeinsame
Kriegsministerium tragen solle. Die Antwort Österreichs darauf lautete ganz
dezent, eine derartige Übernahme der Kosten habe keine gesetzliche Grundlage.
Der ungarische Finanzminister Szapäry stellte die Frage, ob die Kosten des
Landsturms nicht ebenso verteilt werden könnten wie die des Heeres, daß
nämlich vorerst nur deren allernotwendigster Teil in Anspruch genommen
werde. Aber diese Variante lehnte nicht nur Welsersheimb, sondern auch Fejer¬
väry ab. In der Konferenz vom 7. Januar erkannte der Monarch den Stand¬
punkt der ungarischen Regierung im Zusammenhang mit den Kosten der
Kavallerie für berechtigt an, doch wegen der Gesetzlichkeitsbedenken der öster¬
reichischen Regierung kam es zu keinem Beschluß. Auch wurde der Zeitpunkt
der Vorlage des Gesetzesantrags schon deshalb nicht festgelegt, weil beide
Finanzminister weitere Erwägungen für nötig hielten. Der ungarische Minister¬
rat vom 14. Januar bekräftigte, daß die fünfzig Kavallerieschwadronen zu
Lasten des Haushaltes des gemeinsamen Kriegsministers gehen sollten, im
übrigen stimmte er den in Aussicht gestellten Finanzmitteln zu. Nach alldem
überraschte es einigermaßen, daß im gemeinsamen Ministerrat vom 29. Januar
Tisza die Bitte vorbrachte, daß die ungarische Regierung vorerst nur weniger
als die Hälfte des ursprünglich vorgesehenen Betrages, also 2,5 Millionen für
die Infanterie-Landsturmbataillone aufbringen müsse. Aufgrund welcher inter¬
nen Vereinbarung er diesen Antrag stellte, ist nicht bekannt, jedenfalls harmo¬
nierte er mit der früheren Idee Szapärys. Der ungarische Antrag gab der Debatte
eine neue Richtung, und der gemeinsame Kriegsminister mußte lange für den
ursprünglichen Vorschlag argumentieren, wobei er auch die Unterstützung des
gemeinsamen Außenministers und des österreichischen Ministerpräsidenten
gewann. Tisza aber ließ sich nicht überzeugen, er blieb dabei, daß er seinen
Antrag auch in der unter dem Vorsitz des Herrschers abzuhaltenden Beratung
|| || 76 Einleitung

vorlegen werde. In der ursprünglichen Debatte konnte in der Angelegenheit der
Kavalleriekosten nur erreicht werden, daß der gemeinsame Kriegsminister den
Vorschlag Fejervärys unter der Bedingung annahm, daß ungarischerseits 14
Infanteriebataillone weniger, österreichischerseits ebenso viele mehr aufgestellt
werden und Ungarn in diesem Fall die fünfzig Kavallerieschwadronen ausrüste.
Die Vertreter der österreichischen Regierung äußerten sich jedoch nicht. In der
Beratung am 30. Januar unter Vorsitz des Monarchen wurde dieses Problem
durch einen Kompromiß gelöst: Auf Antrag des gemeinsamen Kriegsministers
mußte gemäß der Entscheidung des Herrschers Ungarn neun Infanteriebataillo¬
ne und zwanzig Kavallerieschwadronen weniger aufstellen, womit sich die auf
die beiden Staaten entfallenden finanziellen Lasten ausglichen. Tiszas Antrag
auf Kostensenkung hatte keinerlei Chance: Der Monarch begründete ausführ¬
lich seinen Standpunkt und entschied in dem Sinne, daß der gesamte Kostenvor¬
anschlag den gesetzgebenden Körperschaften am 10. Februar vorgelegt werde,
gewährte aber auf Ansuchen Tiszas noch eine Fristenverlängerung von ein bis
zwei Tagen. Dem Wunsche des ungarischen Ministerrates vom 7. Februar
entsprechend, erklärte er sich auch damit einverstanden, daß der Regierungsan¬
trag nicht vor dem 15. Februar eingereicht werden mußte.190 Aber das änderte
nichts mehr an der Sache selbst. Wesentlich war, daß der vorgelegte Antrag
sowohl vom ungarischen Abgeordnetenhaus als auch vom österreichischen
Reichsrat am 18. Februar verabschiedet wurde. Der Monarch äußerte sich
gegenüber dem Wiener deutschen Botschafter am 24. Februar befriedigt über
das ungarische Abgeordnetenhaus, das die Regierungsvorlage - wie er sagte -
in patriotischer Weise, einstimmig und ohne störende Bemerkungen verabschie¬
det habe, und gab gleichzeitig seiner Hoffnung Ausdruck, daß sich im Zusam¬
menhang mit den außerordentlichen Ansprüchen des Ressorts für Kriegswesen
auch die Delegationen ähnlich verhalten würden.191 Er sollte sich in dieser
Hoffnung auch nicht täuschen: Die Delegationen stellten am 7. März den
angeforderten Betrag dem gemeinsamen Kriegsminister zur Verfügung. Die
militärische Führung konnte nunmehr die zur sofortigen Verwendung vorgese¬
hene Summe von 24 Millionen völlig legal ausgeben und auch 6 Millionen von
den „für einen unvermeidlich dringenden Bedarfsfall" vorgesehenen 28 Millio¬
nen in Anspruch nehmen. Mit welchem Spießrutenlaufen letzteres verbunden
war, wurde bei Erörterung der außenpolitischen Tätigkeit des gemeinsamen
Ministerrates bereits besprochen.

 190 4jMT. Ung.MR. v. 7. 2. 1887. 2. In Angelegenheit der Frage des der Kriegsausrüstung dienen¬
      den Kredites, OL., K. 27, Karton 42.

 191 Reuß an Bismarck v. 24. 2. 1887, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Bonn. Österreich
      70. Bd. 23.
|| || Einleitung  77

                                   Die Mobilisierungsvorbereitungen der Jahre 1887-1888

   Die um die Jahreswende 1887/88 entstandene kriegerische Spannung und das
damit verbundene Ringen der österreichisch-ungarischen außenpolitischen und
militärischen Amtsträger um die Führungsrolle in der Politik wurden weiter
oben schon ausführlich behandelt. Die mit all dem zusammenhängenden Ma߬
nahmen sollen nun - in die Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates eingebettet
- eingehender betrachtet werden.

   Der Ausgangspunkt war - wie ein Jahr früher - wieder ein Memorandum des
Generalstabschefs. Das am 3. Dezember 1887 verfaßte Memorandum „Unsere
militärische Lage in Galizien"192 zeichnete ein sehr düsteres Bild. Die auf russi¬
scher Seite fortlaufend getroffenen Maßnahmen, besonders die Verlegung einer
Kavalleriedivision in das Grenzgebiet, hätten das Verhältnis der einander ge¬
genüberstehenden Kräfte völlig verändert und ein derartiges russisches Überge¬
wicht zur Folge gehabt, das im Mobilisierungsfall den Aufmarsch der österrei¬
chisch-ungarischen Wehrmacht verhindern, ja sogar völlig lahmlegen könnte.
Dieser unhaltbare Zustand sei nur dadurch zu ändern, daß auch die Monarchie
die Anzahl ihrer Einheiten im Grenzgebiet erhöht und dadurch das frühere
Kräftegleichgewicht annähernd wiederherstellt. Dementsprechend beantragte
der Generalstabschef die Standerhöhung der in Galizien stationierten Einheiten
sowie die Verlegung von einer Infanteriedivision, vier Kavallerieregimentern
und Artillerie- und technischen Einheiten nach Galizien. Er war überzeugt, daß
die russischen Vorbereitungen kriegerische Absichten verrieten, deshalb be-
zeichnete er die seinerseits beantragten Maßnahmen als defensive Vorkehrun¬
gen. Es ergibt sich aber aus der Natur der Sache, daß diese auch einem von Ös¬
terreich-Ungarn begonnenen Krieg dienen konnten, welcher der österreichisch¬
ungarischen Militärführung in Kenntnis der Pläne des deutschen Generalstabes
nicht fremd war. Den Antrag des Generalstabschefs erörterte die militärische
Konferenz vom 8. Dezember 1887, an der auch der gemeinsame Außenminister
zugegen war.193 Die Konferenz verwarf bekanntlich - der Meinung des gemein¬
samen Außenministers entsprechend -, daß die russischen Truppenverlegungen
Kriegsabsichten verrieten, und entschied sich, um selbst den Anschein einer
Provokation zu vermeiden, nur Maßnahmen bzw. Vorkehrungen streng defensi¬
ven Charakters zu treffen. So bestätigte sie von den beantragten Truppenver¬
schiebungen nur die Stationierung von technischen Einheiten und der Festungs¬
artillerie in Galizien, bewilligte nur gewisse Vorbereitungen für die Infanterie-
und Kavallerieeinheiten, sowie Einberufungen und Pferdekäufe nur für die
galizischen Kavallerie- und Artillerieeinheiten und beschränkte sich bei den
Infanterieeinheiten auf die Genehmigung von Vorbereitungen. Die zu treffen-

192 Unsere militärische Lage in Galizien. Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 3. 12. 1887, KA.,
     MKSM. 20-1/10-2 ex 1887.

193 Protokoll der am 8. 12. 1887 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in der Hofburg zu
     Wien stattgehabten kommissionellen Beratung über die eventuell in Galizien zu ergreifenden
     Maßnahmen militärischer Natur, KA., MKSM. 20-1/10-2 ex 1887.
|| || 78 Einleitung

den Maßnahmen waren daher wesentlich bescheidener als die vom
Generalstabschef ursprünglich geforderten, dennoch aber mit einem beträchtli¬
chen Kostenaufwand verbunden. Namentlich die Truppenverlegungen und die
Vorbereitung der Einberufungen erforderten bedeutende Aufwendungen, mu߬
te man doch für mehr als zehntausend Soldaten und viele hundert Pferde
Baracken und Stallungen bauen sowie Proviant und Futter bevorraten. Der
gemeinsame Kriegsminister meldete sogleich seinen Anspruch auf die sofortige
Bereitstellung von 3,25 Millionen Gulden, dann schätzte er die Gesamtkosten
der Maßnahmen auf 24,8 Millionen. Von den seitens der Delegationen bewillig¬
ten 52 Millionen seien dem Kriegsressort bisher 49 Millionen überwiesen wor¬
den, von denen es bisher 29 Millionen ausgegeben und 20 Millionen für die
durchzuführenden Maßnahmen reserviert habe. Da zur Inanspruchnahme von
über 20 Millionen ein neuerlicher Delegationsbeschluß erforderlich würde, wäre
es zweckmäßig, die Summe auf weniger als 20 Millionen zu senken. Diesem
Antrag wurde stattgegeben und die Kosten der vorgesehenen Maßnahmen auf
16 Millionen (einschließlich des sofortigen Anspruchs des gemeinsamen Kriegs¬
ministers von 3,25 Millionen) festgelegt. Der Monarch stellte - der üblichen
Praxis entsprechend - wieder die Einberufung des gemeinsamen Ministerrates

in Aussicht.
   Der gemeinsame Ministerrat befaßte sich zweimal mit den neuen Finanzfor¬

derungen der Militärführung, und zwar am 18. und 19. Dezember 1887.194 Diese
Konferenzen zeigten ein völlig anderes Bild als die ähnlichen Beratungen ein
Jahr zuvor, in denen sich die Regierungschefs und die Minister nur über die Art
und Weise der Kostendeckung äußern konnten. Der gemeinsame Außenmini¬
ster bezeichnete die Aufgabe der Beratung darin, den Standpunkt der Monar¬
chie gegenüber den russischen militärischen Maßnahmen festzulegen und die
finanzielle Deckung der militärischen Gegenmaßnahmen zu sichern. Daß der
gemeinsame Ministerrat nun zum Forum der politischen Entscheidungen wer¬
den konnte, war eine Folge der kritischen Lage: Wenn tatsächlich mit Krieg zu
rechnen war, konnte man auf die Mitarbeit und das Einverständnis der verfas¬
sungsmäßigen Körperschaften nicht verzichten. Freilich entschied schließlich
der gemeinsame Ministerrat nicht wirklich, er erklärte sich bloß einverstanden
mit dem Standpunkt, den die militärische Konferenz auf Antrag des gemeinsa¬
men Außenministers formuliert hatte. Daran änderte auch die Tatsache nichts,
 daß der ungarische Ministerpräsident ursprünglich eine andere Meinung vertrat
 und an dieser auch festhielt. Der sachliche Entscheidungsbereich des gemeinsa¬
 men Ministerrates nach dem eingehenden Gedankenaustausch außenpoliti¬
 schen Charakters, der weiter vorn schon behandelt wurde, beschränkte sich also
 wieder nur auf die Genehmigung der Mittel und ihre Beschaffung. Aber im
 Vergleich zum Vorjahr zeigte sich auch in dieser Beziehung eine Änderung: Der
 gemeinsame Kriegsminister informierte die Anwesenden mit einer Landkarte in
 der Hand über die beiderseitigen Truppenaufstellungen und erörterte eingehend
 die Maßnahmen, welche die militärische Konferenz zur Wiederherstellung des

 194 GMR. v. 18. 12. 1887, RMRZ. 346 - GMR. v. 19. 12. 1887, RMRZ. 347.
|| || Einleitung  79

Kräftegleichgewichts beschlossen hatte. Die anwesenden Regierungschefs und
Minister hatten im Zusammenhang damit nichts einzuwenden, konnten aber in
Kenntnis der Lage und der Maßnahmen den Kosten leichteren Herzens zustim¬
men. Es wiederholte sich auch nicht die Verzögerung vom Vorjahr. Wohl klagte
der österreichische Finanzminister lang und breit über die neuerliche finanzielle
Belastung, und der ungarische Ministerpräsident sprach sich für eine Ermäßi¬
gung der Kosten aus, doch kam man rasch zu einer Einigung. Es wurde
beschlossen, dem gemeinsamen Kriegsminister die gewünschten 16 Millionen
zur Verfügung zu stellen und dies den Delegationen bei ihrer im Mai 1888,
früher als üblich, abzuhaltenden ordentlichen Session zur nachträglichen Ge¬
nehmigung vorzulegen. Diesen Beschluß hat der unter dem Vorsitz des Monar¬
chen und in Gegenwart der drei gemeinsamen Minister am 11. Januar 1888
tagende gemeinsame Ministerrat - oder wie sich der Herrscher ausdrückte - die
gemeinsame Regierung bekräftigt.195 Allerdings mußten die Delegationen, als
sie endlich im Juni 1888 zusammentraten, nicht nur den bereits in Anspruch
genommenen Kredit von 16 Millionen genehmigen, sondern auch über eine
zusätzliche Summe von 31 Millionen entscheiden; die Genehmigungen erfolgten
wie im vorausgegangenen Jahr im Falle des Spezialkredits von 52 Millionen.
Der Generalstabschef hatte nämlich inzwischen - obwohl sich die kriegerischen
Spannungen fühlbar verringert hatten - einen neuen Vorkehrungsplan er¬
stellt,196 den die militärische Konferenz vom 10. März 1888 ebenfalls sanktio¬
nierte.197 In den vier gemeinsamen Ministerräten vom Ende April und Anfang
Mai198 wurden zwar die geplanten Ausgaben etwas zusammengestrichen, aber
dem neuerlichen Spezialkredit stimmte man schließlich zu, nicht zuletzt deshalb,
weil der gemeinsame Außenminister die Konzeptionen der militärischen Füh¬
rung eindringlicher als früher unterstützte. Über diesen Komplex wurde bei der
Erörterung der außenpolitischen Probleme bereits gesprochen.

                       Die Einberufung der Reserve und Ersatzreserve zu Friedenszeiten

   Der gemeinsame Ministerrat befaßte sich - während er die finanzielle Dek-
kung der Ausgaben für einen bevorstehenden Krieg sicherstellte - auch mit
Problemen, deren Lösung zur Regelung der gesetzlichen und rechtlichen Bezüge
einer eventuellen Kriegsführung gehörte. Das Gesetz bzw. die Verordnung über
die Kriegsleistungen wurde - wie erwähnt - nach langer Verschleppung zu

195 GMR. v. 11. 1. 1888, RMRZ. 349.
196 Anträge des k. k. Chefs des Generalstabes zur Steigerung der Wehrkraft der österr. ung.

     Monarchie [1888], KA., MKSM. 20-1/1-2 ex 1888.
197 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 10. 3. 1888 in Wien

     stattgehabten Konferenz. Gegenstand der Beratung waren: a. Die Anträge des Chefs des
     Generalstabes zur Steigerung der Wehrkraft der Monarchie, b. Die Anträge des Reichskriegs¬
     ministeriums für das Heeresbudget pro 1889, KA., MKSM. 20-1/1-2 ex 1888.
198 GMR. v. 29. 4. 1888, RMRZ. 352 - GMR. v. 30. 4. 1888, RMRZ. 353 - GMR. v. 1. 5. 1888,
     RMRZ. 354 - GMR. v. 2. 5. 1888, RMRZ. 355.
|| ||                                                                                                                         Einleitung

80

Beginn des Jahres 1888 einer Lösung zugeführt. Eine ähnliche Rege g

erforderte die geplante und beschlossene außerordentliche Einberufung

Reservisten und Ersatzreservisten zu Friedenszeiten. Bekanntlich stellte das

Memorandum des Generalstabschefs vom 3. Dezember 1887 großange eg

Einberufungen in Aussicht, woraufhin die militärische Konferenz vom 8 De-

     1887 auch die Einberufung der in Galizien stationierten Kavallerie- und

ÄSS                         während sie bei der Infanterie vorberertende

Maßnahmen anordnete. In der Konferenz stellte der Monarch die Frage, ob
Durchführung der Einberufungen keine gesetzlichen Hindernisse m Wegestun-
den worauf fr von den anwesenden Ministern die Antwort erhielt, daß der

Erlaß des Einberufungsbefehls ausschließlich in der
liege 200 eine Information, die - wie sich spater herausstellte nicht ganz
waf- Jedenfalls formulierte der gemeinsame Kriegsmmister aufgrund des Konfe¬
renzbeschlusses eine Eingabe zur Zurückbehaltung des letzten Jahrgangs im
Präsenzdienst bzw. zur Einberufung von bereits in die Reserve versetzten Wehr¬
pflichtigen, die der Monarch auch genehmigte.201 Inzwischen stellte sich heraus,

daß § 10 des Wehrgesetzes, der die Einberufung der Reservisten regelte es
Ausnahme der Waffenübungen - nicht ermöglichte, die Reservisten und Ersa z-
reservisten zu Friedenszeiten einzuberufen. Das gemeinsame Kriegsmimstenum

arbeitete daher einen Gesetzentwurf über die außerordentliche Einberufung des
ersten Jahrgangs der Reservisten sowie der drei jüngsten Jahrgange der Ersatz-
Servisten zu Friedenszeiten aus und wünschte die Einberufung im Verord¬
nungsweg durchzuführen. Der ungarische Ministerrat beschäftigte S1^ am 22.

 Februar ^ 888 mit diesem Entwurf, faßte aber keinen meritonschen Beschluß,

sondern brachte den Wunsch zum Ausdruck den Antrag              f" f'"n
men Ministerrat vorzulegen, und beanstandete zugleich, daß der Entwurf den

Eüibemfungsbefehl des Hemchers durch eine Verordnung des gememsamen

Kriefsministers zu ersetzen wünschte.202 Am 17. März bevollmächtigte der

ungarische Ministerrat den Ministerpräsidenten unter
früheren Bedingungen dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Die Angelegenheit
kam im Einldfng mit dem Wunsche der ungarischen Regierung - am 23 Marz
1888 vor den gemeinsamen Ministerrat, nach dem ziemlich wortkargen Proto¬
koll erwähnte aber Kalman Tisza die ungarischen Vorbehalte nicht. Es wurde

nur darüber verhandelt und beschlossen, daß die Verabschiedung des Gesetz¬
entwurfes durch das Parlament nicht automatisch die Genehmigung der entste¬

henden Kosten nach sich ziehen könne, da dafür das Einverständnis der Delega

199 Vgl. Anm. 172 und 173.

200  VVgol.rtArinrmd.e;1s9R3.eichskriegsministers v.  12.  12.  1887 betreffend die bei einigen Truppenkörpern

201

202 5^eSdMRav.1"r2h^S88.DAe'r GeSz^ntrag bezüglich der Einberufung von Reservesob
     daten und Ereatzreservisten zur aktiven Dienstleistung zu Fnedenszerten, OL., K. 27, Karton

203 fiMT. Ung.MR. ». 17. 3. 1888. 15. Der Gesetzantrag über die außerordentliche Einberufung
     der Reservisten und Ersatzreservisten, OL., K. 27, Karton
|| || Einleitung  81

tionen, im dringlichen Fall die der Regierung erforderlich war.204 Den Gesetz¬
entwurf verabschiedeten der ungarische Landtag als Gesetzartikel XVIII des
Jahres 1888 und der österreichische Reichstag als Gesetz vom 31. Mai 1888. Zur
Anwendung des angesichts der Verhältnisse in der Monarchie ungemein rasch
geschaffenen Gesetzes kam es, obwohl die kriegerische Spannung inzwischen
abgeklungen war, sehr bald, und die Reservisten bzw. Ersatzreservisten rückten
bereits im Juli zu den einzelnen Einheiten ein.205

                                      Die Ausnahmemaßregeln für den Kriegsfall

   Die Aufmerksamkeit der militärischen Führung erstreckte sich in den kriti¬
schen Tagen der Jahreswende 1887/88 sowohl auf das voraussichtliche Opera¬
tionsgebiet als auch auf das Hinterland, und der Generalstabschef drängte am
14. Dezember 1887 in einem langen Memorandum auf die Pragmatisierung
jener außerordentlichen Maßnahmen, die im Kriegsfall einer Stärkung der
Strafrechts- und Polizeigewalt dienen sollten.206 Die Schaffung derartiger
Rechtsnormen begann nicht erst damals, der österreichische Ministerrat hatte
seit 1883 zahlreiche Verordnungsentwürfe gutgeheißen, die eigentlich schon auf
ihren Erlaß warteten. So waren unter anderem die Verordnungsentwürfe über
die Suspendierung der staatsbürgerlichen Rechte, die Einführung der Ausnah¬
megerichtsbarkeit sowie über die Suspendierung der Tätigkeit der Schwurge¬
richte fertiggestellt, sämtlich mit Gültigkeit für Galizien und die Bukowina,
ebenso die Rechtsnorm über die Einschränkung des Postverkehrs und des
Nachrichtendienstes der Presse, die für das gesamte österreichische Staatsgebiet
gültig war. Das Memorandum des Generalstabschefs konnte daher auch der
österreichische Ministerpräsident Taaffe zufriedenstellend beantworten. Zu¬
gleich teilte er mit, daß die Abstimmung der beide Staaten berührenden Verord¬
nungsentwürfe seines Erachtens Aufgabe des gemeinsamen Ministerrates sei.207
Der Monarch lenkte im gemeinsamen Ministerrat vom 19. Dezember 1887 die
Aufmerksamkeit des ungarischen Ministerpräsidenten auf die Ausarbeitung
von Verordnungen in Österreich im Zusammenhang mit der Mobilisierung und
erklärte es für erwünscht, daß diese auch die ungarische Regierung kennenler¬
ne,208 mehr geschah auf der Ebene des gemeinsamen Ministerrates nicht. Käl-
män Tisza teilte mit, daß ähnliche Arbeiten auch ungarischerseits im Gange
seien, und der ungarische Ministerrat genehmigte tatsächlich schon am 29.

 204 GMR. v. 23. 3. 1889, RMRZ. 351.
 205 Vortrag des Reichskriegsministers v. 7. Juli 1888, mit welchem der Ah. Befehl erbeten wird,

       Ersatzreservisten der Infanterie und des Tiroler Jägerregiments zur aktiven Dienstleistung
       einzuberufen, KA., MKSM. 72-9/3 ex 1888.
 206 Memoire über Ausnahmemaßregeln zur Stärkung der Straf- und Polizeigewalt im Kriegsfall.
       K. k. Chef des Generalstabes v. 14. 12. 1887, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 70, Nr. 45.
 207 Bemerkungen des k. k. Ministerpräsidenten zu dem Memoire v. 14. Dezember 1887 des Chefs
       des k. k. Generalstabes, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 70, Nr. 45.
 208 GMR. v. 19. 12. 1887, RMRZ. 347.
|| || 82 Einleitung

Dezember den Gesetzesantrag über das Inkrafttreten der außerordentlichen
Maßnahmen und die damit verbundenen Verordnungsentwürfe.209 Die Abstim¬
mung der österreichischen und ungarischen Verordnungsentwürfe übernahm
das gemeinsame Kriegsministerium - mit geringem Erfolg. Als es die ungarische
Regierung darauf aufmerksam machte, daß im österreichischen Entwurf der
Postverkehr und die Nachrichtenvermittlung durch die Presse schon vor der
Mobilisierung Einschränkungen unterliegen, und es für wünschenswert erklärte,
daß auch ungarischerseits ein ähnliches Verfahren angewendet werde, verwei¬
gerte sich der ungarische Ministerrat diesem strikt, unter Berufung auf die
gesetzlichen Bestimmungen über das Briefgeheimnis und auf die Pressefrei¬
heit.210 Auch eine neuerliche Intervention des gemeinsamen Kriegsministers
führte mehrere Jahre später zu keinem Ergebnis.211 Inzwischen wurden die
Arbeiten in Österreich mit unveränderter Intensität fortgesetzt und die zu
erlassenden Verordnungen in der im Sommer unter dem Vorsitz des Monarchen
abgehaltenen Konferenz endgültig formuliert.212 Dieser große Eifer war jedoch
ganz vergebens, da die Entwürfe nach Entspannung der Kriegsgefahr in den
Aktenschränken der Ministerien liegen blieben. Demgegenüber erschien sowohl
in Ungarn als auch in Österreich die Rechtsnorm über die Bestrafung jener, die
dem Einberufungsbefehl nicht Folge leisteten, in Ungarn als Gesetzartikel XXI
des Jahres 1890, in Österreich als Gesetz vom 28. Juni 1890.

                                                 Die Einführung der Repetiergewehre

   Im Laufe des Überblicks über das gesamte Kriegswesen war schon die Rede
davon, daß die Ausrüstung der verschiedenen Waffengattungen recht stabil war
und die Infanterie den 1867 eingeführten Einzellader mit Zündnadel des Sy¬
stems Werndl bis zur Mitte der 80er Jahre verwendete, obwohl doch inzwischen
auf dem Gebiet der Schußwaffen bedeutende technische Entwicklungen zu
verzeichnen und die Musterexemplare der Repetiergewehre sowohl in der Mon¬
archie als auch in anderen Ländern Europas bekannt waren. Einige von diesen
wurden auch ausprobiert, und das Repetiergewehr des Obersten Kropatschek
wurde zwischen 1874 und 1880 bei der bosnischen Infanterie und der ungari¬
schen Gendarmerie sogar eingesetzt. Zu seiner allgemeinen Einführung kam es

209 331MT. Ung.MR. v. 29.12.1887. 1. Entwurf des die im Kriegsfall erforderlichen außerordentli¬
      chen Maßnahmen behandelnden Gesetzentwurfes und der Regierungsverordnung, OL., K. 27,
      Karton 43.

 210 5/MT. Ung.MR. v. 27. 2.1888. 9. Ergänzung der für den Mobilisierungsfall geplanten außeror¬
      dentlichen Maßnahmen bezüglichen Verordnungen, OL., K. 27, Karton 43.

 211 Auszug aus dem Einsichtsakte des Reichskriegsministeriums Präs. Nr. 956 1894 betreffend die
      Neuredigierung des Entwurfes eines ungarischen Gesetzvorschlages über die im Kriegsfälle
      anzuwendenden außerordentlichen Maßnahmen v. 30. 9. 1894, KA., MKSM. 33--1/1--27 ex
       1894.

 212 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k apost. Majestät am 25. 6. 1888 stattgehabte
      Konferenz in der kgl. Hofburg zu Budapest betreffend die für den Kriegsfall vorbereiteten
       Maßnahmen, KA., MKSM. 69-1/11 ex 1888.
|| || Einleitung  83

aber nicht. Gewisse ungelöste technische Probleme, die finanzielle Lage und der
abwartende Standpunkt anderer Mächte sprachen insgesamt für die Beibehal¬

tung des Einzelladers.
   Im Laufe des Jahres 1884 wuchs aber in ganz Europa die Bereitschaft, die

Repetierwaffen einzuführen, und unter diesem Eindruck begann sich auch das
gemeinsame Kriegsministerium intensiv mit der Modernisierung der bei der
Wehrmacht gebräuchlichen Schußwaffen zu beschäftigen. Der Wiener Inge¬
nieur Ferdinand Mannlicher führte im Januar 1885 sein Repetiergewehr mit
Geradeverschluß vor, das mit fünf Patronen geladen werden und pro Minute
36 Schüsse abgeben konnte. Die Expertenkommission des gemeinsamen Kriegs¬
ministeriums befand das Gewehr für gut, und im Oktober 1885 wurden fünf
Bataillone mit ihm ausgerüstet. Nachdem diese Erprobung in großem Ausmaß
ebenfalls günstig verlaufen war, beantragte die Expertenkommission im Juni
1886, die Waffe allgemein einzuführen. Das einzige Problem verursachte das
Kaliber. Das Repetiersystem steigerte an sich den Patronenbedarf und damit
die Belastung des Soldaten, die bei Beibehaltung des 11-Millimeter-Kalibers
noch zusätzlich erhöht wurde. Wegen der Verschmutzung des Gewehrlaufes
aber sah die Kommission keine Möglichkeit, das Kaliber zu verringern. Der
gemeinsame Kriegsminister akzeptierte den Vorschlag der Kommission und
nahm in den Haushaltsplan des Kriegswesens für das Jahr 1887 3,5 Millionen
zur Einführung der Repetiergewehre des Typs Mannlicher 1886 auf.213

   Der gemeinsame Ministerrat begegnete in seiner Sitzung vom 25. September
1886 bei der Erörterung des Jahresbudgets erstmals dem Problem der Einfüh¬
rung von Repetiergewehren.214 Die Notwendigkeit der Einführung bezweifelte
niemand, wozu offenbar auch der Umstand beitrug, daß gerade in dieser Sitzung
die Folgen der bulgarischen Krise besprochen und deren eventuelle spätere
Auswirkungen erwogen wurden. Auf die Frage des österreichischen Finanzmi¬
nisters teilte der gemeinsame Kriegsminister mit, daß die Gesamtkosten der
Einführung der neuen Schußwaffe 35 Millionen betrugen, die er in vier Jahresra¬
ten von je 8 Millionen zu bezahlen gedenke. Der gemeinsame Ministerrat
genehmigte die für 1887 veranschlagten 3,5 Millionen, kürzte dafür aber einige
Posten des Haushaltsplans. Charakteristischerweise wurde wieder die für die
dritte tägliche Mahlzeit des Militärs, für das Abendessen, in Aussicht gestellte
Summe gestrichen, obwohl dieser Posten schon mehrmals in den Haushaltsplan
aufgenommen worden war.

   Nachdem die Kosten der Einführung der neuen Schußwaffe auch von den
Delegationen bewilligt worden waren, unterbreitete der gemeinsame Kriegsmi¬
nister dem Monarchen im Januar 1887 eine Vorlage zwecks Genehmigung der
geplanten Maßnahmen. Darin wurde ausgeführt, daß die Waffenfabrik in Steyr
bis Oktober 1887 83 000 Stück hersteilen werde, womit bis Mitte 1890 die
Ausrüstung der gesamten Infanterie abgeschlossen und eine 50%ige Reservebil-

213 Memoire über die Notwendigkeit der Beschaffung von Repetiergewehren. (Ohne Datum, ver¬
     mutlich Ende 1886), KA., MKSM. 25-2/2 de 1886.

214 GMR. v. 25. 9. 1886, RMRZ. 331.
|| || 84 Einleitung

düng gewährleistet werde. Diese Vorlage sanktionierte der Herrscher am 27.
Januar 1887, und damit begann die Ausrüstung der Infanterie mit Waffen des
Typs M 1886.215 Inzwischen wurden die Versuche mit einem Gewehr kleineren
Kalibers fortgesetzt, die infolge der Entwicklung des rauchlosen Schießpulvers
zu günstigen Ergebnissen führten. Daher erwies sich schon kurz nach Einfüh¬
rung des Typs M 1886 dessen Umänderung als notwendig und zweckmäßig, die
dadurch erleichtert wurde, daß die Waffenfabrik in Steyr bis März 1888 statt
der vorgesehenen 143 000 Gewehre nur 90 000 lieferte. Der gemeinsame Kriegs¬
minister schlug am 8. März 1888 in einem neuen Antrag vor, das 8-Millimeter-
Repetiergewehr des Typs M 1888 einzuführen, was der Herrscher am 10. März
auch guthieß.216 Als Ergebnis der nunmehr fortlaufend gelieferten Gewehre
konnte der gemeinsame Kriegsminister im April 1890 dem Herrscher die Mel¬
dung erstatten, daß die Ausrüstung der gesamten Infanterie abgeschlossen sei.217
Zwei Jahre später war auch die Ausrüstung der Kavallerie mit 8-Millimeter-
Repetierkarabinern beendet.218

    Der gemeinsame Ministerrat befaßte sich nicht mit der Änderung des Kali¬
bers der Schußwaffe, wohl aber Jahr für Jahr wieder mit deren Kosten. Bei
solchen Gelegenheiten wurden zumeist die finanztechnischen Fragen behandelt,
wie beispielsweise am 28. September 1887, als die Aufnahme der fälligen 9
Millionen Gulden im Budget in Schwebe gelassen wurde, bis sich die beiden
Finanzminister über die Finanzdeckung geeinigt hätten.219 Daß Kaiman Tisza
bei einer Gelegenheit die Versorgung der Kavallerie mit Karabinern auf das
nächste Jahr verschieben wollte, galt als Ausnahme.220 Die sonst bei der Vergabe
von Finanzmitteln sehr zurückhaltende Körperschaft zeigte sich bei der Einfüh¬
rung der Repetierwaffen sehr großzügig.

    Durch die Einführung der Repetiergewehre wurde auch die Notwendigkeit
der Waffenübungen spruchreif. Der Chef des Generalstabs beantragte, die
 Reserve und Ersatzreserve zu diesem Zweck über die im Wehrgesetz zugelasse¬
 nen dreimaligen Übungen hinaus für eine weitere Waffenübung von zwei Wo¬
 chen einzuberufen und dafür die gesetzlichen und finanziellen Voraussetzungen
 zu schaffen. Der gemeinsame Kriegsminister hielt es teils mit Rücksicht auf die
 bevorstehende Verlängerung des Wehrgesetzes, teils angesichts der finanziellen
 Probleme nicht für zweckmäßig, mit einem solchen Antrag an die Regierungen
 heranzutreten, sondern wollte, daß die Einübung mit dem Repetiergewehr im
 Rahmen der im Wehrgesetz vorgeschriebenen Waffenübungen erfolge.221 Der

 215 Vortrag des Reichskriegsministers v. 25. 1. 1887, mit welchem die Ah. Genehmigung zur
       Einführung des Repetiergewehres M 1886 au. erbeten wird, K.A., MKSM. 4-1/1 ex 1887.

 216 Vortrag des Reichskriegsministers v. 8. 3. 1888, KA., MKSM. 4-2/2 ex 1888.
 217 Vortrag des Reichskriegsministers v. 19. 4. 1890, KA.. MKSM. 4-3/3 ex 1892.
 218 Vortrag des Reichskriegsministers v. 7. 5. 1892, KA., MKSM. 4-3/3 ex 1892.
 219 GMR. v. 28. 9. 1887, RMRZ. 345.
 220 GMR. v. 29. 4. 1889, RMRZ. 356.
 221 Vortrag des Reichskriegsministers v. 5. 12. 1887 betreffend die Vornahme der Waflfenübungen

       der Reservemänner zum Zwecke der Einschulung mit dem Repetiergewehr, KA., MKSM. 4-1/5

       ex 1887.
|| || Einleitung  85

Monarch brachte zwar im gemeinsamen Ministerrat vom 19. Dezember 1887
die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die außerordentlichen Waffen¬
übungen zur Sprache,222 doch setzte sich in dieser Frage der gemeinsame Kriegs¬
minister mit seinem Standpunkt durch.223

                                                Die ungarische Waffenfabrik

   Gleichzeitig mit der Einführung der Repetiergewehre wurde auch der Gedan¬
ke der Errichtung einer Waffenfabrik in Ungarn aufgeworfen. Anläßlich der
Delegationssitzung im Herbst 1886 beanstandete die ungarische Seite, daß auch
die Ausrüstung der ungarischen Honved mit den Erzeugnissen der österreichi¬
schen Waffenfabrik erfolge, und beantragte den Bau einer Waffenfabrik in
Ungarn. Der gemeinsame Kriegsminister äußerte sich zustimmend zur Errich¬
tung einer zweiten Waffenfabrik, wenn diese hinsichtlich Technik, Preis und
Lieferung ähnliche Bedingungen gewährleiste wie die Fabrik in Steyr. Denn
obwohl diese bis Ende 1889 in der Lage sei, 930 000 Waffen zu liefern und damit
den Gesamtbedarf der Wehrmacht zu decken, würde die Errichtung einer
zweiten Waffenfabrik den Umrüstungsprozeß um etwa acht Monate verkürzen,
was angesichts der gespannten internationalen Lage unbedingt als Gewinn zu
werten sei.224 Die ungarische Regierung zeigte eine viel geringere Begeisterung
und weniger Interesse. Ihr Landesverteidigungsminister Fejerväry berichtete am
5. März 1887, daß er von der Firma Löwe-Mannlicher ein Angebot zur Errich¬
tung einer Fabrik und zur Lieferung von 400 000 Gewehren erhalten hatte,
beantragte aber nicht die Annahme des Angebotes, und der Ministerrat nahm
in dem Sinne Stellung, daß der Gedanke der Errichtung einer Waffenfabrik in
Budapest derzeit fallengelassen werde.225 Da sich der gemeinsame Kriegsmini¬
ster aber noch nicht dazu geäußert hatte, in welcher Höhe er Waffen der neuen
Fabrik für das gemeinsame Heer übernehmen wolle, wurde zur Erörterung der
Angelegenheit die Einberufung des gemeinsamen Ministerrates beantragt. In¬
zwischen änderte aber die ungarische Regierung ihre anfangs ablehnende Hal¬
tung und beschloß am 13. Juni unter Berufung darauf, daß die Monarchie nicht
auf eine einzige Fabrik angewiesen sein könne, mit der Firma Löwe-Mannlicher
doch einen Vertrag zu schließen.226

   Der von der ungarischen Regierung beantragte gemeinsame Ministerrat trat

222 GMR. v. 19. 12. 1887, RMRZ. 347.
223 33jMT. Ung.MR. v. 29. 12. 1887. 9. Gesetzantrag über die Einberufung der Reservisten des

      Heeres und der Landwehr zu einer kurzen WafTenübung, OL., K. 27, Karton 43.
224 Expose über die Frage, ob die Idee der Erbauung einer Waffenfabrik in Budapest zu realisieren

      sei oder nicht. (Ohne Datum, vermutlich Ende 1886), KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 69,
      Nr. 18.
225 TjMT. Ung.MR. v. 5. 3. 1887. 1. In Angelegenheit der in Budapest zu errichten geplanten
      Waffenfabrik, OL., K. 27, Karton 42.
226 18/MT. Ung.MR. v. 13. 6. 1887. 1. In Angelegenheit der in Ungarn zu errichtenden Waffen¬
      fabrik, OL., K. 27, Karton 42.
|| || 86 Einleitung

am 2. Juli zusammen, aber in diesem fand die Angelegenheit der ungarischen
WafFenfabrik eigentlich keinen Befürworter. Kalman Tisza betonte, daß die
Errichtung einer ungarischen Waffenfabrik die Versorgung der ungarischen
Honved mit Repetierwaffen um zwei Jahre hinausschieben würde, eine Ansicht,
der auch der gemeinsame Kriegsminister zustimmte. Eine Entscheidung wurde
nicht getroffen, da man nicht über die Bedingungen der Waffenfabrik in Steyr
unterrichtet war. Es schien unklar, ob letztere die von der ungarischen Regie¬
rung verlangte Ratenzahlungsbegünstigung gewähren wollte, die die Firma
Löwe-Mannlicher schon in Aussicht gestellt hatte.227 Obwohl schließlich die
österreichische Waffenfabrik diese Begünstigung nicht gewährte, entschied sich
die ungarische Regierung abermals für das Projekt. Der Ministerrat beschloß
am 7. Januar 1888, mit der Firma einen Vertrag über den Bau der Waffenfabrik
und die Lieferung von 180 000 Gewehren des Typs M 1888 abzuschließen.228
Das Parlament verabschiedete den Bau der Fabrik als Gesetzartikel II des
Jahres 1888; er wurde am 18. Juni 1888 begonnen und ungemein rasch, schon
am 31. Dezember 1888 beendet.229 Der Beginn der Waffenproduktion vollzog
sich jedoch bei weitem nicht so reibungslos. Die Fabrik lieferte bis Juli 1889
gegenüber den vertraglich zugesicherten 1000 Gewehren insgesamt nur zwanzig,
die sich zudem als unbrauchbar erwiesen. Nach wiederholten erfolglosen Versu¬
chen beschloß die ungarische Regierung am 27. Juni 1890, den Vertrag mit der
Firma Löwe-Mannlicher zu kündigen und die für die Honved benötigten Waf¬
fen bei der Waffenfabrik in Steyr zu bestellen.230 Die Waffenfabrik in der
Soroksäri üt wurde bald liquidiert.

                                 Die Verlängerung des Wehrgesetzes im Jahre 1889

   Wie unzufrieden die militärische Führung mit dem Wehrgesetz war, hatte
sich bereits bei den Vorbereitungen zum Landsturmgesetz gezeigt. Sie schrieb
diesem im Jahr 1868 geschaffenen und seither im wesentlicher! unveränderten
Gesetz die zunehmende Rückständigkeit der Wehrmacht der Monarchie gegen-
überjener der anderen Großmächte zu. Dem Landsturmgesetz wurde eigentlich
auch die Absicht unterstellt, zumindest indirekt, durch Umgehung des Wehrge¬
setzes, das der Armee zur Verfügung stehende Menschenpotential erhöhen und
die im Kriegsfall notwendige kontinuierliche Heeresergänzung sichern zu sollen.
 Das Landsturmgesetz linderte tatsächlich beträchtlich die Sorgen der Heereser¬
 gänzung. Da dieses Gesetz aber nur in äußerster Not, im Kriegsfall, angewendet
 werden durfte, vermochte es die grundlegenden Probleme der Heeresentwick¬
 lung nicht zu lösen. Das für zehn Jahre im voraus bestimmte, relativ niedrig

 227 GMR. V. 2. 7. 1887, RMRZ. 342.
 228 3/MT. Ung.MR. v. 17. 1. 1888. 1. In Angelegenheit der Waffenfabrik, OL., K. 27, Karton 42.
 229 Temesväry, Fejezetek a Magyar Fegyvergyär törteneteböl 154.
 230 23/MT. Ung.MR. v. 27. 6.1890. 1. In Angelegenheit der ungarischen Waffenfabrik, OL., K. 27,

       Karton 47.
|| || Einleitung  87

gehaltene Rekrutenkontingent, die gesetzlich festgelegte Ersatzreserve und die
mannigfaltigen Freistellungen vom Dienst mit Geltung auch im Kriegsfälle
verhinderten nach wie vor, daß die waffenfähige männliche Bevölkerung aus¬
nahmslos eine militärische Ausbildung erhalten und so im Kriegsfall dem Heer
zur Verfügung stehen konnte.

   Die nächste Verlängerung des Wehrgesetzes war 1889 fällig, und bei dieser
Gelegenheit konnte die militärische Führung versuchen, die bestehenden Ano¬
malien zu beseitigen. Die Vorarbeiten begannen aber schon viel früher. Der
gemeinsame Kriegsminister verfaßte im Frühjahr 1885 ein umfangreiches Me¬
morandum, in dem er die Mängel des Wehrgesetzes, vor allem aber die der
Heeresergänzung analysierte.231 Die gesetzlich festgelegte Begrenzung des
Kriegsstandes sei verfehlt und schädlich, da die Armee infolgedessen auf einen
beträchtlichen Teil der waffenfähigen Bevölkerung verzichten mußte. Der Ge¬
samtbestand der 12 wehrpflichtigen Jahrgänge, sinngemäß der Kriegsstand, war
nämlich viel höher als der im Wehrgesetz festgelegte Kriegsstand von 800 000
Mann. Die allerschädlichste Verfügung des Wehrgesetzes aber sei, daß es auch
den prozentuellen Anteil der Ersatzreserve bestimme, und zwar außerordentlich
niedrig, und dadurch einen Ersatz der Kriegsverluste unmöglich machte. Im
weiteren bemängelte das Memorandum die Abschnitte des Wehrgesetzes über
die Freistellungen vom Dienst, und zwar den Mißstand, daß jährlich ca. 16 000
waffenfähige Männer dem Heer fernblieben und diese Freistellungen infolge
einer weiteren Ungenauigkeit des Wehrgesetzes selbst zur Kriegszeit in Kraft
blieben. Verfehlt sei die gültige Regionalordnung der Rekrutenverteilung, da
das gemeinsame Heer dadurch das ihm zustehende Rekrutenkontingent häufig
nicht erhielt. Schließlich erwähnte das Memorandum als eine gravierende Ursa¬
che der ungünstigen Stellungsergebnisse, daß das Wehrgesetz die Stellungs¬
pflicht auf das 20. Lebensjahr festsetzte, obwohl die Rekruten in diesem Alter
zumeist noch unreif, daher zum Waffendienst ungeeignet waren. Der gemeinsa¬
me Kriegsminister faßte seine Vorschläge schließlich in 13 Punkten zusammen
und beantragte unter anderem die Aufhebung einer gesetzlichen Festlegung des
Kriegsstandes und der Ersatzreserve, eine jährliche Bestimmung des Rekruten¬
bedarfes des Heeres und der beiden Landwehren, die Einschränkung der Befrei¬
ungstitel, die Aufhebung der Freistellung während des Krieges und die Verle¬
gung der Stellungspflicht auf das 21. Lebensjahr (oder statt dessen die Einfüh¬
rung des vierjährigen Präsenzdienstes).

   Dieses Memorandum wurde von drei militärischen Konferenzen unter dem
Vorsitz des Monarchen erörtert. Die erste Besprechung fand am 10. Mai 1885
im engeren Kreis statt, mit Beteiligung des Generalinspektors des Heeres, des
gemeinsamen Kriegsministers und des Chefs des Generalstabs, des Vorstands
der Militärkanzlei und des Chefs der zweiten Sektion des gemeinsamen Kriegs-

231 Memoire über die ungünstigen Verhältnisse der Ergänzungen der bei der mobilen Armee
     entstehenden Abgänge - dann über die zu diesem Zwecke höchst wünschenswerten Verbesse¬
     rungen des Wehrgesetzes und der Durchführungsbestimmungen zu demselben. (Ohne Datum,
     vermutlich April 1885), KA., MKSM. 20-1/10-3 de 1885.
|| || 88 Einleitung

ministeriums,232 die beiden anderen am 30. Mai233 und am 31. Mai234 im erweiter¬
ten Kreis, in Gegenwart der beiden Landesverteidigungsminister. Besonders um
den ersten und vierten Punkt, die Aufhebung der Fixierung des Kriegsstandes
und die Festlegung des jährlichen Rekrutenkontingents, wurde heftig diskutiert.
Die Positionen erinnerten an die Standpunkte in der Debatte über das Land-
sturmgesetz. Der ungarische Honvedminister Fejerväry war aus staatsrechtli¬
chen Überlegungen gegen eine Aufhebung der Fixierung des Kriegsstandes und
aus praktischen Gründen gegen eine Erhöhung des Rekrutenkontingents, die
er wegen der schlechten Stellungsergebnisse für undurchführbar hielt. Der
österreichische Landwsverteidigungsminister Welsersheimb unterstützte hinge¬
gen beide Vorschläge des gemeinsamen Kriegsministers und argumentierte, der
Kriegsstand sei auch anderwärts nicht im voraus festgelegt, und die schlechten
Stellungsergebnisse ergäben sich nicht aus der tatsächlichen Untauglichkeit,
sondern aus äußeren Umständen (der fehlerhaften Grundbuchführung und der
ungeregelten Auswanderung). Die Aufhebung der Fixierung des Kriegsstandes
konnte der Sektionschef des gemeinsamen Kriegsministeriums nicht zufrieden¬
stellend begründen und antwortete auf die Frage des Monarchen nur, aus
politischer Hinsicht sei die Fixierung nicht zweckmäßig. Da interessanterweise
auch der gemeinsame Kriegsminister selbst gegen eine Abschaffung des fixen
Kriegsstandes war, entschied der Monarch, daß dieser Punkt weiter überlegt
werden müsse. Die Konferenz einigte sich aber darauf, daß das Rekrutenkontin¬
gent des gemeinsamen Heeres von 95 000 auf 101 000 Mann zu erhöhen sei und
dasselbe auch für die beiden Landwehren neu zu bestimmen sei. Gegen die
Einschränkung der Dienstbefreiung erhob wieder Fejerväry Einspruch, dem der
Herrscher stattgab. Den Antrag, die Freistellung nur auf die Friedenszeit zu
beschränken und die waffenfähigen Freigestellten in die Ersatzreserve einzutei¬
len, unterstützte auch Fejervary wärmstens, woraufhin dieser ohne Schwierig¬
keit angenommen wurde. Ebenso wurde die Aufhebung einer Fixierung der
Ersatzreserve sowie die Anhebung des stellungspflichtigen Alters auf das 21.
Lebensjahr gutgeheißen. Die Konferenz nahm auch zu den übrigen Anträgen
des gemeinsamen Kriegsministers Stellung. Erwähnenswert ist noch, daß der
Herrscher den ganzen Gedankenaustausch als akademisch betrachtete und
seinen Zweck nur darin sah, die Landesverteidigungsminister auf die damals
fällige Parlamentsdebatte des Landsturmgesetzes entsprechend vorzubereiten.

232 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät stattgehabte Konferenz
      Sonntag, den 10. 5. 1885 betreffend das von Reichskriegsministerium unterbreitete Memoire:
      „Über die ungünstigen Verhältnisse der Ergänzung der bei der mobilen Armee entstehenden
      Abgänge, dann über die zu diesem Zwecke höchst wünschenswerten Verbesserungen des
      Wehrgesetzes und der Durchführungsbestimmungen zu demselben." KA., MKSM. 20-1/10-3
      ex 1885.

 233 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 30. 5. 1885 stattgehabte
      Konferenz, betreffend das vom Reichskriegsministerium ausgearbeitete Memoire, KA.,
      MKSM. 20-1/10-8 de 1885.

 234 Protokoll der am 31. 5. in der Hofburg zu Wien unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät
      abgehaltenen kommissioneilen Beratung, KA., MKSM. 20-1/10-9 ex 1885.
|| || Einleitung  89

Die Erörterung einer Revision des Wehrgesetzes im Ministerrat hielt er noch
nicht für aktuell.

   Die eigentlichen Vorarbeiten für die Verlängerung des Wehrgesetzes began¬
nen im Herbst 1887. Der gemeinsame Kriegsminister ersuchte in seiner Vorlage
vom 3. Oktober 1887 um die Zustimmung des Monarchen an, die Ausarbeitung
des Wehrgesetzes im Sinne der in der Vorlage enthaltenen Grundsätze, zusam¬
men mit den Landesverteidigungsministern in Angriff nehmen zu können.235 Als
Basis dienten die Vereinbarungen der Konferenz vom Mai 1885, die der gemein¬
same Kriegsminister mit den in den ursprünglichen 13 Punkten enthaltenen
Anträgen, wie der Aufhebung der Festlegung des Kriegsstandes, der Verteilung
der Rekruten unter den Militärterritorialbezirken entsprechend den tatsächli¬
chen Assentierungsergebnissen, der Einberufung des ersten Jahrganges der
Reserve zum Präsenzdienst und einer Revision des Einjährig-Freiwilligensy-
stems zu ergänzen wünschte. Der Monarch sanktionierte die Vorlage am 28.
Oktober 1887 und ermächtigte den gemeinsamen Kriegsminister, das Wehrge¬
setz auszuarbeiten. Dieser erstellte mehrere Varianten, aus denen in einer außer¬
ordentlich intensiven Kodifikationsarbeit im Mai 1888 die als endgültig be¬
trachtete vierte Variante des Wehrgesetzentwurfes hervorging.236 Der gemeinsa¬
me Kriegsminister versah jeden Paragraphen des neuen Wehrgesetzes und
besonders sorgfältig die durchgeführten Änderungen237 mit ausführlichen Be¬
gründungen. Überwiegend waren diese positive Erörterungen all dessen, was
schon in den im Laufe der Vorbereitung entstandenen Schriften niedergelegt
worden war, die Begründung für § 14 ist aber auch darüber hinaus beachtens¬
wert. Warum von der gesetzlichen Festlegung des Kriegsstandes abzusehen ist,
führte auch sie nicht aus, sie stützte aber die Erhöhung des Rekrutenkontingents
des Heeres und die Festlegung des der beiden Landwehren mit überzeugenden
Argumenten. Die jährlich 103 000 Rekruten der Armee und 22 000 Rekruten
der beiden Landwehren waren notwendig, weil der im Wehrgesetz zukünftig
nicht mehr angeführte, aber nach wie vor vorhandene Kriegsstand der Armee
von 800 000 Mann ebenso wie der der beiden Landwehren nur so aufrechterhal¬
ten werden konnte. Der Kriegsstand ist nämlich mit dem Sollstand an Dienst¬
tuenden und nicht mit dem Grundbuchstand identisch, da letzterer zur Errei¬
chung des tatsächlichen Kriegsstandes etwa 8% höher als dieser sein mußte.
Daher war die Erhöhung des Rekrutenkontingents nicht gleichbedeutend mit
einer Erhöhung des Kriegsstandes, sie stellte bloß den ursprünglichen Kriegs¬
stand sicher, der bisher nur auf dem Papier existierte. Eine tatsächliche und im
Kriegsfall realisierbare Erhöhung bedeuteten die Aufhebung der Festlegung
und die beträchtliche Steigerung der Ersatzreserve, da im Sinne des neuen
Wehrgesetzes 25 000 Mann in die Ersatzreserve eingereiht wurden. Die Gesamt-

235 Vortrag des Reichskriegsministers v. 3. 10. 1887, Entwurf eines neuen Wehrgesetzes, KA.,
     MK.SM. 82-1/4 de 1887.

236 Vierter Entwurf eines neuen Wehrgesetzes. (Zum reservierten Amtsgebrauche.) 1888, KA.,
     MKSM. 20-1/4 ex 1888.

237 Begründungen zum vierten Entwürfe eines neuen Wehrgesetzes. (Zum reservierten Amtsgebrau¬
     che.) 1888, KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888.
|| ||  90 Einleitung

 zahl der Rekruten und Ersatzreservisten betrug 150 000 Mann im Jahr, das
 waren 3,7%o der Gesamtbevölkerung, und stimmte etwa mit der durchschnittli¬
 chen Leistung der europäischen Großmächte überein.238 Im vierten Entwurf des
 Wehrgesetzes blieb das für die ungarische Honved festgesetzte Rekrutenkontin¬
 gent in der Schwebe, weil sich das gemeinsame Kriegsministerium und das
 ungarische Landesverteidigungsministerium in dieser Frage nicht einigen konn¬
 ten. Ersteres hielt zur Sicherung des um 8% Abgänge erhöhten Kriegsstandes
 der ungarischen Honved von 141 950 Mann 11 176 Rekruten pro Jahr für
 ausreichend, während letzteres aufgrund des Grundbuchstandes 12 500 Rekru¬
 ten jährlich beanspruchte,239 die es nach erneuten Berechnungen auf 13 000
 Mann erhöhte.240

    Den vierten Entwurf des Wehrgesetzes erörterte die Konferenz am 17. Juni
 1888 unter Vorsitz des Monarchen, an der der gemeinsame Kriegsminister, die
 beiden Landesverteidigungsminister sowie die Referenten teilgenommen ha¬
 ben.241 Da die anwesenden Minister die Vollmacht ihrer Regierungen besaßen,
 kann diese Konferenz gewissermaßen als ein engerer gemeinsamer Ministerrat
 betrachtet werden. Nachdem dieses Gremium die Grundprinzipien der Ände¬
 rung des Wehrgesetzes angenommen hatte, bildeten die wesentlichen Fragen
 kein Diskussionsthema mehr, und der Gedankenaustausch drehte sich größten¬
 teils um die staatsrechtlichen und Formulierungsfragen. Der Monarch bean¬
 standete, daß im § 3 der Ausdruck „beide Staatsgebiete" vorkam, und hatte in
 seinen im voraus angefertigten schnftTTcheh Bemerkungen auch notigrt, daß es
 in deFMonarchie von'aüßen,betrachtet nur ein Staatsgebiet geb 242 -Fejerväry
 verw1es`Hingegen"auf einen möglichen parlämehtärisciien Widerstand und hielt
 am ursprünglichen Text fest. Der Herrscher meinte weiter, auf den zweiten
 Absatz des § 14 über die Verteilung des Rekrutenkontingents auf „beide Staats-
"gebiete" könne"verzichtet weTden, weil in diesem Fall nach jeder Volkszählung
  enTneues Gesetz geschafferiTvefden müßte. Die beiden LandesVerteidigungsmi¬
  nister sprachen sich jedoch für eine Beibehaltung des ursprünglichen Textes aus,
r Welsersheimb mit praktischen Argumenten, Fejerväry aber machte darauf
\ aufmerksam, daß die gesetzgebenden Körperschaften eine genaue Bestimmung
\des Rekrutenkontingentes als ihr verfassungsmäßiges Recht ^betrachteten, und
 \da die gesetzliche Festlegung des Kriegsständes ohnehin entfiel, würde ein
  KVeglassen der Verteilung des Rekrutenkontingentes zu unerfreulichen Ausein¬
  andersetzungen führen. Der Herrscher gab schließlich in beiden Fragen nach,

   238 Begründungen zum vierten Entwürfe 14-25.
   239 Referat der zweiten Abteilung des Reichskriegsministeriums über die bestehenden Differenzen

         bei Berechnung des Rekrutenkontingentes für die kgl. ung. Landwehr v. 24. 5. 1888, KA.,

         MKSM. 20-1/4 ex 1888.
   240 Au. Referat über den § 14 des vierten Entwurfes betreff Festsetzung des Rekrutenkontingentes

         für die kgl. ung. Landwehr v. 25. 6. 1888, KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888.
   241 Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät in der kgl. Burg zu Ofen am

         17. 6. 1888 stattgehabte Konferenz betreffend den vierten Entwurf eines neuen Wehrgesetzes,
         KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888.
   242 Ah. Bemerkungen zum vierten Wehrgesetzentwurfe, KA., MKSM. 20-1/4 ex 1888.
|| || Einleitung  91

   bestand jedoch darauf, der ungarischen Regierung solle zur Kenntnis gebracht
   werden, daß er den Ausdruck „beide Staatsgebiete" für nicht korrekt erachtete.
   Die Ansichten über die beabsichtigten Verschaxfun^nTm"TEihjährig-lFreiwilli-
   gensystem deckten sich ebenfalls nicht. Fejerväry beanstandete, daß den Absol¬
   venten der Handelsschulen diese Begünstigung entzogen werde, und hielt den
( zweimaligen halbjährigen Militärdienst der Mediziner für zu lang, zog diesen
I Einwand aber nach der ungewöhnlich scharfen Bemerkung des Monarchen
\ zurück, es sei schließlich dem ungarischen Minister Trefort zu verdanken, daß
 \ dasJosephinum nicht wieder errichtet werden konnte.243'Alle diese Meinungs¬
  verschiedenheiten hatten aber für das Wehrgesetz insgesamt keine besondere
   Bedeutung, ebensowenig die Tatsache, daß aufgrund der Unterschiede zwischen
  dem österreichischen und dem ungarischen Strafgesetzbuch die in Aussicht
  gestellten Sanktionen in der österreichischen und der ungarischen Variante des
  Wehrgesetzes nicht völlig identisch sein konnten. Eine meritorische, die Hälfte
  der ganzen Beratungsdauer ausfüllende Debatte wurde um die Festlegung des
  Rekrutenkontingents der ungarischen Honved geführt, wobei die Differenzen
  nicht allein auf der abweichenden Berechnungsweise, sondern auch auf der
  unterschiedlichen Auslegung der Priorität beruhten. Eine Lösung brachte
  schließlich ein Vermittlungsantrag des Monarchen, der ein Kontingent von
   12 500 Mann vorschlug, welche Zahl dann auch in das Wehrgesetz aufgenom-,
  men wurde. Das Schlußwort, wonach vor allem der Bedarf des gemeinsamen
  Heeres gesichert werden mußte, zeugt dennoch davon, daß es nicht gelungen
  war, die sich in den Grundsätzen zeigenden Differenzen völlig zu überbrücken.

     Der Entwurf des Wehrgesetzes wurde am 29. Juni 1888 dem ungarischen
  Ministerrat vorgelegt,244 der keine sachlichen Einsprüche erhob und im Text nur
  kleinere Änderungen durchführte. Die bisher stets abgelehnte Erhöhung des
  Rekrutenstandes wurde jetzt vermutlich unter dem Eindruck der sich kaum
  vermindernden militärischen Krisensituation gebilligt, und die Einreihung der
  provisorisch Freigestellten in die Ersatzreserve hatte die ungarische Regierung
  schon anläßlich der Debatten über das Landsturmgesetz in Aussicht gestellt.245
  Im Laufe des Sommers wurden noch Verhandlungen über die Paragraphen
  bezüglich der Einjährig-Freiwilligen bzw. der Mediziner mit der österreichi¬
  schen Regierung und dem gemeinsamen Kriegsministerium geführt, in deren
  Verlauf erreicht wurde, daß die dienstverpflichteten Freiwilligen auch im zwei¬
  ten Jahr gewisse Begünstigungen erhielten und die Medizinstudenten, die ihre
  Studien absolviert, aber das Doktoratsrigorosum noch nicht abgelegt hatten,
  vom zweiten Jahresdienst befreit wurden.246 Diese Verhandlungen verzögerten
  aber die Pragmatisierung des Gesetzentwurfes kaum. Der ungarische Minister¬
  rat ermächtigte am 20. September 1888 den Landesverteidigungsminister, den

_44 13/MT. UngrMR. v. 29. 6. 1888. 2. Der Wehrgesetzentwurf, OL., K. 27, Karton 44.
245 Vgl. Anm. 155.

~46 14/MT. Ung.MR. v. 16. 8. 1888. 17. In Angelegenheit des Wehrgesetzantrages, OL., K. 27,
     Karton 44.
|| || 92 Einleitung

Gesetzentwurf zum geeigneten Zeitpunkt im Parlament einzubringen.247 Ein
ernsteres Hindernis verursachte im Entwurf der zum Wehrgesetz zu erlassenden
Durchführungsverordnung das Problem der Verteilung der sich im Rekruten¬
kontingent eventuell ergebenden Abgänge. Der Honvedminister berichtete in
der Sitzung des ungarischen Ministerrates vom 24. Oktober 1888,248 er habe sich
in der unter dem Vorsitz des Monarchen stattgefundenen Beratung249 auch
hinsichtlich solcher Fälle dafür eingesetzt, daß der gleiche Schlüssel angewendet
werde wie bei der Verteilung des Rekrutenkontingents, der gemeinsame Kriegs¬
minister aber habe, ebenso wie die übrigen Anwesenden, vor allem den Bedarf
der gemeinsamen Armee befriedigt sehen wollen, und es sei nicht gelungen, die
Meinungsverschiedenheiten zu überbrücken. Die ungarische Regierung ver¬
suchte zuerst eine Zwischenlösung zu finden, beschloß dann aber, sich mit einem
Ansuchen an den Monarchen zu wenden. Sie verlangte einen Beschluß des
gemeinsamen Ministerrates, daß der gemeinsame Kriegsminister den Muste¬
rungskommissionen nur im Einvernehmen mit dem ungarischen Landesvertei¬
digungsminister Weisungen erteilen könne, damit nicht infolge eventueller ge¬
heimer Weisungen - was schon vorgekommen sei - die ungarischen Honveds
weitere Nachteile erleiden müßten.250

   Das Protokoll schließt mit dem ominösen Satz, der Ministerrat sei sich dessen
bewußt, im Falle einer derartigen Lösung der Frage bei der Beratung des
Wehrgesetzes im Parlament zahlreichen Schwierigkeiten ausgesetzt zu sein -
eine Prophezeiung, die sich auch bewahrheitete. Das ungarische Abgeordneten¬
haus verabschiedete am 29. Januar 1889 den Gesetzesantrag im allgemeinen, mit
einer Mehrheit von 126 Stimmen, aber noch am gleichen Tag kam es zu einer
Straßendemonstration, die sogar die persönliche Sicherheit des Ministerpräsi¬
denten gefährdete,251 initiiert von den Universitätsstudenten, da sie die Ver¬
schärfungen im Freiwilligensystem unmittelbar betrafen. Der Ministerrat rea¬
gierte umgehend mit dem Beschluß, bei Wiederholung der Demonstrationen die
Universitäten schließen zu lassen.252 Die öffentliche Meinung unterstützte je¬
doch die Studenten, und Kalman Tisza mit seinem immer noch vorzüglichen
politischen Gespür setzte bei der detaillierten Behandlung des Gesetzesantrages
in dem gleichfalls umstrittenen § 14 die Einfügung der Bestimmung durch, daß
die Festsetzung des Rekrutenkontingents nur für zehn Jahre erfolge. Das war

 247 16!MT. Ung.MR. v. 20. 9. 1988. 1. In Angelegenheit des Wehrgesetzantrages, OL., K. 27,
      Karton 44.

 248 1 9/MT. Ung.MR. v. 24. 10. 1888. 3. In Angelegenheit der zum Wehrgesetz zu erlassenden
      Verordnung, OL., K. 27, Karton 44.

 249 Konferenz betreffend Durchführungsbestimmungen zum neuen Wehrgesetze, KA., MKSM.
      20-1 /4 ex 1888. - Von der Konferenz ist nur im Registrierbuch eine Spur zu finden, das Protokoll
      befindet sich nicht am angegebenen Ort.

 250 20/MT. Ung.MR. v. 29. 10. 1888. 1. In Angelegenheit der zum Wehrgesetz zu erlassenden
      Verordnung, OL., K. 27, Karton 44.

 251 Fe/erväry an Popp v. 29. 1. 1889, KA., MKSM. 28--1/1 ex 1889.
 252 5/MT. Ung.MR. v. 21. 3. 1889. 1. Über die Maßnahmen zwecks Verhinderung der Unruhen,

      die gelegentlich der Erörterung des Gesetzantrags bezüglich der Wehrkraft entstanden sind,
      OL., K. 27, Karton 44.
|| || Einleitung  93

eine reine Formalität, und auch dem Monarchen fiel es nicht schwer, dieser
Ergänzung zuzustimmen, weil er schon immer der Meinung war, daß der § 14
die Zeitdauer von zehn Jahren auch bisher beinhaltet hatte. Doch die ungarische
Opposition und einen Teil der Regierungspartei befriedigte dieses Zugeständnis
keineswegs, weswegen sie sehr bald neue Wünsche vortrugen. Wesentlich war
einstweilen, daß der Antrag Gesetzeskraft erlangt hatte. Die politische Führung

war wegen des ungarischen Verhaltens beunruhigt, die militärische Führung
hatte jedoch allen Grund, zufrieden zu sein. Der ungarische Gesetzartikel VI des
Jahres 1889 und das österreichische Gesetz vom 11. April 1889 erfüllten einen
Teil ihrer seit zwei Jahrzehnten erhobenen Forderungen. Diese Zufriedenheit
war aber nicht von langer Dauer: Es war knapp die Hälfte der auf zehn Jahre
festgesetzten Geltungsdauer des Wehrgesetzes vergangen, als der gemeinsame
Kriegsminister bereits einen neuen Wehrgesetzantrag stellte und für die gemein¬
same Armee nicht weniger als 183 000 Rekruten im Jahr beanspruchte.253

                  Das Budget des Kriegsressorts und die Weiterentwicklung der Wehrmacht

   Weiter oben wurde bereits eingehend behandelt, wieviel Arbeit es den gemein¬
samen Ministerrat kostete, die Deckung der beanspruchten Finanzmittel der
Militärführung zur Zeit der kriegerischen Krise in den Jahren 1886-1887 bzw.
1887-1888 zu sichern, zudem das Gremium nicht nur die bei besonderen Gele¬
genheiten beanspruchten Spezial- und Eventualkredite verhandeln mußte, son¬
dern auch das Jahresbudget der Wehrmacht, das den größten Teil seiner Tätig¬
keit beanspruchte. Der gemeinsame Ministerrat hielt regelmäßige jährliche
Sitzungen zur Erörterung des Budgetvoranschlages der gemeinsamen Angele¬
genheiten ab, wobei stets das Budget des Kriegsressorts im Mittelpunkt des
Interesses stand.

   Den Budgetentwurf des Kriegsressorts erstellte die Budgetabteilung des ge¬
meinsamen Kriegsministeriums, vorbehandelt wurde es durch eine militärische
Konferenz, dann wurde er dem gemeinsamen Ministerrat und schließlich den
Delegationen vorgelegt. Erstmals überprüft wurde der Budgetentwurf schon
durch die militärische Konferenz, zu einer gründlichen Debatte und zu wesentli¬
chen Streichungen kam es aber erst im gemeinsamen Ministerrat, so daß die
Delegationen an diesem nichts mehr änderten und die Vorlage ohne Modifizie¬
rung beschlossen. Der Haushaltsplan der gemeinsamen Armee setzte sich aus
drei Teilen zusammen: dem Ordinarium oder ordentlichen Erfordernis, dem
Extraordinarium oder außerordentlichen Erfordernis und dem Okkupations¬
kredit. Das Ordinarium diente der Deckung der laufenden Ausgaben der Armee
und umfaßte die größte Summfe, im allgemeinen 80-90% der Gesamtausgaben
des Heeres. Es verteilte sich auf 27 Titel, von denen die umfangreichsten für
Gehälter und Besoldung, Verköstigung, Altersrenten, Bekleidung und Bettzeug

 53 Begründungen und Erläuterungen zum ersten Entwurf eines neuen Wehrgesetzes. 1895, KA.,
    MKSM., Archiv Beck-Rzikowsky, Fase. 7, Nr. 226.
|| || 94 Einleitung

sowie für die Kasernierung bestimmt waren. Das Extraordinarium umfaßte
unter anderem die für Waffen und Munition, Bauten und Befestigungen vorge¬
sehenen Beträge und wies, den Bedarfsänderungen entsprechend, ziemlich große
Schwankungen auf. Ebenso verhielt es sich mit dem Okkupationskredit für die
Okkupation von Bosnien-Herzegowina und deren Aufrechterhaltung, der in
den Jahren 1878-1879 sogar das Ordinarium übertraf, von der Mitte der 80er
Jahre an aber auf 3-5% zusammenschrumpfte. Für die Kriegsmarine wurde ein
eigener Haushaltsplan aufgestellt, der sich ebenfalls in Ordinarium und Extraor¬
dinarium gliederte, wobei beim Ordinarium die Personalausgaben - dem Cha¬
rakter der Kriegsmarine entsprechend - einen wesentlich geringeren Anteil
bildeten.254

   Die Budgets von Heer und Kriegsmarine bildeten - wie bereits erwähnt -
einen sehr ansehnlichen Betrag, der sich auf 20-22% des Gesamthaushaltes der
Monarchie belief. Dazu kamen noch die Ausgaben für die ungarische Honved
bzw. die österreichische Landwehr sowie die nicht unbedeutenden Baukosten
strategischer Eisenbahnen, so daß die für militärische Zwecke verausgabten
Beträge zusammen nahezu ein Drittel des Budgets der Monarchie ausmachten.
Es verwundert daher gar nicht, daß die Regierungen der beiden Reichshälften
dem Kriegsressort gründlich auf die Finger schauten. Wenn sie schon gezwun¬
gen waren, diese beträchtlichen Ausgaben auf sich zu nehmen, waren sie zumin¬
dest bestrebt, deren Erhöhung zu verhindern. Die zum gemeinsamen Minister¬
rat reisenden Mitglieder der ungarischen Regierung erhielten Jahr für Jahr den
Auftrag, den Haushaltsplan des Kriegsressorts möglichst auf Vorjahrsniveau zu
halten.255 Mit diesem Wunsch fanden der ungarische Ministerpräsident und sein
Finanzminister bei den gemeinsamen Ministerberatungen auch das Einver¬
ständnis der Mitglieder der österreichischen Regierung, die vermutlich mit
einem ähnlichen Auftrag versehen worden waren.256 Das Budget des Kriegsres¬
sorts stieg dessenungeachtet kontinuierlich weiter, und der österreichische Fi¬
nanzminister Dunajewski stellte am 24. September 1884 fest, die Erhöhung habe
seit 1880 rund 9 700 000 Gulden betragen.257 Der Zuwachs des Ordinariums, der
selbstverständlich nicht auf dem Niveau von 1884 stehenblieb, ergab sich haupt¬
 sächlich aus den Gehaltserhöhungen, der gewachsenen Mannschaftsstärke und
 der Steigerung der Verpflegungskosten. Die Vertreter beider Regierungen wi¬
 dersetzten sich jedweder Erhöhung, zuweilen mit Erfolg, aber das Kriegsressort
 setzte mindestens ebenso oft seinen Willen durch. So schaltete es zum Beispiel
 als Subsistenzbeitrag für die Subalternen des Heeres 1 050 000 Gulden in das
 Ordinarium des Jahres 1886 ein, wozu ungeachtet des hartnäckigen Widerstan¬
 des beider Regierungen der gemeinsame Ministerrat schließlich doch seine

 254 Wagner, Die k. (u.) k. Armee 587-591.
 255 27)MT. Ung.MR. v. 20. 9.1883. 1. In Angelegenheit des gemeinsamen Budgets vom Jahre 1884,

       OL., K. 27, Karton 37.
 256 GMR. v. 24. 9. 1884, RMRZ. 318.
 257 Ebd.
|| || Einleitung  95

Zustimmung gab.258 Gegen die geplante Aufstockung des Heeres und deren
finanzielle Auswirkungen war der Widerstand noch größer, zumal es in dieser
Frage auch Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Militärführung gab. 1888
wollte der Generalstabschef den Friedensstand der Infanteriekompanien von 95
um 9 Mann erhöhen, aber das mißbilligte selbst der gemeinsame Kriegsminister,
teils wegen der Mehrkosten von 2 Millionen, teils wegen der Kasernierungspro¬
bleme.259 Infolge der verringerten Anzahl dauernd Beurlaubter, der Einberufung
von Reservisten und Ersatzreservisten und allgemein infolge der Erreichung des
normalen Friedensstandes der Armee erhöhte sich deren Bestand seit der zwei¬
ten Hälfte der 80er Jahre zwar nicht wesentlich, aber doch allmählich. Der dem
Haushaltsplan zugrunde liegende Armeestand betrug 1885 269 336 Mann,260
1890 hingegen 276 326 Mann,261 wozu noch 48 697 bzw. 50 750 Pferde kamen.
Und wenn einmal die Heeresaufstockung erfolgt war, mußte man auch deren
Kosten übernehmen. Die auf den ersten Blick nicht allzu wesentliche Erhöhung
der verschiedenen Haushaltsposten führte dazu, daß das Ordinarium von 97
Millionen im Jahr 1885 bis 1892 auf 104 Millionen wuchs. Gegenüber der
allmählichen Erhöhung durfte sich aber der gemeinsame Ministerrat des zwei¬
felhaften Erfolges rühmen, daß es ihm gelang, die für das Abendessen der
Mannschaft vorgesehenen 3,5 Millionen fünfzehn Jahre lang aus dem Voran¬
schlag zu streichen.

   Über das Budget des Kriegsressorts kam es zwischen dem gemeinsamen
Kriegsminister und den Vertretern beider Regierungen Jahr für Jahr zu Ausein¬
andersetzungen, die bis zur Mitte der 80er Jahre - man könnte sagen - in
kollegialem Geist ausgetragen wurden und mit deren Endergebnis eigentlich
beide Parteien zufrieden waren. Der gemeinsame Kriegsminister konnte sich
zugute halten, daß ihm alljährlich eine gewisse Erhöhung durchzusetzen gelang,
die beiden Regierungen wiederum verbuchten, einen beträchtlichen Teil der
veranschlagten Mehrkosten gestrichen zu haben. Die Taktik beider Regierun¬
gen, in erster Linie das Ordinarium stabil zu halten, erwies sich jedoch als
verfehlt.262 Die tatsächlich bedeutende Erhöhung der jährlichen Militärausga¬
ben in der Größenordnung von 10 Millionen ergab sich nämlich aus den von
Fall zu Fall genehmigten Spezialkrediten und der schon zur Regel gewordenen
erheblichen Steigerung des Extraordinariums. Bekanntlich stellten die Delega¬
tionen 1887 dem Kriegsressort einen Spezialkredit in der Höhe von 52,5 Millio¬
nen zur Verfügung und 1888 weitere 31 Millionen, deren überwiegenden Teil
die militärische Führung auch in Anspruch nahm. Seit 1887 belastete die Ein¬
führung der Repetierwaffen und dann die des rauchlosen Schießpulvers das
Budget, so daß das Extraordinarium von bisher jährlich 5 Millionen auf durch-

258 GMR. v. 22. 9. 1885, RMRZ. 322.
259 Vgl. Anm. 197.

260 A közös ügyek tärgyaläsära a magyar orszäggyüles ältal kiküldött s Öfelsege ältal 1885. evi
     Oktober ho 22-re Becsbe összehivott bizottsäg iromänyai 27.

261 A közös ügyek tärgyaläsära a magyar orszäggyüles ältal kiküldött s Öfelsege ältal 1980. evi
     jünius hö 4-ere Budapestre összehivott bizottsäg iromänyai 247.

262 GMR. v. 24. 9. 1885, RMRZ. 324.
|| || 96 Einleitung

schnittlich 15 Millionen im Jahr stieg. Und damit waren die Finanzansprüche
des gemeinsamen Kriegsministeriums immer noch nicht vollständig erfaßt, da
der Voranschlag naturgemäß erheblich höher lag als der genehmigte Betrag.
Der gemeinsame Kriegsminister veranschlagte beispielsweise 1890 Mehrausga¬
ben gegenüber dem Vorjahr von 33 Millionen.263 Die übermäßigen Forderungen
und die bedeutenden Steigerungen machten dem friedlichen Einvernehmen von
Militär und Zivilisten nur allzu bald ein Ende, und der gemeinsame Ministerrat
wurde zum Schauplatz außerordentlich heftiger Debatten. Der österreichische
Finanzminister Dunajewski erklärte in der Beratung vom 26. April 1890, die
übermäßigen Forderungen des Kriegsressorts könnten für die Monarchie die
traurigsten Folgen zeitigen,264 und am folgenden Tag verlangte der ungarische
Finanzminister Wekerle Rechenschaft über die früher für 1891 in Aussicht
gestellte Bedarfssenkung. Im nächsten Jahr aber warf der österreichische Fi¬
nanzminister Steinbach dem gemeinsamen Kriegsminister vor, er unterschätze
die Bedeutung des Gleichgewichtes des Staatshaushalts.265 Der gemeinsame
Kriegsminister Bauer, der 1888 an die Stelle von Bylandt-Rheidt getreten war,
erklärte bei solchen Anlässen stets feierlich, er lehne jede Verantwortung ab, und
überwies die Entscheidung in die Befugnis des Monarchen.266 In der so zuge¬
spitzten Situation vermochte aber auch der Herrscher die früher vorzüglich
eingespielte Rolle des Schiedsrichters nicht zu erfüllen und seine Vermittlungs¬
versuche mündeten häufig in jämmerlichen Anstrengungen. Sein Vorschlag, die
Gegensätze durch die Aufnahme ausländischer Kredite zu überbrücken, stieß
bei sämtlichen Teilnehmern des gemeinsamen Mmisterrates bekanntlich auf
Widerstand.267 Infolge der ungelösten Gegensätze war der gemeinsame Mini¬
sterrat zu Beginn der 90er Jahre dem inneren Zerwürfnis nahe.

    Die Gegensätze zwischen der militärischen Führung und den beiden Regie¬
rungen beruhten in erster Linie auf ihrer unterschiedlichen Sichtweise. Die
militärische Führung betonte immer, ohne entsprechende Entwicklung werde
 die Armee nicht in der Lage sein, die Monarchie im Kriegsfall verteidigen zu
 können; die beiden Regierungen erkannten die Wichtigkeit der Wehrmacht
 wohl an, argumentierten aber damit, die geregelten Finanzen seien im Kriegsfall
 mindestens ebenso wichtig wie die Armee selbst. Die ablehnende Haltung der
 beiden Regierungen ergab sich aber nicht zuletzt daraus, daß die militärische
 Führung niemals mit einer Entwicklungskonzeption, sondern nur mit zusam¬
 menhanglosen Teilvorstellungen auftrat und ihre Budgeterhöhungsanträge
 nicht ausreichend begründete. Der zweifellose Vorteil, daß über die internen
 Angelegenheiten der Wehrmacht ausschließlich der Monarch disponierte, ver¬
 wandelte sich in dieser Frage ins krasse Gegenteil, die Uninformiertheit der
 beiden Regierungen wurde zum größten Hindernis der Heeresentwicklung.

  263 GMR. v. 26. 4. 1880, RMRZ. 362.
  264 Ebd.
  265 GMR. v. 27. 4. 1880, RMRZ. 363.
  266 GMR. v. 18. 9. 1891, RMRZ. 368.
  267 GMR. v. 21. 9. 1891, RMRZ. 371.
|| || Einleitung  97

Wenn sich die militärische Führung vom Totpunkt fortbewegen sollte, an dem
man bei den Budgetdebatten wiederholt steckenblieb, mußte sie auf diesem
Gebiet eine Änderung vornehmen.

   Der Generalstabschef erstellte in der zweiten Hälfte der 80er Jahre jährlich
ein Memorandum über die militärische Lage der Monarchie, in dem er zumeist
die im betreffenden Jahr erzielten Erfolge summierte. Sie dienten ausschließlich
der internen Information, die nur den militärischen Kreisen zur Kenntnis kam.
Sein Memorandum von 1892 galt jedoch in erster Linie den Regierungen und
prüfte die militärische Lage der Monarchie in größerem zeitlichen Rahmen und
im Vergleich mit der militärischen Entwicklung anderer Mächte. Dem Elaborat
schloß sich ein Überblick über die militärischen Vorbereitungen Rußlands an
und ein Vorschlag für den weiteren Ausbau der Wehrmacht der Monarchie.268

   Der Generalstabschef bot in seinem Memorandum einen Überblick über die
Entwicklung der Wehrmacht der europäischen Mächte in den Jahren 1867 bis
1892 und verglich diese mit der militärischen Leistung der Monarchie im glei¬
chen Zeitraum. Die kommentarlos angeführten Daten ließen fast auf sämtlichen
Gebieten die Rückständigkeit der Monarchie erkennen. Am wenigsten zeigte
sich diese bei der Zeitdauer der Wehrpflicht, da während die Mächte die Zeit¬
dauer der Wehrpflicht im allgemeinen verdoppelt hatten, auch die Monarchie
nicht untätig geblieben war und diese von zwölf im Jahre 1868 schon 1886 auf
einundzwanzig Jahre erhöht hatte. Die Angaben über den Friedensstand und
den maximal erreichbaren Kriegsstand der Armeen der europäischen Mächte
bzw. über die Änderungen in den verflossenen 25 Jahren boten aber bereits ein
ganz deprimierendes Bild für die Monarchie. Hatte sie beim Friedens- und
Kriegsstand ihrer Armee im Jahr 1868 unter den fünf europäischen Großmäch¬
ten an vierter Stelle, fast auf gleicher Ebene wie der Norddeutsche Bund und
nur hinter Rußland wesentlich zurückgestanden, war sie 1892 auf den fünften
Platz, nun auch hinter Deutschland und Frankreich zurückgefallen. Besonders
der Abstand des maximalen Kriegsstandes hatte sich erheblich vergrößert. Die
Monarchie konnte 1892 im Kriegsfall 1 833 000 Soldaten bereitstellen, Deutsch¬
land demgegenüber 3 261 000, Rußland 3 846 000, Frankreich 3 969 000 und
selbst Italien noch 1 967 000 Mann. Womöglich noch deprimierender war der
Vergleich der Höhe der Militärbudgets. Der Generalstabschef stellte zuerst die
Budgets der fünf Großmächte in den Jahren 1868 und 1892 nebeneinander, die
sich bei allen stärker erhöht hatten als das der Monarchie, dann stellte er die
Gesamtausgaben der 25 Jahre einander gegenüber. Die militärischen Ausgaben
mit Ausnahme der Kriegs- und Wiedergutmachungskosten betrugen im betref¬
fenden Zeitabschnitt, in französchen Franken gerechnet in Frankreich
23 154 480 000, in Rußland 22 426 371 000, in Deutschland 14 208 000 000, in

268 Denkschrift über die allgemeinen militärischen Verhältnisse Ende 1892 mit einem Anhänge
     Darstellungen der russischen Kriegsvorbereitungen seit dem Jahre 1886. Zum reservierten
     Dienstgebräuche als Manuskript gedruckt. - Ausgabe A. Anhaltspunkte für den weiteren
     Ausbau unserer Wehrmacht als Beilage zur Denkschrift über die allgemeinen militärischen
     Verhältnisse 1892, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 90, Nr. 3.
|| || 98 Einleitung

Österreich-Ungarn 7 004 511 000 und in Italien 6 822 411 000. Die potentiellen
Gegner verausgabten demnach je dreimal soviel wie die Monarchie, der Verbün¬
dete ersten Ranges zweimal soviel, und es mag nur ein schwacher Trost gewesen
sein, daß sie Italien in dieser Hinsicht ein wenig überholte.

   Die Vergleichsdaten spiegelten insgesamt die Rückständigkeit der Monarchie
wider. In einer Zeit, da das Machtpotential an der Zahl der an der Front
einsetzbaren ausgebildeten Truppen gemessen wurde, war die Monarchie den
übrigen Kontinentalmächten wahrlich nicht ebenbürtig. Diese schon von den
Zeitgenossen formulierte Meinung machte sich auch die Geschichtsschreibung
zu eigen. G. E. Rothenberg zitiert in seinem Buch über die Armee der Monar¬
chie zustimmend den Diplomatiehistoriker A. J. P. Taylor, der nach einem
Vergleich der Posten des Militärbudgets zu der Schlußfolgerung gelangte, daß
sich die Monarchie aus dem Kreise der Großmächte ausgeschlossen hatte.269 Bei
der Bewertung der unbezweifelbaren Rückständigkeit gibt es sowohl bei den
Zeitgenossen wie auch bei der Geschichtsschreibung ein Moment, das mißver¬
standen werden kann. Schon der Generalstabschef erweckte mit seinen Zahlen¬
reihen den Eindruck, daß die Monarchie selbst gemessen an ihren eigenen
Möglichkeiten wenig leistete, und die Geschichtsschreibung interpretierte dieses
Phänomen als Endergebnis subjektiver Entscheidungen. Eine gründlichere Ana¬
lyse der vom Generalstabschef angeführten Daten liefert jedoch den Beweis
dafür, daß die Gründe für den Rückstand viel tiefer wurzelten. Die Militäraus¬
gaben betrugen 1892 in Rußland 6,8 Franken, in der Monarchie 9 Franken und
in Frankreich 16,9 Franken pro Kopf. Rußland vermochte für seinen maxima¬
len Kriegsstand 3,8% seiner Bevölkerung in Anspruch zu nehmen, die Monar¬
chie 4,6% und Frankreich 10,4%. Diese Angaben stimmten im wesentlichen mit
der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft und mit dem Pro-Kopf-Nationalein-
kommen der betreffenden Länder überein. Während aber Rußland dank seiner
Bevölkerungszahl und den Ausmaßen seiner Volkswirtschaft seinen Rückstand
gegenüber den Industriemächten ausgleichen konnte und diese ihrerseits infolge
ihrer Entwickeltheit ihre Leistungsfähigkeit zu steigern vermochten, erwies sich
die Monarchie als weder zum einen noch zum anderen fähig. Hinter Rußland
blieb sie durch den Unterschied in der Größenordnung und hinter Frankreich
durch den in der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft zurück und fiel in der
Rangordnung der europäischen Mächte gesetzmäßig auf den letzten Platz zu¬
rück. Und da dieser Zustand die Folge objektiver Gegebenheiten war, konnte
man ihn durch innere Umschichtungen auch kaum radikal ändern.

    Der Chef des Generalstabs konnte und wollte natürlich auch nicht die von
ihm angeführten Zahlenreihen in dieser Weise betrachten; er konnte nur fol¬
gern, daß die Monarchie, da sie infolge weniger Finanzaufwendungen hinter den
übrigen Großmächten zurückgeblieben sei, künftig größere Kraftanstrengun¬
gen machen müsse. Dementsprechend listete er die in sämtlichen Zweigen der
Wehrmacht zu treffenden wichtigsten Maßnahmen auf. In der Kategorie der
Massenarmee denkend, legte er den Nachdruck auf eine Erhöhung des Perso-

 269 Rothenberg, The Army of Francis Joseph 106.
|| || Einleitung  99

nalstandes. Da das jüngst verabschiedete Wehrgesetz eine Erhöhung des Rekru¬
tenstandes nicht ermöglichte, stellte er die Erhöhung des Friedensstandes mit
der offensichtlichen Absicht in den Vordergrund, damit gleichzeitig auch die
Mobilisierungsbedingungen zu verbessern. Bei der gemeinsamen Armee strebte
er eine Zunahme bei der Generalität als auch beim Offiziersstand an, bei
letzterem in dem Maße, daß auf jede Infanteriekompanie drei Berufsoffiziere
entfielen, außerdem stellte er beiden Landwehren und dem Landsturm die
Erhöhung des Offizierstandes in Aussicht. Bei den Mannschaften schlug er
abermals vor, den Friedensstand der Infanteriekompanien des gemeinsamen
Heeres um neun Mann zu erhöhen, in der österreichischen Landwehr die
Verdoppelung des bisher einjährigen Präsenzdienstes sowie die Schaffung eines
Ersatzreserverahmens für jedes Regiment und in der ungarischen Honved die
Verdoppelung des Friedensstandes. Ebenso beantragte er eine Erhöhung des
Standes bei der Kavallerie und der Artillerie. Weitere Vorschläge des General¬
stabschefs richteten sich auf Verbesserung von Ausrüstung und Bewaffnung,
Erhöhung der zur Mobilisierung benötigten Proviantvorräte, Schaffung eines
Uniform- und Waffenbestandes des Landsturms und Vervollkommnung des
Befestigungssystems; nur hinsichtlich der Kriegsmarine erwies er sich als knau¬
serig, da man dort mit der Aufrechterhaltung des bisherigen ziemlich niedrigen
Niveaus nach wie vor zufrieden war.270

   Mit dem Memorandum des Generalstabschefs beschäftigte sich die militäri¬
sche Konferenz unter Vorsitz des Monarchen am 16. Dezember 1892,271 an der
der Generalinspektor des Heeres, der gemeinsame Kriegsminister, der Chef des
Generalstabs, der Vorstand der Militärkanzlei des Herrschers und der Vorstand
des Präsidial-Bureaus des gemeinsamen Kriegsministeriums teilnahm. Die Kon¬
ferenz hatte eher informativen als polemischen Charakter. Die Notwendigkeit
der zu treffenden Maßnahmen bezweifelte niemand, und nur der Monarch
stellte Fragen zu den Einzelheiten, die teils der Generalinspektor des Heeres,
teils der Generalstabschef beantworteten. Aus der Zusammenfassung des Mon¬
archen ging dann auch hervor, daß der Zweck der Konferenz die Festlegung des
weiteren Vorgehens war. Demnach sollte das Memorandum des Generalstab¬
schefs zuerst den Regierungen zum Studium übergeben werden, sodann hatte
es samt Beilagen der gemeinsame Ministerrat zu erörtern, wobei der gemeinsa¬
me Kriegsminister seinen Kostenvoranschlag im Zusammenhang mit der Wei¬
terentwicklung der Wehrmacht vorlegen sollte.

   Der gemeinsame Ministerrat trat zu diesem Zweck erstmals am 2. Februar
1893 zusammen.272 Die Beratung richtete sich nach den Formalitäten, wie sie
bei der Erörterung des Jahresetats üblich waren. Der den Vorsitz führende
gemeinsame Außenminister umriß die Ungewißheit der außenpolitischen Lage,

270 Anhaltspunkte für den weiteren Ausbau unserer Wehrmacht, KA., MKSM., Separatfaszikeln,
     Fase. 90, Nr. 3.

271 Protokoll über die am 16. 12. 1892 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät stattgehabte
     Konferenz. KA., MKSM. 20-1/4 1892.

272 GMR. v. 2. 2. 1893, RMRZ. 377.
|| || 100 Einleitung

während der gemeinsame Kriegsminister und der Chef des Generalstabs die
Mängel der Wehrmacht hervorhoben. Inhaltlich wichen aber beide Berichte von
den ziemlich oberflächlichen Informationen der vorhergehenden Jahre ab. Die
Anwesenden erfuhren von Kdlnoky, daß die Monarchie trotz der günstigeren
außenpolitischen Lage durch die zahlenmäßige Überlegenheit der bereitstehen¬
den russischen Armee gefährdet wurde, während Beck genaue Angaben über
den Friedensstand des russischen Heeres und dessen Leistungsfähigkeit im
Kriegsfall machte. Der wirkliche Unterschied im Vergleich mit den früheren
Beratungen lag nicht in der vollständigeren Information, sondern in ihrer
Aufnahme. Der ungarische Ministerpräsident Wekerle erklärte, nachdem ande¬
re Mächte enorme Kraftanstrengungen zur Erreichung der Kriegsbereitschaft
machten, sei es auch für die Monarchie unerläßlich, die zur Entwicklung der
Wehrmacht notwendigen Maßnahmen im beschleunigten Tempo zu treffen. Der
österreichische Ministerpräsident erklärte in Kenntnis der politischen und mili¬
tärischen Lage ebenfalls seine prinzipielle Bereitschaft, einer Erhöhung der
Wehrmachtsausgaben zuzustimmen. Das war ein völlig anderer Ton als jener,
den der gemeinsame Kriegsminister seit Jahren zu hören bekam. Es hatte sich
als richtig und zweckmäßig erwiesen, die Karten der militärischen Führung vor
den Regierungen aufzudecken. Einwände und Vorbehalte gab es freilich auch
jetzt. Als der Chef des Generalstabs für das gemeinsame Heer und die beiden
Landwehren Mehranforderungen von 79 Millionen stellte und der gemeinsame
Kriegsminister schon für 1894 mit 12 Millionen Mehrausgaben rechnete, ver¬
langte der ungarische Ministerpräsident ein gründliches Studium dieser Mehr¬
ausgaben, während der österreichische Finanzminister die hohe Anfangssumme
beanstandete. Diese Einwände betrafen aber weder das Wesen der Sache, noch
waren sie so entschieden wie früher. Die an den österreichischen Finanzminister
gerichteten Worte des Generalstabschefs, man müsse sich beeilen, weil die
Ausrüstung der russischen Armee mit Repetierwaffen bis 1897 beendet sein
würde und man dann mit einem Krieg rechnen müsse, überzeugten alle. Der
ungarische Ministerpräsident gab, gleichsam im Namen sämtlicher zivilen Teil¬
nehmer der Konferenz, seiner Hoffnung Ausdruck, daß man den Ansprüchen
der militärischen Führung werde genügen können.

   In der folgenden Sitzung am 19. Februar 1893 bildeten weder der veran¬
schlagte Betrag noch die jährlich fälligen Summen Diskussionsthemen mehr.273
Nur Fejerväry bezeichnete den Betrag für die ungarische Honved als ungenü¬
gend und lehnte jede Verantwortung ab, falls die ungarische Honved ohne
entsprechende Ausrüstung gegen den Feind geführt würde, machte aber damit
auf niemand Eindruck. Der gemeinsame Ministerrat einigte sich darüber, von
 1894 bis 1899 der militärischen Führung 94 Millionen zur Verfügung zu stellen,
wovon auf das gemeinsame Heer 49 Millionen, auf die Kriegsmarine 10 Millio¬
nen, auf die österreichische Landwehr 22 Millionen und auf die ungarische
Honved 13 Millionen entfielen. Ebenso einigte man sich über die jährliche
Aufschlüsselung der Mehrausgaben für gemeinsame Armee und Kriegsmarine

 273 GMR. v. 19. 2. 1893. RMRZ. 378.
|| || Einleitung  101

für die Jalire 1894-1897. In der Sitzung vom 28. März 1893 gab der Monarch
seiner Befriedigung darüber Ausdruck, daß es gelungen war, sich bei der ersten
Gelegenheit über die Flüssigmachung des Geldbetrags zur perspektivischen
Entwicklung der Wehrmacht zu einigen, und sprach seine allerhöchste Anerken¬
nung und seinen Dank für die geleistete Arbeit aus.274

   Anläßlich der Erörterung des Haushaltsplans für das Jahr 1894 war die
Stimmung nicht mehr so feierlich, doch einigte man sich mit nie dagewesener
Schnelligkeit über den Budgetrahmen, und die Sitzung, die sonst stundenlang
dauerte, wurde jetzt - der Länge des Protokolls nach zu urteilen - binnen zwei
Viertelstunden beendet.275 Im Jahr darauf kam die Einigung womöglich noch
rascher zustande, und die Festlegung des Budgets der gemeinsamen Armee für
das Jahr 1895 nahm wahrscheinlich keine fünf Minuten in Anspruch.276 Das
Einvernehmen wurde bei der Gelegenheit nur dadurch etwas gestört, daß der
Marinekommandant Sterneck Mehransprüche stellte, was zu einer ziemlich
scharfen Polemik führte. Die Kriegsmarine war bekanntlich kein Präferenz¬
zweig der österreichisch-ungarischen Wehrmacht; daß sie von den Ausgaben
militärischer Natur einen recht bescheidenen Teil, kaum 10%, erhielt, lag unter
anderem daran, daß der Marinekommandant selbst nicht mehr beanspruchte.
Sterneck vertrat nämlich den Standpunkt der französischen „jeune ecole" und
bevorzugte statt der großen Kriegsschiffe die Torpedoboote und schwach ge¬
panzerten Rammkreuzer. Diese Schiffstypen könnten nicht nur den Küsten¬
schutz wirksamer versehen, sondern auch auf offener See den Kampf gegen die
großen Kriegsschiffe mit Erfolg aufnehmen.277 Diesen Standpunkt legte er bei
einer Gelegenheit auch im gemeinsamen Ministerrat dar,278 und als Anfang 1893
die Weiterentwicklung der Wehrmacht erörtert wurde, nahm er ohne Wider¬
spruch die für die Kriegsmarine vorgesehenen 10 Millionen Gulden an. Als er
aber im Frühjahr 1894 eine russisch-französische Flottenkonzentration im Mit¬
telmeer befürchtete, legte er in einem Memorandum dar, die Kräfteverhältnisse
hätten sich in einem solchen Ausmaß ungünstig für die Monarchie gewandelt,
daß die österreichisch-ungarische Kriegsmarine mit dem gegebenen Flottenbe¬
stand außerstande sei, die Aufgabe des Küstenschutzes zu versehen.279 Seiner
taktischen Auffassung entsprechend beantragte er den zusätzlichen Bau von drei
Kreuzern und machte dafür den ausgesprochen bescheidenen Mehranspruch
von einer Million geltend. Aber nicht einmal dieser Antrag konnte im gemeinsa¬
men Ministerrat auf günstige Aufnahme rechnen. Der ungarische Ministerpräsi¬
dent glaubte, eine Abweichung von der Vereinbarung aus dem Jahre 1893 vor
den gesetzgebenden Körperschaften nicht verteidigen zu können, und diesen
Standpunkt teilte auch der österreichische Ministerpräsident Windisch-Grätz.280

274 GMR. v. 28. 3. 1893, RMRZ. 379.
275 GMR. v. 21. 4. 1893, RMRZ. 380 - GMR. v. 22. 4. 1893, RMRZ. 381.
276 GMR. v. 29. 3. 1894, RMRZ. 385.
277 Hobelt, Die Marine 705-711.
278 GMR. v. 20. 9. 1891, RMRZ. 370.
279 Denkschrift des Admirals Freiherrn von Stemeck betreffend notwendige Verstärkung der

     Kriegsmarine, HHStA, PA. I, Karton 466.
280 Vgl. Anm. 276.
|| || 102 Einleitung

Der gemeinsame Ministerrat akzeptierte nicht einmal den Kompromißantrag
des österreichischen Finanzministers, die Mehrkosten könnten durch Verwen¬
dung der gemeinsamen Aktiven gedeckt werden, und so wurde der Antrag
Sternecks schließlich abgewiesen.281 (Zu ergänzen ist, daß es später doch noch
zur Flüssigmachung der beantragten einen Million kam, indem sie der gemein¬
same Ministerrat im folgenden Jahr als Nachtragskredit genehmigte, womit er
einen Präzedenzfall für die budgetwidrige Praxis schuf.)282 - Anläßlich der
Budgeterörterung für 1896 kam das alte Thema, die dritte Mahlzeit der Mann¬
schaft, abermals auf die Tagesordnung, aber der gemeinsame Ministerrat wollte
dieser nur zustimmen, wenn andere Posten gestrichen werden konnten. In
Kenntnis der Vorgeschichte wundert es gar nicht, daß die Mannschaft nach wie
vor mit leerem Magen auf den Zapfenstreich warten mußte.283

   Wie ersichtlich, kam es im gemeinsamen Ministerrat auch nach der Annahme
des Armeentwicklungsprogramms vom Jahre 1893 zu Meinungsverschiedenhei¬
ten, doch waren diese mit den früheren scharfen Polemiken nicht zu vergleichen.
Der alte kollegiale Geist zwischen Militärs und Zivilisten wurde wiederherge¬
stellt und das Kriegsressortbudget im größten Einvernehmen den Delegationen
vorgelegt. Freilich war das nur ein Waffenstillstand und kein dauernder Friede,
der nur hätte zustande kommen können, wenn die militärische Führung von
weitergehenden Forderungen ein für allemal Abstand genommen hätte, was sie
keineswegs beabsichtigte. Als Kälnoky anläßlich seiner letzten Teilnahme am
gemeinsamen Ministerrat seine Hoffnung ausdrückte, daß es in der ferneren
Zukunft zur Senkung des Militärbudgets kommen werde,284 widersprach selbst
der Monarch seinem Außenminister: Wenn Rußland seine weitere Aufrüstung
nicht einstellen würde, müsse die Monarchie ihre Wehrmacht noch eine geraume
Zeit weiterentwickeln.285 Und so geschah es. Das Militär mußte aber zu seiner
nicht geringen Enttäuschung erfahren, daß es demzufolge auch mit dem schwer
erreichten Konsens zu Ende war und der gemeinsame Ministerrat wieder zum
Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen und Zusammenstöße wurde.

                             IV. Die strategischen Eisenbahnlinien

Die österreichisch-ungarische Monarchie verfügte auch zu Beginn der 1880er
Jahre im europäischen Vergleich über ein ziemlich dichtes Eisenbahnnetz. Sämt¬
liche größeren Städte des Reiches waren untereinander mit Eisenbahnlinien
verbunden, und auch zu allen benachbarten Ländern bestanden Eisenbahnver¬
bindungen. Der Eisenbahnbau, der in Österreich 1832 mit der Eröffnung der
Linie Linz-Budweis und in Ungarn 1847 mit jener der Linie Pest-Waizen

 281 GMR. v. 29. 3. 1894, RMRZ. 385.
 282 GMR. v. 18. 4. 1895, RMRZ. 387.
 283 GMR. v. 17. 4. 1895, RMRZ. 386.
 284 Ebd.
 285 GMR. v. 18. 4. 1895, RMRZ. 388.
|| || Einleitung  103

begann, erfuhr namentlich nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von
1867 einen kräftigen Aufschwung. Im Jahr des Ausgleiches betrug die Länge der
österreichischen Eisenbahnlinien 4145 km, die der ungarischen 2160 km, Ende
der 70er Jahre hingegen rollten die Züge in Österreich schon auf einer Strecke
von 11 000 km und in Ungarn von 7000 km. Die sich wie ein Pilzgeflecht
ausbreitenden Eisenbahnlinien dienten hauptsächlich kurzfristigen wirtschaftli¬
chen Bedürfnissen und schufen in erster Linie Verbindungen zwischen den
Rohstoffstätten und den Industriegebieten, sowie den Agrargebieten und den
Verbrauchszentren, doch ließ sich hinter dieser Improvisation eine gewisse
Planmäßigkeit erkennen. Die erste eisenbahnpolitische Konzeption entstand in
Österreich schon zur Zeit des Vormärz (in Ungarn Reformzeit genannt): Franz
Riepl wollte in seinem Entwurf vom Jahr 1834 die entferntesten nordöstlichen
Gegenden mit der Adria verbinden, später wollte Karl Ghega in seiner 1853
ausgearbeiteten Konzeption mit drei west-östlichen und drei nord-südlichen
Eisenbahnlinien das Gesamtgebiet der Monarchie erschließen.286 In Ungarn
sollte nach einem Entwurf ebenfalls aus dem Vormärz Pest zum Eisenbahnzen¬
trum des Landes werden, außerdem sollten Verbindungen mit der Adria, Gali¬
zien und dem Balkan geschaffen werden.287 In den Eisenbahnbauten nach dem
Ausgleich wurden die Elemente dieser eisenbahnpolitischen Konzeptionen in
beiden Staaten sichtbar, weil der Staat über die nötigen Finanzmittel verfügte,
um die Linienführung der zu bauenden Eisenbahnen beeinflussen zu können.

                                     Die strategische Bedeutung der Eisenbahnen

   Beim Ausbau der Eisenbahnlinien spielte auch der strategische Gesichts¬
punkt eine Rolle. Obwohl in den ersten Jahrzehnten des Eisenbahnbaus, in den
40er und 50er Jahren, sich noch keine auf der Basis der allgemeinen Wehrpflicht
organisierten Massenarmeen gegenüberstanden sowie Masse und Mobilität
noch keineswegs als Leitprinzipien der Heeresführung galten, hatten Weitblik-
kende die Vorteile erkannt, welche die Eisenbahn für die rasche Truppenkon¬
zentration bot. Zwar gehörte die Heeresführung der Monarchie in dieser Bezie¬
hung nicht zu den Vorreitern der Entwicklung, doch stellte man auch im
altväterlichen Gebäude des Kriegsministeriums Am Hof erste Berechnungen
über die Zeitdifferenz von Fußmarsch und Eisenbahntransport an. Es ist gewiß
kein Zufall, daß die in den 50er Jahren ausgebauten Hauptlinien in Richtung
der beiden möglichen Kriegsschauplätze Italien und Preußen wiesen. Der Krieg
von 1859 und besonders der von 1866 ließen die Wichtigkeit der Eisenbahn
deutlich werden: Das österreichische Heer erlitt unter anderem deshalb eine
Niederlage, weil es den Weg von Olmütz in die Umgebung von Königgrätz im
Fußmarsch zurücklegte. In der militärischen Denkweise gewann aber die Eisen¬
bahn erst unter dem Einfluß des deutsch-französischen Krieges ihre richtige

286 Geyer, Der Ausbau des nordöstlichen Eisenbahnnetzes 14-15.
287 Magyarorszäg törtenete 1848-1890 979-980.
|| || 104 Einleitung

Bedeutung. Die schnellen und durchschlagenden preußischen Erfolge ergaben
sich nicht zuletzt daraus, daß die Mobilisierung mit der Eisenbahn rascher vor
sich ging und mittels den zur französischen Grenze führenden Eisenbahnlinien
ein über entscheidendes Übergewicht verfügendes Heer auf den Kriegsschau¬
platz gelangte. Unter dem Einfluß dieser Erfahrung wurden die Politiker und
das Militär sozusagen sämtlicher Länder zu Eisenbahnbesessenen. Sie maßen
die Größe der Bedrohung an der Dichte der aus dem Nachbarland in Richtung
ihrer Grenze führenden Eisenbahnen und identifizierten umgekehrt die eigene
Sicherheit mit dem Vorhandensein strategischer Eisenbahnen. Als Andrässy
1872 in der Außenpolitik der Monarchie die Wende zur Rußlandfeindschaft
durchführte, war eines seiner wichtigsten Argumente, daß die russischen Eisen¬
bahnlinien in Richtung der Grenzen der Monarchie von der Fähigkeit und
Absicht zum Angriff zeugten.288

   Das nordöstliche Grenzgebiet der Monarchie, das vom Beginn der 70er Jahre
an als möglicher Kriegsschauplatz betrachtet wurde, stand weder mit seiner
Eisenbahndichte noch mit den dorthin führenden Eisenbahnlinien auf dem
Niveau der besser entwickelten Regionen des Reiches. Der stark agrarische
Charakter Galiziens erforderte weder den Ausbau des inneren Eisenbahnnetzes
noch die Verbindung mit den besser entwickelten Regionen, und strategische
Überlegungen fielen in den 50er und 60er Jahren nicht nennenswert ins Gewicht.
Zu Beginn der 70er Jahre reichte die Eisenbahnlinie von Wien in nordöstlicher
Richtung erst bis Lemberg, und von Ungarn aus führte keine einzige Eisenbahn¬
linie über die Karpaten nach Galizien. Dann aber wurde angesichts der Wahr¬
scheinlichkeit eines russischen Krieges dem nordöstlichem Gebiet ein viel größe¬
res Augenmerk gewidmet als zuvor. In diesem Jahrzehnt wurde die Hauptlinie
der Eisenbahn von Lemberg bis an die russische Grenze ausgebaut und zwei
Eisenbahnlinien über die Karpaten geführt. Galiziens strategische Lage blieb
jedoch nach wie vor kritisch, vor allem trennte der hohe Gebirgszug der Karpa¬
ten diesen Landesteil von den übrigen Teilen des Reiches, was sowohl den
Aufmarsch wie auch die Verteidigung erschwerte, überdies führte die Galizien
von West nach Ost durchquerende Eisenbahnlinie so nahe zur russischen Gren¬
ze, daß eine angreifende russische Armee sie ohne besondere Schwierigkeiten in
Besitz nehmen und den Aufmarsch der österreichisch-ungarischen Wehrmacht
erheblich stören konnte.

    Die militärische Führung der Monarchie rechnete bekanntlich im Falle eines
Krieges gegen Rußland von Anfang an mit einer strategischen Offensive.289 In
den Aufmarschplänen der 70er Jahre hat man anscheinend den Eisenbahnlinien
keine primäre Bedeutung beigemessen und auch die kritische Lage der galizi-
schen Eisenbahnlinien nicht ausreichend erwogen. Im Aufmarschplan vom 12.
Februar 1878 wurde dem Fußmarsch noch eine fast gleiche Rolle eingeräumt
wie dem Eisenbahntransport und mit der Möglichkeit der russischen Wehr¬
macht, den Aufmarsch auf der west-östlichen Hauptbahnlinie zu stören, eigent-

 288 Lutz, Politik und militärische Planung 31-32.
 289 Vgl. Anm. 36-38.
|| || Einleitung  105

lieh noch gar nicht gerechnet. Der Chef des österreichisch-ungarischen General¬
stabs hatte nur auf den Eisenbahnen im ostgalizischen Grenzgebiet Sicherheits¬
vorkehrungen vorgesehen.290 In den 80er Jahren rückte die Eisenbahn hingegen
schon völlig ins Zentrum der strategischen Planung, und der Erfolg einer
strategischen Offensive wurde mit einem raschen und ungestörten Eisenbahn¬
transport in Zusammenhang gebracht. Namentlich der neuernannte General¬
stabschef Feldmarschalleutnant Beck sah im Eisenbahntransport einen kriegs¬
entscheidenden Faktor. Daß die geplante strategische Offensive von Ostgalizien
ausgehen sollte, erhöhte noch die Wichtigkeit eines schnellen und sicheren
Aufmarsches und damit die Bedeutung der Eisenbahn.291

   Im Eisenbahnbau spielte - wie gesagt - der Staat eine wesentlich bedeutende¬
re Rolle als in anderen Sektoren der Volkswirtschaft. Infolge des außerordent¬
lich hohen Kapitalbedarfs derartiger Vorhaben baute der Staat die Linien
entweder in eigener Regie oder übernahm zumindest die Garantie für die
Kapitalzinsen. Dabei folgte die Monarchie völlig den westeuropäischen Mu¬
stern; ebenso wie dort sorgten auch in der Monarchie inartikulierte staatliche
Gesetze für den Bau der einzelnen Eisenbahnlinien. Spezifika ergaben sich aus
der staatsrechtlichen Einrichtung der Monarchie nach 1867. Das Eisenbahnwe¬
sen galt als innere Angelegenheit beider Reichshälften und gehörte in die Kom¬
petenz der österreichischen bzw. ungarischen Regierung, während die durch
beide Staaten führenden Eisenbahnen zu den Angelegenheiten von gemeinsa¬
mem Interesse (oder den gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten) gehör¬
ten. Die Streckenführung und die Bestimmung der Anschlußpunkte wurden in
direkten Verhandlungen der Verkehrsministerien beider Staaten geklärt. Die
bereits vorhandenen oder für erforderlich erachteten, für die Kriegsführung
strategisch wichtigen Eisenbahnlinien gehörten staatsrechtlich teils zur ersteren
und teils zur letzteren Kategorie, dennoch war nicht zu erwarten, daß der Bau
von Eisenbahnlinien dieses Typs von der österreichischen oder der ungarischen
Regierung beantragt wurde. Diese Eisenbahnen waren eigentlich von Reichs¬
interesse, obwohl das Staatsrecht ein solches nicht kannte, und die Initiative lag
beim gemeinsamen Kriegsministerium. Dieses wandte sich auf Wunsch des
Generalstabs im Bedarfsfälle an beide Regierungen oder direkt an ihre Ver¬
kehrsministerien; eine derartige Intervention war aber nicht immer wirksam
genug. Um zur Entscheidung und erforderlichen Absprache zu kommen, war
ein höheres Regierungsforum vonnöten, welches nur der gemeinsame Minister¬
rat sein konnte. Und obwohl keinerlei Rechtsnorm verfügte, daß sich der
gemeinsame Ministerrat auch mit Fragen des Eisenbahnwesens zu befassen
habe, und die Eisenbahnen von gemeinsamem Interesse ausschließlich durch
direkte Verhandlungen der beiden Verkehrsministerien erledigt wurden, bildete
sich die Praxis heraus, den Bau strategisch wichtiger Eisenbahnen oder auch nur

290 Vortrag des Chefs des Generalstabes v. 12. 2. 1878. Kriegsfall gegen Rußland zweite Variante:
     Aufmarsch in Ostgalizien, KA., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 75, Nr. 8.

291 Umarbeitung des Aufmarschelaborates für den Kriegsfall gegen Rußland. Vortrag des Chefs
     des Generalstabes v. 21. 12. 1882, KA., MKSM. 69-2/1 ex 1883.
|| || 106 Einleitung

ihre Kapazitätserhöhung selbst dann dem gemeinsamen Ministerrat vorzulegen,
wenn diese Eisenbahnlinien nur durch das Gebiet eines Staates führten. So war
es auch im Sommer 1870, als der gemeinsame Kriegsminister - im Hinblick auf
einen möglichen russischen Krieg - die Fertigstellung der Linien Csap-Ungvär,
Huszt-Kirälyhäza und Stryj-Lemberg verlangte,292 sowie nach 1878, als An-
drässy den Weiterbau der ersten ungarisch-galizischen Eisenbahnen über die
Karpaten betrieb,293 und nach 1878, als der gemeinsame Ministerrat bei zahlrei¬
chen Gelegenheiten über eine direkte Verbindung nach Sarajevo verhandelte.294
Als Generalstabschef Beck zu Beginn der 80er Jahre mit seinen umfangreichen
Eisenbahnforderungen auftrat, um die Mitte der 80er Jahre ihre Kapazitätser¬
höhung anstrebte und schließlich zu Beginn der 90er Jahre weitere Neubauten
forderte, fanden es sämtliche Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates ganz
natürlich, daß dieses Gremium die vorgelegten Anträge besprach.

                                    Das Eisenbahnbauprogramm vom Jahre 1883

   Das Problem der galizischen und der nach Galizien führenden strategischen
Eisenbahnen wurde genauso wie das Landsturm-, das Kriegsleistungs- und das
Pferdestellungsgesetz Anfang 1883 im Zusammenhang mit der geplanten strate¬
gischen Offensive vom gemeinsamen Ministerrat behandelt. Generalstabschef
Beck legte am 4. Februar 1883 eine komplette Eisenbahnbaukonzeption zur
Beratung vor.295 Gleichsam als einleitende Begründung trug er vor, daß einem
Aufmarsch in Galizien nur die eine Hauptlinie von Oswi?cim bis Tarnopol mit
Anschluß an die Nordbahn von Wien nach Oderberg bzw. an die aus Ungarn
kommenden beiden Eisenbahnlinien von Kaschau nach Leluchöw und von
Sätoraljaüjhely nach Przemysl zur Verfügung stünde. Die Kapazität der Nord¬
bahn betrug bis Oderberg täglich 40 hundertachsige Züge, von dort bis Oswi§-
cim hingegen nur 26 Züge und von Krakau bis Lemberg nur noch 15 Züge. Die
Kapazität der von Ungarn kommenden Eisenbahnen war - da es sich um
Gebirgsstrecken handelte - mit nur 15 siebzigachsigen Zügen pro Tag noch
geringer. Letzteres bedeutete für einen Aufmarsch - da für ein Armeekorps 60
hundertachsige Züge erforderlich waren -, daß die Verlegung der sechs ungari¬
schen Armeekorps in den Operationsraum 30 Tage in Anspruch nahm.

   Zu seiner Eisenbahnbaukonzeption selbst trug der Generalstabschef vor, die
Militärführung erachte drei Typen von Eisenbahnen für wichtig. Erstens Bahn¬
linien für den sicheren und schnellen Aufmarsch, zweitens Radiallinien in
Richtung des Angriffs und drittens Linien für operative und Nachschubzwecke.
Beim ersten Typ maß der Generalstabschef vor allem dem Bau der Galizien in
west-östlicher Richtung durchquerenden, parallel zur bereits bestehenden

 292 Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 69-71.
 293 GMR. v. 25. 2. 1873, HHStA., PA. XL, Karton 287.
 294 GMR. v. 1. 9. 1878, HHStA., PA. XL, Karton 290.
 295 GMR. v. 4. 2. 1883, KA„ MKSM. 20-1/6-4 von 1883.
|| || Einleitung  107

Hauptlinie verlaufenden galizischen Transversalbahn von Saybusch nach Husi-
atyn primäre Bedeutung bei. Wichtig sei außerdem eine Umleitungslinie Oswi?-
cim-Skawina-Krakau, da die ursprüngliche Linie der Nordbahn zwischen Os-
wigcim und Krakau nur einen Kanonenschuß weit von der russischen Grenze
verlief und schon durch Angriffe der russischen Kavallerie gestört werden
konnte. Schließlich verlangte er bei diesem Typ noch den Bau einer Bahnlinie
zwischen Sucha und Skawina als Verbindung zwischen der Nordbahn und der
neu zu erbauenden galizischen Transversalbahn. Daß in der Gruppe der Radial¬
linien in Richtung des Angriffs die Anzahl der von Ungarn nach Galizien
führenden Linien zu vermehren war, lag auf der Hand. Der Generalstabschef
befürwortete dementsprechend den Ausbau der Bahnlinien Trentschin-Sillein
und Csäcza-Saybusch, damit von Preßburg aus eine direkte Verbindung mit der
galizischen Transversalbahn und über diese mit der früheren Hauptlinie Oswi§-
cim-Tarnopol, der Karl-Ludwig-Bahn entstand. Den Bau einer neuen Karpa¬
tenlinie zwischen Munkäcs und Stryj unterstützte er gleichfalls mit dem gewich¬
tigen Argument, daß diese Bahn die Folgen von Verkehrsstörungen auf anderen
Linien weitgehend ausgleichen könne. Von den unmittelbar operativen und
Nachschubzwecken dienenden Linien hob er die Wichtigkeit einer Verbindung
Jaroslau-Rawaruska-Sokal und Rzeszöw-Sandomierz hervor, mit denen die
Einheiten von der Karl-Ludwig-Bahn unmittelbar an die russische Grenze
gelangen konnten.

   Zu dieser umfassenden und logischen Eisenbahnbaukonzeption insgesamt
hatten die Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates nichts einzuwenden. Ein¬
mal hielten sie sich in der Angelegenheit der strategischen Eisenbahnen nicht für
zuständig, und zum anderen war ein Teil dieser Bahnlinien nicht mehr in der
Planungsphase, sondern bereits im Bau. So erteilte die österreichische Regie¬
rung schon im Jahre 1881 die Konzessionen zum Bau einzelner Abschnitte der
galizischen Transversalbahn, und auch die Strecke Oswi^cim-Krakau sowie die
Linien in Richtung der russischen Grenze zur Sicherung des Nachschubs befan¬
den sich bereits im Stadium der Ausführung. Der österreichische Verkehrsmini¬
ster Pino konnte sich auf die Bekanntgabe der Übergabe der im Bau befindli¬
chen Strecken beschränken: die der Linie Oswigcim-Skawina sei für das Jahres¬
ende und die der galizischen Transversalbahn für Oktober 1884 zu erwarten. Im
Zusammenhang mit den von der west-östlichen Hauptlinie nach Norden ab¬
zweigenden, dem Nachschub dienenden Linien sprach er wohl von gewissen
Schwierigkeiten, stellte aber auch die Fertigstellung eines Teiles von ihnen in
Aussicht. Ein wirkliches Problem bedeutete der Wunsch des Generalstabschefs
nach neuen Eisenbahnverbindungen zwischen Ungarn und Galizien. Bei dem
Bau der Verbindung zwischen Csäcza und Saybusch tauchten technische
Schwierigkeiten auf, und für die Verbindung zwischen Munkäcs und Stryj war
noch nicht einmal die Streckenführung festgelegt. Im Zusammenhang mit letzte¬
rer berichtete der österreichische Verkehrsminister Pino, daß die österreichische
Regierung auch die Möglichkeit einer Linie Huszt-Dolina erwogen habe, der
ungarische Verkehrsminister Kemeny sprach hingegen von den Schwierigkeiten

des Baus und der Inbetriebhaltung. Obwohl man in Ungarn im allgemeinen zum
|| || 108 Einleitung

System der Staatseisenbahn übergegangen sei, habe die Regierung aus handels¬
politischen Gründen Vorbehalte hinsichtlich der staatlichen Errichtung dieser
Eisenbahnlinie. Diese etwas unklare Formulierung besagte, daß die ungarische
Regierung die beiden bestehenden Eisenbahnverbindungen mit Galizien wirt¬
schaftlich für ausreichend hielt und sich für den Bau einer neuen, unwirtschaftli¬
chen Eisenbahn nicht in Ausgaben stürzen wollte. Im gemeinsamen Ministerrat
zwei Tage später, am 6. Februar, wurden - obwohl die Streckenführung der
Linie nicht mehr zur Debatte stand - sowohl österreichischer- wie ungarischer-
seits so viele Vorbehalte vorgebracht, daß der Monarch mit Bedauern feststellen
mußte, die Meinungsverschiedenheiten seien so scharf, daß sie einen Ausweg
unmöglich machten.296

   Die Angelegenheit der strategischen Eisenbahnen wurde nach einer Pause
von mehr als einem halben Jahr im Herbst 1883 abermals dem gemeinsamen
Ministerrat vorgelegt. In der Beratung am 11. November ohne ungarische
Beteiligung kamen die auf österreichischem Staatsgebiet bereits im Bau befindli¬
chen Eisenbahnen zur Sprache.297 Pino erstattete Bericht über die Bauarbeiten
der galizischen Transversalbahn und auch über die technischen Probleme der
Linie nach Csäcza. Dabei stellte sich heraus, daß die Erfüllung der Wünsche des
Generalstabs auch von seiten der österreichischen Regierung nicht problemlos
war. Über das zweite Gleis zwischen Tarnöw und Jaroslau sagte Pino, daß man
- so sehr es auch wünschenswert sei - die Eisenbahngesellschaft nicht zu dessen
Bau zwingen könne, und wegen der Eisenbahn zwischen Lemberg und Toma-
szöw könne die Regierung infolge der hohen Kosten der übrigen galizischen
Eisenbahnen nicht schon wieder mit neuen Forderungen an den Reichsrat
herantreten. Der Generalstabschef reagierte selbstverständlich auf die Einwän¬
de mit dem erneuten Hinweis auf die strategische Bedeutung der betreffenden
Bahnlinien. Mit Erleichterung konnte er hingegen zur Kenntnis nehmen, daß
die ungarische Regierung ihren Widerstand gegen den Bau einer neuen Linie
über die Karpaten aufgegeben hatte. Der ungarische Ministerrat nahm am 20.
November 1883 positiv zu den Linien Munkäcs-Stryj und Csäcza-Saybusch
Stellung, indem er die Vorlage des Gesetzesantrags bzw. dessen entsprechende
Modifizierung in Aussicht stellte und auch die Vorverhandlungen über die vom
Generalstabschef gewünschte Linie Großwardein-Debreczin einleitete.298
Daher kam es im folgenden gemeinsamen Ministerrat am 25. November nur
noch zur Erörterung der technischen Probleme dieser Eisenbahnlinien und der
Fragen ihrer künftigen Betreibung.299 Die Hindernisse der ersten großen Eisen¬
bahnbaukonzeption des Generalstabschefs waren aus dem Wege geräumt, und
was bis dahin nur als Projekt existiert hatte, ging seiner praktischen Verwirkli-

 296 GMR. v. 6. 2. 1883, KA„ MKSM. 20-1/6-5 von 1883.
 297 GMR. v. 11. 11. 1883, RMRZ. 316.
 298 33/MT. Ung.MR. v. 20. 11. 1883. V. Die Eisenbahn Munkäcs-Stryj. - VI. Die Eisenbahn

      Csäcza-Saybusch. - VII. Die Eisenbahn Großwardein-Debreczin, OL., K. 27, Karton 37.
 299 GMR. v. 25. 11. 1883, RMRZ. 317.
|| || Einleitung  109

chung entgegen. Im Jahre 1884 wurden die Bauarbeiten an sämtlichen Abschnit¬
ten der galizischen Transversalbahn beendet und 1887 auch der Verkehr auf der
Linie Munkäcs-Stryj aufgenommen.300

                                      Das Ergänzungsprogramm vom Jahre 1887

   Falls die beiden Regierungen gehofft hatten, mit der Erfüllung des 1883er
Eisenbahnbauprogramms die Wünsche des Generalstabs für lange Jahre befrie¬
digt zu haben, erlebten sie bald eine Enttäuschung. Der Generalstabschef legte
im August 1887 in einem erneuten umfangreichen Memorandum an die österrei¬
chische und ungarische Regierung eine weitere lange Liste von Eisenbahnbauten
vor.301 Begründet wurden die Neubauten und Kapazitätserweiterungen trotz der
zweifellos erzielten Erfolge mit den bereits bekannten strategischen Argumen¬
ten: Nur die Armee hat eine Siegeschance, welche rascher und mit größeren
Kräften den Kriegsschauplatz erreicht, wie dies der deutsch-französische Krieg
bestätigt hatte, und die Monarchie wird den Krieg nur dann gewinnen können,
wenn sie die Initiative ergreife. Die konkrete Lage sei so, daß Rußland in jeder
Beziehung über Positionsvorteile verfüge, weil der zukünftige Kriegsschauplatz
in geographischer Beziehung für Rußland günstiger lag, weil ein Viertel der
russischen Armee schon zu Friedenszeiten an den Grenzen Galiziens stationiert
war und weil die russische Armee infolge der größeren Kapazität der russischen
Eisenbahnen den Aufmarsch rascher abwickeln konnte. Die österreichisch¬
ungarischen Eisenbahnlinien konnten täglich 76 Militärzüge an den Kriegs¬
schauplatz bringen, die russischen hingegen 94, was innerhalb kurzer Zeit ein
derartiges russisches Übergewicht ergeben mußte, das sich unter den gegebenen
Verhältnissen unmöglich ausgleichen ließ. Die Monarchie müsse teils durch
Entwicklung, teils durch Kapazitätssteigerungen der Eisenbahnen in die Lage
versetzt werden, mindestens 15 Züge mehr an die Front befördern zu können
als die Russen. Deshalb sei es nötig, die gesamte Strecke von Budapest bis
Przemysl zweigleisig auszubauen, ebenso die Nordbahn im Abschnitt Oderberg
-Oswi^cim-Podgörze und die Karl-Ludwig-Bahn im Abschnitt Krakau-Lem¬
berg, weiterhin eine Linie über Gran von Altsohl nach Rzeszöw und eine
Verbindung von Märamarossziget nach Stanislau zu schaffen. Auch die Anzahl
von Lokomotiven sei zu erhöhen, da die Monarchie hinsichtlich der auf einen
Kilometer entfallenden Lokomotiven weit hinter Deutschland und Rußland
zurückgeblieben sei. Der Chef des Generalstabs ging auf die Krise zur Jahres¬
wende 1886/87 und auch auf die Spannungen vom Ende des Sommers 1887
nicht ein, doch war für jeden offensichtlich, daß die beantragten Maßnahmen

300 Geyer, Der Ausbau des nordöstlichen Eisenbahnnetzes 88 bzw. 102.
301 K. k. Chef des Generalstabes. Memoire betreffend den Ausbau des Eisenbahnnetzes zur Be¬

     schleunigung des Aufmarsches im Kriegsfall gegen Rußland v. August 1887, KA., MKSM.,
     Separatfaszikeln, Fase. 69, Nr. 12.
|| || 110 Einleitung

auch mit den konkreten außenpolitischen und militärischen Bedürfnissen der
Monarchie im Zusammenhang stehen.

   Die beiden Regierungen erhielten das Memorandum des Generalstabschefs
und kurz darauf auch die Mitteilung, daß der Monarch einen gemeinsamen
Ministerrat über die strategischen Eisenbahnen einzuberufen gedenke. Den
ungarischen Ministerrat informierte der ungarische Verkehrsminister Gabor
Baross über den Plan des Generalstabschefs am 25. Oktober und äußerte
zugleich seine totale Ablehnung der an die ungarische Regierung gestellten
Ansprüche. Die vom Generalstabschef beanspruchten Arbeiten bedeuteten Be¬
lastungen von 34,5 Millionen für das ungarische Ärar, die dieses unter den
gegebenen finanziellen Verhältnissen auf gar keinen Fall übernehmen könne.
Die gewünschten Bauarbeiten seien nicht mit den wirtschaftlichen Interessen
Ungarns zu begründen, ja stünden im direkten Gegensatz zu ihnen, außerdem
seien seines Erachtens mit den beantragten Arbeiten die militärischen Ziele nicht
einmal gesichert. Baross zeigte sich nur dazu bereit, für die strategischen Eisen¬
bahnen 5,9 Millionen Gulden zu opfern. Dieser Betrag reichte nur zum Bau des
zweiten Gleises zwischen Aszöd und Miskolc, einer Verbindung zwischen Des
und Zilah, von Donaubrücken und einigen militärischen Ausweichen der
Strecke Kaschau-Oderberg sowie der I. Ungarisch-Galizischen Eisenbahn. Der
Ministerrat nahm die Vorlage zur Kenntnis und bestätigte, daß der vom gemein¬
samen Kriegsminister beantragte Plan finanziell undurchführbar sei. Betont
wurde, der ungarische Abschnitt der Strecke Märamarossziget-Stanislau werde
nur die Anzahl der volkswirtschaftlich völlig überflüssigen Linien vermehren,
und wenn überhaupt der Bau einer weiteren Karpatenlinie spruchreif werde,
dann wäre diese viel weiter östlich zu errichten. Auch zu den vom Verkehrsmini¬
ster vorgeschlagenen Arbeiten sei man nur beizutragen gewillt, wenn deren
Kosten aus dem derzeitigen Budget gedeckt werden könnten.302

    Der gemeinsame Ministerrat, auf den der ungarische Verkehrsminister ver¬
wies, trat am 30. Oktober 1887 unter Vorsitz des Monarchen zusammen.
Teilnehmer waren außer den gemeinsamen Ministern und den beiden Minister¬
präsidenten der österreichische Finanzminister, die beiden Landesverteidi¬
gungsminister und die beiden Verkehrsminister, der Generalstabschef, der Vor¬
stand der Militärkanzlei des Herrschers sowie der Chef des Eisenbahnbureaus
des Generalstabs.303 Nichts weist daraufhin, daß der Generalstabschef über den
ablehnenden Beschluß der ungarischen Regierung unterrichtet gewesen wäre,
jedenfalls hielt er es für nötig, seine Wünsche nochmals schriftlich zu begrün¬
den.304 Dabei ging er detailliert auf die russischen und die österreichisch-ungari¬
schen Aufmarschverhältnisse ein, die er in dem den Regierungen übermittelten
Memorandum nur in großen Zügen berührt hatte, und wies mit genauen Daten

 302 29/MT. Ung.MR. v. 25.10. 1887. 3. In Angelegenheit der aus strategischer Hinsicht erwünsch¬
       ten Ergänzung des Eisenbahnnetzes, OL., K. 27, Karton 43.

 303 GMR. v. 30. 10. 1887, KA„ MKSM. 20-1/9-2 ex 1887.
 304 Vortrag betreffend den Ausbau der Eisenbahnen gegen Rußland v. Oktober 1887, KA., MKSM.

       20-1/9-2 ex 1887.
|| || Einleitung  111

nach, daß die momentanen Voraussetzungen in jeder Phase der Mobilmachung
Rußland begünstigten. Die Feststellung, für einen Erfolg gegen Rußland beste¬
he nur dann Aussicht, wenn das zahlenmäßige Übergewicht des Feindes durch
eigene raschere Truppenkonzentration ausgeglichen werden könne, war nicht
neu, doch schien sie im Spiegel der Daten stärker überzeugt zu haben, ebenso
wie die Argumentation mit dem Ausbau und der Kapazitätssteigerung der
Eisenbahnen als eine Bedingung für deren Erfolg, die nur mittels der beantrag¬
ten Teilarbeiten realisiert werden konnten. Aber auch mit diesem zweiten Doku¬
ment hatte der Chef des Generalstabs seine Überzeugungsarbeit an den Mitglie¬
dern des gemeinsamen Ministerrates noch nicht abgeschlossn. Als er in der
Sitzung vom 30. Oktober als erster zu Wort kam, beschrieb er in dramatischer
Weise das erdrückende Übergewicht der russischen Wehrmacht schon zu Frie¬
denszeiten und den beängstigenden Zustand der österreichisch-ungarischen
Karpatenbahnen.

   In Kenntnis der Vorgeschichte kann es nicht überraschen, daß die Argumen¬
tation der Militärführung im gemeinsamen Ministerrat zumindest auf die Un¬
garn wirkungslos blieb. Der ungarische Verkehrsminister Baross erklärte zwar,
die ungarische Regierung billige stets die Wünsche des Generalstabs, verschloß
sich dann aber - dem Beschluß des ungarischen Ministerrats entsprechend - der
Erfüllung fast aller konkreten Wünsche. Die ungarische Regierung sei zum Bau
des zweiten Gleises zwischen Budapest und Miskolc bereit, halte aber dessen
Verlängerung Richtung Grenze weder für notwendig noch für zweckdienlich,
nicht nur aus wirtschaftlichen Überlegungen, sondern weil die Doppelspur bis
Miskolc die dort abzweigenden Linien nach Lupkow bzw. Kaschau-Abos-Epe-
ries ausreichend versorgen könnte. Oberst Guttenberg, der Chef des Eisenbahn¬
bureaus des Generalstabs, wies vergeblich darauf hin, die Linie Kaschau-Epe-
ries werde voll von den Zügen aus Preßburg beansprucht, und für den Auf¬
marsch sei die Doppelspur bloß bis Miskolc völlig wertlos. Der ungarische
Verkehrsminister hielt an seinem Standpunkt fest und wies sogar den Ausbau
der Eisenbahn im Grantal mit der Begründung zurück, die bis Miskolc ausge¬
baute Doppelspur löse alle Aufmarschprobleme. Der österreichische Handels¬
minister Bacquehem stürzte sich nicht mit ganz so offenem Visier in den Kampf
und legte auch keine Alternativanträge vor, doch zeigten seine Vorbehalte und
Einwände, daß sich auch die österreichische Regierung für die neuerlichen
Ausgaben nicht begeisterte. Bei der Linie Jaslo-Rzeszöw gebe es Gelände¬
schwierigkeiten, außerdem werde sie sich ungünstig auf die nordöstlichen
Staatsbahnen auswirken, der günstige Zeitpunkt für das zweite Gleis auf der
Strecke Oderberg-Oswi^cim-Podgorze sei leider versäumt worden, da man die
Nordbahn noch zu seiner Errichtung hätte zwingen können, und der Bau des
zweiten Gleises zwischen Krakau und Lemberg werde das Budget so sehr
belasten, daß im Reichstag sicherlich die Forderung nach Verstaatlichung der
Karl-Ludwig-Bahn erhoben werde, was die Regierung nicht für wünschenswert
halte. Im Zusammenhang mit der beide Staatsgebiete berührenden Eisenbahn
Märamarossziget-Stanislau brachten beide Minister nacheinander ablehnende
Argumente vor, Bacquehem unter anderem, daß sie für die galizischen Staats-
|| || 112 Einleitung

bahnen schädlich wäre, Baross hingegen, daß sie den volkswirtschaftlichen und
verkehrspolitischen Interessen Ungarns widerspreche. Mildernd wirkte bei al¬
lem nur, daß sich die ungarische Regierung zum Bau gewisser siebenbürgischer
Eisenbahnen, wie der Verbindung von Des nach Zilah, bereit erklärte. Insge¬
samt blieb es aber für die Heeresführung unbefriedigend, daß von allen ihren
Anträgen nur die Idee der Errichtung je einer Donaubrücke bei Komorn und
Preßburg im gemeinsamen Ministerrat völliges Einverständnis gefunden hatte.
Der starke Widerstand überraschte den Chef des Generalstabs anscheinend so
sehr, daß er es für unzweckmäßig hielt, seine oft wiederholten Argumente
nochmals zu detaillieren. Er beschränkte sich auf die bloße Aufzählung jener
Vorhaben, auf welche die Heeresführung auf keinen Fall verzichten könne. Das
zweite Gleis auf den Linien Budapest-Lupköw und Oderberg-Oswi?cim-Pod-
görze müsse trotz der Bemerkungen und Gegenargumente der Verkehrsmimster

gelegt werden, und ebenso die Linie Jaslo--Rzeszöw.
   An diesem Punkt wurde die Sachdebatte unterbrochen und durch einen eher

allgemeinen Gedankenaustausch über die strategischen Eisenbahnen fortge¬
setzt. Der ungarische Ministerpräsident Kaiman Tisza hob erneut die Opferbe¬
reitschaft der ungarischen Regierung hervor und beklagte die hohen Kosten und
unwirtschaftlichen Investitionen der strategischen Eisenbahnen, die sich bei
einzelnen Linien selbst in hundert Jahren nicht amortisieren würden. Auch der
 österreichische Finanzminister Dunajewski beschwerte sich, daß der General¬
 stab die Regierungen zur Errichtung von uneffektiven Linien zwinge und die
 Heeresführung ohne einen vorhergehenden langfristigen Plan immer wieder mit
 neuen Forderungen auftrete. Der Chef des Generalstabs Beck vermochte nur
 zu erwidern, daß sich die Taktik der kleinen Schritte für zweckmäßiger erwiesen
 habe, verwies aber auch darauf, daß bei der Vorlegung der Forderungen auch
 die ausländischen Staaten berücksichtigt werden müßten. Zu diesem Punkt
 erklärte auch der gemeinsame Kriegsminister, Österreich-Ungarn müsse dem
 Diktat der Umstände gehorchen. Die Mitglieder der beiden Regierungen aber
 blieben auch diesen neuen Argumenten gegenüber unzugänglich. Das einzige
 vorwärtsweisende Moment des ganzen Gedankenaustausches war, daß Tisza
 den Herrscher ersuchte, einen ungarischen Gegenantrag vorlegen zu dürfen, was
 letzterer -- obwohl er über dessen Inhalt keine Illusionen haben konnte -- freudig
 begrüßte. Aber auch diese Geste des Monarchen vermochte die totale Ergebnis¬
 losigkeit der Beratung vom 30. Oktober nicht zu bemänteln.

    Die Erfolglosigkeit dieses gemeinsamen Ministerrates stellte eigentlich einen
 Erfolg der beiden Regierungen dar. In Kenntnis des Lösungsmechanismus des
 zwischen den beiden Regierungen und der Heeresleitung entstandenen Konflik¬
 tes war jedoch kaum damit zu rechnen, daß sich nun die Sieger lange auf ihren
  Lorbeeren ausruhen konnten. Der Generalstab bestand -- ähnlich wie beim
  Landsturmgesetz und den Spezialkrediten -- auch in der Frage der strategischen
  Eisenbahnen auf seiner Auffassung, und wenn er von einem Teil der im Memo¬
  randum genannten Linien vorerst auch Abstand nahm, hielt er an den drei vom
  Generalstabschefin der Beratung vom 30. Oktober als unerläßlich bezeichneten
  Bahnlinien unter allen Umständen fest. Auch Gabor Baross mußte sehr bald
|| || Einleitung  113

erfahren, daß der seinerseits vorgelegte Alternativantrag im gemeinsamen
Kriegsministerium nicht als Verhandlungsgrundlage betrachtet wurde und seine
Argumente kein Gehör fanden. Und wie schon wiederholt in ähnlichen Fällen
gab die ungarische Regierung schließlich doch nach. Gabor Baross erstattete im
ungarischen Ministerrat vom 22. Dezember 1887 Bericht, daß er im Laufe von
Verhandlungen mit dem Vertreter des Generalstabs dem Bau des zweiten Glei¬
ses auf dem ungarischen Streckenabschnitt der ungarisch-galizischen Eisenbahn
zugestimmt habe, und der Ministerrat nahm den Bericht zustimmend zur Kennt¬
nis.- Das gleiche ereignete sich auch in bezug auf die strategischen Linien auf
österreichischem Staatsgebiet. Auf der Strecke Lupköw-Przemysl der unga-
nsch-gahzischen Eisenbahn wurde schon 1887 das zweite Gleis gelegt, und im
März 1889 akzeptierte der Reichsrat den Regierungsantrag zum Bau der Eisen¬
bahnlinie zwischen Jaslo und Rzeszöw, die bereits im Oktober 1890 dem Ver¬
kehr übergeben wurde.306 Im Abschnitt Oswi?cim-Podgörze wurde bis Ende
1890 das zweite Gleis ebenfalls gelegt.307 Damit war das Mindestprogramm des
Generalstabschefs, wie er es im gemeinsamen Ministerrat vom 30. Oktober 1887
Umrissen hatte, also trotz der Widerstände schließlich doch realisiert worden.

                                                Die Vorlage vom Jahre 1890

    Die Erklärung des gemeinsamen Kriegsministers in der Beratung vom 30.
Oktober, Österreich-Ungarn müsse dem Diktat der Umstände gehorchen, ließ
bereits ahnen, daß die Heeresleitung es nicht bei der Durchsetzung ihres Min¬
destprogramms allein belassen würde. Welche Linie zuerst wieder auf die Tages¬
ordnung gesetzt wurde, das zu erraten bedarf kaum einer prophetischen Bega¬
bung, da doch der gemeinsame Kriegsminister auch darauf verwiesen hatte, daß
Rußland neuerdings seine Kräfte in Ostgalizien konzentierte. Demzufolge ging
im April 1890 beiden Regierungen eine Note vom gemeinsamen Kriegsministe¬
rium des Inhalts zu, daß mit Rücksicht auf die neuerlichen russischen Schritte
der Ausbau der Eisenbahnlinie von Märamarossziget nach Stanislau nicht
weiter hinausgezögert werden könne.308 Gewiß zur Überraschung auch des
gemeinsamen Kriegministers ging aus Budapest kurz darauf eine günstige Ant¬
wort ein. In der ungarischen Hauptstadt betrachtete man - es ist nicht genau
nachzuvollziehen, warum - diese Linie nicht mehr als volkswirtschaftlich über¬
flüssig, weshalb die ungarische Regierung in ihrer Sitzung vom 8. August 1890
den Bau bewilligte.309 In diesem Fall erwies sich aber die österreichische Regie¬
rung als unnachgiebig. Sie hielt an ihrer Meinung fest, die neue Strecke sei

306 32/MT- UnS-MR- v- 22. 12. 1887, OL., K. 27, Karton 43.
     Gbver, Der Ausbau des nordöstlichen Eisenbahnnetzes 108-109.

307 Ebd. 114.
308 Ebd. 109.

     26/MT." Ung.MR. v. 8. August 1890. 8. In Angelegenheit der Eisenbahn Märamarossziget--Kö-
     rösmezö-Landesgrenze, OL., K. 27, Karton 48.
|| || 114 Einleitung

wirtschaftlich schädlich, und war nur geneigt, auf der Beskiden-Bahn zwischen
Munkäcs und Stryj das zweite Gleis zu legen.310

   Diese Ablehnung war die unmittelbare Ursache für die Ministerkonferenz,
die der Monarch für den 7. Mai 1891 ausdrücklich deshalb einberief, um nach
der Zustimmung der ungarischen Regierung nun auch die Mitglieder der öster¬
reichischen Regierung von der Notwendigkeit des Baus dieser Eisenbahnlinie
zu überzeugen.311 An der Beratung unter Vorsitz des Herrschers waren auf der
einen Seite der gemeinsame Außenminister, der gemeinsame Kriegsminister, der
Chef des Generalstabs, der Vorstand der Militärkanzlei des Monarchen und der
Chef des Eisenbahnbureaus des Generalstabs und auf der anderen Seite der
österreichische Ministerpräsident, der Minister für Landesverteidigung, der
Handelsminister und der Finanzminister anwesend. Mit der Überzeugungsar¬
beit begann der gemeinsame Außenminister, der sich bei den Eisenbahnberatun¬
gen bisher noch nie zu Wort gemeldet hatte, jetzt aber die ihm zugeteilte Rolle
gut spielte. Seine internationale Lageanalyse schloß er damit, daß die europäi¬
sche Situation einem Krieg zustrebe und ein unerwarteter Zwischenfall jederzeit
die Konflagration auslösen konnte. Es ist sehr fraglich, ob dies tatsächlich seine
Meinung war, widersprach er doch wenige Monate später - ebenfalls im gemein¬
samen Ministerrat - dem gemeinsamen Kriegsminister, als dieser für 1894 einen
Krieg prognostizierte.312 Jetzt aber argumentierte Kälnoky, wie es die Angele¬
genheit verlangte. Von den nachdrücklichen Argumenten des Chefs des Gene¬
ralstabs war jedoch nicht anzunehmen, daß sie nicht seiner festen Überzeugung
entsprachen. Er verwies darauf, daß eine russische Mobilisierung infolge der
russischen Truppenkonzentration und des Eisenbahnbaus in 27-28 Tagen been¬
det werden konnte. Damit habe sich der bisherige Vorsprung der Monarchie
trotz ihrer neuen Eisenbahnbauten auf zwei, bestenfalls acht Tage verringert.
Aber auch dieser Vorsprung konnte nicht realisiert werden, da die russische
Wehrmacht den Hauptschlag auf Ostgalizien zu führen gedachte und unter den
gegebenen Verhältnissen keine Möglichkeit bestand, daß die österreichisch¬
ungarische Streitmacht dieses Übergewicht ausgleichen konnte. Die Bedeutung
der geplanten Linien Maramarossziget-Stanislau und Halicz-Tarnopol bestehe
darin, bis zum 15. Mobilisierungstag so viele Kräfte in Ostgalizien konzentrie¬
ren zu können, daß sie den russischen Angriff zurückzudrängen vermochten.
Der gemeinsame Kriegsminister wiederholte in anderer Formulierung die Argu¬
mente des Generalstabschefs und fügte noch hinzu, das von der österreichischen
Regierung angebotene zweite Gleis auf der Strecke Munkäcs-Stryj habe für den
Aufmarsch und die Verteidigung Ostgaliziens keinerlei Bedeutung.

   Die militärischen Argumente waren auch diesmal überzeugend, und die
Position der österreichischen Regierung ließ sich nicht nur ihretwegen schwer

310 Geyer, Der Ausbau des nordöstlichen Eisenbahnnetzes 109-110.
311 Protokoll über die am 7. 5. 1891 unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät stattgehabte

      Konferenz. Den Gegenstand derselben bildete der Bau einer strategischen Bahn von Märama-
      rossziget nach Stanislau und in Fortsetzung derselben von Halicz nach Tarnopol, KA., MKSM.
      20-1/4 de 1891.
312 Vgl. Anm. 133.
|| || Einleitung  115

 verteidigen. Bei anderen Gelegenheiten, bei Verweigerung der Pläne der Heeres¬
 führung gemeinsam mit der ungarischen Regierung, hatte sie auch nur einen
 Aufschub erreichen können, jetzt aber, mit ihrem Standpunkt allein gelassen,
 war selbst dies aussichtslos. Die beiden Fachminister trugen aber korrekt ihren
 Standpunkt vor, der Handelsminister Bacquehem rechnete vor, daß in den
 letzten acht Jahren für Linien militärischer Zwecke 80 Millionen Gulden veraus¬
 gabt wurden, während für wirtschaftliche Zwecke nur einige Lokalstrecken
 entstanden; die Linie Märamarossziget-Stanislau werde den Verkehr aus der
 Moldau und der Bukowina auf die ungarischen Eisenbahnen umleiten und
 damit zu erheblichen Verlusten der galizischen Eisenbahnen führen, und
 schließlich bestehe nach wie vor der Verdacht, daß die Heeresleitung auch mit
 dem Bau der gewünschten Eisenbahnen den Ausbau des strategischen Netzes
 noch nicht für abgeschlossen halte und binnen kurzer Zeit mit neuen Forderun¬
gen auftreten werde. Finanzminister Steinbach schilderte die ungünstige finan¬
zielle Lage und machte - wie schon im gemeinsamen Ministerrat - darauf

aufmerksam, daß zu den Kriegsvorbereitungen auch die finanzielle Rüstung
gehöre. Ministerpräsident Taaffe saß - wie stets in ähnlichen Fällen - auch
diesmal stumm am Verhandlungstisch, ohne seinen Ministerkollegen zu Hilfe
zu eilen, da keine Chance dafür bestand, daß die Argumente der Vertreter der
Fachressorts den Standpunkt der Heeresleitung beeinflussen konnten. Der
Herrscher hörte die gleichsam mit dem Recht auf das letzte Wort gesprochenen
Monologe an und erklärte dann die Beratung kurzerhand für beendet. Er wies
den Handelsminister an, für die Absteckung der Trassen beider Bahnstrecken
zu sorgen, sich wegen der Festlegung der Anschlußpunkte mit der ungarischen
Regierung in Verbindung zu setzen und die Vorlage für den Bau der beiden
Eisenbahnlinien noch im November den Vertretungskörperschaften vorzulegen.
Der Finanzminister bekam die Aufgabe, die finanzielle Deckung schnellstens zu
sichern. Die österreichischen Fachminister, die mit der Hoffnung in die Bera¬
tung gegangen waren, mit ihrer Meinung die Entscheidung noch beeinflussen
zu können, verließen sie als einfache Vollstrecker des kaiserlichen Beschlusses.

   Die Durchführung der Beschlüsse erfolgte verhältnismäßig rasch. Die öster¬
reichische Regierung legte ihren Antrag zum Bau der Eisenbahn zwischen
Stanislau und Woronienka am 1. Januar 1892 dem Reichstag vor, am 20. März
des gleichen Jahres beschloß die ungarische Regierung den Gesetzesantrag für
die Eisenbahnlinie von Märamarossziget bis zur Landesgrenze dem Parlament
vorzulegen, und nach baldigem Baubeginn konnte die ganze Linie von Märama¬
rossziget bis Stanislau im August 1895 dem Verkehr übergeben werden. Aber
auch damit war der Ausbau der strategischen Eisenbahnlinien nicht abgeschlos¬
sen. Obwohl der Chef des Generalstabs in der Beratung vom Mai 1891 erklärt
hatte, die Heeresführung plane keine neue Karpatenlinie, wurden schon am
Ende des Jahrzehnts eine Verbindung zwischen Ungvär und Lemberg über den
Uzsoker Paß und einige ostgalizische Linien erforderlich, mit denen dann der
Ausbau der strategischen Eisenbahnlinien im nordöstlichen Grenzgebiet end¬
gültig abgeschlossen war, so daß der gemeinsame Ministerrat von den einseitig
geführten Debatten mit der Heeresleitung und vom Alpdruck der Jahr um Jahr
neu fälligen Finanzmittelbeschaffung endlich doch befreit wurde.
|| ||  116 Einleitung

                 V. Die Wirtschaftsgemeinschaft und der Außenhandel

 Die Frage der strategischen Eisenbahnen gelangte vor den gemeinsamen Mini¬
 sterrat, weil die Eisenbahnen gemeinsamen Interesses zu den als quasi oder
paktiert gemeinsam bezeichneten Angelegenheiten gehörten. Diese Kategorie
war recht umfangreich und wurde im Sinne des Ausgleichsgesetzes von 1867 in
betimmten Zeitintervallen, nach später entstandener Praxis in jedem zehnten
Jahr, neu geregelt. Es waren Angelegenheiten, deren Gemeinsamkeit sich nicht
aus der pragmatischen Sanktion ergab (wie das Kriegswesen und die auswärti¬
gen Angelegenheiten), sondern aus politischer und wirtschaftlicher Zweckmä¬
ßigkeit, wie vor allem der Anteil am Budget, die sog. Quote. Diese war als solche
zwar infolge der dauernden Gemeinsamkeit des Kriegswesens und der auswärti¬
gen Angelegenheiten unbefristet, da aber die beiden Staaten die Lasten des
gemeinsamen Budgets anteilig nach den jeweiligen Steuereinnahmen, also auf
variabler Grundlage trugen, war eine Neubemessung von Zeit zu Zeit erforder¬
lich. Weiter galten als gemeinsam zu behandelnde Angelegenheiten zahlreiche
Beziehungen der wirtschaftlichen Zusammenhänge zwischen den beiden Staa¬
ten, so die Handels- und die Zollgesetzgebung, die mit der Industrieproduktion
verbundene Gesetzgebung, das Finanz- und Bankwesen sowie das bereits er¬
wähnte Eisenbahnwesen. Dementsprechend wurden in den beiden Staaten die
Verbrauchssteuern, die staatlichen Monopole, das Post- und Telegraphenwe¬
sen, der Bau und Betrieb von Eisenbahnen, die See- und Binnenschiffahrt sowie
das System der Maße und Gewichte nach gleichen Grundsätzen geregelt. Diese
gemeinsamen Grundsätze wurden alle zehn Jahre im erneuerten Zoll- und
Handelsbündnis niedergelegt, in dessen Zusammenhang schließlich auch der
Außenhandel und das mit ihm verbundene Zollwesen gemeinsam behandelt
wurden, die sinngemäß für die Dauer des Zoll- und Handelsbündnisses als
Angelegenheit gemeinsamen Interesses galten.

                              Verwaltung der gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten

   Wie die gemeinsamen Angelegenheiten erforderten auch die gemeinsam zu
behandelnden Angelegenheiten irgendeine institutionelle Sachbearbeitung. Ob¬
wohl das Ausgleichsgesetz hierüber nichts verfügt hatte, schuf die praktische
Notwendigkeit sehr rasch jene Gremien zur Vorbereitung der Vereinbarungen
über Wirtschaftsangelegenheiten zwischen den Regierungen bzw. den gesetzge¬
benden Körperschaften oder zur Vorbereitung identischer Beschlüsse derselben.
Die Vorarbeiten für die Quotenfestlegung verrichteten die aus je fünfzehn
Personen beider Parlamente bestehenden Quotendeputationen. Der Abschluß
und die Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses, also die Regelung sämtli¬
cher Beziehungen der Wirtschaftsgemeinschaft, wurden von der Zoll- und Han¬
delskonferenz vorbereitet, bestehend aus den Vertretern der zuständigen Fach¬
ministerien - Handels-, Finanz- und Landwirtschaftsministerium - sowie des
gemeinsamen Außenministeriums, unter Hinzuziehung von Experten mit Bera-
|| || Einleitung                                                                              117

 tungsrecht. In der Form einer gelegentlichen Kommission versah die Zoll- und
 Handelskonferenz daneben auch die Vorbereitungsarbeiten der aktuellen Fra¬
 gen des Außenhandels, etwa im Zusammenhang mit Änderungen der Zolltarife
 und dem Abschluß von Handelsverträgen.

     Bereits diese gedrängte Übersicht veranschaulicht die außerordentlich
 schwerfällige und umständliche Bearbeitung der gemeinsam zu behandelnden
 Angelegenheiten. Vernunft und praktischer Sinn hätten wohl erfordert - wie
 dies österreichischerseits wiederholt formuliert wurde --, die sich mit den gemein¬
 sam zu behandelnden Angelegenheiten befassenden Gremien auch zu Foren der
 gemeinsamen Beschlußfassung zu machen, ihre Tätigkeit blieb aber infolge der
 ungarischen rechtlichen Bedenken stets auf die Entscheidungsvorbereitung be¬
 schränkt. Die von der Souveränität Ungarns ausgehende staatsrechtliche Auf¬
 fassung, die auch im Falle der gemeinsamen Angelegenheiten eine gemeinsame
 Erledigung ausschloß und statt des gemeinsamen Parlaments nur die Delegatio¬
 nen, statt der gemeinsamen Regierung nur gemeinsame Ministerien zuließ, war
 bei den gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten noch krampfhafter auf
 die gesetzliche, in Wirklichkeit jedoch nur fiktive Staatssouveränität bedacht.
 So konnten die Quotendeputationen anders als die Delegationen keine Be¬
 schlüsse fassen, sondern den Regierungen nur Anträge für die Debatten in den
 Parlamenten stellen, die die Anträge in gesonderten Sitzungen mittels Notenaus¬
tausch ausarbeiteten und nicht einmal zu gemeinsamen Abstimmungen zusam¬
menkamen. Die Zoll- und Handelskonferenz bestand ebenfalls aus zwei geson¬
derten Gremien, die ihre Anträge durch Notenaustausch abstimmten, besten¬
falls durch Unterkommissionen Kontakte zueinander hatten und über kein
Beschlußfassungsrecht verfügten. Diese getrennte Sachbearbeitung der gemein¬
sam zu behandelnden Angelegenheiten wurde nur bei der Vorbereitung und
Beratung von Außenhandelsverträgen überwunden, wo im Interesse der einheit¬
lichen Vertretung dem Ausland gegenüber nun wirklich nicht zwei selbständige
Delegationen fungieren konnten. Aber sogar die Geschlossenheit dieses Gre¬
miums wurde sehr bald von ungarischen Absonderungsbestrebungen aufgebro¬
chen.313

   In den Gesetzen über die Regelung der gemeinsam zu behandelnden Angele¬
genheiten war nirgendwo eine Zuständigkeit des gemeinsamen Ministerrates in
diesem Bereich zu finden. Die zu diesem Zweck geschaffenen Gremien versahen
im allgemeinen ihre Aufgabe, und im Falle irgendwelcher Stockungen wurden
die Meinungsverschiedenheiten durch direkte Verhandlungen oder Briefwechsel
zwischen beiden Regierungen beseitigt. Durch die unterschiedlichen und häufig
entgegengesetzten Wirtschaftsinteressen beider Staaten wurden aber die Vorar¬
beiten der Kommissionen an sich schon erschwert, zumal die komplizierte
Sachbearbeitung häufig zu Störungen und Unterbrechungen führte. Es gab
Fälle, die Absprachen und Stellungnahmen auf Regierungsebene unerläßlich
machten. So konnten Entscheidungen darüber, welche Richtung die Zollpolitik
nehmen sollte, ob es zweckmäßig sei, mit irgendeinem Land Handelsvereinba-

313 Paulinyi, Die sogenannte gemeinsame Wirtschaftspolitik Österreich-Ungarns 125-135.
|| || 118 Einleitung

rungen zu schließen, oder mit welchen Instruktionen die Kommissionen zu
versehen seien, die zur Schließung von Handelsverträgen entsendet wurden,
nicht oder nicht immer der Zoll- und Handelskonferenz überlassen werden. So
lag es auf der Hand, in solchen Fällen das einzige gemeinsame Regierungsfo¬
rum, den gemeinsamen Ministerrat, einzuschalten. Auf diese Weise gelangten
- obwohl die Gesetze über die gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten
diese Körperschaft gar nicht erwähnten - gelegentlich Fragen des Zoll- und
Handelsbündnisses, der Zollpolitik und des Außenhandels, wenn es die Not¬
wendigkeit erforderte, ebenfalls auf die Tagesordnung des gemeinsamen Mini¬
sterrates.

                        Die Verlängerung des wirtschaftlichen Ausgleichs im Jahre 1887

   Da der wirtschaftliche Ausgleich für eine Zeitdauer von zehn Jahren geschlos¬
sen worden war, lief die Geltungsdauer des Ausgleichs von 1878 am 31. Dezem¬
ber 1887 ab und wurde dessen Verlängerung fällig. Die letzten Ausgleichsver¬
handlungen hatten zu recht scharfen wirtschaftlichen Meinungsverschiedenhei¬
ten zwischen beiden Staaten geführt. Gegensätze entstanden bei der Quotenfest¬
legung, weil der durch den Anschluß der Militärgrenze an Ungarn entstandene
Zuwachs der ungarischen Steuereinnahmen in Ungarn anders verrechnet wurde
als in Österreich, im Bankwesen, weil der ausschließlich österreichische Charak¬
ter der Nationalbank nach ungarischer Ansicht der dualistischen staatsrechtli¬
chen Struktur nicht entsprach, und schließlich beim Zolltarif, weil die österrei¬
chischen Schutzzollbestrebungen in Ungarn kein Verständnis fanden - um nur
die wichtigeren Streitpunkte zu erwähnen. Die Mehrzahl der strittigen Fragen
wurde schließlich im Sinne des ungarischen Standpunktes gelöst: Der ungari¬
sche Quotenanteil erhöhte sich nur im Verhältnis des aus der Militärgrenze
stammenden Steuerzuwachses, blieb also im wesentlichen unverändert, die
Österreichische Nationalbank wurde der dualistischen Struktur entsprechend
zur Österreichisch-Ungarischen Bank, und der Zolltarif bewahrte seinen Frei¬
handelscharakter.3'4 Dies alles befriedigte freilich den ungarischen Verhand¬
lungspartner nicht völlig, während es bei den Österreichern verständlicherweise
Unzufriedenheit weckte. Obwohl beide Staaten an der Wirtschaftsgemeinschaft
festhielten und die gegenseitigen Vorteile zu würdigen wußten, mußte man
folglich damit rechnen, daß anläßlich der neueren Ausgleichsverhandlungen die
früheren und neuen Gegensätze wiederum zur Sprache kommen würden.

   Der ungarische Ministerpräsident richtete schon am 12. September 1884 ein
Schreiben an den österreichischen Ministerpräsidenten, in dem er mit Hinweis
auf die sich nähernde Ablauffrist die Aufnahme von Verhandlungen zur Erneue¬
rung des Zoll- und Handelsbündnisses vorschlug.315 Der österreichische Mini¬
sterpräsident antwortete am 1. November zustimmend, wollte jedoch nicht nur

314 Matlekovits, Magyarorszäg ällamhäztartasänak törtenete 133-164.
315 20/MT. Ung.MR. v. 12. 9. 1884. 26. Über die Einleitung der Verhandlungen bezüglich einer

     Abänderung der Zoll- und Handelsbündnisse, OL., K. 27, Karton 39.
|| || Einleitung  119

 über die Verlängerung des Zoll- und Handelsbündnisses, sondern zugleich über
 sämtliche Fragen des wirtschaftlichen Ausgleiches zusammenhängend verhan¬
 deln.316 Die österreichische Seite hatte nämlich 1878 die Erfahrungen gemacht,
 daß bei der gesonderten Behandlung der verschiedenen Fragen eine entspre¬
 chende Kompensation der österreichischen Zugeständnisse weggefallen war.
 Ungarischerseits hingegen bezweifelte man derartige Zusammenhänge und hielt
 die getrennte Beratung für zweckmäßiger. Nach wiederholtem Briefwechsel und
mehrmaliger Abstimmung der Ansichten begannen schließlich die Verhandlun¬
gen den Wünschen der österreichischen Regierung entsprechend. In der Sitzung
des ungarischen Ministerrates vom 8. Juni 1885 legte der Finanzminister jene
Punkte des Finanz- und Volkswirtschaftsabkommens vor, in denen die ungari¬
sche Regierung eine Modifizierung wünschte: eine Änderung ihres Anteils an
den gemeinsamen Ausgaben und ebenso an den Grenzzolleinnahmen, die Auf¬
hebung der zollfreien Zonen in Triest und Fiume, die Einführung der österrei¬
chisch-ungarischen Gold- statt der bisherigen österreichischen Silberwährung,
eine Änderung der Statuten der Österreichisch-Ungarischen Bank, wesentliche
Änderungen bei den Verbrauchssteuern und schließlich präzise Veterinär- und
internationale Viehhandelsvorschriften in der neuen Vereinbarung.317 Die im
Laufe des Sommers begonnenen Verhandlungen machten verhältnismäßig ra¬
sche Fortschritte, so daß die zuständigen Minister im ungarischen Ministerrat
vom 2. Januar 1886 von Übereinstimmungen in zahlreichen Fragen berichten
konnten; doch erwähnten sie auch die Bereiche, in denen es noch zu keiner
Einigung gekommen war: im Bankwesen die Ausgabe zinsloser Schuldbriefe,
die Verwendung der Einnahmen aus der Banknotensteuer, die Statuten der
Hypothekendarlehen und die Verlängerung des Privilegs der Österreichisch-
Ungarischen Bank, bei den Verbrauchssteuern die Festlegung der Zuckersteuer,
im Zusammenhang mit dem Zollbündnis das Problem der Veterinärabkommen
und schließlich die Festlegung zahlreicher Sätze des Zolltarifs.318

   Der gemeinsame Ministerrat befaßte sich erstmals am 27. September 1885 mit
dem wirtschaftlichen Ausgleich,319 nicht in Form eines ernsthaften Gedanken¬
austausches, sondern einer bloßen Information über den Stand der Verhandlun¬
gen, über die restlichen Differenzen im Bankwesen und bei den Verbrauchs¬
steuern und daß sich mit diesen Fragen noch die Referenten beschäftigen. Der
formale Informationscharakter der Sitzung geht bereits daraus hervor, daß sie
eigentlich zur Erörterung des Budgets einberufen worden war und bloß einige
Minuten dauerte. Bei nächster Gelegenheit, am 8. Januar 1886, fand schon ein
eingehender Gedankenaustausch statt.320 In der Beratung unter Vorsitz des

316 27/A/T. Ung.MR. v. 3. 11. 1884. 9. Über die Angelegenheit einer Revision des Zoll- und
     Handelsbündnisses, OL., K. 27, Karton 39.

317 12/MT. Ung.MR. v. 8. 7. 1885. 1. In Angelegenheit einer Erneuerung des Finanzabkommens
     und des Zoll- und Handelsbündnisses. 2. Bezüglich einer Erneuerung des Zoll- und Handels¬
     bündnisses, OL., K. 27, Karton 40.

318 l/MT. Ung.MR. v. 2. 1. 1886. 3. Die Ausgleichsfragen, OL., K. 27, Karton 40.
319 GMR. v. 27. 9. 1885, RMRZ. 325.
320 GMR. v. 8. 1. 1886, RMRZ. 330.
|| ||  120 Einleitung

Herrschers wurden die noch in Schwebe befindlichen, unerledigten Fragen
behandelt, mit denen sich einige Tage zuvor auch der ungarische Ministerrat
befaßt hatte. Die Sitzung hatte ebenfalls stark informativen Charakter, weder
österreichischer- noch ungarischerseits ließ man sich in eine Darlegung der
Standpunkte ein. Eine Debatte ergab sich allerdings wieder darüber, ob die in
Schwebe befindlichen Fragen besser gemeinsam oder gesondert zu klären seien.
Der österreichische Finanzminister argumentierte wegen der früheren ungünsti¬
gen Erfahrungen für eine gemeinsame Erledigung, die ungarische Seite betonte
dagegen, die Verknüpfung der Probleme werde eine termingerechte Beendigung
erschweren, was im Interesse der Aufrechterhaltung der Wirtschaftsgemein¬
schaft unerwünscht sei. Die Geschäftsordnungsdebatte brachte auch die Aspek¬
te der unterschiedlichen Beurteilung der Wirtschaftsgemeinschaft zutage. Der
österreichische Finanzminister verwies darauf, daß die ungarischen Modifizie¬
rungswünsche Österreich neuerliche finanzielle Lasten auferlegen würden, was
die Zweckmäßigkeit der Zollunion in Frage stelle, während der ungarische
Ministerpräsident bezweifelte, daß der letzte wirtschaftliche Ausgleich nur für
Ungarn Vorteile gebracht hätte. Diese Debatte war jedoch ohne praktische
Bedeutung, und obwohl der ungarische Ministerpräsident darauf verwies, daß
er im Falle einer Verzögerung der Verhandlungen eventuell zur Kündigung des
Zoll- und Handelsbündnisses gezwungen werden könnte, dachte keine Seite
daran, die Bande zwischen beiden Staatsgebieten endgültig zu zerreißen. Der
Monarch schloß die Beratung mit dem Auftrag an beide Regierungen, in den
noch schwebenden Fragen baldigst Beschlüsse zu fassen.

   In beiden sich mit dem wirtschaftlichen Ausgleich beschäftigenden gemeinsa¬
men Ministerratssitzungen kamen die Gegensätze zwischen den österreichischen
und den ungarischen Verhandlungspartnern über die Festlegung einzelner Po¬
sten des Zolltarifs zur Sprache, so bei der Steuerrückerstattung für exportierten
Zucker und der Zollfestsetzung für importiertes Erdöl. Bei ersterem beanstande¬
te man ungarischerseits, daß der größte Teil der Steuerrückerstattung den
österreichischen Zuckerfabriken zugute kam, die einen wesentlich größeren
Export tätigten, im letzteren Fall fühlten sich die Österreicher benachteiligt, weil
die ungarischen Erdölraffinerien infolge des niedrigen Erdölzolls einen größeren
Profit hatten und die galizischen Erdölproduzenten in eine ungünstige Lage
brachten. Die Rückerstattung der Zuckersteuer und der Erdölzoll waren aber
nur die Spitze des Eisberges, da sich in der gesamten Zollpolitik vom Ende der
70er Jahre an grundlegende Gegensätze zwischen beiden Reichshälften zeigten.
Infolge ihrer unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur war es eigentlich nie zur
Harmonie in der Zollpolitik gekommen: Das agrarische Ungarn bevorzugte
immer den Freihandel, um den Export der landwirtschaftlichen Produkte zu
sichern, und Österreich neigte im Interesse des Schutzes der heimischen Indu¬
strie stets zur Schutzzollpolitik. In der ersten Periode nach dem 1867er Aus¬
gleich begünstigte die internationale Wirtschaftspolitik eher Ungarn, und im
System der europäischen Staaten, das in erster Linie auf den Freihandel ausge¬
richtet war, konnte auch die Monarchie nur der Praxis des freien Warenverkehrs
folgen und höchstens für einzelne Artikel vertragliche, also mit den Außenhan-
|| || Einleitung  121

  delspartnern vereinbarte Zolltarife festlegen. Dieser für die österreichische Wirt¬
  schaft ungünstige Zustand bestand bis zum Ende der 70er Jahre und wurde auch

  durch den im zweiten wirtschaftlichen Ausgleich festgesetzten Zolltarif im
  Grund kaum geändert. Seit Ende des Jahrzehnts verstärkten sich aber in der
  Außenhandelspolitik der europäischen Staaten immer mehr die Schutzzollten¬
  denzen, vor allem seit das billige überseeische Getreide in Europa erschien und
  außer den stets für den Schutzzoll eintretenden Industriekreisen auch die Agrar¬

  produzenten zur Schließung der Grenzen bewog. Die wichtigsten Außen¬

  handelspartner der Monarchie, in erster Linie Deutschland, errichteten
 von 1879 an hohe Schutzzölle und bestimmten für die Importartikel, so auch
 für die landwirtschaftlichen Produkte, sog. autonome Zolltarife ohne Rücksicht
 auf die Interessen der früheren Vertragspartner. Inmitten solcher internationa¬
 ler Wirtschaftsbedingungen vermochte auch die Monarchie nicht weiter an
 ihren Grundsätzen der Freihandelspolitik festzuhalten, und die ungarischen
 Agrarier nahmen auch das Schutzzollprinzip unter ihre wirtschaftspolitischen
 Vorstellungen auf. Damit verschwanden die wirtschaftspolitischen Gegensätze
 zwischen beiden Staaten keineswegs, es verschob sich nur ihre Basis. Der

 österreichischen Industrie brachten die niedrigeren Lebenmittelpreise aufgrund
 des Zustroms des billigen Überseegetreides Vorteile, weshalb sie hohe Getreide¬
 zolle ablehnte; die ungarische Landwirtschaft dagegen erklärte die eventuell
 durch die hohen Industriezölle entstehende Agrarschere als gegen ihre eigenen
 Interessen gerichtet. Dieser sich aus der abweichenden Auslegung der Schutz¬
 zollpolitik ergebende Gegensatz war ebenso scharf wie früher die Gegenüber¬
 stellung von Freihandel und Schutzzoll.

    Der Verstärkung der Schutzzolltendenzen innerhalb der Monarchie entspre¬
chend, wurde der beim zweiten wirtschaftlichen Ausgleich festgesetzte Zolltarif
schon 1882 überarbeitet, indem zahlreiche, vor allem industrielle Warenzölle
erhöht wurden, ohne aber die westeuropäischen Zollsätze im allgemeinen zu
erreichen. Deshalb kam es im Jahre 1885 zu einer neuerlichen Überarbeitung,
die die Zollsätze sowohl der Industrieerzeugnisse als auch der Agrarprodukte
im wesentlichen dem deutschen Zolltarif anpaßte. Die Vereinbarung beruhte
auf einem Kompromiß: den ungarischen wirtschaftlichen Interessen widerspre¬
chende hohe Industriezölle, um Deutschland, das soeben hohe Getreidezölle
eingeführt hatte, zur Einsicht und zur Revision der Agrarzölle zu bringen und
die österreichische Zustimmung zu einer bedeutenden Erhöhung der Lebensmit¬
telzolle als Gegenleistung für die ungarische Nachgiebigkeit. Beide Verhand¬
lungspartner verließ jedoch nie das Gefühl, mit den Zugeständnissen zu weit
gegangen zu sein und mit der Anwendung des neuen Zolltarifs ihrer eigenen
Nationalökonomie zu schaden. Überdies ergab sich das Geschäftsordnungspro¬
blem, daß die Legislaturperiode des österreichischen Reichesrats vor der Revi¬
sion des Zolltarifs abzulaufen drohte, was zu Schwierigkeiten bei seiner Bera¬
tung und Verabschiedung führen mußte. Zur Entscheidung über das Schicksal
des neuen Zolltarifs mußte der gemeinsame Ministerrat einberufen werden, bei
welcher Gelegenheit es dann zur Darstellung der zollpolitischen Konzeptionen
|| || 122 Einleitung

und zur erneuten Abstimmung der gegensätzlichen Standpunkte kommen
konnte.

   In der Beratung vom 7.-8. April 1885 zeigte sich wiederum, wie verschieden
die Ansichten der österreichischen und ungarischen Regierung waren und daß
darüber hinaus der gemeinsame Außenminister als Vertreter der Gesamtmonar¬
chie wieder andere Gesichtspunkte hatte.321 Während Kälnoky als Zweck der
Beratung betrachtete, in der Angelegenheit endlich Klarheit zu schaffen, bezwei¬
felte er zugleich die Nützlichkeit des neuen Zolltarifs, weil die vorgesehenen
Retorsionsmaßregeln ein zweischneidiges Schwert sein und dem Außenhandel
der Monarchie weiteren Schaden verursachen könnten. Der österreichische
Ministerpräsident Taaffe ging auf den Zolltarif selbst nicht ein, sondern betonte
bloß, die Einbringung eines Gesetzesantrages über die Revision des Zolltarifs
sei in der derzeitigen Legislaturperiode des Reichsrats keineswegs mehr möglich,
und brachte damit gleichzeitig zum Ausdruck, daß die österreichische Regie¬
rung mit einem neuen Zolltarif, der hohe Getreidezölle vorsah, eigentlich nicht
sympathisierte. Kalman Tisza forderte daraufhin mit bei ihm ungewöhnlicher
Heftigkeit die sofortige parlamentarische Erledigung. Ein Verzögern würde die
internationale Wirtschaftsposition der Monarchie schädigen, weil dies in
Deutschland den Eindruck erwecken könnte, Österreich-Ungarn wagte nicht,
Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen, ferner würde es der ungarischen Land¬
wirtschaft schaden, weil das durch die Schutzzölle ausgeschlossene Getreide auf
die Märkte der Monarchie strömen würde. Eine Verzögerung der Erhöhung der
Agrarzölle werde eine stärkere Agitation gegen das gemeinsame Zollgebiet nach
sich ziehen, und zudem könne - so die getarnte Drohung - bei einer Vertagung
auch die parlamentarische Zustimmung der geplanten und beratenen Industrie¬
zölle nicht garantiert werden. Die sich hinter der Deckung der parlamentari¬
schen Geschäftsordnung verschanzende österreichische Regierung konnten
aber weder die Argumente noch die Drohung erschüttern, ihr Ministerpräsident
war nicht geneigt, den Reichstag zu einer außerordentlichen Sitzung einzuberu¬
fen, weil - wie er sagte - die Abgeordneten sich schon auf die Neuwahlen
konzentrierten. § 14 Grundgesetz könne in gemeinsamen Angelegenheiten nicht
angewendet werden, und der ungarische Antrag, zumindest die Agrarzölle im
Verordnungsweg in Kraft zu setzen, sei mangels Gegenseitigkeit unbillig. Der
gemeinsame Ministerrat konnte somit die Lage letztlich nicht klären, sondern
hatte die Gegensätze vielmehr noch verschärft. Die ungarische Regierung mußte
die Verschiebung der Parlamentsvorlage des Zolltarifs zur Kenntnis nehmen,
und die österreichische Regierung mußte damit rechnen, daß ungarischerseits
einzelne bereits vereinbarte Posten des Zolltarifs neuerlich zur Debatte gestellt
würden.

   Der gemeinsame Ministerrat befaßte sich nach den erwähnten Beratungen
vom April 1885 und Januar 1886 weder mit dem Zolltarif noch mit dem
wirtschaftlichen Ausgleich insgesamt. Obwohl diese Beratungen - wie gesehen
- die Lösung der strittigen Fragen nicht viel förderten, lebten im Verlauf der

321 GMR. v. 7.-8. 4. 1885, RMRZ. 321.
|| || Einleitung  123

Kommissionsberatungen die zehn Jahre früheren heftigen Gegensätze nicht
wieder auf. In der Frage des Zolltarifs näherten sich die Standpunkte Öster¬
reichs und Ungarns schon in der Beratung im Juli 1885 unter Vorsitz des
gemeinsamen Außenministers einander an,322 und im weiteren kümmerte man
sich ungarischerseits weniger um die Industriezölle als um die Beibehaltung bzw.
weitere Erhöhung der Agrarzölle. Nach raschen Fortschritten in der Quoten-
und Bankangelegenheit durch die Akzeptierung der ungarischen Wünsche
konnten die beiden Parlamente schon im Juni 1886 mit der Debatte über den
diesbezüglichen Gesetzesantrag beginnen. Die gesetzgebenden Körperschaften
verabschiedeten - natürlich nach eingehenden und scharfen Debatten - die

Gesetzesanträge über die Verlängerung der Wirtschaftsgemeinschaft auf weitere
zehn Jahre, die durch Sanktionierung des Monarchen am 21. Mai 1887 Geset¬
zeskraft erlangten.323

                               Erneuerung des rumänischen Handelsvertrags im Jahre 1886

            /
    Schon im gemeinsamen Ministerrat im Zusammenhang mit der Inkraftset¬
 zung des Zolltarifs im April 1885 verwies - wie bereits erwähnt - der gemeinsa¬
 me Außenminister mit tiefer Besorgnis auf die Gestaltung der Außenhandelsbe¬
 ziehungen der Monarchie und machte auf die ungünstige Wirkung aufmerksam,
 die eine weitere Erhöhung der Zollsätze auf die zukünftigen Beziehungen aus¬
üben könnte. Diese Besorgnis war keineswegs unbegründet. Mit dem wichtig¬
sten Außenhandelspartner der Monarchie, mit Deutschland, brach die auf
einem Zolltarifvertrag beruhende Beziehung schon 1879 ab, und nach mehrma¬
ligen erfolglosen Verhandlungen gelang es endlich im Jahre 1881, eine auf zehn
Jahre befristete Vereinbarung zu treffen, die aber den Vertragspartnern nur die
Zollmeistbegünstigung sicherte. Dies bedeutete in der Praxis, daß die Vertrags¬
partner nur ihre Sätze des autonomen Zolltarifs anwendeten und die Waren mit
keinerlei zusätzlichen Zöllen belasteten. Ähnliche Verträge besaß die Monarchie
mit England, Frankreich und der Schweiz, den Ländern mit ihrem neben
Deutschland intensivsten Außenhandel. Eine aus der Zeit des Freihandels stam¬
mende, gegenseitige Zollfreiheit bzw. -begünstigung gewährende, vertragliche
Beziehung bestand nur mit drei Ländern: seit 1875 mit Rumänien, seit 1878 mit
Italien und schließlich seit 1881 mit Serbien.
   Von diesen Tarifverträgen lief der mit Rumänien 1886 ab. Der gemeinsame
Außenminister machte im gemeinsamen Ministerrat vom 7.-8. April 1885324
darauf und auf die fällige Verlängerung aufmerksam. Die anwesenden Handels¬
minister gaben bekannt, daß sie im Zusammenhang mit der Erneuerung des
Handelsabkommens bereits eine Anfrage an die Handelskammern gerichtet
hatten - nach Eintreffen der Antworten könne es zur Einberufung der Zoll- und

     Kalnoky an Kaiser Franz Joseph v. 7. 7. 1885. HHStA., PA. I, Karton 561
     Magyar Törvenytär 1887-1888 57-96.
324 Vgl. Anm. 321.
|| || 124 Einleitung

Handelskonferenz kommen. Der gemeinsame Außenminister betonte zwar
nicht die Wichtigkeit der Handelsbeziehungen mit Rumänien, doch sein Hin¬
weis, der östliche Nachbar beabsichtige eine Erhöhung der Zollsätze und Eng¬
land versuche, den rumänischen Markt zu erobern, schien anzudeuten, daß er
einer Erneuerung des Vertrages doch Bedeutung zumaß. Seine Meinung war
angesichts der sich dauernd verschlechternden Außenhandelsbedingungen der
80er Jahre nur allzusehr begründet. Rumänien war kein sehr wichtiger Außen¬
handelspartner der Monarchie. Am jährlichen Export in Höhe von durch¬
schnittlich 700 Millionen Gulden war es mit etwa 8-10 % beteiligt, zum größe¬
ren Teil bestehend aus Industrieartikeln. So nahm es beispielsweise ein Viertel
des Exportes der österreichisch-ungarischen Textilindustrie auf. Der in die
Monarchie gelieferte rumänische Export setzte sich hauptsächlich aus Getreide
und Lebendvieh zusammen, und da die rumänische Außenhandelsbilanz für
gewöhnlich passiv war, sicherte auch der in Valuta erfolgende Ausgleich des
Bilanzfehlbetrages zahlreiche Vorteile. Diese Art der Außenhandelsbeziehung
war natürlich für das industriell höherentwickelte Österreich vorteilhafter. Aber
auch für das überwiegend agrarische Ungarn hatte sie nicht nur Nachteile, denn
das rumänische Getreide verarbeiteten die ungarischen Mühlen und Brennerei¬
en für den Re- oder Weiterexport, und auch am Export der Textilindustrie
waren die siebenbürgischen Spinnereien und Webereien beteiligt. Die Handels¬
beziehungen zwischen der Monarchie und Rumänien waren freilich auch in der
Vertragsepoche nicht reibungslos. Rumänischerseits hatte man zum Schutze der
heimischen Industrie die österreichisch-ungarischen Waren häufig mit vertrags¬
widrigen Zöllen belastet, Ungarn wiederum sah die Schwierigkeiten des ungari¬
schen Außenhandels im Westen durch den des Einschleppens der orientalischen
Rinderpest verdächtigten rumänischen Lebendviehimport verursacht, weshalb
die ungarisch-rumänische Grenze für die Lieferungen häufig geschlossen wur¬
de.325

   An der Aufrechterhaltung des Vertragsverhältnisses mit Rumänien war auf¬
grund der Zusammensetzung des österreichisch-ungarischen Exportes Öster¬
reich stärker interessiert. Wie unterschiedlich die Bedeutung des Vertrages in
Wien und in Budapest beurteilt wurde, erwies sich unter anderem daran, daß
man österreichischerseits, dem Antrag des gemeinsamen Außenministers ent¬
sprechend, den Vertrag von 1875 für ein Jahr verlängern wollte, während
Ungarn erst nach Beginn der Verhandlungen über den neuen Vertrag und nur
nach der Ausarbeitung des neuen österreichisch-ungarischen Zolltarifs dazu
bereit war. Der zusätzliche Einwand im ungarischen Ministerrat, ein Vertrag
mit Rumänien lohnte sich nur dann, wenn dieses die Einhaltung der Vereinba¬
rungen garantiere, wurde schließlich aufgegeben, weil ein nicht völlig eingehalte¬
ner guter Vertrag vorteilhafter sei als ein vertragsloser Zustand,326 aber diese
notgedrungene Zustimmung bot für den Abschluß des neuen Vertrags keines-

325 Palotäs, Oszträk-magyar külpolitika egy nyugtalan evtizedben 69-79.
326 29!MT. Ung.MR. v. 15. 5. 1885. 1. Über den mit Rumänien bezüglich der Regelung verschiede¬

     ner Verhältnisse zu schließenden Vertrag, OL., K. 27, Karton 39.
|| || Einleitung  125

   wegs entsprechende Garantien. Es schien zweckmäßig, die ungewisse ungarische
   Bereitschaft durch die Pfeiler der Interessen der Gesamtmonarchie und Öster¬
  reichs zu verstärken. Dies aber konnte nur im gemeinsamen Ministerrat erreicht
  werden.

     In der Praxis des gemeinsamen Ministerrates war es nicht außergewöhnlich
  sich mit Handelsverträgen zu beschäftigen. In der nahen Vergangenheit im
  Laufe der Jahre 1879-1880, hatte er wiederholt über die mit Serbien bzw.'mit
  Deutschland abzuschheßenden Handelsverträge beraten.327 Damals wurde das
  Hauptaugenmerk auf die Abstimmung der Standpunkte gelegt. In den beiden
  gemeinsamen Ministerräten vom 7. und 8. Januar 1886, die sich mit der Angele¬
  genheit des rumänischen Handelsvertrags befaßten,328 dominierte sozusagen der
  Uberredungscharakter. Der gemeinsame Außenminister Kälnoky sprach von
   er ungünstigen politischen Wirkung eines Abbruches des Vertragsverhältnis-
 ses wobei d^ser für die Monarchie nachteiliger wäre als für Rumänien, und
 deshalb wünsche er sich eine Verhandlungsposition, die das Zustandekommen
 einer Vereinbarung ermöglicht. Auch der österreichische Ministerpräsident
  l aaffe warnte vor einem vertragslosen Zustand, dessen Nachteile der österrei-
 chische Handelsmimster Pmo mit konkreten Daten, unter Hinweis auf den
 jährlichen Export von 60 Millionen Gulden veranschaulichte. Selbst der am
 zweiten Tag präsidierende Herrscher äußerte, daß sich wichtige Interessen der
 österreichischen Reichshälfte an den Abschluß des Handelsvertrages mit Rumä¬
 nien knüpften. Die konzentrierte Überredung schien nicht wirkungslos zu blei-
 ben. Der ungarische Handelsminister Szechenyi erklärte bereits in der ersten
 Phase der Beratung, die ungarische Regierung sei sich dessen bewußt, daß sie
 im Interesse des Abschlusses eines befriedigenden Vertrags Opfer bringen müs¬
 se, und am folgenden Tag erklärte der ungarische Ministerpräsident Tisza
sogar, der abzuschheßende Vertrag sei - wenn auch nur in geringerem Maße -
auch für Ungarn wertvoll. Als hingegen vom neuralgischen Punkt der Bezie¬
hung zu Rumänien, der Vetermärsperre, die Rede war, zeigte sich bald die
Grenze der ungarischen Nachgiebigkeit - hier gedachte die ungarische Regie¬
rung ihren Standpunkt nicht zu ändern. Obwohl man sich daher schon am
ersten Tag geeinigt hatte, die Zoll- und Handelskonferenz baldigst zur Vorberei¬
tung des Vertrages einzuberufen, konnte man an das Zustandekommen des
Vertrags keine großen Hoffnungen knüpfen.

   Auf die Vorarbeiten und die bald beginnenden österreichisch-ungarisch-
rumamschen Verhandlungen kam der gemeinsame Ministerrat nicht wieder

               ergänzen ist' daß die Verhandlungen mit Rumänien zu keinem
Erfolg führten und das Vertragsverhältnis zwischen den beiden Staaten im
Sommer 1886 abgebrochen wurde. Das lag einmal am starren Verhalten Un¬
garns im Vetermarwesen, aber zumindest ebenso am zunehmenden rumäni¬
schen Protektionismus, der von einem Ausschluß der österreichisch-ungari-

327

     GMR. v. 22. 4. 1879, RMRZ. 233, HHStA., PA. XL Karton 2C - GMR. v. 11., 12. und 13.
     4. 1880, HHStA., PA. XL, Karton 292.
328 GMR. v. 7. bzw. 8. 1. 1886, RMRZ. 329 bzw. 330.
|| || 126 Einleitung

sehen Waren das Aufblühen der heimischen Fabrikindustrie erwartete. Der sehr
bald einsetzende Zollkrieg, im Laufe dessen die Warenartikel gegenseitig mit
Retorsionszöllen belastet wurden, senkte den Warenaustausch beider Länder
erheblich, und den Schaden mußte - wie Kälnoky prophezeit hatte - die Monar¬
chie tragen. Das Aufblühen der rumänischen Fabrikindustrie blieb allerdings
auch aus, denn den Anteil der österreichisch-ungarischen Industrieartikel über¬
nahmen englische Waren. Für die Monarchie dürfte es aber nur ein schwacher
Trost gewesen sein, daß auch ihr einstiger Partner nicht auf seine Rechnung
kam.329

                                              Rückkehr zum Zolltarifsystem

   Der zwischen der Monarchie und Rumänien 1886 begonnene Zollkrieg war
in den internationalen Wirschaftsbeziehungen der 80er Jahre nicht außerge¬
wöhnlich. Ähnliches spielte sich zwischen zahlreichen europäischen Ländern ab,
am heftigsten zwischen Deutschland und Rußland. Aber selbst die Vereinigten
Staaten ließen eine Verschlechterung ihrer Beziehungen zu den meisten europäi¬
schen Ländern zu. Die schärfste Waffe des Zollkrieges, die Anwendung des
Systems der Retorsionszölle, diente einem Doppelziel: einerseits dem Schutz des
heimischen Marktes und dadurch der Förderung der Produktion, andererseits
der Niederzwingung der Außenhandelspartner. Die Anhänger des autonomen
Zolltarifs und des Systems der Retorsionszölle behaupteten in jedem Land, die
Bedingungen in wenigen Jahren selbst bestimmen zu können, was sich jedoch
nirgendwo bewahrheitete. Kein einziges Land entschloß sich, einseitig die Waf¬
fen zu strecken, und die Folge des weltweiten Zollkrieges war eine überall
nachweisbare Stockung und Verlangsamung von Außenhandel ebenso wie
Produktion. Davon bildete auch Deutschland mit seiner außerordentlich dyna¬
mischen Volkswirtschaft keine Ausnahme. Als Folge der ungünstigen Erfahrun¬
gen verstärkte sich die Kritik am Protektionismus überall, und am Ende des
Jahrzehnts war auch Deutschland, der Initiator des Zollkriegssystems, immer
mehr zur Rückkehr zum Zolltarifsystem geneigt.

   Die Stockungen im internationalen Handel verursachten der Monarchie für
den ersten Augenblick keine unlösbaren Schwierigkeiten. Wohl erwirtschaftete
Ungarn mehr als 30% des Nationaleinkommens durch den Außenhandel, und
dieser spielte in der Volkswirtschaft Österreichs eine überdurchschnittlich große
Rolle. Der Außenhandelsverkehr beider Reichshälften wickelte sich aber über¬
wiegend im gemeinsamen Zollgebiet ab. Drei Viertel des ungarischen Exports
waren nach Österreich und mehr als die Hälfte des österreichischen Exports war
nach Ungarn gerichtet, weshalb der Außenhandel ins Zollausland unter der
durchschnittlichen europäischen Exportquote von etwa 10% blieb. Die Monar¬
chie war nach Feststellung der neueren ungarischen Wirtschaftsgeschichte nach
wie vor die autarke Reichsregion Europas.330 Auf längere Sicht litt aber auch

 329 Bindreiter, Die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen 252-263.
 330 Berend-Ränki, Europa gazdasäga a XIX. szäzadban 359-360.
|| || Einleitung  127

  sie unter der protektionistischen Wirtschaftspolitik und ihren ungünstigen Fol¬
  gen. Die Preissteigerungen infolge der Schutzzölle engten die Aufnahmefähig¬
  keit des Binnenmarktes ein, und der Ausschluß der Konkurrenz bewirkte eine
  Konservierung der veralteten Technik. Dies verlangsamte den Anschlußprozeß
 an die entwickelten europäischen Regionen, der nach dem Ausgleich von 1867
 mit verheißungsvoller Schnelligkeit eingesetzt hatte.331 Die Lenker der Wirt¬
 schaftspolitik konnten diese entfernten Folgen nicht sehen, sie nahmen aber
 wahr, daß die dynamische Entwicklung des Außenhandels auch für die Monar¬
 chie beendet war. Der Außenhandelsverkehr der Monarchie erhöhte sich von
 durchschnittlich 400 Millionen Gulden in den Jahren 1866-1870 auf 650 Millio-
 nen in den Jahren 1876-1880, also um mehr als 50%, während er in der Zeit von
 1881-1885 nur 720 Millionen erreichte, also weit geringer anstieg, und dann in
 der nächsten Fünfjahresperiode mit 724 Millionen pro Jahr auf dem gleichen
 Niveau bheb.332 Die Stagnation bezog sich auf den Agrar- ebenso wie auf den
 Industrieexport. Diese Zahlen waren überzeugend genug dazu, daß zu einer

 Zeit, als in der europäischen Außenhandelspolitik die Zeichen einer Entspan¬
 nung sichtbar wurden, auch die Monarchie die Rückkehr zu der auf Tarifverträ¬
 gen beruhenden Handelspolitik einleite. Mit dem wichtigsten Außenhandels¬
 partner, mit Deutschland, wurde im Mai 1891 die Vereinbarung paraphiert die
 Industrie- und Agrarzollsätze gegenseitig um 20-30% zu ermäßigen. Mit Italien
wurde der auf gegenseitiger Zollbegünstigung beruhende Vertrag schon 1887
erneuert, und nach dem Vertrag mit Deutschland kamen auch mit der Schweiz
und mit Belgien Vereinbarungen zustande. In diese Reihe fügte sich auch das
Abkommen mit Serbien im August 1892 ein, das für beide Länder die früheren
Zollbegünstigungen garantierte.

   Im Laufe der Vorbereitung dieser Verträge wurde zwecks Absprache der
Standpunkte der österreichischen und der ungarischen Regierung der gemeinsa¬
me Ministerrat kein einziges Mal einberufen. Denn daß statt der Retorsionszoll-
politik vertragliche Beziehungen vorteilhafter seien und man sich um Tarifver¬
träge bemühen mußte, war beiden Regierungen deutlich. Letzteres stand im
Beschluß der ungarischen Ministerratssitzung vom 18. April 1890,333 und ähn¬
lich äußerte sich auch die österreichische Regierung bei den Verhandlungen
zwischen den Regierungen. Im Detail wichen die Auffassungen freilich nach wie
vorvonemander ab. Die ungarische Regierung legte den Nachdruck auf eine
Mäßigung der Zollsätze für den Agrarexport,334 die österreichische Regierung
wollte die der Industrieartikel herabsetzen; die ungarische Regierung wollte vor
allem mit Deutschland, ihrem bedeutendsten agrarischen Absatzmarkt, einen
Vertrag abschließen, die österreichische Regierung maß den Beziehungen zu
Serbien und der Wiederherstellung des Vertragsverhältnisses mit Rumänien eine

332 ^0SS' ^'e Stellung der Habsburgermonarchie in der Weltwirtschaft 24-25.
     Lang, Vämpolitika az utolsö szäz esztendöben 323-324.

     f2/AfJ. Ung.MR. v. 18. 4. 1890. 7. In Angelegenheit der 1891 ablaufenden Handelsverträge
     OL., K. 27, Karton 48.

334 45/MT. Ung.MR. v. 12.11.1890. 1. Über die mit Fremdstaaten bestehenden Zoll-und Handels¬
     verhaltnisse, OL., K. 27, Karton 48.
|| || 128 Einleitung

zumindest gleiche Bedeutung zu.335 Als sich im Laufe der Verhandlungen in der
Zoll- und Handelskonferenz herausstellte, daß die österreichische Regierung
den Vertragsabschluß mit Deutschland und Rumänien synchronisieren wollte,
beantragte die ungarische Regierung die Einberufung des gemeinsamen Mini¬
sterrates.336 Die Gegensätze konnten aber auch ohne Mitwirkung des höchsten
Regierungsforums gelöst werden.

                                  Der rumänische Handelsvertrag vom Jahre 1893

   Zur Einberufung des gemeinsamen Ministerrates kam es dennoch in der
Angelegenheit des rumänischen Vertrags, aber um vieles später und in einem
durchaus anderen Zusammenhang. Die rumänische Regierung, die die Ver¬
handlungen zur Erneuerung des Handelsabkommens im Sommer 1886 mit
großer Selbstsicherheit unterbrochen hatte, erkundigte sich bereits Anfang 1888
auf vertraulichem Wege beim österreichisch-ungarischen gemeinsamen Außen¬
minister darüber, auf welche Art und Weise zwischen beiden Ländern wieder
normale Handelsbeziehungen hergestellt werden könnten. Der gemeinsame
Außenminister äußerte sich auf die Anfrage des rumänischen Außenministers
in dem Sinne, falls Rumänien den österreichisch-ungarischen Warenartikeln die
Meistbegünstigung gewährt, sei die ungarische Regierung bereit, von den Retor¬
 sionszöllen auf den rumänischen Waren abzusehen.337 Der ungarische Stand¬
 punkt war in dieser Frage kein besonders verheißungsvolles Moment, und als
 sich der gemeinsame Außenminister neuerlich an die ungarische Regierung
 wandte, brachte diese wieder ihren alten Wunsch nach dem Abschluß eines
 Veterinärabkommens vor.338 Infolge des ungarischen Zögerns kam es im Laufe
 des Jahrzehnts nicht mehr zu Verhandlungen zwischen den Vertretern der
 Monarchie und Rumäniens. Das Verhältnis zwischen den beiden Ländern
 änderte sich erst, als Rumänien sich im Juli 1891 bereit erklärte, der Monarchie
 gegenüber seinen neu erarbeiteten Zolltarif ohne jedwede Beschränkung anzu¬
 wenden, worauf auch die ungarische Regierung auf die Kampfzölle gegenüber
 Rumänien verzichten wollte.339 Die Angelegenheit des Vertrags gelangte in
 Bewegung, als Rumänien im Laufe des Jahres 1892 der Reihe nach Verträge
 aufgrund des Prinzips der Meistbegünstigung mit England, Frankreich sowie
 Italien abschloß und auch mit Deutschland Verhandlungen aufnahm. Letzteres
 berührte die Monarchie sehr empfindlich, indem die in Aussicht gestellten
 deutschen Begünstigungen eine Konkurrenz für die Monarchie, namentlich für

336 1IMT. Ung.MR. v. 3. 1. 1891. 8. Über den deutschen Handelsvertrag, OL., K. 26, Karton 48.
337 4jMT. Ung.MR. v. 22. 2.1888. 2. In Angelegenheit einer Regelung der Handelsverhältnisse mit

Rumänien, OL., K. 27, Karton 43.  .,  , „

338 31/MT. Ung.MR. v. 9. 11. 1889. 13. Uber eine neuerliche Einleitung der Verhandlungen

hinsichtlich des mit Rumänien zu schließenden Handelsvertrags, OL., K. 27, Karton 46.

339 32!MT. Ung.MR. v. 27. 7. 1891. 6. Aufhebung der gegenüber Rumänien angewendeten Knegs-

zölle, OL., K. 27, Karton 50.
|| || Einleitung  129

Ungarn bedeuteten, weshalb sich der gemeinsame Außenminister auch gegen
das deutsche Vorgehen verwahrte. Der Protest führte allerdings zu keinem
Erfolg, und im Oktober 1893 kam der deutsch-rumänische Vertrag auch zustan¬
de. Aber die neue Lage brachte die ungarische Regierung zu einer besseren
Einsicht. Sie zeigte sich im Frühjahr 1893 bereit, mit Rumänien einen Vertrag
auf der Grundlage der Meistbegünstigung zu schließen.340 Die im Sommer
begonnenen Verhandlungen liefen jedoch bei der Frage des Veterinärwesens
abermals auf,341 und wieder war es Aufgabe des gemeinsamen Ministerrates, die
Angelegenheit in Bewegung zu bringen.

   In der Beratung vom 22. Oktober 1893342 bezweifelte der ungarische Handels¬
minister Lukäcs den Erfolg der neubegonnenen Verhandlungen, fügte aber
hinzu, daß auch die ungarische Regierung Wert auf ein Zustandekommen des
Vertrags lege. Zur Überbrückung des Problems des Veterinärwesens möge dem
Vertrag eine Erklärung beigefügt werden, daß die ungarische Regierung den
Schweineimport aus Rumänien ohne triftigen Grund nicht verhindern werde.
Ein „triftiger Grund" konnte laut Auslegung des ungarischen Landwirtschafts¬
ministers Bethlen der Umstand sein, daß auch Deutschland seine Grenzen für
die Schweinelieferungen aus Ungarn verschloß oder mit einer Schließung der
Grenzen drohte. Die bei der Beratung anwesenden österreichischen Minister
hielten diese Formulierung für überaus unklar und bezweifelten, daß die rumä¬
nische Regierung eine derartige Erklärung zur Kenntnis nehmen würde. Bei
Besprechung des meritorischen Teiles der Angelegenheit hoben sie die Wichtig¬
keit des Vertrages hervor. Der österreichische Handelsminister Bacquehem
machte darauf aufmerksam, die Monarchie habe ihren Export nach Rumänien
gerade von 52 Millionen Gulden im Jahre 1890 im Jahre 1891 auf 72 Millionen
erhöht. Darauf antworteten die Mitglieder der ungarischen Regierung überra¬
schend und ungewohnt geschmeidig, in der in Angelegenheit des Veterinärwe¬
sens abzugebenden Erklärung solle der auf eine mögliche Schließung der Gren¬
zen hinweisende Teil wegbleiben, so daß sie auch für die rumänische Regierung
annehmbar werde. - Die kurz nach dem Beschluß des gemeinsamen Ministerra¬
tes begonnenen Verhandlungen waren sehr bald erfolgreich, und im Dezember
1893 wurde der Vertrag zwischen der Monarchie und Rumänien unterzeichnet,
der im Warenverkehr zwischen den beiden Ländern die Meistbegünstigung
garantierte.

                                    Der russische Handelsvertrag vom Jahre 1894

   Der Handelsvertrag mit Rumänien war nicht der einzige Punkt der Tagesord¬
nung des gemeinsamen Ministerrates vom 22. Oktober 1893. Den ersten und
größeren Teil der Beratung machte der Gedankenaustausch über den mit Ruß-

340 1?!MT. Ung.MR. v. 12. 5.1893. 2. Über die Regelung der Handelsbeziehungen mit Rumänien,
     OL., K. 27, Karton 52.

341 28/MT. Ung.MR. v. 22. 7. 1895. 2. In Angelegenheit des rumänischen Handelsvertrags, OL.,
     K. 27, Karton 33.

342 GMR. v. 22. 10. 1893, RMRZ. 382.
|| ||  130 Einleitung

 land zu schließenden ähnlichen Vertrag aus. Dieser Vertrag und im allgemeinen
 die Regelung der Handelsbeziehungen zu Rußland hatten keine besondere
 Vorgeschichte. Rußland zählte nicht zu den Außenhandelspartnern ersten Ran¬
 ges. Der Export nach Rußland in Höhe von durchschnittlich 15-20 Millionen
 Gulden pro Jahr machte 2-3% des Gesamtexportes aus, und die Außenhandels¬
 bilanz war infolge des Importes aus Rußland von durchschnittlich 25-30 Millio¬
 nen passiv. Vorteilhaft war die Beziehung für die Monarchie, namentlich für
 Österreich dadurch, daß die Exporte überwiegend aus Industriewaren bestan¬
den. Der Handel zwischen den beiden Ländern war - trotz des Fehlens eines
 Handelsvertrags - glatt und reibungslos, und auch zur Zeit des Zollkrieges
wurden die gegenseitigen Lieferungen nicht mit Retorsionszöllen belegt. Die
 Monarchie profitierte sozusagen vom Zollkrieg zwischen Rußland und
Deutschland, der den österreichisch-ungarischen Warenabsatz zu günstigeren
 Bedingungen ermöglichte. Die Lage verschlechterte sich für die Monarchie, als
Rußland zu Beginn der 90er Jahre einen maximalen und minimalen Zolltarif
festsetzte und ankündigte, gegenüber sämtlichen Ländern, mit denen es keine
Handelsverträge schließt, den Maximaltarif anzuwenden. Zu solchen Verträgen
kam es dann auch, zuerst 1893 mit Frankreich, dann im Februar 1894 mit
Deutschland, obwohl die österreichisch-ungarische Seite lange bezweifelte, daß
die durch den Zollkrieg vergifteten deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen
überhaupt geregelt werden könnten.343 Die Verträge sicherten den Exportarti¬
keln der Partner eine ganze Reihe von Zollbegünstigungen zu, wodurch die
Monarchie in eine nachteilige Lage geriet. Die mit Maximalzöllen belasteten
österreichisch-ungarischen Waren vermochten mit den begünstigten französi¬
schen und besonders deutschen Waren kaum zu konkurrieren. Die Aufhebung
des vertragslosen Zustandes oder - anders formuliert - das Zustandekommen
des Vertrags lag also im Interesse der Monarchie. Als daher Rußland, dessen
Export nach Österreich-Ungarn größer war, die Initiative ergriff, erhielt es eine
positive Antwort. Bevor aber der Vertrag tatsächlich zustande kommen konnte,
mußten die österreichischen und ungarischen Gesichtspunkte aufeinander abge¬
stimmt werden.

   Die Schwierigkeiten ergaben sich ebenso wie beim rumänischen Vertrag
daraus, daß der künftige Vertragspartner überwiegend Agrarprodukte expor¬
tierte und die Interessen Österreichs und Ungarns an diesem Vertrag voneinan¬
der abwichen. Dies zeigte sich, als der ungarische Ministerrat am 22. Juli 1893
erwog, die russischen Importwaren wegen der russischen Begünstigungen gegen¬
über anderen Ländern mit einem 30%igen Zusatzzoll zu belasten, und dies nur
mit Rücksicht auf die eingeleiteten Verhandlungen nicht zum Beschluß erhob.344
Im Laufe der Verhandlungen stellte sich heraus, daß Rußland für die in die
Monarchie gelieferten Agrarexporte eine Sonderbegünstigung forderte. Es

343 22!MT. Ung.MR. v. 10.9.1892.11. Bericht über die deutsch-russischen Handelsverhandlungen,
      OL., K. 27, Karton 31.

344 28/MT. Ung.MR. v. 22. 7. 1893. 1. Über die Handelsbeziehungen mit Rußland, OL., K. 27
      Karton 53.
|| || Einleitung  131

 verlangte von der Monarchie, die Getreidezölle für die Vertragsdauer zu fixieren
 und sich zu verpflichten, die Serbien gewährte Grenzgebietsbegünstigung, die
 dem Getreidehandel Zollfreiheit zusicherte, im Falle ihrer Ausdehnung auf
 andere Länder auch Rußland zu gewähren, und schließlich auch den sonstigen
 Waren eine Zollbegünstigung zuzuerkennen. Die ungarische Regierung verwei¬
 gerte sich diesen Wünschen entschieden und war nur zur Erklärung bereit, daß
 sie nicht die Absicht habe, die Getreidezölle zu erhöhen und die Serbien gebote¬
 ne Begünstigung auch anderen Staaten zu gewähren.345 Die österreichische
 Regierung war bereit nachzugeben und hielt die russischen Wünsche sowohl auf
 eine Ausdehnung der Serbien gewährten Begünstigung als auch auf Fixierung
 der Getreidezölle für erfüllbar. Die Überbrückung dieser Gegensätze zwischen
 den beiden Regierungen war nun die Aufgabe des gemeinsamen Ministerrates.

    In der Beratung vom 22. Oktober 1893 gelang dies auch zum Teil.346 Der
 ungarische Handelsminister Lukäcs erklärte, abweichend vom früheren Be¬
 schluß des ungarischen Ministerrates, da auch die ungarische Regierung Ge¬
 wicht auf das Zustandekommen des russischen Vertrags lege, wolle sie die
 Erklärung im Zusammenhang mit den Begünstigungen des serbischen Grenz¬
 verkehrs abgeben, verlangte aber, daß die österreichische Regierung die den
 russischen Getreidelieferungen gewährten österreichischen Eisenbahnbegünsti¬
gungen überprüfe, weil es mit dem Zoll- und Handelsbündnis unvereinbar sei,
daß das russische Getreide auf den österreichischen Eisenbahnen größere Be¬
günstigungen genieße als die gleichen ungarischen Lieferungen. Durch die
Zustimmung des österreichischen Handelsministers Bacquehem konnte der eine
Gegensatz zwischen den beiden Regierungen gelöst werden. Bei der Bindung der
Getreidezölle kam aber auch im gemeinsamen Ministerrat zwischen den beiden
Regierungen keine Annäherung zustande. Der ungarische Handelsminister ver¬
wies darauf, daß Ungarn - obzwar der ungarische Export nach Rußland kaum
eine halbe Million Gulden ausmachte -- keine Opfer für ein Zustandekommen
des Vertrages bringen könne. Der österreichische Handelsminister erkannte
zwar an, daß der Vertrag auch die österreichischen Agrarinteressen berührte,
erklärte aber, die Gewährung der Begünstigung sei notwendig, um der Monar¬
chie die sonstigen Vorteile des russischen Vertrags zu sichern. Schließlich einigte
man sich darauf, dem russischen Verhandlungspartner mitzuteilen, daß eine
Bindung der Getreidezölle aus parlamentarischen Rücksichten wohl nicht mög¬
lich sein werde, die Monarchie aber nicht die Absicht habe, diese zu erhöhen.

   Wie erwartet, war die russische Regierung mit der in der Frage der Getreide¬
zölle erhaltenen Antwort nicht zufrieden und hielt nach wie vor an ihrem
ursprünglichen Standpunkt fest, ja brachte nun sogar auch eine Ermäßigung des
Roggenzolles zur Sprache. Die ungarische Regierung gab nach und erklärte sich
zu einer Bindung der Getreidezölle für den Fall bereit, daß dies die russische
Regierung mit der Fixierung der Zölle gewisser Importartikel erwiderte, wollte

     31/MT. Ung.MR. v. 13. 9. 1893. 5. Über die Verhandlungen bezüglich des russischen Handels¬
     vertrags, OL., K. 27, Karton 53.

346 Vgl. Anm. 342.
|| ||  132 Einleitung

 aber von einer Ermäßigung des Roggenzolles weiterhin nichts hören.347 Da aber
die österreichische Regierung beide russische Propositionen auch jetzt für ak¬
zeptabel hielt, mußte wiederum der gemeinsame Ministerrat zur Abstimmung
der gegensätzlichen Standpunkte einberufen werden. In der Beratung vom 4.
März 1894348 verlangte der sich bis dahin als bloßer äußerer Beobachter verhal¬
tende gemeinsame Außenminister mit triftigen Argumenten die Abstimmung
der Ansichten und den tunlichst baldigen Abschluß des Vertrages. Nachdem
Deutschland seine Handelsbeziehungen zu Rußland geregelt hatte, müsse ein
möglicher Zollkrieg zwischen der Monarchie und Rußland nicht allein schwere
wirtschaftliche Folgen haben, sondern werde die Monarchie auch politisch in
eine ungünstige Lage bringen. Die Mitglieder der beiden Regierungen, nament¬
lich die ungarischen Minister, ließen sich jedoch von den Argumenten der hohen
Politik nicht beeinflussen und betonten immerfort ihre eigenen wirtschaftlichen
Argumente. Den Hinweis der ungarischen Minister, daß eine Ermäßigung des
Roggenzolles und dadurch die russische Konkurrenz die ungarischen Produzen¬
ten in eine ungünstige Lage bringen würde, konterkarierten die österreichischen
Minister damit, daß es nun an der Zeit sei, auch im Interesse der Industrie etwas
zu tun. Der Konsens kam schließlich so zustande, daß die Mitglieder der
ungarischen Regierung einer Festlegung der Getreidezölle zustimmten und die
österreichischen Minister den ungarischen Standpunkt akzeptierten, einer Her¬
absetzung des Roggenzolles nicht zuzustimmen. Diese Vereinbarung wurde von
Kälnoky auch als Beschluß des gemeinsamen Ministerrates formuliert. - Diese
Stellungnahme des gemeinsamen Ministerrates erwies sich auch für die russische
Regierung als annehmbar, dementsprechend kam es im Mai 1894 zur Unterfer¬
tigung des Handelsvertrages zwischen den beiden Ländern.

                                VI. Die staatsrechtlichen Fragen

Vor den gemeinsamen Ministerrat gelangten im Zusammenhang mit konkreten
Angelegenheiten häufig Fragen staatsrechtlichen Charakters und führten stets
zu einem eingehenden Gedankenaustausch über das österreichisch-ungarische
staatsrechtliche Verhältnis, so z. B. bei der Frage der gemeinsamen Aktiven,
deren Inanspruchnahme zur Deckung außerordentlicher militärischer Ausga¬
ben ungarischerseits für möglich gehalten, von österreichischer Seiteaßef abge¬
lehnt wurdeTöder der Verwendbarkeit des gemeinsamen Büägets zur Aufstel¬
lung der ungarischen Landsturm-Reiterschwadronen,3?rraber auch schon gele¬
gentlich der Verlängerung des Wehrgesetzes, als der Monarch Einspruch gegen
den im Entwurf genannten Ausdruck "beide Staatsgebiete" erhob.350 Diese~äüf

347 45IMT. Ung.MR. v. 30. 12. 1893. 10. In Angelegenheit des russischen Handelsvertrages, OL.,
     K. 27, Karton 53.

348 GMR. v. 4. 3. 1894. RMRZ. 383.
|| || Einleitung  133

 abweichenden Auslegungen beruhenden Meinungsverschiedenheiten erschwer-
 ten, ja verhinderten mehr als einmal die Herausbildung eines gemeinsamen
 Standpunktes und dadurch die Erledigung der besprochenen konkreten Angele¬
 genheit. Das Kriegsleistungsgesetz verzögerte sich darum jahrelang, weil sich die
 beiden Regierungen hichf einigen konnten, ob die Entschädigungskommission
 im Rahmen des gemeinsamen Kriegsministeriums oder der beiden Ministerien
 für Landesverteidigung fungieren sollte;,351 und das Pferdestellungsgesetz"schei¬
 terte lange Zeit daran, daß die ungarische Regierung bei der Feststellung der
 Pferdezahl die Zuständigkeit der Organe des gemeinsamen Kriegsministeriums
„PK'ht anerkannte.352 Es gab aber auch Fälle, daß die staatsrechtliche Beziehung
jucht im Zusammenhang mit irgendeiner konkreten Angelegenheit vor den
gemeinsamen Ministerrat kam, sondern als solche einer Klärung bedurfte. Im
folgenden wird ein Überblick über diese FälTegebotenT''' --

                      Der Aufenthalt bosnisch-herzegowinischer Truppenkörper in Ungarn

    Für die besetzten Provinzen trat am 4. November 1881 ein provisorisches
 Wehrgesetz in Kraft, das nach dem Muster des in der Monarchie gültigen
 Wehrgesetzes auf der allgemeinen Wehrpflicht beruhte.353 In der Vorbereitungs¬
 periode des Wehrgesetzes machten der gemeinsame Außenminister Haymerle
 und auch die beiden Ministerpräsidenten darauf aufmerksam, daß die Einfüh¬
 rung der allgemeinen Wehrpflicht in diesen Provinzen mit ihren spezifischen
 Verhältnissen unberechenbare Folgen haben könnte354 -- eine Besorgnis, die sich
als begründet erwies. Infolge der beginnenden Assentierungen brach in der
Herzegowina und im südlichen Teil Dalmatiens ein Aufstand aus, und schon
kaum zwei Monate nach Inkrafttreten des Wehrgesetzes mußte sich eine Konfe¬
renz unter Vorsitz des Monarchen mit Maßnahmen zur Unterdrückung des
Aufstandes beschäftigen.355 Die Pazifizierung gelang schließlich durch die Inan¬
spruchnahme eines Spezialkredits356 und die Verdreifachung der Truppen im
April .1882.357 Die ganze Aktion glich sozusagen einer zweiten Okkupation und
stellte eine zu beherzigende Mahnung dar. Die Heeresleitung aber, die den
Personalstand der Armee um jeden Preis erhöhen wollte, hielt nach wie vor an
der Durchführung des Wehrgesetzes in den besetzten Provinzen fest.

    Im Laufe der Durchführung des Wehrgesetzes wurden aus den bosnisch-

351 Vgl. Anm. (jÖ)
352 Vgl. Anm. mL
353 Sosnosky, Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns Bd 2 33
354 GMR. v. 6. 1. 1881, RMRZ. 276, HHStA., PA. XL, Karton 292.

     Protokoll über die unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 30. 12. 1881 stattgehabte
     Konferenz betreffend die Verhältnisse in Süddalmatien und die Maßregeln zur Durchführung
     des provisorischen Wehrgesetzes für Bosnien und die Herzegowina, KA„ MKSM. 65-1/1-2 ex
     1882.
356 GMR. v. 25. 2. 1882, RMRZ. 294, HHStA., PA. XL, Karton 293.
  7 Sosnosky, Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns, Bd. 2, 36.
|| ||  134 Einleitung

 herzegowinischen Stellungspflichtigen selbständige Bataillone gebildet, die aus¬
 nahmslos in den besetzten Provinzen stationiert wurden. Obwohl sich die Assen¬
 tierung und Einberufung nicht auf sämtliche Wehrpflichtige bezog, hatte der
 Anteil der unter Waffen stehenden und militärisch ausgebildeten männlichen
 Bevölkerung um die Mitte der 80er Jahre schon einen ansehnlichen Stand
 erreicht. Aufgrund der Erfahrungen von 1882 war eine so große Zahl von
 Reservisten und Stellungspflichtigen in Bosnien-Herzegowina mit einem gewis¬
 sen Risiko verbunden, weshalb es zweckmäßig erschien, zumindest die letzteren
 in andere Gebiete der Monarchie zu verlegen, was im Falle Österreichs auch
 unproblematisch war. In Ungarn war jedoch immer noch ein Gesetz von 1608
 in Kraft, das den Aufenthalt fremder Truppen im Landesgebiet verbot.358 Dieses
 Hindernis war zwar auf gesetzgeberischem Wege zu beseitigen, doch mußte die
 Regierung in diesem Fall mit einer Debatte über die okkupierten Provinzen
 rechnen, was sie angesichts der kritischen Periode im Jahre 1878 nicht wünschte.
 Diesen Standpunkt teilte auch die österreichische Regierung. Im Sinne des
 Gesetzes vom 22. Februar 1880359 hätte sie dem Reichsrat nämlich einen ähnli¬
chen Gesetzesantrag unterbreiten müssen, und in der bosnischen Frage mußte
sie mit Schwierigkeiten rechnen. Das Gesetz in irgendeiner Weise zu umgehen,
wollte mit Rücksicht auf die ungarische oppositionelle Presse keine Regierung
riskieren. Das Dilemma zwischen der politischen Notwendigkeit und dem
jstaatsrecht müßte aber irgendwie gelost werden.
  ~Die Initiative ging vom gemeinsamen Finanzminister aus, der mit der Zivil¬
verwaltung der besetzten Provinzen beauftragt war. Im Frühjahr 1886 erhielten
beide Regierungen eine Note unter anderem des Inhalts, daß die immer raschere
Inanspruchnahme der männlichen Bevölkerung der besetzten Provinzen eine
unverzügliche Lösung des Problems erfordere. Zu dieser Note gab in-dej; Sit¬
zung des ungarischen Ministerrats vom 26. Juni 1886 Justizminister^Fabimä ein
ausführliches Staatsrechtliches Gutachten mit der Konklusion, es gebe kein
Gesetz, das eine Unterbringung der bosnischen Truppen* auf dem Gebiet der
yfficfer der ungarfschen Kröne zulassen würde. Der Ministerrat machte sich die
Ansicht seines Justizministers zu eigen und erhob zum Beschluß, daß die Trup¬
pen der besetzten Provinzen ohne' Beauftragung durch den Gesetzgeber nicht
ins Gebiet der Länder der ungarischen Krone verlegt werden könnten.3" Nach
dieser Vorgeschichte gelangte die Angelegenheit am 26. September 1886 vor den
gemeinsamen Ministerrat, und natürlich bestand keinerlei ^ Chance für eine
positive Lösung, ja es kam nicht einmal zu einer Sachdebatte. Der ungarische
Ministerpräsident erklärte, daß er die Wichtigkeit einer Lösung wohl einsehe,
aber eine parlamentarische Erörterung -- mit Rücksicht auf zu erwartende

     Der betreffende Teil des Gesetzartikels II vom Jahre 1608 lautet wie folgt: „Daher wurde
     beschlossen, daß Seine Majestät der König ... ohne vorherige Kenntnis und Zustimmung des
     Landes in Ungarn und in dessen angegliederten Teilen weder einen Krieg beginne, noch dahin
     ausländisches Militär bringe." Magyar Törvenytär 1606-16S7 11
359 RGBl, Nr. 18/1880.

     20/MT. Ung.MR. v. 26. 6. 1886. 1. Über die Frage der Unterbringung bosnischer und herzego-
     winischer Truppen auf dem Gebiet der Länder der Ungarischen Krone, OL., K. 27, Karton 4L
|| || Einleitung         135

Schwierigkeiten - nicht für zweckmäßig halte. Falls sich aber eine dringende

Notwendigkeit ergeben würde'; konnte gewiß' auch ein Ausweg gefunden wer¬
den.361

Die Angelegenheit wurde nach über dreijähriger Pause wieder zum Thema,

abermals auf Initiative des gemeinsamen Piriänzministers. Beni Källay richtete
eine Note an den gemeinsamen Außenminister, der, bevor "er den Antrag vor
den gemeinsamen Ministerrat brachte, das Gutachten der ungarischen Regie¬
rung einholte, das allerdings nichts Neues enthielt.362 Im gemeinsamen Minister¬
rat vom 28. April 1890, dessen eigentliche Tagesordnung die Erörterung des

Jahresbudgets war, wurden sowohl die politischen als auch die staatsrechtlichen
Bezüge des Problems angesprochen. Der gemeinsame Außenminister und der
gemeinsame Finanzminister verwiesen auf die außenpolitischen Zusammenhän¬

ge und die zu erwartenden bosnischen Schwierigkeiten und drängten auf mög¬

lichst baldige Erledigung, die beiden Ministerpräsidenten aber betonten die mit

der Regelung verbundenen parlamentarischen Schwierigkeiten. Von den ver¬

schiedenen Überbrückungsvorschlägen würde keiner akzeptiert, so daß der
durch den fruchtlosen Gedankenaustausch ermüdete österreichische Finanzmi¬
nister schließlich sogar die Notwendigkeit der bosnischen Truppen in Frage

stellte. Kälnoky konnte nichts anderes tun, als die Wichtigkeit einer baldigen
Vereinbarung zu betonen und die Beratung zu schließen.363

   Die Einigung kam unerwartet rasch zustande, indem der ungarische Mini-
sterpräsident Szapäry im gemeinsamen Ministerrat vom 5. Mai 1890 erklärte,
daß die ungarische Regierung dem Parlament ein Gesetz vorlegen wolle, das die
Stationierung bosnischer Truppen in Ungarn ermögliche.364 Warum und auf-
gruna welcher Überlegungen die ungarische Regierung ihren fünfjährigen Wi¬

derstand aufgab, darüber geben die Protokolle des ungarischen Ministerrates

keine Auskunft. Jedenfalls legte der ungarische Ministerpräsident den Entwurf
des Gesetzesantrages schon am 21. September 1890 dem Ministerrat vor, der
ihn - mit wenigen Änderungen - akzeptierte.365~Eme Schwierigkeit ergab sich
nur aus der Beanstandung des Monarchen, daß im Gesetzestext auch die
Zustimmung der Regierung vorkam.366 Schließlich nahm er aber den ursprüngli¬

chen Entwurf an. Der Gesetzesantrag wurde vom ungarischen Parlament verab¬

schiedet und trat am 28. März 1891 als Gesetzartikel VIII des Jahres 1891 in

Kraft.367   -- --

361 GMR. v. 26. 9. 1886. RMRZ. 332.

     28/MT. Ung.MR. v. 24. 10.1889. 1. Über die Steigerung der Wehrkraft der besetzten Provinzen
     und die Unterbringung der bosnisch-herzegowinischen Truppen auf dem Gebiet der Monarchie
     OL., K. 27, Karton 46.
363 GMR. v. 28. 4. 1890, RMRZ. 364.
364 GMR. v. 4. 5. 1890, RMRZ. 366.

     34/MT. Ung.MR. v. 21. 9. 1890. 3. Gesetzentwurf über das Hereinbringen bosnisch-herzegowi-
     nischer Truppen nach Ungarn, OL., K. 27, Karton 46.

366 43/MT. Ung.MR. v. 6. 11. 1890. In Angelegenheit des Gesetzentwurfes über das Hereinbringen
     der bosnischen und herzegowinischen Truppen nach Ungarn, OL., K. 27, Karton 48.

367 Magyar Törvenytär 1889-1891 388.
|| || 136 Einleitung

j/ D'e Bezeichnung der vertragschließenden Partner in den internationalen Verträgen

Den Gebrauch des Titels des Herrschers und der Bezeichnung der Monarchie

in internationalen Verträgen regelte das an den Reichskanzler gerichtete aller¬

höchste Handschreiben vom 14. November 1868. Der Herrscher verfügte, daß

sein Titel in der Form „Kaiser von Österreich, König vom Böhmen etc. und

apostolischer König von Ungarn" und verkürzt als „Kaiser von Österreich und

apostolischer König von Ungarn" und zur Bezeichnung der Gesamtheit der

unter seiner Herrschaft stehenden Länder entweder „österreichisch-ungarische

Monarchie" oder „österreichisch-ungarisches Reich" verwendet werde.368 Die

neue Bezeichnung der Monarchie stammte vom damaligen ungarischen Mini¬

sterpräsidenten Andrässy, der in seinem Vortrag an den Monarchen vom 10.

Juli 1868 allein die obigen beiden Ausdrücke als zutreffende Bezeichnungen der

durch den Ausgleich vom Jahr 1867 entstandenen staatsrechtlichen Einrichtung

erachtete, weil sie den Begriff des gesamten Reiches und die konstitutionelle

· Selbständigkeit seiner feile in gleicher Weise kenntlich machten. Dementspre¬

chend wies Andrässy den Ausdruck „Österreich und Ungarn" zurück, hielt aber

in solchen Fällen, wo die'Heiden Reichshälfteri („die im Reichsrat vertretenen

Länder" und „die Länder der ungarischen Krone") nicht mit genauem Namen

genannt werden, die Bezeichnung(",bdde^raatsgebiete'ider österreichisch-unga-

rischen Monarchie" für zulässig,369 Der Herrscher näherte sich damit, daß er den

von Andrässy vorgeschlagenen Ausdrücken zustimmte, der ungarischen staats¬

rechtlichen Auffassung und machte andererseits damit, daß er in seinem Hand¬

schreiben den Ausdruck die „beiden Staatsgebiete" fort ließ, dem österreichi¬

schen Standpunkt ein Zugeständnis, Das Handschreiben des Herrschers känn

somit als Kompromiß zwischen der ungarischen dualistischen und der österrei¬

chischen zentralistischen Auffassung betrachtet werden, wobei aber den ungari- /u

sche Standpunkt stärker zur Geltung kam. Von 1868 an wurde soiür auf

ungarischen Wunsch die Bezeichnung „österreichisch-ungarisches Reich" fort-

gelassen.  C

Die Regelung des Herrs-chertitels und der Bezeichnung der Monarchie im

obigen Sinne hatte auclfzweiichwache Punkte. Der eine war der Kompromi߬

charakter selbst. Die gleichzeitige Durchsetzung der österreichischen und der

ungarischen staatsrechtlichen Auffassung setzte nämlich einen gewissen politi¬

schen Konsens voraus, vom dem sie abhängigjKar. Der Kompromiß konnte nur

in Geltung bleiben, solange der politische Konsens bestand. Der andere schwa¬

che Punkt ergab sich daraus, daß die Regelung nicht vollständig war, sich nicht

aBf alle möglichen Fälle erstreckte. Die Monarchie bzw(die sie bildenden beiden

Staaten konnten nämliclT infolge der im Ausgleich erfolgten Regelung in den

368 Den Text des Ah. Handschreibens siehe: Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze
     33. - Ungarisch siehe: Deäk Ferenc beszedei 1868-1873 82-83.

369 Promemoria des kgl. ung. Ministerpräsidenten Grafen Andrässy über die Titelfrage v. 10. 7.
     1868, HHStA., PA. I, Karton 630. - Über das Entstehen der Denkschrift sowie des Handschrei¬
     bens des Monarchen siehe: Wertheimer, Graf Julius Andrässy Bd. 1, 412-442.
|| || Einteilung  137

 , unterschiedlichsten Weisen zum internationalen Rechtssubjekt werden, je nach

     dem, ob sie in gemeinsamen bzw. gemeinsam zu behandelnden Angelegenheiten
     oder in von den beidenJStaaten selbständig zu behandelnden Fragen Verträge
     schlossen. Die Formeln „Kaiser von Österreich und apostolischer König von

     Ungarn" und „österreichisch-ungarische Monarchie" galten nämlich nur für
     den ersteren Fall, also für Verträge ausgesprochen außenpolitischen Charakters
     Dann waren der Herrscher selbst (unter obigem Titel) bzw. die österreichisch-

     ungarische Monarchie die vertragschließenden Partner, und als Unterzeichner
     tungierte der gemeinsame Außenminister (oder jemand anderes) im Namen des

     Monarchen bzw. als Beauftragter der österreichisch-ungarischen Monarchie In
     d£n anderen beiden Fällen war obige Formel nicht so eindeutig anwendbar
     weshalb das gemeinsame Außenministerium, das sowohl die gemeinsam zu
     behandelnden alsjuch die einzelne Staatsgebiete betreffenden Vertragsschlüsse
    abwickelte,eme fecht ifigönsequen^ Praxis ausgearbeitet hatte. Auch bei sol¬
    chen Vertragen und Abkommen figurierten zumeist der Herrscher bzw. die
    österreichisch-ungarische Monarchie als Vertragspartner, und die Unterzeich-

    n|Un®i.er'°^te e^enso zununst im Namen des Monarchen bzw. der österrei¬
    chisch-ungarischen Monarchie(Daneben kamen als Vertragsparteien auch vor:
    Österreich-Ungarn, die k. u. k. österf.-ungar. Regierung, "die Regierung Sr.
    Majestät des Kaisers von Österreich und Apost. Königs von Ungarn, les Gou¬
    vernements de l'Autriche et de la Hongrie und sogar die k. k. österreichische
    Regierung. DieUnterzeichnung erfolgte häufig ohne Übereinstimmung mit der
    Benennung der Vertragspartei durch die Formel „pour l'Autriche" und~~pour

  Jl"0"?1®"- Im internationalen Postvertrag von 18781UiTzuhi'Beispiel Oster-
    rei£p-Ungarn die vertragschließende Partei, unterzeichnet wurde er gesondert
    im Narpen Österreichs bzw. Ungarns; in dem Handelsvertrag mit Deutschland
    vom Jahre 1880 figurierten „die k. u. k. österr.-ungar. Regierung" als Vertrags¬
    partei und der Beauftragte der Monarchie als Unterzeichner; bei der Ergänzung

    des internationalen Eisenbahnfrachtvertrags J 893 waren die Regierungen von
  Österreich und Ungarn die vertragschließenden Parteien, und auch die Unter¬
  zeichnung erfolgte für Österreich und Ungarn getrennt.370 Diese inkonseqliente,

h weder d('r österreichischen noch der ungarischen staatsrechtlichen Auffassung
, entsprechende Praxis fieljeichlich zwei Jahrzehnte lang niemandem auf und

: keine der beiden Regierungen verwahrte sich gegen das Vorgehen cfes gemeinsa-
          Aiißenministeriiims. Sobald aber der politische Konsens zwischen den

   beiden Staaten zerbrach, wurde diese Praxis zum Gegenstand von Auseinander¬
   setzungen und war auch die ursprüngliche, auf einem Kompromiß beruhende
   Regelung vom Jahre 1868 nur schwer aufrechtzuerhalten. Ende der 8Qer Jahre 

370 yoeIorä18n£LÜber gemeinsam zu behandelnde Angelegenheiten, einschließlich der Grenzverträge
     1868-1908 - Vertrage über Angelegenheiten, bezüglich deren dieTeiden Staafenüer Monarchie
     lEfSttg111 zu ^fügen berechtigt sind 186SM908 - Übereinkommen betreffend gemeinsame und
     gemaasam zu behandelnde AngelegenheitenJ868-I9Ö4 - Übereinkommen und Protokolle

     ISög-DO^HHST/U, FVkZ Kmton|^^MOnarC^'e ^t0n°m " VerfÜgen berechti!l sind
|| ||               138 Einleitung

              entstand eine fast zwei Jahrzehnte dauernde Staatsrechtsdebatte, deren Schau¬

              platz zum Teil der gemeinsame Ministerrat war.

              Die ersten Meinungsverschiedenheiten staatsrechtlichen Charakters tauchten

}  .^:/ iy w  bei der Inartikulierung des mit Rumänien am 7. Dezember 1887 geschlossenen
              Grenzabkommens auf. Im Titel und Text des Vertrages figurierte die österrei-

              ch'ischfimgaxische'Monarchie als Vertragspartei, und die Unterzeichnung er¬

              folgte durch Goluchowski, den Gesandten der Monarchie in Bukarest. Die

              Rechts- und Verwaltungskommission des ungarischen Parlaments hielt es an¬

              läßlich der Vorbereitung der Inartikulierung für unrichtig, daß als Vertragspar¬

              tei die österreichisch-ungarische `Monarchie genannt werde, und forderte statt

              dessen im zu inartikulierenden Text die Nennung der beiden Staaten der Monar-

              chie. Die ungarische Regierung stimmte dem zu und wandte sich an den Monar¬

              chen um Genehmigung der Änderung. Der Herrscher wollte die Angelegenheit

              aber nicht entscheiden, ohne sie dem gemeinsamen Ministerrat vofgelegt zu

              haberfi"um auch die Meinung der gemeinsamen Minister und der österreichi¬

              schen Regierung einzuholen.         __

              Im gemeinsamen Ministerrat vömTM. Januar 1888371 jertrat Bela Orczy, der

              kgl. ungarische Minister am AllerhöchsTen HofTägerj den Standpunkt der unga¬

              rischen Regierung mit zwei Argumenten. Durch die Beibehaltung des ursprüng¬

              lichen Textes würde einejieue gemeinsame Angelegenheit (nämlich die österrei-

   "V jchisch-ungarische Grenze) entstehen, und'der Ausdruck „die beiden Staaten" :

              komme auch schon in früheren ungarischen Gesetzen vor. Der gemeinsame

              Finanzminister Källay schlug sich auf die Seite der .ungarischen Regierung,

              indem er erklärte, der für das Ausland gültige Wortlaut des Abkommens bleibe

              ja unverändert, die mit der Inartikulierung zusammenhängenden Äriderüngen

              seien ausschließlich eine innere Angelegenheit der ungarischen Gesetzgebung.

              Die Gegenmeinung formulierte am klarsten der österreichTsche MinisterpräsT

              dent Taaffe: Wohl seien bei Vertragsschlüssen ^wischeKden beiden Teilen der

              Monarchie verschiedene Ausdrücke gebräuchliclfi-demrÄusland gegenüber sei

              aber stets die Bezeichnung Österreichisch-unga.rische Monarchie verwendet wor¬

              den. Er wolle auch weiterhin den Grundsatz beibehalten, daß die Grenzen der

              Monarchie dem Ausland gegenüber als Einheit betrachtet werden, was - seines

              Erachtens - nicht ausschloß, daß in_ dieser Angelegenheit nach wie vor die

   V beiden Regierungen als Vollzugsmächte betraefiterwerden. Für Kälnoky war
              es ebenfalls wichtig, daß dem Ausland gegenüber auch künftig der Ausdruck

              österreichisch-ungarische Monarchie beibehalten bleibe. Der Monarch ver-

              wahrte sich zweimal gegen dgn Gebrauch des Ausdruckes(^dfe beidetTstaaten^)

              den er aus staatsrechtlicher.SidhLfür verfehlt hjglt. S^--T-

              Bei Durchsicht des Pfotokolltextes fallt vor allem auf, wie wenig die Bera¬

              tungsteilnehmer über die geltende Praxis bei internationalen Vertragsschlüssen

              orientiert waren. Im Gegensatz zur Behauptung des gemeinsamen Außenmini¬

              sters und des österreichischen Ministerpräsidenten war - wie gesehen - nicht in

              jedem Fall die österreichisch-ungarische Monarchie die vertragschließende Par-

              371 GMR. v/24. 1. 1888,\RMRZ( 350,

                                                              lU.
|| || Einleitung                                                                       139

      tei, sondern im Titel und Text internationaler Urkunden kamen sogar nicht nur
      die baden Staaten der Monarchie, sondern häufig Österreich und Ungarn auch

      gesondcrl vor. Das andere auffällige Moment ist die staatsrechtliche Unsicher-
    - w!t lm Zusammenfiafrg'-mit äem Charakter der Grenze. Der österreichische
' Ministerpräsident hielt sie für die Grenze der Monarchie, meinte aber, daß in

      dieser Angelegenfieit die beiden Regierungen zuständig seien. Der Vertreter der
      ungarischen Regierung wollte sieynchhals gemeinsame österreichisch-ungari-
      sehe Grenze betrachtet wissen, konnte aber keine^positive Definition bieten In
      Kenntnis der Vertragspraxis und durch staatsrechtliche Definition der bespro¬
      chenen Angelegenheit (als eine, in der beide Regierungen selbständig handeln
      konnten) hatte die Debatte leicht abgeschlossen werden können und der'
      Wunsch der ungarischen Regierung Jkeine besondere Schwierigkeiten bereiten
     zu brauchen. Nachdem aber die Angelegenheit nach einer parlamentarischen
      Vorgeschichte vor den gemeinsamen Ministerrat kam, 4ie daraufhinwies, daß
     ungarischerseits nicht einfach eine staatsrechtliche Festlegung, sondern ganz
     klar die Betonung der ungarischen staatlichen Sonderstellung gewünscht wurde,
     konnte weder das Präzedens noch die staatsrechtliche Angelegenheit eine Lö¬
     sung schaffen. Der Monarch und mit ihm der österreichische Ministerpräsident
 ^ der gemeinsame Außenminister konnten die Reklamation des Ausdruckes

                      Staaten" - mit einigem Recht - als Angriff gegen den Kompromiß

         Jahr .}868 auffassen und hielten esjür unannehmbar, daß die Monarchie
  zu Lasten jhrer Einheit nach außen irgendwelche Zugeständnisse mache.

     Die Lösung kam schließlich auf dem Niveau zustande, auf dem die Debatte
 imgemeinsamen Ministerrat verlief. Der Herrscher willigte ein, c&ß in dedjP
 des zu inartikulierenden Vertrags der Ausdruck „die beiden Staaten" aufgenonT"
, men werde, untersagte jedoch ausdrücklich, diebeiden Wörter auch im Titel des
 Vertrages zu erwähnen, da dieser -- wie er sagte - nicht von den Regierungen
 der beiden Staaten geschlossen werde. Im Hinblick auf die Zukunft war daran

\ interess,ant' daiB im Titefdes unter Gesetzartikel XIV des Jahres 1888 inartiku-

\ lierten Vertrags sowohl die Bezeichnung der österreichisch-ungarischen Mpnar-

P  if a^S au^-~ -- e der. beiden Staaten der Monarchie Vorkommen, womit die an

1 steh 'Schon lange Reihe der staatsrechtlichen Inkonsequenzen noch weiter ver-

1 mehrt wurde.372  ~. ..-                                                        ..

   Es stellte sich bald heraus, daß die Annahme des Herrschers nicht unbegrün¬
det war,_der ungarische Wunsch nach Gebrauch des Ausdruckes , beide Staa-

      se%Lehlgewesen als^rTTFrhge'aeTTerminologie. Der ungarisefie Justizmi-

  "st0erJ^.ny erhob amff. NovernberJffggin seinef Note an den gemeimamen
  Außenminister den AnsprüfCTäß künftig als vertragschließende Partei in den

^i?^b2B^0TYerträgenfocht)die österreichisHlfTmgärisöhe MonarchieTsörf-.
  dern Österreich jun^ngarpTgenannt werden sollten.373 Dem lag allerdings eine
  gewisse staatsrechtlicHe Unkkrheit zugrunde, weil der Wunsch im Zusammen¬
  hang mit einem Vertrag mit Deutschland über die Auslieferung von Deserteuren

uy'MAGYAR Törvenytär 1887-1888 214U
  ^"Abschrift eines Memorandums Tiszas. August 1889, HHStA., PA. I, Karton 465.
|| || 140 Einleitung

     | geäußert wurde. Die Deserteure konnten aber der gemeinsamen Armee ebenso
     j angehören wie den Landwehren beider Länder, so daß sowohl die Monarchie
     \ als auch deren beide Staaten als Vertragsparteien in Frage kamen. Da nun der

        ungarische Justizminister den obigen Anspruch ohne jede staatsrechtliche Diffe¬
        renzierung erhob, war dies ein deutlicher Hinweis darauf, daß man ungarischer-
        seits die bisher gebräuchliche Formel österieichisch-ungarische Monarchie voll
        und ganz ausschließen wollte. Der ungarisdhe Ministerrat beschloßjujiZusam-
      '' menhang mit dem betreffenden Vertrag in seiner Sitzung vomf20. Juni T889) in
        der Einleitung solle der Monarch als vertragschließende Partei genänSTwerden,
^ j / da es noch nicht entschieden sei, ob die österreichisch-ungarische Monarchie ein
     / solches Rechtssubjekt darstelle, das als vertragschließende Partei figurieren
        könnte.374 Dem Herrscher war aber schon dieser Zweifel zu viel, und er verlangte
        'Aufklärung über den im ersten Punkt des Protokolls enthaltenen Beschluß.

           Die vom Herrscher geforderte Antwort formulierte der ungarische Minister¬
        rat am 16. August 1889. Die Vorlage von Kalman Tisza schien auf den ersten
        Blick sowohl den Erfordernissen des Konsens als auch der staatsrechtlichen
        Angemessenheit zu entsprechen. Der Ministerpräsident erklärte - seinen Justiz-
   I j minister gleichsam bloßstellend daß die Monarchie im Sinne der Ausgleichs-
   I gesetze vom Jahr 1867 nach außen ein "Ganzes bildet und es politisch falsch
        wäre, an dieser Auffassung irgendwie zu rütteln; demnach sei in Verträgen mit
        dem Ausland nach wie vor die österreichisch-üngarische Monarchie als vertrag¬
        schließende Parfei zu bezeichnen. In gewissen Fällen, wie in Verträgen mit
        Bezug auf die Staatsbjijc^erschaft oder die Grenzen, sei aber der Gebrauch der
        Formel „Österreich (uncyUngarn" nicht nur notwendig, sondern geradewegs
    \ unvermeidban37^Bei eingehenderer Untersuchung stellt sich aber heraus, daß
    j Kalman Tisza damit - sowohl in Wortgebrauch als auch Auffassung - von dem
        beim Ausgleich'vertretenen ungarischen Standpunkt ahwich. Der Wunsch nach
        Legalisierung des Ausdruckes „Österreich und Ungarn" war zweifellos ein
\ Schritt zur Vervollständigung der'Regelung vom Jahre 1868, doch ist nicht zu
        vergessen, daß Andrässy seinerzeit gerade gegen diesen Ausdruck grundsätzlich
        Einspruch erhoben und ihn ausdrücklich "für gefährlich gehalten hatte, weil
        dieser Titelgebrauch im Endergebnis zu Verhältnissen wie .zwischen Schweden
      Tjind-Norwegen führen würde.376 Daß Kaiman Tisza diese Bedenken nicht teilte,
        ist an sich schon vielsagend. Während er aber die Zweckmäßigkeit der Weiter-
   ; Verwendung der Bezeichnung österreichisch-ungarische Monarchie anerkannte,
        erklärte er zugleich, daß die^Monarchie aus zwei staatsrechtlich voneinander
        unabhängigen .Staateneinheiten bestehe, was mit Andrässys Meinung nicht

        mehr völlig übereinstimmte. In der ungarischen staatsrechtlichen Auffassung
        waren - wie später noch eingehend zu erörtern sein wird - sowoETdie Elemente

374 1 7!MT. Ung.MR. v. 20. 6. 1889, 1. In Angelegenheit der mit Deutschland zu schließenden

Vereinbarung bezüglich der Auslieferung von Soldaten- und Rekrutendeserteuren, OL., K. 27,
Karton 45.

20JMT. Ung.MR. v. 16. $. 1889. 6. Über die Bezeichnung der Monarchie, OL., K. 27, Karton

   f45l'           ·t\

376 Vg/. Anmf369j     Ua * o
|| ||      Einleitung                                                    141

     „-^s.„?undesstaates als auch des Staatenbundes enthalten, ohne daß es jemals zu
     -§iE?r eindeutigen Klärung gekommen wäre. Der erste ungarische'Ministerpräsi-

      qTk f-aCj d,em ^us8jeich sprach lediglich von der verfassungsmäßigen inneren
                   gkeit der die Monarchie bildenden Teile, was einer Konzeption des

   ..- Bundesstaates nahe stand. Wenn sein Amtsnachfolger nach zwei Jahrzehnten
      nun von zwei unabhängigen Staatseinheiten sprach, betonte er den Charakter
      der österreichisch-ungarischen Beziehung eher als Staatenbund. D^e Bezeich¬
      nung „österreichisch-ungarische Monarchie" entsprach mehr der Konzeption
      des Bundesstaates, und wenn man sich ungarischerseits erst einmal auf den
      Standpunkt eines Staatenbundes stellte, war ein weiterer Gebrauch der Bezeich¬
     nung eme reine Formalität und konnte man jederzeit mit dem Wunsch auftre-

      ä üffa16 Bezeichnun§ der Monarchie der neueren ungarischen staatsrechtlichen
- Auffassung anzupassen. Somit war dieser Beschluß dis. Ministerrates der die

     weitere Verwendung der Bezeichnung österreichisch-ungarische Monarchie in
     Aussicht stellte und m Form eines untertänigsten Vortrags dem Monarchen zur
     Kenntnis gebracht wurde, auf lange Sicht keineswegs beruhigend 37f

        Er wirkte aber beruhigend auf die Gemüter, und die Debatte wurde - zumin-
     dest aut der Ebene des gemeinsamen Ministerrates - nicht fortgesetzt. Da aber
     sowohl die grundsätzliche als auch die praktische Klärung immer noch aus¬
     stand, bheben Gegensätze virulent und brachen bei erster Gelegenheit wieder
     aut. Im Budgetentwurf des gemeinsamen Kriegsministeriums für das JahrdÄ

     k!m 1um.?eiSiraT österreichischen zentralistischen Auffassung der Ausdradf
    .^_!e iSKkn. Reidishälften" vor, wogegen der ungarische Ministerpräsident

                                               und im 8emeinsamen Ministerrat vom 1. Juni
     1^95 erklärte der Herrscher selbst, daß die Monarchie nach außen eine Einheit

    u-m ' ^brauchte abermals den die Ungarn irritierenden Ausdruck „Reichs-
    haltte i:. Das war seinerseits weder ein Lapsus noch eine Üngenauigkeit
    sondern vielmehr eine Antwort auf die neuerlichen ungarischen "Bestrebungen,
    che sich diesmal gegen den Ausdruck „die österreichisch-ungarische Regierung"
    richteten. Das terminologische Tauziehen ging in diesem Geiste weiter, ohne

    daß es bis zum Ende der hier behandelten Periode zu einer befriedigenaÜr
    Klärung gekommen wäre. Um die Jahrhundertwende nahm die Auseinanderset-
    zung dann so extreme Formen an, daß der gemeinsame Außenminister Aehren-
    thal m sämtlichen Verträgen zur Formel österreichisch-ungarische Monarchie
^_zuruckkehrenjvollte, jwahrend der ungarisgljelvrinisterpräsident Wekerle bei-.
    allenVertragen die Bezeichnung OsterreichQUngarn für rechtmäßig-hielÜ^V
    Diese zwei Jahrzehnte dauernde Auseinanderletzung wurde scHTieBlicHrim Janu-

     ^U-U^~~tunßhlns,chjii£iLä£Lä^i1as Protokoll des Ministerrates Nr. 17 laufenden Jahres
     feugEAufk'arung '(^^BeilaydesProtoMltyom-foCTo . m ^
     Karton 45.                  ___
378 GMR. JJLJ.-JS95, RMRZ. 386.
379 OMR. \fTl
380              RMRZ. 389.                                    ^/

     StaatsrecUlichTNotiz v. Juni 1895, HHStA., PA. I, Karton

     Som^gw, Aehrenthals Refqrrnh^strfih^irigpn^--
382
                                 PA. I, Kartoi/487
     Memorandum Weherles
|| ||     142 Einleitung

    ar 1908 durch eine Vereinbarung zwischen dem gemeinsamen Außenminister
  , Aehrenthal, dem österreichischen Ministerpräsidenten Beck und dem ungari-
  ; sehen Ministerpräsidenten Wekerle beendet, die in den internationalen Verträ¬

   gen die gemeinsamen, die gemeinsam zu behandelnden und die autonomen
   Angelegenheiten unterschied und dementsprechend auch die Bezeichnung der
 ; vertragschließenden Partei und die Unterzeichnungsberechtigung regelte.383
 ; Diese Regelung war eigentlich schon 1868 fällig gewesen und hätte seit damals
   viele überflüssige staatsrechtliche Auseinandersetzungen ersparen können. Ihre
   wohltuende Wirkung war auch 1908 unbezweifelbar, doch Wunder konnte man
   von ihr nicht mehr erwarten. Die immer schwächer gewordenen ungarischen
! Interessenbande zur Monarchie konnten damals durch keinerlei staatsrechtliche
j Klärungen mehr gefestigt werden.

                                             Die Bezeichnung der gemeinsamen Armee

       Gleichzeitig mit der Bezeichnung der vertragschließenden Parteien kam auch
    die fragender Bezeichnung^der gemeinsamen. Armee auf die Tagesordnung,
    wiederum durcFdie ungarische Seife angesprochen. Das Bestreben einer Rege-
 s lung der Bezeichnung hing mit der Umwertung des Verhältnisses zwischen
  | Ungarn und der Monarchie zusammen, die'Annäherung des Problems im
   staatsrechtlichen Sinn erfolgte aber von einer anderen Basis aus. Während man
  ; sich im Falle der Bezeichnung der Vertragspartei um den Kompromiß vom
    Jahre^l868 stritt, blieb man in der Frage der gemeinsamen Armee.Jbei„diesem
    und trachtete, die damalige Vereinbarung zu vervöTlkommen. Die Armee führte
    nämlich nach dem Ausgleich voinjahre 1867 nach wie vor den Namen kaiser¬
    lich-königliche Armee, aJtgekürzCk. kTXrmee. Auch der Titel des Kriegsmini¬
    sters blieb unveränderf^Reiclilkriegsminister. All dies stand im scharfen Wider-
  j sprycl) zur staatsrechtlicEenEinrichtüng der Monarchie nach dem Ausgleich
    und zur Regelung der Titelfrage von 1868, die in der Frage der Titel und
    Bezeichnungen außerordentlich empfindliche ungarische politische Öffentlich¬
    keit erhob jedoch dagegen - interessanterweise - keinen Einspruch, so daß der

I staatsrechtliche Anachronismus im Titel des Armee zwanzig Jahre lang ünver-

    ändert bestehen konnte. Die Ungeregeltheit rächte sichaber. Die Unabhängig-
. keits-Opposition, die vom Anfang an für eine Wiedererrichtung der selbständi¬

    gen ungarischen Armee 'kämpfte, fand in der Bezeichnung der gemeinsamen
l Armee ihr wirksamstes Argument, indem sie behauptete, diese Armee sei keine
> gemeinsame, sondern einfach eine österreichische. Die Argumentation fand -
* wie ches die Parlamentsdebatte im Zusammenhang mit der Erneuerung des

    Wehrgesetzes im Jahre 1889 zeigte - auch in breitesten Kreisen regen Widerhall
    Um das wirksame Argument der Unabhängigkeit zu schwächen, bescEIoß die
    auf der 67er Grundlage stehende liberale Regierungspartei die längst fällige

383 Vereinbarte Gn  über die staatsrechtlichen Fragen beim Abschlüsse internationaler

Verträge vomfTl. 1. 1908> Aehrenthal, Beck, Wekerle. HHStA., PA. I, KartorZöSO.'')
|| || Einleitung                                                                        143

I T'telf?0foZ,U 1ÖSen' MinisterPräsident Kalman Tisza erklärte in der Sommersit-
   zung.1889 der ungarischen Delegation, daß er zur Änderung der Bezeichnung

   der Armee die Zustimmung des Monarchen erwirTcen wÖIle "

Der ungarische Ministerpräsident wandte sich im August 1889 mit einem

/ jnoffiziellen nnd streng vertraulichen Memorandum an den gemeinsamen Au-
/ ^n^mister, in dessen erstem Teil ersieh, wie weiter oben bereits erwähnt mit

; ^Cj^ezeichnung der Monarchie beschäftigte und im zwgiten'Teibden Anspruch
    formulierte, daß die Armee zukünftig den Namen kaiserliche königliche

  Armee fuhren solle. Den Wunsch einer Einschaltun/desominösen^Bindewortes
  und untermauerte er nicFtTmf'besonderen'staatsrebhtlichen Argiuhenten som"
I dem stellte einfach fest, daß die Armee den gleichbU^amen^le der oberste

  ülgAherr ßihren müsse, und diese Bezeichnung entspräche der stäätsrechtli-
qhen Lage. Den größeren Nachdruck legte er auf die politischen Beziehungen :

  ic auf staatsrechtlicher Grundlage stehende Parlamentsmehrheit könne da-
dureh erfolgreicher gegen die Agitation der Opposition auftreten und das Sy¬

rern des Ausgleiches - und mit ihm die Institution der gemeinsamen Armee -
verteidigen. Um seinem Memorandum größeren Nachruck zu verleihen schloß
er seine Erörterung damit, falls es ihm nicht gelinge, den Herrscher für seinen

Standpunkt zu gewinnen, halte er es für zweifelhaft, ob er an der Spitze der

Regierung bleiben könne. ""--  ..

   Kälnoky beantwortete das Memorandum Tiszas Mitte September 385 Er
bezweifelte die Richtigkeit der staatsrechtlichen Argumentation des ungarischen
Mmisterprasidentemnicht und erkannte an, daß die Armee den gleichen Titel
tragen muß wie der Herrscher. Damit hatte er sich aber nicht mit dem Stand¬

punkt der ungarischen Regierung identifiziert, im Gegenteil, er brachte Argu¬

mente vor die gegen eine Änderung der Bezeichnung der Armee sprachen

Erstens diskreditierte er den ungarischen Wunsch einigermaßen, indem er das

Ganze für ein Bestreben der Unabhängigkeitspartei hielt, das sich die Regie¬
rungspartei zwangsläufig zueigen gemacht habe, zudem die ungarische Regie-

rung die Namepsänderung nie zur Sprache gebracht habe, obwohl sie hierzu

             Jahre..lang Gelegenheit hatte. Sowohl die Österreicher'ais'aüch das
Militär wurden sich der gewünschten Änderung widersetzen, weil die ersteren

j dann den ersten Schritt zu einer Spaltung der Armee in zwei Teile erblickten

  UI1.,. ,etzteres sich im Laufe der Jahrzehnte mit der histofischen Bezeichnung
LX9JI;iidentifiz,erLhabe. Sein wichtigstes Argument - schor^ Gründen seiner

Stellung - war die zu erwartende Reaktion von außen, die er als ungünstig für
die Monarchie bezeichnete. Die neue Benennung würde in Deutschland als
Erschuttening der inneren Kraft und Einheit der Monarchie aufgefaßt, in
Rußland und Frankreich aberals Triumph gefeiert werden. Darum müßten vor

einer Entscheidung auch der österreichische Partner und der Reichskriegsmini¬
ster angehort werden, und selbst wenn der Herrscher dem ungänscTien Ansu¬

chen zustimme, solle die ungarische Regierung gleichzeitig feierlich erklären,

185 Abschrifi eines Memorandums Tiszas v. August 1889. HHStA., PA. I, Karton(46S
     Vertrauliches Memorandum Mitte September 1889, HHStA., PA. I, Karton(%5
|| || 144 Einleitung

daß sie die Armee künftig endgültig als gemeinsam, einheitlich und untrennbar
betrachten werde. Auch im Falle der Erfüllung dieser Bedingung werde er der
Änderung nur ungern zustimmen. Dem an den ungarischen Ministerpräsiden¬
ten gesandten Memorandum war ein Überblick der Geschichte des Namens der
Armee beigefügt.386

   Der ungarische Ministerpräsident antwortete Mitte September mit einem
neuerlichen Memorandum387 in vorsichtigem und diplomatischem Ton. Nach¬
dem der gemeinsame Außenminister anerkannt hatte, daß der ungarische
Standpunkt staatsrechtlich begründet war, und nur politische Vorbehalte ge¬
macht hatte, hielt es der ungarische Ministerpräsident für notwendig, die letzte¬
ren zu zerstreuen. Der Wunsch nach einer Änderung der Bezeichnung sei - im
Gegensatz zu Kälnokys Deutung - keineswegs von der ungarischen Opposition,
sondern von der Regierungspartei ausgegangen, die durch Einführung der
neueip Bezeichnung den Agitationen der Opposition wirksamer entgegentreten
könne. Lang und breit erörterte er, daß jede Namensänderung der österreichi¬
schen Landwehr staatsrechtlich unbegründet sei und erkannte bereitwillig an,
daß für die Bezeichnungsänderung der gemeinsamen Armee auch die österrei¬
chische Regierung mit zuständig sei. Den Wunsch des gemeinsamen Außenmi¬
nisters nach einer Erklärung der ungarischen Regierung, daß sie die künftige
Einheit der gemeinsamen Armee anerkenne, überging er.

   In den sich mit der Bezeichnung der Armee befassenden Akten ist keine Spur
davon zu finden, daß der vom gemeinsamen Außenminister für" zuständig
erklärte österreichische Ministerpräsident und der gemeinsame Kriegsminister
jemals eine Erklärung abgegeben hätten. Die „ungarische Lobby" in den ge¬
meinsamen Ministerien meldete sich dagegen zu Wort und nahm selbstverständ¬
lich den üngarischen Standpunkt in Schutz. Der gemeinsame Finanzminister
Källay unterstützte in einem langen Memorandum die Rechtmäßigkeit der
Forderung der ungarischen. Regierung mit gewichtigeiühistorischen, staats¬
rechtlichen und politischen Argumenten.38M)em vom gemeinsamen Kriegsinini-
steriufh zusammengestellten historischen Überblick entnahm auch er das gleiche
wie der ungarische Ministerpräsident: Die Bezeichnung der Armee hatte sich
in den letzten Jahrhunderten häufig geändert, und zwar stets der Titeländerung
des Herrschers folgend und niemals die souveränen Rechte des Herrschers im
Zusammenhang mit der ArmeeTSeführend. Das Problem sei nicht als grundsätz¬
liche, sondern als Opportunitätsfrage zu betrachten, und die gewünschte Ände¬
rung könne sich kaum ungünstig auf die Armee oder das Ausland ausüben.
Gleich dem ungarischen Ministerpräsidenten schloß auch er damit, daß eine
Zurückweisung des Ansuchens in Ungarn schwere innenpolitische Probleme
verursachen würde und die Agitation der Opposition gegen die gemeinsame

386 Archivalische Erhebungen übec^ie Benennung der Truppen als „kaiserlich-königlich" v. 6. 9.
      1889, HHStA., PA. I, Karto^65>zw. KA„ MKSM. 37-1/6 ex 1889.

387 Vertrauliches Memorandum des Herrn von Tisza. Von Herrn Ministerpräsident von Tisza
     streng vertraulich mitgeteilt. Ende September sg^ds Antwort mein Memorandum von Mitte
     September [Kälnoky]. HHStA., PA. I, Karton sSp

388 Memorandum Br. von Källay v. 12. 10. 1889, HÖStA., PA. I, Karton(46^.
|| || Einleitung  145

 Armee immer breitere Kreise ziehen könnte. Der zweite Fürsprecher neben dem
 gemeinsamen Finanzminister war der Sektionschef im Außenministerium Szö-
 gyeny, der allerdings bis dahin von seiner ungarischen Verbundenheit nicht viel
 gezeigt hatte. Szögyeny reiste zur Verhandlung mit den Mitgliedern der ungari¬
 schen Regierung nach Budapest. Schon im Berichtsteil der Aufzeichnung über
 die Besprechungen gab er die Worte Tiszas so wieder, daß dies bereits einer
 Stellungnahme gleichkam (so schrteFer beispielsweise ohne jeden Kommentar,
 daß der ungarische Ministerpräsident die neue Bezeichnung nicht als Zuge¬
 ständnis, sondern als rechtmäßige Richtigstellung betrachte). In seinem Bericht
 stand auch, daß die Regierungsmitglieder Baross, Szüägyi und Wekerle die
 Maßnahme aus staatsrechtlicher und parlamentarischeF'Sicht nicht allein für
 notwendig, sondern allgemein politisch für unaufschiebbar hfelten, und er
 schloß mit einer eindeutigen Stellungnahme: Die Lösung der Frage ist notwen-
_ die weil man nur so der_Opposition den Boden entziehen kann. Dies schwächte
 auch der Umstand nicht, daß er gleich dem gemeinsamen Außenminister hinzu¬
 fügte, die Maßnahme dürfe keinen Zweifel daran lassen, daß die Einheit der
 gemeinsamen Armee unantastbar ist.389

    Im Laufe des schriftlichen Gedankenaustausches erwies es sich, um wieviel
 besser sich die ungarischen Politiker auf die staatsrechtliche Argumentation

 verstanden als d^etwas schwerfällige gemeinsame'Äu^ßenmiriistef. Als Kälnoky
 damit gegen den ungarischen Wunsch argumentierte, daß eine Bezeichnungs¬
 änderung der gemeinsamen Armee auch eine,solche der österreicFischen Land¬
 wehr nach sich ziehen müßte, verwies Tisza mit überlegener Sicherheit darauf,
 daß staatsrechtlich ausschließlich die derzeitige Bezeichnung zutreffe und die
 österreichische Landwehr keinesfalls die BezeichnungQcm k^führen könne. Bei
der Entscheidung war aber -- wie bei den politischen EntscKeidungen im allge¬
meinen - nicht das Gewicht derartiger Argumente maßgebend. Tisza hatte ja
- wie bereits erwähnt - in der Sitzung der ungarischen Delegation erklärt, daß
die ungarische Regierung Schritte in Angelegenheit der Bezeichnungsänderung
der Armee unternehmen werde. Als der ungarische Ministerpräsident durch
Szögyeny von der Wiener Verstimmung Kenntnis erhielt, betonte er seine
Gutgläubigkeit und erklärte, dem verfassungsmäßigen Empfinden des Monar¬
chen vertraut und sich deshalb nicht im voraus informiert zu haben. Es ist aber
viel wahrscheinlicher, daß er als routinierter Politiker ein Fait accompli suchte.
Und er behielt Recht: Als Käflay in seinem schon erwähnten Memorandum die
zu erwartenden Folgen einer Zurückweisung der ungarischen Forderung be¬
schrieb, vermerkte Kälnoky am Rand, daß eine Zurückweisung einfach unmög¬
lich sei, da Tisza den'Herrscher durch seine Erklärung vor der Delegation in eine
Zwangslage gebrächt hatte. Sollte der Monarch seine Zustimmung nicht erteilen
- setzte Kälnoky fort -, trete die ungarische Regierung wegen deFTfn ganzen
Land jpopulären nationalen Frage zurück, und es entstünde die unmögliche
Situation, daß alle ungarischen Parteien auf der einen und die Krone allein auf

.1X9 Aufzeichnung des Sektionschefs von Szögyeny über eine Besprechung mit dem kgl. ung. ---
     Ministerpräsidenten von Tisza v. 12. 10. 1889, HHStA., PA. I, KartonmsS
|| ||  146 Einleitung

 der anderen Seite stehe -- unter derartigen Umständen wäre es aber unmöglich,
 eine neue Regierung zu bilden.

    In der Schriftensammlung über die Bezeichnung der Armee ist die Meldung
 Szögyenys vom 12. Oktober das chronologisch letzte Dokument. Was danach
 geschah, läßt sich durch schriftliche Quellen nicht belegen. Vermutlich hat der
 gemeinsame Außenminister dem Herrscher über den Tatbestand referiert und
 höchstwahrscheinlich auch seine Meinungsäußerung auf dem Aktenrand des
 Källay-Memorandums nicht verschwiegen. Wahrscheinlich hat sich der Mon¬
 arch durch die Argumente seines ersten Beraters überzeugen lassen. Jedenfalls
 fertigte Kälnoky am 17. Oktober den Entwurf jenes Handschreibens an, mit
 dem ihn der Herrscfier von der Titeländerung der Armee verständigte.390'Das
 auffällig ku'rzgefaßte Handschreiben des Monarchen bestand insgesamt aus drei
Absätzen. Der erste enthielt die Mitteilung, daß -- nachdem sich die Bezeichnung
der Armee auch in der Vergangenheit nach dem Titel des obersten Kriegsherren
gerichtet hatte - die Armee zukünftig die Bezeichnung „kaiserliche und königli¬
che" führen werde, der zweite, daß die den staatsrechtlichen Verhältnissen --
Rechnung tragende Maßnahme die Einheit und Untrennbarkeit der gemeinsa¬
men Armee in keiner Weise berühre, da diese in den Ausgleichsgesetzen grund¬
sätzlich und endgültig festgelegt wurden, und der letzte schließlich den Auftrag
an den gemeinsamen Außenminister, die beiden Ministerpräsidenten von seiner
Entscheidung, die er nach Anhören der gemeinsamen Minister und der beiden
Ministerpräsidenten gefaßt habe, zu verständigen.

   Am folgenden Tag, am 18. Oktober trat der gemeinsame Ministerrat unter
Teilnahme der gemeinsamen Mimster und der beiden Ministerpräsidenten zu¬
sammen.391 Den Vorsitz führte der Monarch. Er hatte sich über die ganze
Angelegenheit bis dahin nicht geäußert und hielt sich auch jetzt diszipliniert an
die mit seinem Außenminister getroffene Vereinbarung. Seiner Gefühle ver¬
mochte er jedoch nicht völlig Herr zu werden und äjußerte - was bisher noch
nj£,yorkam -- unverhüllt seine Aversion gegen die ungarische Regierung. Aller¬
dings auf dem Umweg, einer Kritik"daran, daß die Neue Freie Presse in ihrer
Nummer des Tages eine Information über das im gemeinsamen Ministerrat zu

       . i.~1311113 enthielt, was nach Meinung des Herrschers nur durch die
ungarische Regierung an die Öffentlichkeit gelangt sein konnte. Sooft die unga¬
rischen Minister in Wien erschienen, sei mit einer Indiskretion zu rechnen. Die
rechenschaftsfordernde Verdächtigung ebenso wie die jämmerliche Ausrede des
ungarischen Ministerpräsidenten waren dem höchsten Regierungsforum der
Monarchie unwürdig. Der Herrscher schien aber etwas davon zurückzahlen zu
wollen, daß ihn die ungarische Regierung in eine politische Zwangslage gebracht
hatte.

   Im meritorischen Teil der Beratung verlas der Monarch zuerst den an den
gemeinsamen Kriegsminister in Angelegenheit der Bezeichnung der Armee zu
richtenden Befehl; wozu keine Bemerkung erfolgte, und dann das an den ge-

390 Entwurf für ein Ah. Handschreiben v. 17. und 18. 10. 1889, HHStA., PA. I, Karton(465
391 GMR. v. 18. 10. 1889. RMRZ. 361.
|| || Einleitung         147

meinsamen Außenminister zu richtende allerhöchste Handschreiben. Als erster

erhielt der österreichische Ministerpräsident Taäffe das Wort. Aus seinem Dis¬
kussionsbeitrag ging hervor, daß die österreichische Regierung zu der betreffen¬

den Frage nicht nur eine^ Meinung, sondern auch Stellung bezogen hatte, und

zwar "7-Ablehnendem Sinne. Sie war wegen der neuen Bezeichnung um die

Einheit dep Armee besorgt und befürchtete eine ungünstige Reaktion der öffent¬

lichen Meinung, namentlich der tschechischen. Aber daran wollte Taaffe nur

erinnern. Er erklärte, seine Regierung habe allein mit Rücksicht auf die Zwangs-

lage der ungarischen Regierung dem zugestimmf, daß der Herrscher -- als

oberster Kriegsherr - in bezug auf die neue Bezeichnung handle. Doch müsse

in dem Handschreiben an den gemeinsamen Außenminister der Passus entfal¬

len, wonach die Maßnahme nach Anhörung der beiden Ministerpräsidenten

erfolgt sei, da der österreichische Ministerrat mit der Maßnahme nicht einver¬

standen sei und diese auch nicht empfehlen könne. Im Falle einer Ablehnung

seiner Bitte werde er zurücktreten, und wahrscheinlich würden seine Minister¬
kollegen seiner Demission folgen.

Der österreichische Ministerpräsident spielte die gleiche Karte aus wie sein

ungarischer Kollege, doch mehr als Theaterdonner denn als wirkliche Drohung.

Vor der Sitzung des gemeinsamen Ministerrates hatte nämlich eine Beratung

zwischen der österreichischen und der ungarischen Regierung stattgefunden, in

der auch die letztere auf den betreffenden Passus verzichtet hatte. Im gemeinsa¬

men Ministerfat kam es dann auch zu keiner echten Debatte mehr. Eher der

Form halber erklärten einige dem österreichischen Ministerpräsidenten, daß

eine Anhörung nicht gleichbedeutend mit der Zustimmung sei, und betonten,

daß man sich bei der Durchführung ohnehin auf die Plattform des allerhöchsten

Handschreibens stellen müsse, um dann das allerhöchste Handschreiben dem

Wunsche des österreichischen Ministerpräsidenten entsprechend umarbeiten zu

können. Der andere Wunsch Taaffes, daß im Handschreiben der sich auf die

Einheit der Armee beziehende Teil betont werde und sich auch auf die Abzei¬

chen und den Eid erstrecken solle, wurde allgemein verworfen. Aber auch der

österreichische Ministerpräsident machte daraus keine Kabinettsfrage. Die Sit¬

zung wurde mit der Vereinbarung geschlossen, daß das allerhöchste Hand¬

schreiben in der Ausgabe der beiden Amtsblätter vom 20. Oktober veröffentlicht

werde.      '  '.

Der Text des allerhöchsten Handschreibens wurde in der unter dem Vorsitz

des Monarchen am 18. Oktober abgehaltenen Beratung von den beiden Mini¬

sterpräsidenten pragmatisiert392 und in den Amtsblättern vom 20. Oktober

veröffentlicht. DiF Auseinandersetzung über die Bezeichnung der Armee, aus

der beide Regierungen eine Kabinettsfrage eei»acht hatten, wurde saichließlich

geschlichtet, und das ominöse BindewortCund") figurierte von da an im Titel

der gemeinsamen Armee. Die ungarische Regierungspartei knüpfte große Hoff¬

nungen an diese Änderung, aber die Regelung der Bezeichnungsfrage zeitigte

392 Kälnokys Randbemerkung aufdem Rande des Entwurfes des Ah. Handschreibens, HHStA. PA.
     I, Karton 465.
|| ||      148 Einleitung

     unter den geänderten Verhältnissen - anders als 1868 - keine Beruhigung der
     Gemüter. Die gemeinsame Armee blieb nach wie vor Zielpunkt der Angriffe der
     Opposition, und der Anspruch auf eine selbständige ungarische Armee wurde
     bald auch in den breiteren Kreisen der öffentlichen Meinung sehr populär.

                     Die Korrespondenzsprache zwischen den Amtsstellen der gemeinsamen Armee
                                                     und den ungarischen Behörden

       In der Debatte um die Bezeichnung der gemeinsamen Armee standen ungari-
     scherseits staatsrechtliche und politische Argumente im Mittelpunkt. Die Ände¬
     rung der Bezeichnung sei in staatsrechtlicher Hinsicht korrekt und begründet
     und in politischer Beziehung wünschenswert, da die Einschiebung des Binde¬
     wortes „und" zum Ausdruck bringe, daß die gemeinsame Armee gleichzeitig
     auch eine ungarische Armee sei. Dieses Argument war zweifellos richtig. Die
     Namensänderung der gemeinsamen Armee ersetzte aber keineswegs die sonsti¬
     gen Attribute^der ungarischen Staatssouveranität, die infolge der Natur des
     österreichisch-üngärischen staatsrechtlichen Verhältnisses nach wie vor fehlten.
    Um deren schrittweise Rückgewinnung ging es den Ungarn aber. Der bei der
   "Änderung der Bezeichnung der gemeinsamen Armee erzielte Erfolg konnte
    daher nicht als Schlußpunkt, sondern bestenfalls als Zwischenstufe gelten. Die
    Ungarn an Österreich bindenden politischen Interessenbande wollte man natür¬
    lich auch ungarischerseits nicht völlig durchtrennen, man wünschte nicht sojsehr
    einejxhte als eine Scheinsouveränität. In dieser Beziehung hatte die Kommuni-
, kationssprache zwischen den gemeinsamen InsJitutionen und den verschiedenen
    Organen des ungarischen Staates besondere Bedeutung.

       Der ungarische Standpunkt hinsichtlich der Forderung des ungarischen
    Sprachgebrauches war freilich keineswegs konsequent, es hatte sich eine gewisse
    Praxis herausgebildet, die während des ganzen Bestehens des Dualismus nicht
    in Frage gestellt wurde. Niemandem fiel es ein, im gemeinsamen Ministerrat
    ungarisch zu sprechen, und selbstverständlich verhandelte auch der ungarische
    Ministerrat, sofern der Monarch den Vorsitz führte, in deutscher Sprache. Der
    Wunsch nach ungarischem Sprachgebrauch wurde aber vom Beginn der_90er
    Jahre an besonders stark, und dem verlieh die ungarische Regierung bei ver¬
    schiedenen Gelegenheiten Ausdruck. Der ungarische Ministerpräsident Szapäry
    beschwerte sich in seinem Brief im Herbst 1892 an den gemeinsamen Außenmi¬
    nister darüber, daß der Herrscher in seinem Erlaß zur Einberufung der Delega¬
    tion nicht die ungarische, sondern die deiitsche Sprache benutzte.393 Der seit
    1895 an der Spitze der Regierung stehende Dezsö Bänffy aber ging in seiner
    Korrespondenz mit dem gemeinsamen Außenminister einfach zum Gebrauch
    der ungarischen Sprache über, allerdings schloß er dem ungarischen Original
    auch eine deutsche Übersetzung bei. So beanstandete er zum Beispiel 1897 in
    einem in ungarischer Sprache geschriebenen Brief, daß sich an der Konferenz

      393 Szapäry an Kälnoky v. 9. 9. 1892, HHStA., PA. I, Karton 558.
|| || Einleitung  149

für Gesundheitswesen in Venedig auch Bosnien-Herzegowina vertreten ließ.394
    Die größte der gemeinsamen Institutionen und zugleich jene, mit der die

Organe des ungarischen Staates von den Ministerien über die Komitats- und
Stadtverwaltungen bis zu den Gemeinden in alltäglichem Kontakt standen, war
die gemeinsame Armee. Wenn man ungarischerseits dem Gebrauch der ungari¬
schen Sprache Geltung verschaffen wollte, mußte dies in erster Linie gegenüber
dieser Institution durchgesetzt werden. Die ungarische Delegation verabschie-
dete 1891 einen Beschluß, daß die gemeinsame Armee verpflichtet sein müsse,
mit den ungarischen Behörden in der Staatssprache, also ungarisch, zu korre¬
spondieren, außerdem habe auch die schriftliche Kommunikation mit den
ungarischen Staatsbürgern in der Staatssprache zu erfolgen.395 Der gemeinsame
Kriegsminister machte sich diese Beschlüsse unter Berufung auf gewichtige
praktische Gründe nicht zu eigen, zeigte sich aber zu einer gewissen Modifizie¬
rung in der Korrespondenzsprache bereit. Dementsprechend wurde in der
Delegation vom Jahre 1892 im Einvernehmen mit dem gemeinsamen Kriegsmi¬
nister ein Beschluß formuliert, daß der Gebrauch der ungarischen Sprache im
Briefwechsel zwischen den ungarischen Munizipien und den Kommandos von
ungarischen (das heißt mit in Ungarn zu ergänzenden) Regimentern verbindlich
sei, daß sämtliche Armeebehörden verpflichtet seien, ungarische Zuschriften
und Eingaben anzunehmen und letztere seitens der ungarischen Regimenter und
Ergänzungsbezirkskommandos in ungarischer Sprache zu beantworten seien.
Nicht einigen konnte man sich über die Sprache, in der die sonstigen Armee¬
behörden die Zuschriften und Eingaben erledigen sollten: Der gemeinsame
Kriegsminister bestand auf der Dienstsprache, das heißt dem Deutschen, der
ungarischen Delegation zufolge soflteTTalls wegen fehlendeFXrafte (also in
Unkenntnis ungarischer Sprachkenntnisse) eine direkte Sachbearbeitung nicht
möglich sei, die Korrespondenz durch Einschaltung der Ergänzungsbezirks¬
kommandos dennoch in ungarischer Sprache erfolgen.396

   Der Delegationsbeschluß für den ungarischen Sprachgebrauch hatte zweifel¬
los seine gesetzlich föstgelegte Grundlage. Schon § 9 des Gesetzartikels VI des
Jahres 1840 über den Gebrauch der ungarischen Sprache verfügte, daß die
ungarischen Regimenter mit den Munizipien in Ungarn in ungarischer Sprache
korrespondieren mußten.397 Jenem Teil des Beschlusses, der den Gebrauch der
ungarischen Sprache über die ungarischen Regimenter hinausgehend vor¬
schrieb, lag §J des Gesetzartikels XLIV des Jahres 1868 zugrunde, der die
ungarische Sprache zur Staatsspräche Ungarns erklärte.398 Der deutsche
Sprachgebrauch innerhalb der"Armee und im allgemeinen war hingegen keines¬
wegs so mit Gesetzen untermauert, nicht einmal für Österreich selbst. So hieß

394 Bänffy an Goluchowski v. 17. 3. 1897, HHStA., PA. I, Karton 630.
395 A KÖZÖS ÜGYEK tärgyaläsära a magyar orszaggyüles ältal kiküldött s Öfelsege ältal 1892. evi

     Oktober hö 1-jere Budapestre összehivott bizottsäg naplöja 102.
396 A közös ügyek tärgyaläsära kiküldött es 1892. evi Oktober 1-jere Budapestre összehivott

     MAGYAR ORSZÄGOS BIZOTTSÄG HATÄROZATAI 4.
397 Magyar Törvenytär 1866-1868 92.
398 Magyar Törvenytär 1896 490.
|| ||     150 Einleitung

   es im Artikel 9 Absatz 2 des Staatsgrundgesetzes vom Jahre 1867 nur: „Die
   Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen ... wird vom Staate aner¬
   kannt." Der deutschen Sprache war also keine Präferenz zugesprochen wor¬
   den.399 Die österreichischen Liberalen waren allerdings geneigt, das Gesetz so
   auszulegen, daß Deutsch eben doch Staatssprache sei bzw. aufgrund des Ge¬
   wohnheitsrechts zu dieser erklärt werden müsse; ihre Bestrebungen zeitigten
   aber keinen Erfolg.400 Beim Sprachgebrauch der gemeinsamen Institutionen war
   die Gesetzeslücke noch größer, da darüber weder der Gesetzartikel XII des
   Jahres 1867 hoch das Stäatsgrundgesetz Verfügungen enthielt. Vermutlich galt
   der deutsche Sprachgebrauch als so sehr selbstverständlich, daß man österrei-
   chischerseits das Deutsche sogar als die Dienstsprache der ungarischen Honved
   ansah.401 Der § 11 des Ausgleichsgesetzes, der Führung, Kommando und innere
   Organisation der Armee in die Kompetenz des Herrschers überstellte, konnte
   wohl auch so ausgelegt werden, daß auch die Bestimmung der Dienstsprache
   mit zur Kompetenz des Monarchen gehörte. Dies bezog sich aber auf die
   Kommunikation zwischen der Armee und sonstigen Behörden nicht mehr so
   selbstverständlich. Gegen den Beschluß der ungarischen Delegation konnte man
   daher unter Berufung auf Rechtsnormen nur schwer opponieren.

      Die Aufgabe war jedenfalls gestellt, darüber zu entscheiden, wer in der
   Streitfrage zwischen der ungarischen Delegation und dem gemeinsamen Kriegs-
. minister Recht hatte, ob sich demnach die Verpflichtung zum ungarischen
1 Sprachgebrauch nur auf die ungarischen Regimenter und Ergänzungsbezirks-
I kommandos beschränkte oder sich auf sämtliche Behörden der gemeinsamen
\ Armee erstreckte. Das Forum dieser Entscheidung bzw. zumindest eines Ent-
1 Scheidungsversuches konnte allein der gemeinsame Ministerrat sein. Die Frage
  wurde in jener Sitzung (am 28. März 1893) behandelt, die 94 Millionen Gulden
  für die Armeentwicklung genehmigte.402 Obwohl das Protokolf den Gegenstand
  der Beratung nicht besonders nennt, kam die eingehende und langwierige De¬
  batte einem selbständigen Tagesordnungspunkt gleich.

     Die debattierenden Parteien gruppierten sich in äußerst interessanter Weise.
  Daß der Trennungsstrich zwischen der österreichischen und der ungarischen
  Regierung verlief, ist nicht erstaunlich, es war die gleiche Aufstellung wie
  seinerzeit bei der Auseinandersetzung über die Bezeichnung der gemeinsamen
  Armee. Die „Gemeinsamen" spalteten sich hingegen: Der Monarch und der
  Chef des_Generalstabs bekannten sich zum Standpunkt der österreichischen
  Regierung, der gemeinsame Außenminister und der gemeinsame'Kjriegsminister
  sympathisierten hingegen mit der ungarischen Regierung. Interessant ist auch,
  daß in dieser eigentlich staatsrechtlichen Debatte nicht die staatsrechtlichen
  Argumente im Vordergrund standen. Der Herrscher'fieß allerdings fühlen, daß
  er vom ungarischen Delegationsbeschluß nur jenen Teil für gesetzmäßig hielt,

  399 Stourzh, Die Gleichberechtigung der Volksstämme 1014
  400 Ebd. 1041-1.045.
  401 Wertheimer, Graf Julius Andrässy Bdf 1, 353.)

  402 GMR. v. 28. 3. 1893, RMRZ. 379. V
|| || Einleitung                           151

  der auf dem Gesetzartikel VI des Jahres 1840 beruhte, und auch nach Taaffes
  Meinung gehörte die ganze Angelegenheit in die Kompetenz der Krone; noch
 einmal wies er darauf hin, daß zur Dienstsprache der Armee auch die Korre-
 spondenzsprache gehöre. Damit hatte sich aber das Arsenal der staatsrechtli¬
 chen Argümente auch schon erschöpft. Die das Wort führenden Opponenten

 des ungarischen Delegationsbeschlusses hielten es anscheinend für viel vorteil¬
 hafter, mit politischen und die militärischen Zweckmäßigkeiten in den Vorder¬
 grund stellenden Argumenten zu operieren. Zu den ersteren gehörte, daß falls
 der Beschluß der ungarischen Delegation rechtskräftig würde, in Österreich für
--landesüblichen Sprachen ähnliche Ansprüche erhoben werden könn¬
 ten, sich aber auch Ungarn einer ähnlichen kroatischen Forderung nicht wider¬
 setzen könnte, und schließlich die Prophezeiung, Ungarn werde dann auch die
 Dienstsprache der gemeinsamen Armee in Frage stellen. Diese Argumente'
 nahmen sich Taa'ffe und Welsersheimb gegenseitig aus dem Mund, letzterer
 operierte aber hauptsächlich mit militärischen Zweckmäßigkeiten: Die in der
 Korrespondenzsprache vorgenommene Änderung werde schließlich die Armee
 einem Turm von Babel gleichen lassen. Generalstabschef Beck prognostizierte
 für den Fall einer Mobilmachung ein völliges Chaos und Anarchie.

    Wie die Gegner des ungarischen Delegationsbeschlusses setzten auch seine
 Verteidiger kaum staatsrechtliche Argumente ein. Einzig der ungarische Mini¬
 sterpräsident Wekerle erklärte, ein etwaiges Bestreben, die kroatische Sprache
 auf den Rang einer Staatssprache zu erheben, entbehre jeder gesetzlichen
 Grundlage. Die militärischen Zweckmäßigkeitsargumente wurden ungarischer-
 seits damit beantwortet, daß eine Änderung der Korrespondenzsprache die
 Dienstsprache nicht alteriere, und auch der gemeinsame Kriegsminister Bauer
 unterstrich, daß die sich aus der Unkenntnis der deutschen Sprache ergebenden
 Probleme in keinem Zusammenhang mit der geplanten Änderung der Korre¬
 spondenzsprache stünden. Das gewichtigste ungarische Argument war jedoch

Politischer Natur: Der frühere Beschluß sei unter Mitwirkung des damaligen
ungarischen Ministerpräsidenten als Kompromiß zustande gekommen, weshalb
für dessen Änderung die derzeitige Regierung die Verantwortung nicht überneh¬
men könne. Der gemeinsame Außenminister hielt es nicht für möglich, bei einer
Beantwortung des Beschlusses hinter den in den vergangenen Jahren gegebenen
Versprechen zurückzubleiben; die Nichteinhaltung der Versprechen könnte die
ungarische Delegation bei den zusätzlichen Bewilligungen für die Armee ungün¬
stig beeinflussen.

    Der gemeinsame Außenminister und der gemeinsame Kriegsminister votier¬
ten nach einer sich lange hinziehenden Debatte unmißverständlich für. die
Annahme des Beschlusses der ungarischen Delegation, ohne damit das Gefallen
des Herrschers zu finden, da er die Debatte kurzerhand beendete und erklärte,
die Angelegenheit sei noch nicht entscheidungsreif. Einen Monat später wurde
sie in der Beratung unter Vorsitz Kälnokys abermals auf die Tagesordnung
gesetzt, doch führte auch dieser ausführliche Meinungsaustausch zu keinem
Ergebnis.403 Zur Lösung kam es unerwartet rasch mit einer beruhigenden Erklä-

403 GMR. v. 22. 4. 1893, RMRZ. 381.
|| || 152 Einleitung

rung des gemeinsamen Kriegsministers am 17. Juni 1893 in der ungarischen

Delegation, der mit dem Datum vom 21. Mai 1893 eine Verordnung des gemein¬

samen Kriegsministers folgte, die vollauf dem Geiste des ungarischen Delega¬

tionsbeschlusses entsprach. Des gleichen Inhalts war auch cfie für die Organe

des ungarischen Staates am 4. August 1893 erschienene Verordnung des Innen¬

ministers.404 Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrates enthalten keinerlei

Informationen über die Beweggründe der Lösung im Sinne des ungarischen

Standpunktes, vermutlich lag aber der gleiche Grund vor wie bei der Bezeich¬

nung der gemeinsamen Armee: daß sich die ungarische Regierung öffentlich

derart verpflichtet hatte, fiel am schwersten ins Gewicht. Es war dies ein neuerli¬

cher ungarischer Erfolg, der nur dadurch etwas getrübt wurde, daß die ungari¬

sche Regierung in Zukunft häufig um die Einhaltung der Verordnung kämpfen

mußte.405 Die österreichischen Regierungsmitglieder wiederum sollten darin

Recht erhalten, daß die ungarischen Sprachforderungen durch die Änderung

der Korrespondenzsprache der gemeinsamen Armee nicht endgültig befriedigt

I waren: Ungarn brachte sehr bald auch die Änderung der Dienstsprache der

| gemeinsamen Armee auf die Tagesordnung. --  ---

                                       Die Auslegung des Einquartierungsgesetzes

   Die Gesetze über Teilfragen der gemeinsamen Angelegenheiten kamen im
allgemeinen nach langwierigen Auseinandersetzungen zustande. Die Meinungs¬
verschiedenheiten wurden im Laufe von Absprachen eliminiert, daher ergaben
sich im Laufe der Durchführung und Anwendung zumeist keine Probleme. Eine
Ausnahme bildete das 1879 verabschiedete Gesetz über die Einquartierung der
gemeinsamen Armee und der Landwehr,406 das dem gemeinsamen Ministerrat
viel Arbeit schaffen sollte.

   Daß gewisse Paragraphen des Einquartierungsgesetzes von ungarischer und
österreichischer Seite unterschiedlich interpretiert wurden, stellte sich zuerst im
gemeinsamen Ministerrat vom 30. April 1889 heraus.407 Der gemeinsame
Kriegsminister berichtete in dieser Sitzung darüber, daß er infolge der galizi-
schen TruppenVerlegungen 1888 den Budgetvoranschlag überschritten habe, da
wegen der Verlegungen unvorhergesehene Barackenbauten erforderlich waren.
Der ungarische Ministerpräsident bestritt die Rechtmäßigkeit der Überschrei¬
tung nicht, bezweifelte aber, ob es begründet sei, den Barackenbau aus dem
gemeinsamen Budget zu finanzieren, statt das betreffende Land zu belasten. So
könne im Sinne des Einquartierungsgesetzes die Errichtung des Gebäudes des

     Zirkularverordnung des kgl. ung. Innenministers Nr. 2963/eln. in Angelegenheit der Korrespon¬
     denz zwischen den militärischen und ungarischen Behörden. Magyarorszägi Rendeletek
     Tara 27 (1893) 1076-1077.
405 7/MT. Ung.MR. v. 11. 3. 1891. 3. Über die Korrespondenzsprache der militärischen Behörden
     OL., K. 27, Karton 54.
406 Magyar Törvenytär 1879-1880 148-178.
407 GMR. v. 30. 4. 1889. RMRZ. 356.
|| || Einleitung                           153

 Korpskommandos von Przemysl keinesfalls zu Lasten des gemeinsamen Bud¬
 gets erfolgen. In der zweiten Sitzung am gleichen Tage zitierte der österreichi¬
 sche Finanzminister den diesbezüglichen Paragraphen des Einquartierungsge¬
 setzes und legte diesen so aus, daß er die Finanzierung des betreffenden Baues
 ermöglichte.408 Als der ungarische Ministerpräsident bei seiner Ablehnung blieb,
 verwahrte sich der österreichische Finanzminister in der folgenden Sitzung
 gegen den Kauf des Grundstückes für das zu erbauende Budapester Garnisons¬
 spital zu Lasten des gemeinsamen Budgets, weil das Einquartierungsgesetz dies
 nicht ermögliche. Der ungarische Ministerpräsident protestierte zwar gegen eine
 Gleichsetzung beider Bauvorhaben, mußte aber der Streichung beider Budget¬
 posten zustimmen.409

    Im Interesse der Aufhebung der Meinungsverschiedenheit beauftragte die
 ungarische Regierung in ihrer Sitzung vom 7. Juni 1889 den Verteidigungsmini¬
 ster, ein Fachgutachten zu erstellen,410 was dieser korrekt und unvoreingenom¬
 men tat. In seinem dem Ministerrat am 22. Februar 1890 vorgelegten Fachgut¬
 achten stellte er fest, weder das Einquartierungsgesetz noch dessen Durchfüh¬
rungsverordnung böten eindeutige Stellungnahmen zur Entscheidung der Streit¬
frage. Ausgehend von der bisherigen Praxis könne der Bau des Korpskomman¬
dogebäudes zu Lasten des gemeinsamen Budgets erfolgen, die Baukosten der
OfFizierswohnungen müsse hingegen das betreffende Land tragen. Der Kauf des
Baugrundes für das Budapester Garnisonsspital könne ebenfalls zu Lasten des
gemeinsamen Budgets geschehen.411 Dieser einem Kompromiß gleichende
Standpunkt wurde jedoch von österreichischer Seite nicht akzeptiert, und beide
umstrittenen Posten wurden im gemeinsamen Ministerrat im Haushaltsplan
1891 gestrichen.41- Das gleiche wiederholte sich noch zweimal. In der Sitzung
vom 21. September 1891 berichtete auf Aufforderung des Monarchen der
österreichische Finanzminister Steinbach, die Vereinbarung zwischen den bei¬
den Regierungen sei in nicht zu ferner Zeit zu erwarten,413 aber in der im
folgenden Jahr abgehaltenen Sitzung hielt man immer noch bei der Streichung
der beiden Posten.414

   Inzwischen war auch ganz unabhängig von der umstrittenen Frage die Modi¬
fizierung des Einquartierungsgesetzes notwendig geworden. Die ungarische
Regierung hielt nämlich aus der Sicht des Budgets die Einführung der einzelnen
Gemeinden in die Mietklassen alle fünf Jahre für nachteilig und wünschte die
Festlegung einer längeren Zeitspanne. Der ungarische Finanzminister Wekerle

408 CMR. v. 30. 4. 1889, RMRZ. 357.
409 CMR. v. 5. 5. 1889, RMRZ. 359.

410 MIMT Ung.MR.y. 7. 6. 1889. 16. Über die Auslegung des militärischen Einquartierungsgeset¬
     zes, (JL., K.. 27, Karton 45.

4" Ung MR- v- 22- 2- {890. 3. In Angelegenheit der Frage, welche von den den Zwecken

der Armee dienenden Gebäuden auf gemeinsame Kosten gebaut werden können OL K 27
Karton 46.                           '>

412 GMR. v. 26. 4. 1890, RMRZ. 362.

413 GMR. v. 21. 9. 1891, RMRZ. 372.

414 GMR. v. 9. 5. 1892, RMRZ. 376.
|| ||  154 Einleitung

beantragte im gemeinsamen Ministerrat vom 27. April 1890 eine Festlegung auf
fünfundzwanzig Jahre.415 Der gemeinsame Kriegsminister verschloß sich diesem
Antrag nicht, verlangte aber, daß sich die Modifizierung auch auf die Regelung
der aus dem gemeinsamen Budget zu bezahlenden Bauvorhaben erstrecken
müsse.416 Der ungarische Ministerrat befaßte sich in seiner Sitzung vom 20. Juni
 1890 mit dieser Angelegenheit und hieß die geplante Modifizierung gut.417 Auch
die österreichische Regierung erklärte sich einverstanden, mit dem Vorbehalt,
daß der Vereinbarung auch der gemeinsame Kriegsminister zustimmen müs¬
se.418 Als dessen Zustimmung nicht erfolgte, mußte die ungarische Regierung
mit Bedauern feststellen, daß auch die österreichische Regierung ihre Zustim¬
mung zurückzog.419 Fünf Jahre mußten vergehen, bis die Meinungsverschieden¬
heiten beseitigt wurden und die Modifizierung des Einquartierungsgesetzes als
Gesetzartikel XXXIX des Jahres 1895 in Kraft trat. Die größte Streitfrage
wurde so gelöst, daß die Einstufung der Gemeinden in die Mietklassen für die
Dauer von zehn Jahren bestimmt wurde.420 Die ursprüngliche Streitfrage über
die aus dem gemeinsamen Budget zu errichtenden Gebäude aber blieb offen. Die
Frage des Korpskommandos von Przemysl und des Fester Garnisonsspitals
wurde in der hier behandelten Periode nicht erledigt, ein Beweis dessen, welche
Funktionsstörungen die abweichende Auslegung der Gesetzes über Detailfra¬
gen der gemeinsamen Angelegenheiten verursachen konnte.

                                VII. Die Funktionsbedingungen

Bei der bisherigen thematisch geordneten Behandlung der vor den gemeinsamen
Ministerrat gelangten Angelegenheiten wurden selbstverständlich auch amtsge¬
schichtliche oder - wenn notwendig - institutionshistorische Aspekte ebenso wie
Fragen des Entscheidungsmechanismus, der Interessen- und Positionssphären
berücksichtigt. Da aber die konkreten Angelegenheiten im Mittelpunkt standen,
waren die weitere Perspektive, die gesamte Funktion des gemeinsamen Minister¬
rates weniger im Blick. Nun bleibt noch zu fragen, welche Stellung der gemein¬
same Ministerrat in derpolitischen Struktur der Monarchie einnahm, welche \
Interessen seine Entscheidungen zur Geltung brachten, bzw. der Durchsetzung i
welcher Interessen sie im Wege standen, und welchen Einfluß die Position '
sicherte. Im folgenden versuchen wir diese vor allem im Lichte der konkreten
Fragen darzustellen.

415 GMR. v. 27. 4. 1890, RMRZ. 363.
416 GMR. v. I. 5. 1890, RMRZ. 367.

     22IMT.' Ung.MR. v. 20. 6. 1890. 2. In Angelegenheit der Modifizierung der Gesetze bezüglich
     der militärischen Einquartierung, der militärischen Witwen und Waisen sowie der Alkohol-
     steuer und in der des Österreichisch-ungarischen Lloyd, OL., K. 27, Karton 47.
     23/MT. Ung.MR. v. 26. 6. 1890. 1. In Angelegenheit der Modifizierung der Gesetze bezüglich
     der militärischen Einquartierung, der Versorgung der Militärwitwen und -waisen, sowie der
     Alkoholsteuer, OL., K. 27, Karton 47.
419 48/MT. Ung.MR. v. 19. 11. 1890. 8. Über die Modifizierung des militärischen Einquartierungs¬
     gesetzes, OL., K. 27, Karton 48.
420 Magyar Törvenytär 1894-1895 296.
|| ||      Einleitung                                                         155

                             Befugnis und Entscheidungsmechanismus

    Bei einer Untersuchung der Befugnis stößt der Forscher sofort auf ein halb
 terminoJogisches, halb staatsrechtliches Problem: Bildeten die gemeinsamen

^Minister zusammen eine Regierung? Das'ungarischeTusgleichsgesetz und das
 österreichische Btaatsgrund'gesetz gebrauchen in dieser Beziehung übereinstim-
 mend den Ausdruck „gemeinsames Ministerium".421 Der terminologische
Aspekt des Problems ergibt sich daraus, daß im Ungarischen der Ausdruck

„Ministerium im vorigen Jahrhundert die Regierung und die einzelnen Mini¬
sterien zugleich bedeutete. Daß das Wort Ministerium das Synonym des Begrif¬
fes Regierung war, geht aus dem Gesetzartikel III des Jahres 1848 über die
Bildung des verantwortlichen Ministeriums hervor, der in einzelnen Paragra¬
phen statt von Regierung durchweg vom Ministerium spricht.422 Es besteht kein
Grund zu der Annahme, daß die ungarischen Verfasser der 1867er Gesetze unter
dem gemeinsamen Ministerium nicht eine gemeinsame Regierung verstanden,
 n den ernten Jahrzehnten nach dem Ausgleich harmonierte die staatsrechtliche

rSSüu118 V? 18                                 UngarischefseTts wurde bei der ersten
Delegaüonssitzung im Jahr 1868 nur der Ausdruck Reichsministerium bean¬

standet, doch man gab sich damit zufrieden, daß österreichischerseits darunter

das gemeinsame Ministerium verstanden wurde0^war bezweifelte bei einer

Gelegenheit Andrassy, daß die gemeinsamen Minister korporativ eine Regie¬

rung bilden, 4 doch gebrauchte auch er vor- und nachher häufig die Ausdrücke

gememsame Regierung und gemeinsames Ministerium.425 Auch in der hier

behandelten Zeitspanne war dieser Wortgebrauch ganz selbstverständlich Käl-

noky sprach beispielsweise in der Sitzung vom 25. September 1886 nacheinander

vom gemeinsamen_Ministerium und von der gemeinsamen Regierung,426 woge¬

gen sich Kalman Tisza mit seinem ausgeprägten Sinn ffiFdie staatsrechtlichen

  .u8f j n'CA1 VfWahrte- Ja in der Sitzung vom 5. Januar 1888 gebrauchte er
selbst den Ausdruck gemeinsames Ministerium, und aus dem Textzusammen-
fiang geht hervor, daß er darunter den gemeinsamen Ministerrat verstand.427
Auch in den Protokollen des ungarischen Ministerrates kam der Ausdruck
gemeinsames Ministerium häufig und stets als Synonym für gemeinsame Regie-
rung vor. Die ungarische Regierung verwahrte sich auch nicht gegen den
Ausdruck gememsame Regierung im Text internationaler Verträge- das 1880
geschlossene Handelsabkommen mit Deutschland wurde vom Parlament so

421

     Magyar Törvenytär 1838-1868 337 - Helbing, Das österreichische Gesetz vom Jahre 1867

     über die gemeinsamen Angelegenheiten 73.                                                                                                              ~
422
                                                                    '"
     Magyar Törvenytär 1836-1868 218-22G----«
423 Wertheimer, Graf Julius Andrässy Bd. 1M19-420.
424 Somogyi, Einleitung XV.
425 Vgl. GMR. v. 24. 2. 1878, HHStA., PA. I, Karton 290
426 GMR. v. 25. 9. 1886, RMRZ. 331.
427 GMR. v. 5. 1. 1888, RMRZ. 348.

     AJahhrree1m88s5,10O1LM., KK. V2l7l,0Kv aYrto"n «38 2-' nUngA.M^R.levg.e2n0h.e9it.1d8e8s5g.e2m. eIninAsanmgeenlegHeanuhsehitaldtessplgaenmeseivnosam-
     men Haushaltsplanes vom Jahre 1886, OL., K. 27, Karton 40.
|| || 156 Einleitung

   inartikuliert, daß sich in dessen Präambel auch die ominöse Bezeichnung
    „k. u. k. österreichisch-ungarische Regierung" befand.429 Jene Version, daß die
   gemeinsamen'Minister keine Regierung bildeten, kam zuerst in dem Entwurf
   einer Antwort des ungarischen Ministerpräsidenten Bänffy vor, die er auf eine
   im ungarischen Abgeordnetenhaus vorgebrachte Interpellation zu geben
   beabsichtigte. In dem Entwurf stand, daß die gemeinsamen Minister „kein
   einheitliches Cabinet bilden" und jene Ministerkonferenzen, an denen neben
   clen gemeinsamen Ministern auch Regierungsmitglieder der beiden Staaten
    teilnehmen, keine regelrechten Ministerräte seien.430 Zu diesem Punkt des Ant¬
   wortentwurfes bemerkte der gemeinsame Außenminister, daß anstelle von „ein¬
    heitliches" das Attribut „eigentliches" zweckmäßiger wäre, den meritorischen
    Teil des Problems berührte er aber nicht.431 Und zu jener Zeit war im gemeinsa¬
    men Außenministerium bereits eine „Staatsrechtliche Notiz" fertiggestellt, de¬
    ren Verfasser mit verschiedenen Argumenten untermauert hatte, daß der Aus-,
    druck „k. u. k. Regierung" in staatsrechtlicher Hinsicht völlig korrekt seifig
    Damit begann ein endloses staatsrechtliches Tauziehen, das bis zum Ende der
    Monarchie andauefte.433

       Das schon die Zeitgenossen trennende staatsrechtliche Problem beschäftigte
 r auch die Geschichtsschreibung, die österreichisch-ungarische Gegenüberstel-
 ! lung reproduzierte sich aber glücklicherweise nicht. Eva Somogyi faßte ihre
 ! Meinung wie folgt zusammen: „Es ist wahrlich nicht eindeutig, ob diegemeinsa-
 I men Minister eine Regierung bildeten odefmcht, ob der Vorsitzende des ge-
 ' meinsamen Ministerrates als Reichsminister zu betrachten ist oder nicht, offen¬

    sichtlich ist jedoch, daß derartige Tendenzen unter'dem Zwang der Praxis zur
    Geltung kamen."434 Ihrer elastischen Auslegung entsprechend führte sie auch
    eme ferminofogische Neuerung in Gestalt des Ausdrucks^ „gemeinsames Regi-
_ment" ein, was vermutlich so zu verstehen ist, daß es sich um keinejRegjerung,
    aber um eine Art Regierung handelte. Das ist keine allzu glückliche Neuerung,
    denn abgesehen davon, daß der Ausdruck Regiment seinerzeit V so auch im
    Ausgleichsgesetz - tatsächlich zur Bezeichnung der Regierung gebraucht wur-
    de^Mvürde dies nur die terminologischen Probleme vermehren. Miklös Komjä-
i , thy gelangte zu der Schlußfolgerung, daß „während des Ersten Weltkrieges der

I gemeinsame Ministerrat unterwegs war zur RegieFungjIer österreichisch-ungä-
I / rischen Monarchie, zur Reichsregierüng zu werHen`U3yWartef Goldinger teilt

    diese Meinung nicht: „Öb man allerdingsTniFRecht sagen kann, daß der

429 Magyar Törvenytär 1879-1880 286.
430 Entwurf einer von Herrn kgl. ung. Ministerpräsidenten Baron Bänffy dem Abgeordneten

Gabriel Ugron zu erteilenden Antwort. (Von Sr. Exzellenz Baron Bänffy mitgeteilt.) HHSxA.,

     PA. I, Karton 630.
431 Abschrift einer Note an den kgl. ung. Ministerpräsidenten Baron Bänffy v. 4.10. 1895, HHStA.,

PA. I, Karton 630.

-432 Staatsrechtliche Notiz v. Juni 1895, HHStA., PA. I, Kartorf 63itl

433 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates[i7-28. ]

434 Somogyi, Einleitung XV.           y

435 Magyar Törvenytär 1836-1868 337.  /SA

436 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen MinisterratekyO. )
|| || Einleitung                                                                    157

gemeinsame Ministerrat in seinem letzten Stadium, in den Jahren des ersten

Weltkrieges, doch eine Art Reichsregierung wurde, wie Komjäthy meint, ist von

der Struktureller eher zu verneinen."437                         ~-

In den geschichtswfssehschaftjichen Lntgfpfetationemwefmßehen sich bei der

Beurteilung des RegierungscharaktersrStaatsrechffunBiFuhktidTil'recht weitge-

hencTTbei Eva Somogyi handelt es sich um beides, bei Miklbs Komjäthy und

Walter GoldingereKer nur um letztere. BeTemeFBetrachtung des Problems aus

JL?in staatsrechtlicher Sicht sind wir der Meinung, daß die zeitgenössische öster¬

reichische Auffassung die richtigste war, indem sie den Ausdruck k. u. k. Regie¬

rung für korrekt erachtgteund die Vollzugsgewalt der österreichisch-ungari¬
schen Monarchie in 4en dreljRegierungen verkörpert sah.438 Das war übrigens

- wie gesehen -- auch die ursprüngliche, zur Zeit des Ausgleiches vertretene und

jiber ein Vierteljahrhundert lang bejbehaUene ungarische~Aüffa'ssüng. Zwar
bestimmte das ungarische Ausgleichsgesetz die Befugnis des gemeinsamen Mini¬

steriums nur im negativen Sinne („hinsichtlich jener Gegenstände, die weder

dem Regiment)der Länder der ungarischen Krone, noch den besonderen Regi-

          der übrigen'Länder Seiner Majestät unterstellt sind"),439 in anderem
Zusammenhang stellte es aber klär fest, daß „es sich um den kollektiven und

gemeinsamen Schutz" und seine beiden Instrumente, die auswärtigen Angele¬

genheiten unh das Kriegswesen, handelte. Auswärtige Angelegenheiten und

Kriegswesen sind aber die beiden wichtigsten Merkmale der Staatssouyeränität,

genau jöne Attribute, die der Vollzugsgewalt ziikommen. Daß die ungarische

Regierung zugunsten einer anderen Körperschaft von der souveränen Aus¬

übung dieser Rechte Abstand genommen hatte, geht daraus hervor, daß das

Gesetz zur Erledigung"cficser Angelegenheiten nicht alleirf die 'Verantwortlich¬

keit der einzelnen Minister, sondern auch die des'gesamten Ministeriums fest-

stellte.440 Gleichzeitig legte dieses Gesetz (zusammen mit dem entsprechenden

österreichischen) hinsichtlich der auswärtigen Angelegenheiten ausdrücklich

fest, daß diese „im Einvernehmen der Ministerien [d. i. Regierungen] beider

Parteien und mit deren Zustimmung" erledigt werden müssen.441 Auch hinsicht¬

lich des Kriegswesens sanktionierte es inVielen Beziehungen (so bei der Bestim¬

mung des Verteidigungssystems) die besonderen Rechte beider Regierungen.442

Die ungarische Regierung übertrug also gemeinsam mit der österreichischen die

Ausübung eines Teiles ihrer souveränen Rechte einer Körperschaft, auf die sie

selbst einen Einfluß'hatte und für deren Entscheidungen sie deshalb auch selbst

437 Goldinger, Die Zentralverwaltung in Cisleithanien 174.  ^_^

438 Vgl. Anm. 432. - Es lohnt sich zu bemerken, daß in einem Fall auch Andrässy vonQrePRegierungen

sprach: „Für den Sprecher ist die Frage die, ob der Minister des Äußeren allein die Kreditforde¬

rung durchbringen kann, sobald nicht die Ministerien beider Reichshälfteneinverstanden sind.

Diese Frage kann nur mit nein beantwortet werden, aber vereint und von demseibenTTefFTnkTn

geleitet/können es die drei Ministerien gewiß." GMR. v. 2^77. 1878. HHStA PA I Karton
290. --

439 MaPYar Törvenytär 1836-1868 337.

440

441 EBd. 335.

442 Ebd. 336.
|| || 158 Einleitung

verantwortlich war. Und diese Körperschaft war ausschließlich der gemeinsame

Ministerrat. Im staatsrechtlichen Sinn ist also der gemeinsame Ministerrat -

unseres Erachtens - als gemeinsame Regierung der österreichisch-ungarischen

Monarchie zu betrachten.

Die Gewährleistung der Staatssouveränität - nach dem Wortlaut des ungari¬

schen Ausgleichsgesetzes der Einsatz der Verteidigung und ihrer beiden Instru¬

mente, der auswärtigen Angelegenheiten und des Kriegswesens - involvierte von

der staatlichen Existenz nur die politischen Entscheidungen von primärer

Wichtigkeit: vor allem die Bestimmung der außenpolitischen Strategie, die

Feststellung dessen, welcher Staat oder Staaten die Sicherheit gefährdeten und

wie die Gefahr am sinnvollsten abgewehrt werden könne - mittels der Bündnis-

politik, der Demonstration der eigenen Kraft oder geradezu der Ultima ratio

des Staates, des Krieges. Dazu gehörte weiter die Findung des Standpunktes

hinsichtlich von Krisen und Kriegen, die nicht auf eigene Initiative hin entstan¬

den waren, aber die internationale Position des Staates berührten, die Entschei¬

dung, ob die Neutralität, die Verpflichtung gegenüber einer kriegführenden

Partei oder die bewaffnete Einmengung am zweckmäßigsten war. Schließlich -

da die Monarchie eine Großmacht war - gehörte auch die Stellungnahme in

Fragen der militärischen Expansion, der Gebietseroberung, die Entscheidung

darüber dazu, ob es notwendig und zweckmäßig wäre, das Territorium der

Monarchie zu erweitern. In den Gesetzen war natürlich weder von außenpoliti¬

scher Strategie, noch von internationaler Position und auch nicht von Kriterien

der Großmachtstellung die Rede. Die Entscheidungsfindung darüber gehörte

jedoch zum Bereich der Sicherung der Souveränität. Als die ungarische und die

österreichische Regierung den „kollektiven und gemeinsamen Schutz" beschlos¬

sen, übertrugen sie die mit der äußeren Funktion des Staates verbundenen

Kompetenzen dem gemeinsamen Ministerrat„,u  '

Der Forscher stößt hier auf die wesentlichste, gleichsam eigentliche Frage.

Denn wohl hat es aus gewisser Sicht eine Bedeutung, ob das Gremium der

gemeinsamen Minister oder der gemeinsame Ministerrat als Regierung galt oder

nicht, doch bestimmt diese staatsrechtliche Qualifizierung die tatsächliche Be¬

fugnis dieser Körperschaft nicht. Die Geschichte kannte im vorigen Jahrhundert

und kennt auch heute vieleTSefspiele für aus staatsrechtlichem Aspekt vollkom¬

mene Regierungen, die die tatsächliche Vollzugsgewalt dennoch nicht verkör¬

perten. Dem Forscher stellt sich auch in diesem Fall in erster Lime die Träge,

ob der gemeinsame Ministerrat von den ihm durch die beiden Regierungen

übertragenen Berechtigungen Gebrauch machen konnte und tatsächlich

machte, ob er die Körperschaft war, welche die zum Begriffsbereich der Souve¬

ränität gehörenden primär wichtigen politischen EntscheiHungen getroffen hat.

Miklös Komjäthy gab in seiner Studie über die Entstehung des gemeinsamen

Ministerrates und seine Funktion während des Weltkrieges auf diese Frage eine

verneinende Antwort. Seine Argumentation baute er auf drei historisch-logi-

scEen Pfeilern auf. Seiner Meinung nach ist die Angst der ungarischen politi¬

schen Führung vor einem Reichsparlament die efne der retardierenden Kräfte.

Sie hatte zur Folge, daß sicfi äüch die' Kompetenz des gemeinsamen Mihisterra-
|| || Einleitung                                                             159

                   parlai-T1-?ntarischcn Gegengewichts - einengte. Die andere war die
  Manifestation des Herrscherwillehs, der im Ideal des Absolutismus wurzelte
- und auch in diesef Körpersehaft eine eher beratende als mit eigener Kompetenz
.„^"sgestattete Institution sehen wollte. Und die dritte schließlich war die Habs-
  burger-Trad'üon, die bei den auswärtigen Angelegenheiten eine korporative

 -.bAc.hbearbeitung schon immer ausschloß. Komjäthy wies wohl - wie weiter
  oben zitiert - auf gewisse Tendenzen hin, die zur Zeit des Weltkrieges den
  gemeinsamen Ministejrat zu einer Regierung der Monarchie gestalten wollten
  er kommt aber letztlich zu dem Schluß, daß „... der als höchstes Regierungsor¬
 gan gedachte gemeinsame Ministerrat kaum mehr war als das.höchste beratende
 Organ derKrone und ein Debattenforum, wo versucht wurde,'die oft entgegen^
 gesetzten Interessen der österreichischen und ungarischen Regierung und ihre
 entgegengesetzten Anschauungen in Einklang zu bringen".443

     Komjäthy leitete seine Meinung in erster Linie von der Funktion des gemein¬
 samen Mmisterrates während des Weltkrieges ab, stützte sie aber auch auf eine
 Analyse dreier früherer Protokolle von 1878, 1908 und 1914. Uns scheint die

 Praxis bzw. der politische Entscheidungsmechanismus des gemeinsamen Mini¬
 sterrates m den anderthalb Jahrzehnten nach dem Ausgleich diese Anschauung
 teils zu bestätigen und teils zu widerlegen. Die Praxis der ersten Jahre nach dem
 Ausgleich erweckt den Eindruck, daß der gemeinsame Ministerrat ein echtes
 forurn der politischen Entscheidungsfindung war. Als im Sommer 1870 der
 deutsch-französische Krieg ausbrach, beriet der gemeinsame Ministerrat das

       r'gf Verhalten der Monarchie im Zusammenhang mit der politischen Lage
 und faßte nach einer eingehenden und weithin scharfen Debatte den Beschluß
 daß die Monarchie den Standpunkt der abwartenden Neutralität einnehmen
 und gleichzeibg mit der durch die Lage gebotenen Rüstung beginnen solle.444
 Nach den ersten französischen Niederlagen war es abermals der gemeinsame
 Ministerrat, der in seiner Sitzung vom 22. August beschloß, die frühere preußen-
und russenfeindhche Lime trotz der veränderten Umstände beizubehalten und
 Frankreich Unterstützung zur Erhaltung seiner territorialen Integrität zu ge¬
wahren. Als Rußland im Herbst 1870 die sich auf die Neutralisierung des
Küstengebietes des Schwarzen Meeres beziehenden Artikel des Pariser Vertrags
von 1856 einseitig kündigte, nahm der gemeinsame Ministerrat vom 14. Novem¬
ber 1870 dahingehend Stellung, daß der einseitige russische Schritt zurückgewie-
Sen44TM^de" unddie Monarchie entsprechende Gegenmaßnahmen treffen müs¬
se. Die Beschäftigung des gemeinsamen Ministerates mit der Außenpolitik
ging bei dieser Gelegenheit so weit, daß er sogar die Instruktionen der zur

Londoner Konferenz reisenden österreichisch-ungarischen Delegierten erörter¬
te und guthieß.447 Das große Dokument des außenpolitischen Richtungswech-

443

444 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates *83-843
KHSrÄ PÄ. h lCarton 285. - Unverkürzter Text des Prow/co/ÄTDröszEGl, Österreich-Ungarn

     und der französisch-preußische Krieg 286-296                   e
445 GMR. v. 22. 8. 1870. HHStA., PA. I, Karton 285.
446 GMR. v. 14. 11. 1870, HHStA., PA. I, Karton 285
447 GMR. v. 17. 12. 1870, HHStA., PA. I, Karton 285
|| ||   160 Einleitung

  sels, das Memorandum Beusts vom 18. Mai 1871, in dem der gemeinsame
  Außenminister die Schaffung eines FreuncfscHäftlichen Verhältnisses zu
  Deutschland beantragte, wurde zwar nicht vom gemeinsamen Ministerrat be¬
  handelt, aber auf Wunsch der österreichischen und der ungarischen Regierung
  angefertigt und war beiden Ministerpräsidenten und - in großen Zügen - auch
  beiden Delegationen bekannt.448 Gegen Hohenwarts staatsrechtlichen Versuch
  brachte Beust im Herbst des gleichen Jahres als eines der wichtigsten Argumente
  vor, daß die Erfüllung der böhmischen Wünsche eine Modifizierung der von den
  Delegationen angenommenen außenpolitischen Richtlinie nach sich ziehen wür¬
  de.449 Auch in den Protokollen des gemeinsamen Ministerrates in der zweiten
  Hälfte der 70er Jahre sind meritorische politische Entscheidungen zu finden. Am
  24. August 1878 entschied das Gremium nach der Okkupation von Bosnien-
  Herzegowina, daß dessen Annexion - obwohl sie in österreichischen Kreisen
  heftig gefordert wurde - zwecklos sei und die Souveränität des türkischen
  Sultans und die Symbole der Souveränität auch weiterhin anerkannt werden
  müßten.450

     Im Laufe der 70er Jahre kann aber der obige Fall eher als Ausnahme denn
  als Regel gelten. Andrässy, der im November 1871 ernannte neue gem,einsame
  Außenminister, legte sein außenpolitisches Programm im Februar J872Jnicht
_ dem gemeinsamen Ministerrat, sondern einer riulitärpolitischen Konferenz un-
  ter Teilnahme des Monarchen, des Generalinspektors der Armee und des ge-
'Ämeinsamen Kriegsmihisters vor, und diese bestätigte, daß die Außenpolitik der
  Monarchie künftig auf die Verteidigung gegen Rußland ausgerichtet werden
  müssjVPyAm 29. Januar 1875 beschloß das gleiche_Gremium auf Antrag des
"gemeinsamen Außenministers, daß die österreichisch-ungarischen Streitkräfte,
  falls es auf der Balkanhalbinsel zu gären beginne, in Bosnien-Herzegowina
  einmarschieren und die beiden Provinzen in jdie Monarchie einverleiben müs¬
  sen.452 Zur im Sommer 1875 begonnenen Orientkrise traf (Ter gemeinsame
"Tvfinisterrat anders als im Falle seiner Praxis während des deutsch-französischen
  Krieges keine einzige politische Entscheidung, und auch der Budapester Vertrag
  vom Jahre 1877, der die Monarchie in einem eventuellen russisch-türkischen
  Krieg zur wohlwollenden Neutralität gegenüber Rußland verpflichtete, wurde
^geschlossenröhhe daß der gemeinsame Ministerrat darüber informiert wurde.
  Die durch den russisch-türkischen Krieg"Tüld die entsdheidenden militäriscßeri*
  Erfolge Rußlands entstandene neue Situation wurde ebenfalls nicht vom ge¬
  meinsamen Ministerrat, sondern von der militärpolitischen Konferenz beraten.
  Ihr legte Andrässy am 15. Januar 1878,seinen Antrag vor, gegen die in eine
  strategische Sackgasse geratene russische Armee eine militärische Aktion zu
  unternehmen, und sieTällte auch die Entscheidung über die militärischen Vorbe-

  448 Lutz, Zur Wende der österreichisch-ungarischen Außenpoliti
  449 GMR. v. 20. JO. 1871, HHStA., PA. I, Karton 286.
  450 GMR. v. 24. 8. 1878, HHStA., PA. I, Karton 290.
  451 Lutz, Politik und militärische Planung 29-44^)
  452 Diöszegi, Die Außenpolitik der Österreichiscf-Ungarischen Monarchie 321-332.
|| || Einleitung  161

 Jungen, einschheßlich der Mobilisierung.453 t)er gemeinsame Ministerrat trat
  wohl danach ebenfalls zweimal zusammen und führte über die Lage eine einge¬
  hende politische Debatte, aber im Bewußtsein der bereits gefallenen Entschei¬
  dung, daß die Monarchie zur Stärkung ihrer eigenen Lage militärische Vorberei¬
  tungen unternehmen würde. Der gemeinsame Ministerrat konnte nur noch
 darüber beschließen, für die Vorbereitungen die vom gemeinsamen Außenmini¬
 ster verlangte Summe bereitzustellen.454 Die militärpolitische Konferenz trat
 auch im April wiederholt zusammen und traf der veränderten Situation entspre- /
 chend immer neue politische Entscheidungen.455 Sie blieb auch nach dem Rück- I
 tritt Andrässys jenes Forum, in dem die wichtigen Fragen der Außenpolitik
 beraten und meritorische Entscheidungen getroffen wurden. Der gemeinsame
 Außenminister Haymerle, der sein Amt im Herbst 1879 antrat, legte seinen
 ersten Lagebericht ebenfalls dort vor. Die Konferenz vom 6. Januar 1880 nahm
 den Standpunkt ein, daß Rußland nach wie vor als erstrangiger Gegner der
 Monarchie zu betrachten sei, und wies zugleich den von den militärischen
 Kreisen vertretenen Gedanken eines Präventivkrieges gegen Italien zurück.456

    Im Lichte der anderthalb Jahrzehnte langen Praxis zeichnen sich drei Typen
 der zum Begriffsbereich der Souveränität und der „kollektiven und'gemeihsa-
 men Verteidigung" gehörenden Entscheidungen ab. Im ersten Fall war der
 gemeinsame Ministerrat selbst das Forum der Entscheidung, das mit völliger
Autorität, ohne jede Unter- oder Beiordnung das letzte Wort über das außenpo¬
litische Verhalten der Monarchie sprach. Hierbei fungierte also der gemeinsame
Ministerrat als tatsächliche Vollzugsgewalt. Für diesen Typ der Entscheidung
liefern die zur Zeit des deutsch-französischen Krieges getroffenen Entscheidun¬
gen zahlreiche Beispiele. Im zweiten Fall fiel die Entscheidung anderswo, zu¬
meist in der militärpolitischen Konferenz. Der gemeinsame Ministerrat wurde
davon informiert, seine Befugnis beschränkte sich aber darauf, zur finanziellen
Deckung der schon getroffenen Entscheidung Stellung zu nehmen. Bei solchen
Gelegenheiten hatte der gemeinsame Ministerrat keine Durchführungsbefugnis
seine Funktion erinnerte mehr an die Tätigkeit emer über den Staatshaushalt
debattierenden, gesetzgebenden Körperschaft. Dafür bieten die beiden in der
Endphase des russisch-türkischen Krieges abgehaltenen Ministerräte ein gutes
Beispiel. Auch im dritten Fall wurde die Entscheidung schließlich anderswo

getroffen, und zwar wiederum in der militärpolitischen Konferenz, nun aber
ohne den gemeinsamen Ministerrat zu befragen, ja sogar ohne ihn zu informie¬
ren. Der gemeinsame Ministerrat hatte in solchen FäHen überhaupt keine
Funktion und konnte nicht einmal als Schattenregierung betrachtet werden. Die

     ^;Z,f/aß,teS Resümee cler am 15- 1. 1878 unter Ah. Vorsitze stattgehabten Konferenz, KA.
     MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 70, Nr. 59.
454 GMR. v. 7. bzw. 24. 2. 1878, HHStA., PA. I, Karton 290.

     Protokoll der unter Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät am 16. 4. 1878 stattgehabten
                 betreffend die mit Rücksicht auf die gegenwärtige allgemeine politische Lage etwa zu

     ergreifenden militärischen Maßregeln,_KA., MKSM. 69-1/29 ex 1878.

     Protokoll der am 7. 1. 1880 unter Ah. Vorsitze Sr. Majestät des Kaisers und Königs stattgehab¬
     ten Konferenz über die allgemeine militärisch-politische Lage, KA., MKSM. 20-1/1 ex 1880.
|| ||  162 Einleitung

 die außenpolitische Strategie bestimmenden beiden militärpolitischen Konfe¬
 renzen zu Beginn der Tätigkeit Andrässys bzw. Haymerles als Außenminister
 sind gute Beispiele für die völlige Bedeutungslosigkeit des gemeinsamen Mini¬
 sterrates.

    Die Frage, ob der gemeinsame Ministerrat von der ihm durch die beiden
 Regierungen übertragenen Befugnis Gebrauch machen konnte und tatsächlich
machte, ob er die Körperschaft war, welche die zur Souveränität gehörenden
 Entscheidungen von primärer politischer Wichtigkeit traf, kann also kaum
 eindeutig mit Ja oder Nein beantwortet werden. Die Antwort kann nur heißen:
 zuweilen ja, zuweilen nein. In Sachen der „kollektiven und gemeinsamen Vertei¬
 digung" übte der gemeinsame Ministerrat wohl eine Vollzugsgewalt aus, seine
 Autorität war aber keinesfalls vollkommen und seine Ausübung der Macht
 mußte er sich mit anderen Körperschaften teilen.

    Auf die Frage, warum der gemeinsame Ministerrat nur das oberste Bera¬
 tungsorgan und das interessenvereinende Diskussionsfbruni der Krone blieb,
 gab Miklös Komjäthy eine überzeugende Antwort, deren wichtigste Argumente
^weiter oben bereits zitiert wurden. Ihm fiel aber die Ambivalenz in der Macht¬
 struktur der Monarchiejiicht auf, die Tatsache, daß der gemeinsame Minister¬
 rat zu gewissen Zeiten und Gelegenheiten die tatsächliche Vollzugsgewalt aus¬
 übte. Da er dies nicht sah, interpretierte und erklärte er es auch nicht. Dies bleibt
 alsq uns Vorbehalten, die wir diese Ambivalenz glauben beweisen zu können.

    Mit Miklos Komjäthy ist anzunehmen, daß die Antwort auch in diesem Fall
 nicht in erster Linie im Bereich des Staatsrechtes zu suchen ist. Denn die gewisse
~RechtsJücke innerhalb der staatsrechtlichen Regelung - daß nämlich niemals
 genau festgelegt wurde, welche konkreten Angelegenheiten in den Zuständig¬
 keitsbereich des gemeinsamen Ministerrates gehörten - und die daraus resultie¬
 renden Befughlsflüktuatiohen geben noch keine befriedigende Erklärung dafür,
 warum das staatsrechtliche Pendel bald in Richtung des einen, bald des anderen
 Extrems ausschlug. Die Antwort muß gewiß in der politischen Sphäre gesucht
 werden, vor allem in der Reichsdisposition der beiden führenden Nationen, der
 österreichischen und der ungarischen, darinTwie sie ihre eigenen Interessen mit
jenen cies Reiches zu identifizieren verstanden und in welchem Maß sie bestrebt
 waren, ihre Interessen auf Reichsebene zum Ausdruck zu bringen. Falls diese
 Tendenz intensiv und kräftig war, wurden die gemeinsamen Institutionen und
 Positionen aufgewertet, waren doch die gemeinsamen Institutionen - darunter
 vor allem der gemeinsame Ministerrat - die Foren, in denen das auf Reichsebene
 erhobene Nationalinteresse am wirksamsten vertreten werden konnte. An zwei¬
 ter Stelle sind die persönlichen Beziehungen zu erwähnen, ob die führenden
"Nationen über so gewicht!ge~politIsche Persönlichkeiten verfügten, daß sie die
 mit den Reichsinteressen identifizierten Nationafinfefessen mit entsprechender
 Autorität zum Ausdruck bringen und die MäueFäurchbrechen konnten, die die
"Häbsburger-Tradition vor ihnen aufgebäut hatte. Schließlich konnte die Auf-'
'wertuhg des gemeinsamen'Mihisteriätes, die Stärkung seiner Vollzugsbefugnis,
 auch durch innere und äußere Krisensituationen gefördert werden, denn diese
 verlangten Entscheidungen auf möglichst breiter politischer Basis.
|| || Einleitung  163

           Unserer Meinung nach geht die politische Entscheidungspraxis in den andert¬
        halb Jahrzehnten nach dem Ausgleich, der Aufstieg des gemeinsamen Minister¬

        rates zum Entscheidungsträger und dann sein Absinken zur Bedeutungslosigkeit,
        auf ein ganz spezifisches Zusammenwirken dieser genannten Faktoren zurück.'
        In den ersten Jahren bestand eine tatkräftige Reichsdisposition sowohl des
     . österreichischen,als auch des ungarischen Nationalismus. Die Österreicher be-
, / fürchteten eine preußische Expansion -- ein nulifansch zusammengeschlossenes
    ` Groß-Preußen stellte für Österreich eine drohende Gefahr dar, schrieb die Neue

j nl- Freie Presse457 und die Ungarn erfüllte die Existenz Rußlands mit Schrecken,.,

 , so sehr, daß das Blatt Pesti Naplö die Bezeichnung „ungarischer Politiker" all " ' f
1 '. denen entzog, die nicht die russische für die Hauptgefahr Unga7ns"hlelte£®>Die

        „kollektive und gemeinsame Verteidigung" schien aktueller denn je zu sein, und
        für die Manifestation des auf Reichsebene erhobenen nationalen Standpunktes
        war der gemeinsame Ministerrat das entsprechendste Forum. Für die Manife¬
        station der Eigeninteressen waren auch die personellen Gegebenheiten günstig.
        An der Spitze der ungarischen Regierung stand Gyula Andrässy, der zu jener
        Zeit bedeutendste Politiker mit dem feinsten Gespür für den Großmachtstatus
        der Monarchie, ohne und gegen den Außehpöliti'k zu betreiben einfach unmög¬
        lich war. Sein Gegenspieler, der aus Sachsen stammende Beust, war am wenig¬
        sten dazu geeignet, die Tradition Metternichs zu vertreten. Unter solchen politi¬
        schen und personellen Bedingungen konnte unter Umgehung des gemeinsamen
        Ministerrates keine Entscheidung getroffen werden, zumal auch die kritische
        Lage infolge des deutsch-französischen Krieges die Autorität dieser Körper¬

       schaft noch mehr betonte. Durch den Rücktritt_B_eusts und die Ernennung
       Andrässys zum Außenminister änderten sich hingegendie Bedingungen radikal.
       Die deutschösterreichische hberare Partei, bisher die bedeutendste Reprasen-'
       tantin des Reichsinteresses, vej-lor - nachdem sie die Versöhnung mit Bismarck-
       Deutschland erzwungen hatfe -'ihr Interesse an der Außenpolitik und versank
       in totale Apathie. Charakteristischerweise erklärte der österreichische Minister¬
       präsident Fürst Auersperg im gemeinsamen Ministerrat vom 24. Februar 1878,

       als ein Krieg gegen Rußland zur Debatte stand, er halte sichTncht'fur berufen!
       die politischen Beziehungen der Lage zu_ berühren.459 Die politische Führungs¬
       schicht Ungarns war demgegenüber in den 70er Jahren mit unverminderter
       Intensität bestrebt, die Außenpolitik der Monarchie zu magyarisieren, aller- .
       dings änderte sich auch bei ihr die Form der Interessenartiküiätibn'.Hnfolge der
       Krisen in der ersten Hälfte der 70er Jahre ging der außenpolitische Einfluß der
       ungarischen Regierung zurück, und Kaiman Tisza, der die Phase der Stabilisie¬
       rung einleitete, konnte - obwohl gleichfalls eine bedeutende Persönlichkeit - in
       außenpolitischer Hinsicht doch nicht mit Andrässy verglichen werden. Die
       wesentlichste Änderung trat aber dadurch ein, daß ein 'ungarischer Politiker //

       gemeinsamer Außenminister geworden war und sich dämrt cfiU'MÖglfchkert [/
|| ||      164 Einleitung

 , einer direkten Vertretung des ungarischen Standpunktes zu ergeben schien, was
     die Bedeutung des gemeinsamen Ministerrates, der die ungarischen Interessen
     nur in indirekter Weise durchsetzte, aus ungarischer Sicht verringerte. Auch
     Andrässy neigte dazu, dem Vorbild von Kaunitz und Metternich folgend, den
     Einfluß dieser Körperschaft auszuschließen und dadurch die Regeln der Kabi-

 ,_nettspolitik zur Geltung zu Bringen. Bei einer Gelegenheit, gerade im Februar
     1878, äußerte er zwar verärgert zum Wiener deutschen Botschafter, daß er nicht
     über die Befugnis eines' absoluten Ministers verfüge,460 nach seinem Rücktritt
     aber rühmte er sich dessen, daß sich ein deutschösterreichischer Außenminister
     keine acht Tage hätte halten können und eine tschechische Regierung gar
     innerhalb von vierundzwanzig Stunden am Ende gewesen wäre.461 Seine Selbst-
     Sicherheit gründete darauf, daß er - als Ungar - tun konnte, was er wollte, ohne
     verdächtigt zu werden, daß er die Monarchie an Rußland ausliefern wolle. Da

i er von österreichischer Seite nichts zu befürchten hatte und sich von Ungarn her

 I gedeckt fühlte, konnte er seinen autoritären Neigungen ohne Risiko freien Lauf

 / lassen und den gemeinsamen Ministerrat zur Routinearbeit der Vorbereitung
     des gemeinsamen Staatshaushaltes verdammen. Die militärpolitische Konferenz

* aber, die zu seiner Zeit in vielen Beziehungen die frühere Kompetenz des
     gemeinsamen Ministerrates übernommen hatte, war eine Kreatur des Herr¬
     schers und störte daher seinen Leitungsstil „eine Person, ein Wille" im Sinne
     Metternichs kaum. Haymerle hingegen, der vom Habitus her Ändrässy in nichts
     ähnelte, paßte sich, indem er ebenfalls die militärpolitische Konferenz präferier-
     te, einfach der von seinem berühmten Vorgänger geschaffenen Praxis an.
        Nach Darstellung der Vorgeschichte und der Typisierung des Entscheidungs¬
     mechanismus in der Monarchie bleibt nur noch die eigentliche Frage zu beant¬
     worten, wie sich dies alles in der behandelten Periode, der Zeitspanne zwischen
     1883 und 1895, gestaltete, welchen Platz damals der gemeinsame Ministerrat in
     der Entscheidungsstruktur einnahm, wefcHe Rolle er in den zum Begriffsbereich
     der Souveränität gehörenden grundlegenden Fragen, bei der Entscheidung der
     Probleme der „kollektiven und gemeinsamen Verteidigung" spielte.
        Aufgrund der zur Verfügung sfehehden ünd im 'Band veröffentlichten Proto¬
     kolle kann mit völliger Gewißheit festgestellt werden, daß der gemeinsame
     Ministerrat in dieser Periode nichUdas Forum der Entscheidungen über die
     grundlegenden Fragen der Souveränität war. Er hatte nicht das letzte Wort über
     die außenpolitische Strategie, die Sicherung der Machtstellung der Monarchie
     oder das zweckmäßige Verhalten in kritischen Situationen. Der gemeinsame
     Ministerrat gewann seine unmittelbar nach dem Ausgleich besessenen Befugnis¬
     se auch in jener Periode nicht zurück, in der er als tatsächliche Vollzugsgewalt
     fungierte. Andererseits känrT- wenn auch nicht mit gleich großer Sicherheit -
     festgestellt werden, daß in grundlegenden Fragen der Souveränität auch keine
     andere Körperschaft, namentlich die militärpolitische Konferenz, Entsclieidun-

      460 Stolberg an Bülow v. 22. 2. 1878, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts Bonn. I. A. B. q
            (Türkei) 125. adh. 8. Vol. 2.

      461 Vgl. Anm. 56.
|| || Einleitung                  165

  gen traf, ohne daß darüber der gemeinsame Ministerrat informiert worden wäre
  Protokohe über derartige Beratungen, wie sie zur Zeit Andrässys im Februar
  1872 und Januar 1875, bzw. zur Zeit Haymerles im Januar 1880 stattfanden,
  kamen zumindest bisher im Archiv der Militärkanzlei nicht zum Vorschein Der
 gemeinsame Ministerrat hatte zwar seine frühere Bedeutung unter Kälnoky
 mein zurückgewonnen, aber es wurden keine Entscheidungen über ihn hinweg
 getroffen wie unter Außenminister Andrässy. In der Entscheidungsstruktur der
 Monarchie war der gemeinsame Ministerrat zu dieser Zeit eine Institution der
 Durchführung von Entscheidungen. Die Entscheidungen über grundlegende
 Fragen der „gemeinsamen und kollektiven Verteidigung" selbst wurden zumeist
 anderswo getroffen, konnten aber erst nach seiner Befragung, im Einvernehmen
 mit ihm und unter seiner Mitwirkung in Kraft treten.

    Da die bisherigen Darstellungen zumeist konkrete Angelegenheiten behan¬
 delten, stand der Entscheidungsmechanismus relativ im Hintergrund der Be¬
 trachtung. Ihn etwas schärfer zu beleuchten, dazu scheinen sich die Beratungen
 in der Krisenperiode, um die Wende der Jahre 1886/87 und 1887/88, sowie über
 die Heeresentwicklung 1892/93 am besten zu eignen.

    Die Protokolle der Beratungen an der Jahreswende 1886/87 beleuchten be¬
 sondersgut den Aufgabenkreis der Mitwirkenden am gemeinsamen Ministerrat.
 Die militärpolitische Situationsanalyse erstellte der Generalstabschef, der auch
 die zu treffenden militärischen Maßnahmen beantragte. Seine Vorschläge wur¬
den von zwei militärischen Konferenzen erörtert, an deren erster auch die beiden
 Landesverteidigungsminister teilnahmen, an der zweiten nur die höchsten mili¬
tärischen Würdenträger. Letztere, am 21. Dezember 1886, enthielt zwei für die
Art der Entscheidungsfindung beachtenswerte Momente. Erstens wurde kein
politischer Lagebericht gegeben. Obwohl der Monarch die politischen Auswir¬
kungen der zu treffenden Maßnahmen erwog, dominierten in den getroffenen
Maßnahmen allein die militärischen Gesichtspunkte. Zweitens -- und für unser
Thema ist dies das wichtigere -- erklärte der Herrscher den einzuberufenden
gemeinsamen Ministerrat nur für die Votierung der Kosten der Vorkehrungen
für zuständig und verzichtete auf eine Meinungsäußerung des Gremiums über
deren politische Notwendigkeit. Zudem verbot er ausdrücklich, den Ministern
v°n gewissen Punkten der Vorschläge des^Generalstabschefs Kenntnis zu ge-
ben. Danach ist es ganz natürlich, daß Kalnoky sich im gemeinsamen Mini-
sterrat am 5. Januar 1887 nur noch auf die Geldmittelbeschaffung für die
militärischen Maßnahmen beschränkte. Gar nicht natürlich, aber ebenso eine I
Tatsache ist, daß der gemeinsame Ministerraflur sich keine weitergehende

Befugnis beanspruchte, sonffemach incBe oben erö7terte,'lahgwierige'Fihahz- '
debafte vertiefte, um seine anschließende Entscheidung dann darauf zu be¬
schränken, den beanspruchten Betrag den Delegationen zur Bestätigung vorzu¬
legen.463

   Die Protokolle der Beratungen um die Wende der Jahre 1887/88 sind ein

462 Vgl. Anm. 187.
463 Vgl. Anm. 188 und 189.
|| || 166 Einleitung

Beleg dafür, daß der gemeinsame Ministerrat neben der Mitwirkung bei der
Beschaffung der nötigen Geldmittel auch zum Forum der Erklärung des Einver¬
ständnisses mit den Entscheidungen politischen Charakters werden konnte.
Äußerlich glich das Drehbuch vollauf dem ein Jahr früheren: Der Generalstabs¬
chef beantragte die militärischen Maßnahmen, die militärische Konferenz ent¬
schied über sie, und der gemeinsame Ministerrat stimmte der Deckung der
Kosten zu. Auch der Geschäftsgang glich dem vorjährigen, indem der Monarch
wiederum nur mit der Zustimmung des gemeinsamen Ministerrates zu den
Kosten rechnete und gewisse Informationen verheimlichen wollte - wenn nun
auch nicht vor dem gemeinsamen Ministerrat, sondern vor der österreichischen
Regierung, da es sich um eine eventuelle Mobilisierung der Landwehr handel¬
te.464 Diesen gemeinsamen Ministerrat unterscheidet aber wesentlich von dem
ein Jahr früheren, daß Kälnoky nicht nur auf der Genehmigung der sich
ergebenden Kosten bestand, sondern auch auf einer Entscheidung über das
Verhalten der Monarchie gegenüber den russischen militärischen Schritten und
über die Durchführung der von den militärischen Autoritäten beantragten
Gegenmaßnahmen.465 Es kam dann zwar nicht zu einer ausgesprochen politi¬
schen Entscheidung, aber zu einer eingehenden politischen Debatte, und an
ihrem Ende wurde die Notwendigkeit militärischer Gegenmaßnahmen bestätigt,
die Deckung der Unkosten genehmigt und beschlossen, den Kostenvoranschlag
der Militärführung den Delegationen vorzulegen. Die Erklärung des Einver¬
ständnisses mit der Entscheidung politischen Charakters war aber im gegebenen
Fall von mindestens ebensolcher Bedeutung wie die Genehmigung der finanziel¬
len Mittel.

   Die Protokolle der Beratungen an der Wende von 1892/93 erbringen den
Beweis, daß der gemeinsame Ministerrat in_Ausnahmefallen auch Entschei¬
dungsbefugnis hatte. Das die militärische Rückständigkeit der Monarchie do-
kumentiefe'nde Memorandum und den Armee-Entwicklungsplan fertigte der
Generalstabschef an, aber dafür war er ja letztlich zuständig.466 Seine Elaborate
behandelte am 16. November 1892 eine militärische Konferenz, ohne wirklich
zu entscheiden. In seinem Schlußwort legte der Monarch nur den weiteren
Geschäftsgang fest: Das Memorandum solle dem gemeinsamen Außenminister,
den beiden Ministerpräsidenten, dem gemeinsamen Finanzminister und den
beiden Landesverteidigungsministern zugeleitet und dann von der unter dem
Vorsitz Kälnokys abzuhaltenden Konferenz, also vom gemeinsamen Minister¬
rat, behandelt werden.467 Dabei reduzierte er dessen Befugnis wiederum nur auf
eine Stellungnahme zu den Kosten. Da aber die militäriscfie Konferenz nur über
Informationscharakter verfügte, lag offensichtlich auch die Entscheidung dar¬
über, ob die beantragte Entwicklung überhaupt notwendig sei, beim gemeinsa¬
men Ministerrat. Kälnoky legte jedenfalls den Auftrag für den gemeinsamen

 464 Vgl. Anm. 193.
 465 Vgl. Anm. 194.
 466 Vgl. Anm. 268.
 467 Vgl. Anm. 371.
|| || Einleitung          167

  Ministerrat so aus und eröffnete die Beratung am 2. Februar 1893 damit, daß
  die Körperschaft im Interesse der Sicherheit der Monarchie die beantragten
  Maßnahmen zur Behebung der in den Ausrüstung entstandenen Mängel bera¬
  ten solle. Die Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates äußerten sich dann
  auch in dieser Weise. Der erste Redner, der ungarische Ministerpräsident, hielt
  es ebenso wie der sich später äußernde österreichische Ministerpräsident in
  erster Linie für wichtig, sein Einverständnis sowohl mit der Situationsanalyse
  des Generalstabschefs als auch mit den beantragten Maßnahmen zum Ausdruck
  zu bringen. Die Vereinbarung, die bei der zweiten Beratung zu Protokoll ge¬
  nommen wurde, enthielt dann nur die Bestätigung der Finanzmittel und deren
  jährliche Raten,468 doch auch so war es offensichtlich geworden, daß der gemein¬
  same Ministerrat, indem er die Armee dem Niveau der europäischen Gro߬
  mächte näher bringen wollte, eine in den Begriffsbereich der „kollektiven und
  gemeinsamen Verteidigung" gehörende Entscheidung politischen Charakters
  traf.

     Diese Beispiele belegen, daß der gemeinsame Ministerrat, wenn er auch seine
  Rolle aus der Zeit unmittelbar nach dem Ausgleich nicht zurückgewinnen
  konnte, in der Entscheidungsstruktur der Monarchie eine bedeutendere Stellung
  bekleidete als im Jahrzehnt zuvor. Das wird kaum an 'einer Änderung der
_Reichsgesinnung der führenden Nationen gelegen haben. TÖie Österreicher leg-
  ten nach wie vor ein gleichgültiges Verhalten zu den großen Fragen der Außen¬
  politik an den Tag und zeigten allein dann gewisse Aktivitäten, wenn - wie dies
 bei den staatsrechtlichen Fragen zu sehen war - vom Schutz der" scheinbaren
 Einheit des Reiches die Rede war. In den Ungarn waren Neigung und Bestre¬
 bungen zurJVIagyarisierung der Reichsaußenpolitik weiter lebendig, werinsich
 auch seit Beginrider 90er Jahre schon Tendenzen zur Trennung von Reichs- und
JJSgarisghem Interesse zeigten. Der ungarische Einfluß im Sinne einer Äuswei-''"
 tung der Rolle der gemeinsamen Institutionen und damit auch des gemeinsamen
 Ministerrates wird daher wohl kaum stärker gewesen sein als in den dem
 Ausgleich folgenden Jahre. Daß es'dennoch zu einer Ausweitung der Rolle kam,
 ist vermutlich in erster Linie auf persönliche Ursachen zurückzuführen. Dabei
 ist gar nicht vor allem an Kalman Tisza und die ihm folgenden ungarischen
 Ministerpräsidenten, an ihre Aktivitäten in den gemeinsamen Angelegenheiten
 zu denken, obwohl Kaiman Tisza in dieser Hinsicht eine bestimmende Rolle
 spielte, sondern an die persönliche Einstellung des gemeinsamen Außenmini¬
 sters GustavjCälnoky. Als nach dem Tode Heinrich Haymerles erstmals davon
 die Rede war, daß er, der damalige Petersburger Botschafter, den Posten des
 gemeinsamen Außenministers übernehmen soll, brachte er in einem langen Brief
 seine Einwände vor, unter anderem, daß ein Berufsdiplomat zur Bekleidung
 dieses Postens keinesfalls geeignet sei. Der gemeinsame Außenminister müsse
 eine Persönlichkeit sein, die sich wenigstens der Unterstützung.des einen der
 beiden Parlamente erfreue und auf die RegierungenuHdTärteien einen-'gesetz¬
lich wohl nichtgaranfrerten, aber immerhin bestimmenden - Einfluß auszuüben

468 Vgl. Anm. 273.
|| || 168 Einleitung

fähig wäre.469 Auch ohne daß er dies direkt äußerte, war es klar, daß er an einen
solchen Einfluß dachte, über den Andrässy verfügt hatte. Als er dann trotz
seiner Vorbehalte den ehrenvollen, aber lästigen Auftrag annehmen mußte, war
ihm klar, derartige Reichskanzlerallüren wie Andrässy nicht annehmen zu
können. Deshalb mußte er unter anderem jenem Forum, in dem sich die
Reichsbestrebungen der führenden Nationen, namentlich der Ungarn artiku¬
lierten, also dem gemeinsamen Ministerrat, eine größere Rolle als bisher sichern.
Und es ergab sich ganz von selbst, daß sich seine Neigungen, die der Beurteilung
seines Amtes als gemeinsamer Außenminister entsprangen, in den kritischen
Perioden noch nachdrücklicher zeigten.

                   Die Beratung der Angelegenheiten und die Durchsetzung der Interessen

   Der gemeinsame Ministerrat hatte nicht nur zu den grundlegenden Fragen
der Souveränität Stellung zu nehmen, sondern sich auch mit den alltäglichen
und fortlaufenden Angelegenheiten sowie den gelegentlichen Teilproblemen der
„kollektiven und gemeinsamen Verteidigung" zu befassen - und besonders mit
diesen. Seine Tätigkeit bestand zum überwiegenden Teil aus der Erörterung des
Budgets der gemeinsamen Angelegenheiten, der Vorbereitung der mit der ge¬
meinsamen Verteidigung verbundenen Gesetze, der Abstimmung der Gesichts¬
punkte von Außenhandelsabkommen und der Klärung staatsrechtlicher Fra¬
gen. Diese Aufgaben waren zwar nicht so bedeutungsvoll wie etwa die Fragen
von Krieg und Frieden, doch mußten sie im Interesse eines funktionierenden
Staatsmechanismus erledigt werden, wenn es nicht zu schweren Funktionsstö¬
rungen kommen sollte. Für derartige Angelegenheiten hatten sich im gemeinsa¬
men Ministerrat schon gewisse allgemeine Formeln herausgebildet.

   Der Ministerrat, die Beratung der Regierungsmitglieder, hatte in den verfas¬
sungsmäßig parlamentarischen Systemen die Aufgabe, sämtliche Angelegenhei¬
ten der Vollzugsgewalt zu erledigen. Wie dies die Regierungsgeschichte beweist,
hatte jede Regierung in der Sachbearbeitung ihre eigene, recht breite Skala
entwickelt. So nahm der ungarische Ministerrat den Antrag des Vertreters
irgendeines Fachministeriums zur Kenntnis, stimmte eventuell zu, beauftragte
einzelne Minister, ein Fachgutachten vorzulegen, ermächtigte den Ministerprä¬
sidenten, von Fall zu Fall nach eigenem Ermessen zu entscheiden, erklärte sich
zur Sachentscheidung nicht in der Lage, einigte sich über eine Angelegenheit,
eventuell auch einstimmig, und traf schließlich in den meisten Fällen eine gültige
Entscheidung. Im Vergleich zur Praxis des ungarischen oder eines anderen
Ministerrates scheinen die Formeln des gemeinsamen Ministerrates sehr ärmlich
zu sein. Zurkenntnisnahme, Beauftragung, Zustimmung und Ermächtigung
fehlen völlig, es kommen nur Entscheidungen (oder die Erklärung der Beschlu߬
unfähigkeit) vor, aber auch sie in begrenzter Anzahl und auf gewisse Fälle
bezogen, hauptsächlich auf den Haushaltsplan und auf das Verfahren. In ande-

469 Kälnoky an Källay v. 14. 10. 1881, HHStA., PA. I, Karton 471.
|| || Einleitung  169

  ren Fällen besprach der gemeinsame Ministerrat sehr häufig nur die Angelegen¬
  heit, ohne auf deren endgültige Erledigung bedacht zu sein.

     Daß die Formeln der Sachbearbeitung des gemeinsamen Ministerrates arm¬
 seliger als üblich waren und die Erledigung der Angelegenheiten nicht immer
 in ihm erfolgte, resultierte aus der spezifischen Rechtsstellung dieser Körper¬
 schaft. Der gemeinsame Ministerrat galt im staatsrechtlichen Sinn als gemeinsa-
_!BS ;Regierung und war dies nach seiner Funktion eigentlich auch,''von den
 übrigen Regierungen unterschied er sich aber doch. Letztere verfügten über
 sämtliche Berechtigungen zur Vollzugsgewalt und kannten auf der Ebene der
 Exekutive keinerlei Teilung der Macht. Über diese volle Souveränität in inner-
 politisdien Angelegenheiten verfügten auch die damalige österreichische und
 ungarische Regierung. (Diese Souveränität war auch insofern vom Gesetz ga¬
 rantiert, als es dem gemeinsamen Ministerium ausdrücklich verboten war, sich
 in die Angelegenheiten der beiden Regierungen einzumischen.470 Daß sich dies
 auch in der Praxis so verhielt, geht unter anderem aus den Äußerungen Kälno-
 kys hervor, in denen der gemeinsame Außenminister beanstandete, daß die
 beiden Regierungen seine Meinung nicht berücksichtigen.471) Demgegenüber
 war der gemeinsame Ministerrat nicht einmal in seinem eigenen Zuständigkeits¬
 bereich, der „kollektiven und gemeinsamen Verteidigung", völlig souverän, weil
 er in der Außenpolitik den im Gesetz verankerten Einfluß der beiden Regierun¬
 gen zur Kenntnis nehmen und im Bereich des Kriegswesens damit rechnen /

hmußte, daß er seine Konzeptionen, sofern es sich um den Personalstand oder

 Finanzmittel handelte, nur im Einvernehmen mit den beiden Regierungen und
 unter ihrer Mitwirkung durchsetzen konnte. Aus diesem System der Aufteilung
 der Macht auf drei Pole folgte, daß der gemeinsame Ministerrat anders als die
 üblichen Ministerräte, abgesehen von den befristeten Angelegenheiten wie vor

 allem der Vorbereitung des Haushaltsplans, nicht entscheidungspflichtig und
 auch nicht gezwungen war, die ihm vorgelegten Angelegenheiten mit irgendei¬
 nem Beschluß abzuschließen, weil die endgültige Erledigung einer Angelegen¬
heit auch durch unmittelbare Verhandlungen zwischen der österreichischen und
der ungarischen Regierung sowie zwischen den beiden Regierungen und dem
gemeinsamen Ministerrat erfolgen konnte.

    MiklösKomjälhy schloß vermutlich aus der Häufigkeit des bloßen Gedanken-
austauschs ohne Entscheidung darauf, daß der gemeinsame Ministerrat kaum
mehr war als das höchste Beratüngsorgan dier Krone.4*2 fieser Eindruck^kähn
sich auch dadurch noch'verstärken, daß der Monarch, sofern er am gemeinsa¬
men Ministerrat teilnahm, häufig Wendungen verwendete, daß er etwas (z. B.
eine Erklärung) zur Kenntnis nehme, einen Antrag annehme, etwas entscheide
oder beschließe. Die allerhöchste Kenntnisnahme, Zustimmung oder Entschlie-
ßung'TVären alles Formeln aus der Zeit des Absolutismus, als der Ministerrat

470 Magyar Törvenytär 1836-1868 337.

471 Abschrift eines Privatschreibens an den k. k. Ministerpräsidenten Grafen Taaffe v. 15. 10. 1893,
     HHStA., PA. I, Karton 469.

472 Vgl. Anm. 443.
|| ||  170 Einleitung

tatsächlich nicht mehr war als das höchste Ratgebergremium der Krone, das als
solches über keinerlei Entscheidungsbefugnis verfügte. Andererseits bediente
sich der Monarch nur beschränkt und in ganz bestimmten Fällen dieser For¬
meln: er gab seine Zustimmung, wenn in der betreffenden Frage bereits ein
Konsens zustande gekommen war, und erhob etwas nur dann zum Beschluß,
wenn sämtliche Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates damit einverstanden
waren. Der Herrscher hörte also seine Minister nicht nur an und entschied dann
selbst, sondern er brachte unter dem Mantel der aus der Zeit des Absolutismus
adaptierten Terminologie den kollektiven Willen des gemeinsamen Ministerra¬
tes zum Ausdruck. Und das Konsensprinzip kam auch dann zur Geltung, wenn
es zur endgültigen Erledigung einer Angelegenheit außerhalb des gemeinsamen
Ministerrates kam.

   Die unbedingte Einstimmigkeit im Entscheidungsverfahren des gemeinsamen
Ministerrates war sein Spezifikum, das ihn von den anderen Gremien unter¬
schied. In der üblichen Ministerratspraxis gab es nämlich neben den einstimmi¬
gen auch die Mehrheitsentscheidungen, das Kriterium der Gültigkeit einer
Entscheidung war nicht die Zustimmung sämtlicher Mitglieder. Bei Mehrheits¬
entscheidungen von Einparteien- oder sonstigen Regierungen mit absoluter
Mehrheit nahm der die Entscheidung nicht mittragende Minister diese entweder
zur Kenntnis oder er schied freiwillig oder auf Aufforderung des Ministerpräsi¬
denten aus der Regierung aus. Somit stand auch hinter der Mehrheitsentschei¬
dung früher oder später eine einheitliche Regierung. Für den gemeinsamen
Ministerrat war dieser Weg nicht gangbar. Meinungsverschiedenheiten traten
freilich auch bei den gemeinsamen Angelegenheiten zutage, und es kam auch
vor, daß sich die Demissionsabsicht artikulierte. Kälnoky ersuchte 1884 wegen
der russenfeindlichen Antwortadresse des ungarischen Parlaments um seine
Enthebung473 und trat wegen seines Konfliktes mit dem ungarischen Minister¬
präsidenten auch zurück,474 Kalman Tisza drohte 1889 wegen der Bezeichnung
der gemeinsamen Armee mit seinem Rücktritt,475 und auch Taaffe stellte diesen
aus demselben Grunde in Aussicht, noch dazu gerade im gemeinsamen Minister¬
rat.476 Aber im gemeinsamen Ministerrat eine Mehrheitsentscheidung zu treffen
und nachher die Einstimmigkeit durch einen Personenwechsel wiederherzustel¬
len, war unmöglich und unzweckmäßig zugleich; unmöglich, weil über die
Ressorts der gemeinsamen Minister zwar allein der Monarch verfügte, aber
hinsichtlich der beiden Regierungen auch er an die Parlamentsregeln gebunden
war und einen über die Parlamentsmehrheit verfügenden Ministerpräsidenten
nicht einfach seines Amtes entheben konnte, unzweckmäßig, weil ein eventueller
Personenwechsel nichts gelöst hätte und der neue Minister ebenso der Repräsen¬
tant der Interessen der Gesamtmonarchie oder der österreichischen oder ungari¬
schen Interessen gewesen wäre wie sein freiwillig zurückgetretener oder seines

473 Kälnoky an Kaiser Franz Joseph v. 13. 10. 1884, HHStA., PA. I, Karton 471.
 74 Engel-Jänosi, Graf Kälnokys Rücktritt als Außenminister 246-255.
475 Vgl. Anm. 384.
476 Vgl. Anm. 391.
|| || Einleitung              171

 Amtes enthobener Vorgänger. Der gemeinsame Ministerrat glich in dieser
 Beziehung dem Parlament eines Bundesstaates, in dem die Mandätsträger nicht
 Politiker mit unterschiedlichen Ansichten waren, sondern die den Bund bilden¬
 den Staaten selbst, die als solche'durch nichts anderes ersetzt werden konnten.
 Mit der Eventualität aber, daß der betreffende Staat samt seinem Mandat aus

 de0. BHndesstaat austreten könnte, wollte der gemeinsame Ministerrat ebenso¬
 wenig rechnen wie im allgemeinen ein Bundesparlament. Denn die Repräsentan-
 ten der österreichischen und ungarischen Nationalinteressen fühlten 'sich poli-' :
tisch an die Monarchie gebunden, und die Repräsentanten der übernationalen ;
Interessen fanden in der Existenz des multinationalen Staates den Sinn ihres 1
Daseins. Diese drei bei weitem nicht in allem harmonierenden Interessengrup- 
pen besaßen soviel politische Einsicht, diese von niemandem gewünschte Mög¬
lichkeit nicht durch gegenseitige Majorisierung im gemeinsamen Ministerrat zu
riskieren.

    Die Praxis der einstimmigen Entscheidung im gemeinsamen Ministerrat bein¬
haltete theoretisch auch, daß schließlich doch kein Konsens zustandekam und
eine Angelegenheit nicht abgeschlossen wurde, unerledigt blieb. Aus dem Geset¬
zesantrag über die Kriegsleistungen wurde^ niemals ein Gesetz, weil sich die
österreichische bzw. die ungarische Regieruhg in der anscheinend unbedeuten¬
den Teilfrage der Entschädigungskommission festgelegt hatten und keine der
Parteien nachgeben konnte oder wollte.477 Ähnlich erging es der Novelie des
Pferdestellungsgesetzes, deren Entwurf an der Unüberbrückbarkeit der staats¬
rechtlichen Differenzen über die Feststellung des Pferdebestandes scheiterte.478
Die militärärztliche Akademie konnte deshalb nicht wieder errichtet werden,
weil die ungarische Regierung nicht von ihrer Notwendigkeit überzeugt werden
konnte.479 Der Zolltarif vom Jahre 1883 aber wurde vorübergehend von der
Tagesordnung genommen, weil die österreichische Regierung nicht bereit war,
den Reichsrat zu einer außerordentlichen Sitzung einzuberufen.480 Wenn es auch
nicht gelang, die gegensätzlichen Meinungen zu überbrücken, konnte in einem
Teil dieser Fälle doch irgendeine Lösung gefunden werden. Das Gesetz über die
Kriegsleistungen wurde bekanntlich durch einen Verordnungsentwurf ersetzt,
und die Mängel des Pferdestellungsgesetzes wurden durch eine Rationalisierung
des Pferdeassentsystems behoben. Infolge des politisch notwendigen Einstim¬
migkeitsprinzips lauerte in der Tätigkeit des gemeinsamen Ministerrates ständig
das unzulässige Gespenst der Beschlußunfähigkeit.

   Die Beschlußunfähigkeit blieb "denndclTerhe Ausnahme, die Einstimmigkeit
als Vorbedingung der Entscheidung kam'im überwiegenden Teil der Angelegen¬
heiten doch zustande. Die Gleichheit der Ansichten war aber nicht von vorn¬
herein gegeben, und es kam wirklich selten vor, daß die Vertreter aller drei
Machtpole in einer Frage völlig gleicher Meinung gewesen wären, ja es mangelte

477 Vgl. Anm. 169-173.
478 Vgl. Anm. 162.
479 Vgl. Anm. 179.
480 Vgl. Anm. 321.
|| ||  172 Einleitung

 auch häufig am Konsens zwischen den gemeinsamen Ministern. Der gemeinsa¬
 me Außenminister hielt den Finanzvoranschlag des gemeinsamen Kriegsmini¬
 sters für zu hoch,481 der gemeinsame Finanzminister war bei der Inartikulierung
 des Grenzabkommens mit Rumänien anderer Ansicht als der gemeinsame
 Außenminister,482 und in der Frage der Bezeichnung der gemeinsamen Armee
 bestanden Differenzen zwischen dem gemeinsamen Kriegsminister und dem
 gemeinsamen Finanzminister.483 Die markanteste Trennungslinie verlief natür¬
 lich zwischen den gemeinsamen Ministern und den beiden Regierungen, aber
 sehr oft gerieten auch die Mitglieder der österreichischen und der ungarischen
 Regierung aneinander. Wie konnte unter solchen Umständen dennoch eine
 Übereinstimmung der Ansichten als Vorbedingung einer einstimmigen Ent¬
 scheidung zustande kommen?

    Eine theoretisch mögliche Überbrückung der Ansichten war der Kompro-
miß, die auf gegenseitigen Zugeständnissen beruhende Vereinbarung. Dies wür¬
de die in der Praxis des gemeinsamen Ministerrates häufigste Form. Beim
gemeinsamen Haushaltsplan, zumal beim Budget des gemeinsamen Kriegsres¬
sorts, wichen in der ersten Runde die Meinung des gemeinsamen Kriegsmini¬
sters und die der beiden Regierungen erst einmal voneinander ab, aber letztlich
kam immer eine Übereinkunft zustande, im allgemeinen, indem sowohl der
gemeinsame Kriegsminister als auch die beiden Landesregierungen nachgaben.
Bei der Verlängerung des Wehrgesetzes vom Jahre 1889 plante der gemeinsame
Kriegsminister ursprünglich eine unbefristete (also nicht mehr auf 10 Jahre
beschränkte) Festsetzung des Rekrutenkontingents, nahm aber auf Wunsch der
ungarischen Regierung davon Abstand und zeigte sich auch zu anderen Modifi¬
zierungen bereit.484 Über den mit Rußland zu schließenden Handelsvertrag kam
1894 eine Vereinbarung so zustande, daß die ungarische Regierung der von der
österreichischen Regierung beantragten Fixierung der Getreidezölle zustimmte
und die österreichische Regierung dafür den ungarischen Wunsch nach unver¬
ändertem Roggenzoll akzeptierte.485

   Die Möglichkeit zum Kompromiß war freilich nicht nur von der Vereinba¬
rungsbereitschaft der Partner, sondern auch von der Natur der Angelegenheiten
abhängig. Wenn man über das Wie einer Sache (gemeinsames Budget, Gesetz
usw.) entscheiden mußte, war die Möglichkeit einer Annäherung bzw. gegensei¬
tiger Zugeständnisse von vornherein gegeben. Ging es jedoch darum, ob etwas
sein sollte oder nicht, war ein Kompromiß ausgeschlossen. Die zur Entschei¬
dung erforderliche Einstimmigkeit konnte in solchen Fällen nur zustande kom¬
men, wenn eine Partei ihren Standpunkt aufgab und den der anderen Partei
übernahm. Das war die andere Möglichkeit zur Eliminierung entgegengesetzter
Anschauungen, die in der Praxis des gemeinsamen Ministerrates ebenfalls häu-

481 Vgl. Anm. 131.
482 Vgl. Anm. 371.
483 Vgl. Anm. 386 bzw. 388.
484 Vgl. Anm. 246.
485 Vgl. Anm. 348.
|| || Einleitung              173

 fig vorkam. Die ungarische Regierung wollte beispielsweise anfangs vom Land¬
 sturmgesetz nichts hören, dann stellte sie gewisse Bedingungen und schließlich
 akzeptierte sie es so, wie es sich die militärische Führung ursprünglich gedacht
 hatte.486 Die Änderung der Bezeichnung der gemeinsamen Armee war der
 österreichischen Regierung vom Beginn an unerwünscht, und auch der gemein-

 same Außenminister sympathisierte mit ihr nicht, letztlich stimmten sie aber
 dennoch dem Antrag der ungarischen Regierung zu.487 Die Neuregelung der
 Korrespondenzsprache zwischen den Organen der gemeinsamen Armee und
 den ungarischen Behörden stieß sowohl bei der österreichischen Regierung als
 auch beim Generalstabschef auf heftigen Widerstand, und endlich siegte doch
 der ungarische Standpunkt.488 Die österreichische Regierung verschloß sich
 ursprünglich dem Bau der militärischen Zwecken dienenden Eisenbahnlinie
 Stanislau-Woronienka, gab dann aber ihren Widerstand auf und folgte den
 Wünschen der militärischen Führung.489 Dies alles ging freilich nicht leicht vor
 sich, und der Preisgabe des Standpunktes bzw. der Akzeptierung der Meinung
 der anderen Partei gingen langwierige Auseinandersetzungen voraus.

    Der Preisgabe des Standpunktes lagen jeweils andere konkrete Motivierun¬
 gen zugrunde, aber im Spiegel der einzelnen Fälle zeichnen sich dennoch gewisse
allgemeine Tendenzen ab. Der ursprüngliche Standpunkt mußte aufgegeben
werden, wenn aus irgendeinem Grunde eine politische Zwangslage entstand und
dadurch eine echte Wahl im Grunde unmöglich geworden war. Dies ergab sich,
als die Bezeichnung der gemeinsamen Armee geändert werden sollte, weil die
Gefahr drohte, daß die Krone auf der einen Seite sämtlichen ungarischen j
Parteien auf der anderen gegenüberstand. Daß Kaiman Tisza diese Lage ab- '
sichtlich provoziert hatte, indem er seine Absicht in 5er Delegation vorher
öffentlich gemacht hatte, ist von anderem Aspekt aus sehr wohl beachtenswert.
Jedenfalls war eine Zwangslage entstanden, die nur eine Entscheidungsmöglich¬
keit zuließ. Ebenso mußte der ursprüngliche Standpunkt aufgegeben werden,
wenn eine Konstellation „zwei gegen eins" entstand, sich also eine Partei mit
ihrem Standpunkt gegenüber den beiden anderen isolierte. Zu dieser Konstella¬
tion kam es beim Landsturmgesetz, als die ungarische Regierung den gemeinsa¬
men Ministern und der österreichischen Regierung gegenüberstand, beim Streit
über die Korrespondenzsprache der gemeinsamen Armee, als sich der gemeinsa¬
me Außenminister und der gemeinsame Kriegsminister mit der ungarischen
Regierung auf die gleiche Plattform stellten gegen die österreichische Regierung,
und ebenso auch bei der Eisenbahnlinie Stanislau--Märamarossziget, als aber¬
mals die österreichische Regierung allein blieb. Die Formel „zwei gegen eins"
hatte freilich stark den Anschein, daß die allein gebliebene Partei majorisiert
wurde und sich dem Mehrheitsbeschluß unterwarf. Tatsächlich aber zog sie nur
die Konsequenz aus der entstandenen Situation und gab ihre Zustimmung

486 Vgl. Anm. 145-157.
487 Vgl. Anm. 384-392.
488 Vgl. Anm. 402-404.
489 Vgl. Anm. 311.
|| ||  174 Einleitung

selbst. Von einer Majorisierung, einer dauernden Überstimmung irgendeiner
 Partei konnte schon darum keine Rede sein, weil die Vertreter der drei Interes¬
sengruppen abwechselnd in die Isolation gerieten und sich die Fälle so im
allgemeinen ausglichen.

    Die letztere Feststellung bezieht sich auf Angelegenheiten militärischer Natur
nicht oder nur mit Vorbehalt. Obwohl in diesen Fällen im großen und ganzen
die beiden Regierungen der vom gemeinsamen Kriegsminister vertretenen mili¬
tärischen Führung gegenüberstanden, setzte sich zumeist der Wille der letzteren
durch. So verhielt es sich in der Angelegenheit des Militärbudgets, wo zwar die
Entscheidung stets auf der Grundlage eines Kompromisses erfolgte, sich aber
das Budget ständig erhöhte, und noch mehr im Falle der strategischen Eisenbah¬
nen, gegen welche die beiden Regierungen stets opponierten, aber dann schlie߬
lich doch zum Bau gezwungen wurden. Man könnte meinen, daß in dieser
Beziehung die Chancengleichheit der drei Interessen nicht zur Geltung kam,
sondern das der Gesamtmonarchie zweifelsfrei dominierte, und zwar deshalb,
weil die beiden Regierungen gewissen Attributen der Souveränität entsagt, sich
zur „kollektiven und gemeinsamen Verteidigung" entschlossen und dadurch die
Bedingungen für die Selbständigkeit und Priorität des Kriegswesens gleichsam
institutionell geschaffen hatten. Diese Erklärung wäre jedoch njcht vollständig.
Zur Zeit der auf dem Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht beruhenden Massen¬
armeen war die Verselbständigung des Kriegswesens ein allgemeines europäi¬
sches Phänomen, dem das „zivile" Regiment überallmachtlos gegenüberstand.
Der Finanzminister opponierte in Frankreich, in Deutschland, aber auch in
Rußland gegen die astronomischen Zahlen des Kriegsbudgets, dennoch wurden
der größte Teil der männlichen Bevölkerung eingezogen und ausgebildet und
ein beträchtlicher Anteil des Nationaleinkommens in Kriegsausrüstungen, Befe¬
stigungen und wirtschaftlich völlig überflüssige strategische Bahnen gesteckt.
Die Selbständigkeit und Priorität des Kriegswesens waren ein Erfordernis der
Zeit, und der militärische Sektor zwang seinen Willen überall der zivilen Gesell-
schaft auf. Infolgedessen kann die staatsrechtliche Einrichtung der Monarchie
nicht "als die Ursache der Priorität des Kriegswesens betrachfet werden, sondern
als ihre spezifische Erscheinungsform.

                                        Die Positionen und die Persönlichkeiten

   An den gemeinsamen Ministerkonferenzen nahmen bei den verschiedenen
Gelegenheiten verschiedene staatliche Würdenträger teil. Es kam vor, daß nur
die drei gemeinsamen Minister am Verhandlungstisch saßen, bei anderen Gele¬
genheiten waren außer ihnen auch die Ministerpräsidenten und andere Minister
der beiden Regierungen anwesend, bei wieder anderen ließ sich nur die eine
Regierung vertreten, oder es erschienen auch der Generalinspektor der Armee
und der Generalstabschef. Hinter den Teilnehmern im Ministerrang saß häufig
eine Anzahl von Fachreferenten. Wen betrachteten aber die Zeitgenossen und
wen kann der Forscher als Mitglieder des gemeinsamen Ministerrates betrach-
|| || Einleitung                                                                            175

  ten? Die zuletzt genannten, die Fachreferenten, keinesfalls. Diese wurden vom
  Protokollführer zumeist nicht einmal beim Namen genannt oder wenn doch,
  dann erhielten sie das Protokoll nicht zur Einsicht, obwohl man in dieser
  Hinsicht auch nicht immer konsequent war. Der Sektionschef im gemeinsamen
  Kriegsministerium Lambert, der an den meisten Budgetverhandlungen teilge¬
  nommen hat, erhielt das Protokoll gewöhnlich nicht zur Einsichtnahme, jenes
 der Beratung vom 23. September 1886 aber doch. In dieser Beziehung kann die
  Information des gleichen Protokolls maßgebend sein, wonach die Fachreferen¬
 ten, die sich für die Dauer des politischen Gedankenaustausches entfernt hatten,
 danach zurückgekehrt sind.490 Ihre Abwesenheit für die Dauer der politischen
 Debatte kann nur so verstanden werden, daß sie keine Mitglieder des gemeinsa¬
 men Ministerrates waren.

     Miklös Komjäthy schreibt, da der gemeinsame Ministerrat aus dem kaiserli¬
 chen Ministerrat heryorgegangen ist, gehörten in den Begriff des gemeinsamen
 Ministerrates' ursprünglich nur die gemeinsamen Minister, und die Teilnahme
 der Mitglieder der beiden Regierungen sei an irgendeine konkrete Angelegenheit
 gebunden gewesen.491 Dies belegt er mit den Protokollen der ersten Periode,
 welche „vollberechtigte" und „nicht vollberechtigte" Mitglieder derBeratungen
 in der Weise unterschieden, daß nur die ersteren das Protokoll mit Sichtvermerk

 versahen.492 piese Ansicht bekräftigt auch eine viel spätere Äußerung staats-
 rechtlicherNatur. Goluchowski erklärte 1895 im Zusammenhang mitder schon
 erwähnten Interpellation Ugrons, daß jene ministeriellen Besprechungen, an
 denen außer den gemeinsamen Ministern auch die beiden Ministerpräsidenten
 und andere Ressortminister teilnahmen, streng genommen kaum als gemeinsa¬
 mer Ministerrat bezeichnet werden könne.493 Die Praxis bestätigte und bekräf¬
 tigte diese restriktive Theorie nicht. Eva Somogyi zitiert einen Brief von Lajos
 Thallöczy, dem Sektionschef im gemeinsamen Finanzministerium, aus dem
 Jahre 1904, wonach die drei gemeinsamen Minister seines Wissens niemals zu
 einer gemeinsamen Beratung zusammengekpmmen sind.494 Und auch wenn
"cliese Feststellung^nicht ganz zutreffend ist, weil solche Beratungen doch vorge¬
 kommen sind - in der hier Behandelten Zeitspanne von zwölf Jahren beispiels-

weise zweima1495 - hatte er im wesentlichen recht: Am gemeinsamen Ministerrat
 nahmen im allgemeinen nicht nur die gemeinsamen Minister, sondern auch die
Vertreter der beiden Regierungen teil. Manche Momente weisen daraufhin, daß
sich wenn schon nicht die Theorie, so doch das Amtsverfahren und die Termino¬
logie der Praxis annäherten. Darin, daß die Protokölle auch durch die österrei¬
chischen uncTungarischen Minister signiert wurden, erblickt Miklös £omjäthy
eine rechtliche Approbation dessen, daß sie Mitglieder des gemeinsamen Mini-

490 GMR. V. 25. 9. 1886. RMRZ. 331.                                               „

491 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates 30-32               -
492 Ebd. 117, Anm. 107.                                               -'

Abschrift einer Note an Se. E. den Herrn kgl. ungj^inisterpräsidenten Freiherm von Bänffy in
Budapest v. 7. 9. 1895, HHStA., PA. I, Karton(36(EV

494 Somogyi, A kozös rriinisztertanäcs müködese. Mairffskript 2.

495 GMR. v. 4. 10. 1885, RMRZ. 327 - GMR. v. 11. 1. 1888, RMRZ. 349.
|| ||               176 Einleitung

             sterrates waren.496 In einem Vortrag aus dem Jahre 1877, der die Zirkulierung
             der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates enthält, kommt für die gemeinsa¬
             men Minister ebenso wie für die an der Beratung teilnehmenden Ministerpräsi¬
          ! denten und Minister der Ausdruck „Konferenzmitglied" vor, was schwerlich
             anders ausgelegt werden kann, als daß Andrässy, der Verfasser des Vortrags,
             eine Zweiteilung des gemeinsamen Ministerrates für sinnlos hielt.497 Eine solche
             Teilung gab es auch nicht. An der Gesamtverantwortung der gemeinsamen
             Minister waren - wie dies das Ausgleichsgesetz festlegte - durch ihre Einflu߬
             nahme auf die gemeinsamen Angelegenheiten auch die beiden Regierungen
             beteiligt. Diese Verantwortung konnten sie nur so übernehmen, daß sie bei den
             Entscheidungen als Partner gleichen Ranges fungierten. Die in der Ausgleichs¬
             epoche entstandene und auch später auftauchende damalige Auffassung, „voll¬
             berechtigte" und „nicht vollberechtigte" Mitglieder des gemeinsamen Minister¬
             rates zu unterscheiden und den Begriff des gemeinsamen Ministerrates auf die
             Beratung der gemeinsamen Minister zu beschränken, hatte wohl keine staats¬
   I rechtliche Basis. Der gemeinsame Ministerrat war und konnte aus staätsrechtli-
             cher Sicht nichts anderes sein als die Beratung der gemeinsamen Minister und
             der Ministerpräsidenten (eventuell anderer Mitglieder) der beiden Regierungen.

                Im gemeinsamen Ministerrat führte - sofern der Monarch nicht anwesend
             war - der gemeinsame Außenminister den Vorsitz. Die Ernennung in dieses Amt
             beruhte auf einer kaiserlichen Entscheidung: Indem der Herrscher jemanden
             zum Minister des kaiserlichen Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten
             ernannte, beauftragte er ihn gleichzeitig mit dem Vorsitz im gemeinsamen
             Ministerrat. Die Entscheidung des Monarchen war von jedem parlamentari¬
             schen Einfluß unabhängig, selbstverständlich aber nicht von den politischen
             Verhältnissen. 1866 wurde Beust Außenminister, weil seine Person Österreichs
             Ansprüche gegenüber Deutschland symbolisierte. 1871 wurde Andrässy er¬
             nannt, weil eine Frontbildung jegenüber Rußland als zeitgemäß erschien, und
             1881 Kälnoky, weil mit der zaristischen Großmacht ein Modus vivendi gefun-
             den ~werden müßte. Die politische Erwägüng Bezog'sich jedoch nur auf die
             Bekleidung des Postens eines Außenministers, die Wahrnehmung des Vorsitzes
             im gemeinsamen Ministerrat war dann eine einfache Folge der Ernennung zum
             Außenminister. Warum es deren Folge war, kann teils durch die Rechtskonti¬
             nuität, teils durch eine staatsrechtliche Überlegung erklärt werden. Wenn ein¬
             mal der gemeinsame Ministerrät Rechtsnachfolger des kaiserlichen Ministerra¬
             tes war - und das war er dann ist es selbstverständlich, daß das Amt des
             Vorsitzenden des einstigen kaiserlichen Ministerrates auf den Vorsitzenden des
             gemeinsamen Ministerrates überging. Und wenn die österreichische und die

v4\,.\ ungarische Regierung die mit der „kollektiven und gemeinsamen Verteidigung"
             verbundenen Berechtigungen einer änderen Körperschaft übertrugen, mußte in
v° o dieser Körperschaft selbstverständlich der erste Lenker der „kollektiven und

                496 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates 32.
                497 Au. Vortrag in betreff der Zirkulation der Ministerratsprotokolle v. 9. 1. 1877. Andrässy,

                     HHStA., PA. I, Karton 558.
|| || Einleitung                            177

   gemeinsamen Verteidigung", also der gemeinsame Außenminister den Vorsitz
   führen. Im Ausgleichsgesetz war nichtsdestoweniger vom Vorsitzenden des
   gemeinsamen Ministerrates (freilich auch vom gemeinsamen MImsterrat) keine
   Rede, vermutlich, weil die ungarischen Rechtsschöpfer damit jenen Fundamen-
. talgrundsatz nicht schwächen wollten, wonach „das gemeinsame Ministerium
·j neben den gemeinsamen'Ängefegenheiten die Angelegenheiten der Landesregie-
prung weder des einen noch des anderen Teils verwalten, auf sie keinen Einfluß
! nchmeh darf".498 Aber daß das Vorgehen des Monarchen als mit dem Geiste des
   Ausgleichsgesetzes im Einklang stehend galt, wurde ungarischerseits - zumin¬
   dest negativ - bestätigt: Über ein Vierteljahrhundert lang hat weder eine Regie¬
   rung noch die Opposition dagegen protestiert. Der Mangel einer positivrechtli¬
   chen Regelung rächte sich aber auch hier. Wie bereits erwähnt, stellte Gabor

 - ^gron ^95 im ungarischen Abgeordnetenhaus die Frage, welchen Inhalt die
   Bekänntgäbe habe, daß der gemeinsame AußenministergleichzeitijfzümVorsit-
   zenden des gemeinsamen Ministcrfates bestellt wurde, und ob sich dieser Auf¬
   trag nur auf die internen Beratungen der gemeinsamen Minister beziehe.499T)ie

1 Utigänscfie Regieruhg, die ihzwfschen auch zur Verneinüng des Bestehens einer
   „gemeinsamen Regierung" gelangt war, die sich wedeFauf die Rechtskontinui¬
   tät noch auf eine staatsrechtliche Überlegung berufen konnte, gab im Einver¬
   nehmen mit dem gemeinsamen Außenminister, der einer Zuspitzung der staats¬
   rechtlichen Auseinandersetzung aus dem Wege gehen wollte, eine recht kindi-
  sche Antwort. Ohne den zweiten Teil der Frage Gabor Ugrons überTTäüpt zu
  befuhren, erklärte sie, daß der gemeinsame Außenminister den Vorsitz führe,

  weil er im Rang den beiden Ministerpräsidenten übergeordnet sen Dezso Bänf-
_Jy, der d^e"Ängelegenheit offensichtlich bagatellisieren "wollte, ging noch einen

  Schritt weiter, indem er in seinem Antwortschreiben an Goluchowski auch
  erwähnte, der Monarch hätte eigentlich auch den rangältesten Ministerpräsi-
  denten beauftragen können, habe das aber auf Ansuchen des gemeinsamen

  Außenministers gestrichen.500 Goluchowskis Argumentation, daß diese Auffas-
  sungjalsch sei und zu überflüssigen Diskussionen führen könnte, war vermut¬
  lich nchtig. Als sich um vieles später bloß die Frage stellte, ob der gemeinsame
  Finanzminister für eine bestimmte Gelegenheit den Vorsitz übernehmen könnte,
  verwahrte sich der damalige ungarische Ministerpräsident sofort dagegen.501
  Jedenfalls kann behauptet werden, daß die aur die Ugron-Interpellatiön erteilte
  Antwort zur staatsrechtlichen Klärung des VorsitzesTm gemeinsamen Minister¬
  rat nicht viel beigetragen hat.

     Im Antwortentwurf auf die Interpellation Ugrons war auch davon die Rede,
  warum es zweckmäßig sei, daß gerade der gemeinsame Außenminister den

498 Magyar Törvenytär 1836-1868 337.

499 Entwurf einer von Herrn kgl. ung. Ministerpräsidenten Baron Bänffy dem Abgeordneten

^ 1 ' TT    ' ` ' ' "on Sr. Exzellenz Baron Bänffy mitgeteilt.), HHSxA.,

500 Ebd.
501 Tagebuch von Istvän Buriän. Eintragung vom 3. Oktober 1913. Reformätus Egyetemes Konvent

     Leveltära (Archiv des Reformierten Landeskonventes). Budapest. Nachlaß Istvän Buriän.
|| || 178 Einleitung

Vorsitz im gemeinsamen Ministerrat führe. Bänffy schrieb, daß der gemeinsame
Außenminister kraft seines Amtes von den speziellen Interessen der beiden
Staaten der Monarchie nicht beeinflußt werden könne und im Laufe der Ver¬
handlungen daher in der Lage sei, einen neutralen Standpunkt einzunehmen.502
Die Gründe dieser Auffassung sind eingängig. Wenn einmal die ungarische
Regierung das Bestehen einer gemeinsamen Regierung bezweifelte, folgte dar¬
aus logischerweise, daß der gemeinsame Ministerrat auf die Beratungen zwi¬
schen den beiden Regierungen beschränkt werden mußte. Goluchowski war
damit offensichtlich nicht einverstanden, da er sehr gut wußte, daß sich der
gemeinsame Ministerrat nicht nur mit den Beziehungen zwischen den beiden
Staatsgebieten befaßte, er erhob jedoch gegen diesen Punkt des Entwurfes
keinen Einspruch; anders sein Amtsvorgänger Kälnoky, der noch vor seiner
Ernennung niederschrieb, obwohl der gemeinsame Außenminister kein Partei¬
mann sein müsse, könne er doch nicht parteilos sein.503 Diese Bemerkung bezog
sich natürlich in erster Linie darauf, daß der gemeinsame Außenminister nicht
ohne parlamentarische Unterstützung bleiben konnte, veranschaulichte aber
zugleich auch, daß die Neutralität nicht das wichtigste Attribut des gemeinsa¬
men Außenministers war. Und im Vorsitz des gemeinsamen Außenministers
war dieser vermittelnde Zug tatsächlich enthalten, ohne daß er diesen je völlig
ausschöpfte. Seine Vermittlung zeigte sich nicht so sehr in den Auseinanderset¬
zungen zwischen den beiden Regierungen als beim Ressortbudget des gemeinsa¬
men Kriegswesens, also bei den Gegensätzen zwischen dem gemeinsamen
Kriegsminister und den beiden Regierungen. Kälnoky stellte sich als Vorsitzen¬
der des gemeinsamen Ministerrates nicht immer eindeutig auf die Seite des
gemeinsamen Kriegsministers, sondern billigte sehr oft die Mäßigungsbestre¬
bungen der beiden Regierungen. Bei einer Gelegenheit formulierte er die An¬
sicht, es sei die Aufgabe des gemeinsamen Ministerrates, den Mittelweg zwi¬
schen dem militärischen Bedarf und den finanziellen Möglichkeiten zu finden.504
Es kam aber auch vor, daß der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates in
der auf der Tagesordnung befindlichen Diskussionsfrage nicht neutral blieb und
vermittelte, sondern sich klar auf die Seite einer Partei stellte und damit die
Streitfrage auch entschied. So geschah es in der Frage der Bezeichnung der
gemeinsamen Armee, als er sich gegen die österreichische Regierung den Stand¬
punkt der ungarischen Regierung zu eigen machte,505 und ebenso auch bei der
Debatte über die Erneuerung des russischen Handelsvertrages, als er die öster¬
reichische gegen die ungarische Regierung unterstützte.506 Und schließlich kam
es sehr häufig vor, daß der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates nicht
vermittelte, aber sich auch keinem Standpunkt anschloß, sondern - wie es Eva
Somogyi treffend formulierte - „das Reichsinteresse vertrat, die Interessen der

502 Vgl. Anm. 493.
503 Kälnoky an Källay v. 14. 10. 1881, HHSxA., PA. I, Karton 471.
504 Vgl. Anm. 134.
505 Vgl. Anm. 385.
506 Vgl. Anm. 348.
|| || Einleitung                      179

 über den Ländern und Ressorts stehenden Gesamtmonarchie".507 Als er sich in
 den Betratungen vom Dezember 1887 und Januar 1888 von den Präventiv¬
 kriegskonzeptionen des Generalstabs und der ungarischen Regierung distan¬
 zierte, gab er zweifellos diesen Gesichtspunkten der Gesamtmonarchie Aus¬
 druck.508

    Der Begriff Gesichtspunkt der Gesamtmonarchie bedarf in diesem Fall einer
 weiteren Erläuterung. Denn letztlich dachte auch der Chef des Generalstabs in
 den Kategorien der Gesamtmonarchie, wenn er auf einem Präventivschlag
 gegen den zu erwartenden russischen Angriff bestand, und sogar die antirussi¬
 sche Strategie der ungarischen Regierung war eine mögliche Variante der Au¬
 ßenpolitik der Monarchie. Deshalb ist zu präzisieren, daß der gemeinsame
 Außenminister und Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrats hier und im
 allgemeinen den Gesichtspunkt der Monarchie in einer Weise vertrat, daß er
 gegenüber dem Militär den politischen Komponenten größere Bedeutung gab,
 während er gegenüber der ungarischen Regierung eher die für die Monarchie
 keineswegs günstigen Kräfteverhältnisse berücksichtigte. Daß aber tatsächlich
 Gesichtspunkte der Gesamtmonarchie aufeinanderstießen, kann daran ermes¬
 sen werden, daß sich der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates - wie dies
 auch die betreffenden Protokolle beweisen - später selbst dem Standpunkt
 seiner Diskussionspartner näherte.509 Amtsgeschichtlich ist es übrigens nicht
unwesentlich, daß der Vorsitzende des gemeinsamen Ministerrates auch in
seiner zweiten Eigenschaft als Inhaber des Portefeuilles für auswärtige Angele¬
genheiten an den Beratungen teilnahm. In einer regelrechten Regierung übten
die Inhaber der einzelnen Ressorts ihre Tätigkeit in einer korporativen Subordi¬
nation aus. Inwieweit dies im Falle des gemeinsamen Außenministers und der
Außenpolitik zutraf oder nicht, wurde bereits bei den Fragen von Kompetenz
und Entscheidungsmechanismus eingehend erörtert. Zu ergänzen ist hier nur
noch, daß es in den letzten Amtsjahren Kälnokys üblich war, daß der gemeinsa¬
me Außenminister vor der Behandlung des Haushaltsplanes der gemeinsamen
Angelegenheiten dem gemeinsamen Ministerrat eingehende außenpolitische
Informationen gab.510 Zur Zeit Goluchowskis wurde es auf Initiative Kälnokys
zur Regel, daß er anläßlich der Erörterung des Budgets der gemeinsamen
auswärtigen Angelegenheiten eingehend über die Außenpolitik orientierte.5"

   Uber die Probleme der Streitkräfte erfolgte - abgesehen von der Behandlung

des Armee-Entwicklungsprogramms von 1893 - keine derartige Orientierung im
gemeinsamen Ministerrat.512 Die Körperschaft reklamierte dies auch nicht, weil
ja Kommando, Leitung und innere Organisation der Streitkräfte in die Kompe¬
tenz des Monarchen gehörten. Dessenungeachtet beschäftigte sich der gemein¬
same Ministerrat unvergleichlich mehr mit den Fragen der Streitkräfte als mit

507 Somogyi, Einleitung XVI.
508 Vgl. Anm. 125 und 126.
509 Vgl. Anm. 136.
510 Vgl. Anm. 139.

511 Somogyi, Einleitung XXXII.
512 Vgl. Anm. 273.
|| || 180 Einleitung

der Außenpolitik. Die Darstellung der Probleme der Streitkräfte im gemeinsa¬
men Ministerrat war Aufgabe des gemeinsamen Kriegsministers. Er mußte die
Zustimmung der Körperschaft zum Jahresbudget und zu den Spezialkrediten
erreichen und auch die die gemeinsame Verteidigung regelnden Gesetzentwürfe
bestätigen lassen - undankbare Aufgaben in einer überwiegend zivilen Körper¬
schaft, denn selbst wenn sich die Vorstellungen der Militärführung durchsetz¬
ten, mußte der gemeinsame Kriegsminister oft persönliche Niederlagen einstek-
ken. Bylandt-Rheidt bekam nur bei den Spezialkrediten Schwierigkeiten, Bauer
aber lange Zeit hindurch auch bei der Durchsetzung des Jahresbudgets. Daß die
beiden hohen Militärs sich bei der Erörterung außenpolitischer Fragen zurück¬
hielten - nur Bauer äußerte einmal eine von Kälnoky abweichende Meinung513
- läßt sich zum Teil mit dieser isolierten Lage erklären. Vor allem aber waren
die gemeinsamen Kriegsminister deshalb zurückhaltend, weil sie sich in politi¬
schen Fragen nicht für zuständig hielten. Der gemeinsame Kriegsminister kam
in der Hierarchie der Armee nach dem Generalinspektor der Armee und dem
Generalstabschef bestenfalls an dritter Stelle, und da ihn diese Hierarchie
gewissermaßen zu einer Etappenstellung verurteilte, verhielt er sich auch im
gemeinsamen Ministerrat im Bewußtsein dieser Position. Ganz anders der Chef
des Generalstabs Beck, der zwar am gemeinsamen Ministerrat nur gelegentlich
teilnahm, wenn er aber zugegen war, das Wort nicht wieder abgab: bei Behand¬
lung des Landsturmgesetzes ebenso wie in den einander folgenden Besprechun¬
gen über die strategischen Eisenbahnen, bei der Durchsetzung des großen
Armee-Entwicklungsprogramms ebenso wie anläßlich der Entscheidung über die
Korrespondenzsprache der Armee. Selbst wenn er nicht anwesend war, lag sein
Schatten über dem Gremium. Kälnoky debattierte am 18. Dezember 1887 auch
in seiner Abwesenheit mit ihm, als er sich mit den Konzeptionen eines Präven¬
tivkrieges der militärischen Kreise nicht einverstanden erklärte,514 und er näher¬
te sich seiner Auffassung, als er in der Beratung von 29. April 1889 die russischen
Truppenverlegungen als politisch motiviert bezeichnete.515 - Neben dem ge¬
meinsamen Kriegsminister nahm der Chef der Marinesektion im Kriegsministe¬
rium regelmäßig am gemeinsamen Ministerrat teil, doch war er zumeist nur
physisch anwesend.

    Der gemeinsame Finanzminister wurde wie die beiden anderen gemeinsamen
Minister vom Monarchen ernannt. Auch bei seiner Ernennung kam kein Parla¬
mentseinfluß zur Geltung, wohl aber ein gewisses Gewohnheitsrecht. Istvän
Buriän schrieb nach einer Dienstzeit von neun Jahren 1912 verbittert in sein
Tagebuch, er habe abdanken müssen, weil nicht zwei gemeinsame Minister
Ungarn sein dürften.516 Das traf aber wohl auch umgekehrt zu: Von den drei
gemeinsamen Ministern mußte einer immer Ungar sein. Nur damit ist zu

513 Vgl. Anm. 133.
514 Vgl. Anm. 125.
515 Vgl. Anm. 128.
516 Tagebuch von Istvän Buriän. Eintragung vom 15. Februar 1912. Archiv des Reformierten Landes¬

     konventes. Budapest. Nachlaß Istvan Buriän.
|| || Einleitung                            181

 erklären, daß in dem halben Jahrhundert Dualismus das gemeinsame Finanzwe¬
 sen 30 Jahre lang von ungarischen Politikern gelenkt wurde. Die Befugnis dieses
 Ressorts war recht eng bemessen: die Verwaltung der aus der Quote einfließen¬
 den Beträge und später die Lenkung der Angelegenheiten von Bosnien-Herzego¬
 wina. Dementsprechend verursachte das gemeinsame Finanzministerium dem
 gemeinsamen Ministerrat nicht viel Arbeit; sie erschöpfte sich in der Erörterung
 des Ressortbudgets und der Besprechung einiger Angelegenheiten der okkupier¬
 ten Provinzen. (Diese hatten in den Jahren 1878-1879 ihre Konjunktur, da auf
 der Tagesordnung des damals häufig zusammentretenden gemeinsamen Mini¬
 sterrates fast ausschließlich Bosnien-Herzegowina stand.) Der gemeinsame Fi¬
 nanzminister Benjamin Källay hatte daher - obwohl er fast immer am Verhand¬
 lungstisch saß - in den sein Ressort unmittelbar betreffenden Angelegenheiten
 nicht viel mitzureden. Er äußerte sich hauptsächlich im Zusammenhang mit
 Verfahrensfragen, mit der Verwendung von gemeinsamen Geldern und in ver¬
 schiedenen finanztechnischen Angelegenheiten, und seine fachgemäßen Stellun¬
 gnahmen fanden in der Körperschaft zumeist Zustimmung. In der Außenpolitik
 meldete er sich -- obwohl er auch auf diesem Gebiet als anerkannter Experte galt,
 nur selten zu Wort,517 sein Beitrag zur Frage der Bezeichnung der gemeinsamen
 Armee fiel schwer ins Gewicht.518

    Das Ausgleichsgesetz enthielt die Verfügung, daß die Außenpolitik im Ein¬
vernehmen und mit Zustimmung beider Regierungen geschehen müsse.519 Ihr
Einvernehmen und ihre Zustimmung konnten naturgemäß in erster Linie die
beiden Regierungschefs erklären. Die Protokolle des gemeinsamen Ministerra¬
tes belegen, daß der österreichische Ministerpräsident Taaffe im höchsten Regie¬
rungsforum der Monarchie von diesem ihm gesetzlich zugesicherten Recht im
allgemeinen keinen Gebrauch machte. Zustimmung äußerte er nur selten, Ein¬
spruch aber erhob er niemals. Ebenso passiv verhielt er sich in den Fragen des
Militärwesens, bei der Erörterung der strategischen Eisenbahnen oder den
Budgetverhandlungen, und niemals eilte er seinen die spezifisch österreichischen
Interessen verteidigenden Ministerkollegen zur Hilfe. In seiner Passivität kam
sicherlich die Gleichgültigkeit der deutschösterreichischen Bevölkerung gegen¬
über der Außenpolitik zum Ausdruck, möglicherweise haben aber auch andere
persönliche oder politische Motive mitgespielt. In seiner Gedankenwelt blieb die
Monarchie auch nach 1867 ein einheitliches Ganzes, und der österreichische
Landesteil war nicht mehr als eine einfache Provinz. In dieser Statthalter-Posi¬
tion fühlte er sich nicht zuständig, seine Meinung über die Angelegenheiten der
Gesamtmonarchie zu äußern, und hielt es für unter seiner Würde, für die
Priorität von Teilinteressen zu kämpfen. Dies ist wohl der Grund für jene
Vehemenz, mit der er im gemeinsamen Ministerrat, aus seiner gewohnten
Gleichgültigkeit gebracht, gegen die den Anschein der Reichseinheit gefährden¬
den ungarischen Bestrebungen zur Änderung der Bezeichnung der gemeinsamen

517 Vgl. Anm. 119.
518 Vgl. Anm. 388.
519 Magyar Törvenytär 1836-1868 335.
|| || 182 Einleitung

Armee520 und zur Modifizierung der Korrespondenzsprache der gemeinsamen
Armee52' focht. Daß die österreichische Regierung die Gestaltung der Außenpo¬
litik doch mit einigem Interesse verfolgte, ging im gemeinsamen Ministerrat
interessanterweise aus den Äußerungen der Finanzminister hervor. Dunajewski
reklamierte im Herbst 1886 - seinem polnischen Namen und seiner Herkunft
treu - ein Auftreten gegen die russischen Machinationen in Bulgarien,522 und
Steinbach berührte 1891 das Grundproblem der außenpolitischen Strategie,
indem er es überflüssig nannte, sich in ein Wettrüsten mit Rußland einzulas¬
sen.523 Ebenfalls die Finanzminister brachten die österreichischen Vorbehalte
gegen die übertriebenen Budgetansprüche des gemeinsamen Kriegsministeriums
zum Ausdruck, und es zeugt von nicht geringem Mut, daß Dunajewski gelegent¬
lich erklärte, der Staat habe auch andere Zwecke, als bloß das Heer zu erhalten
und Krieg zu führen.524 Diese Auftritte waren auch nicht immer erfolglos. Die
Handelsminister, Pino und Bacquehem, die bei den Verhandlungen über die
strategischen Eisenbahnen den österreichischen'Standpunkt verteidigten, mu߬
ten dagegen stets Niederlagen verbuchen. Sie konnten sich nur damit trösten,
daß sie bei den Handelsverträgen der ungarischen Regierung nicht unterlegen
waren und es ihnen gelang, in jedem Fall wenigstens einen Kompromiß zu
erreichen. Der Landesverteidigungsminister Welsersheimb hatte - im Gegensatz
zu seinen zivilen Ministerkollegen - nicht mit der Zwangsvorstellung einer
doppelten Loyalität zu kämpfen. Er war, ähnlich Taaffe, ein eindeutiger Für¬
sprecher der Interessen der Gesamtmonarchie - im Falle des Landsturmgeset¬
zes, dessen Fürsprecher er war, mit vollem Erfolg, in dem der Korrespondenz¬
sprache der gemeinsamen Armee hingegen erfolglos. Auch dieser in der Gedan¬
kenwelt Radetzkys lebende Soldat mußte erfahren, daß die Zeit, als die Armee
von den sich aus der Multinationalität der Monarchie ergebenden Problemen
frei blieb, vergangen war.

   Die markanteste Persönlichkeit des gemeinsamen Ministerrates neben dem
gemeinsamen Außenminister war zweifellos der ungarische Ministerpräsident
Kalman Tisza. Er hatte keine derartigen Skrupel wie Taaffe, und in Angelegen¬
heiten der Gesamtmonarchie hielt er vorbehaltlos an den gesetzlich garantierten
Rechten der ungarischen Regierung fest. Ohne Umschweife erklärte er, mit der
Kooperationspolitik mit Rußland nicht einverstanden zu sein und die Lösung
in einem bewaffneten Zusammenstoß mit der zaristischen Großmacht zu erblik-
ken. Er konnte sich zwar damit nicht durchsetzen, seine ständigen Reklamatio¬
nen spielten aber eine Rolle dabei, daß es 1886 zu einer Korrektur dieser Politik
kam und der gemeinsame Außenminister nach Abschluß der kriegerischen Krise
der Jahre 1887-1888 seine eigenen Ansichten einer Revision unterzog. Im
ganzen Verhalten Kalman Tiszas war aber eine gewisse Ambivalenz zu spüren.

520 Vgl. Anm. 311.
521 Vgl. Anm. 402.
522 ygi Anm 122.

523 Vgl. Anm. 133.
524 GMR. v. 26. 9. 1887, RMRZ. 343.
|| || Einleitung                               183

  Während er ohne Unterlaß auf ein energischeres Auftreten der Monarchie
 gegenüber Rußland drängte, war ihm das wichtigste Instrument der „kollekti¬
 ven und gemeinsamen Verteidigung", die Armee, keine Herzenssache. Er wider¬
 setzte sich bis zuletzt der Schaffung des Landsturms, opponierte gegen den Bau

 der strategischen Eisenbahnen und wollte ständig das Jahresbudget des Ressorts
 für Kriegswesen kürzen; selbst dann noch war die Sparsamkeit sein Hauptge¬
 sichtspunkt, als ein bewaffneter Zusammenstoß drohte. Der Schlüssel für dieses
 Verhalten dürfte irgendwo in der Neuformulierung des Verhältnisses zwischen
 dem Reichs- und dem nationalen Interesse zu suchen sein. Kalman Tisza
 bekannte sich vermutlich nicht mehr zum Standpunkt von Ferenc Deäk, wo¬
 nach „das eine Ziel die stabile Beibehaltung der Monarchie ist, das wir keinem
 anderen Gesichtspunkt unterzuordnen wünschen".525 Das verrät auch sein einer
 besseren Sache werter Eifer, die staatsrechtlichen Begriffe, wie die Neuformulie¬
 rung der österreichisch-ungarischen Beziehung526 und die Bezeichnung der ge¬
 meinsamen Armee, zu klären.527 Die Nachfolger Kalman Tiszas haben leider
 seine während fünfzehn Jahren an der Spitze der Regierung erworbene Autori-
 tät und Einfluß nicht mitgeerbt. Szapäry und Wekerle kümmerten sich als
 frühere Finanzminister eher nur um die Fragen des Staatshaushaltes, Bänflfy
 hingegen lebte sich in einer völlig unfruchtbaren terminologischen Kritik aus.
Neben dem alles besser wissenden Kalman Tisza und den beiden Finanzexper¬
ten als Regierungschefs konnten die ungarischen Finanzminister im gemeinsa¬
men Ministerrat nicht die Rolle spielen wie ihre österreichische Kollegen: sie
waren zumeist nur stumme Teilnehmer der Beratungen. Die Handelsminister
Kemeny, Szechenyi und Lukäcs taten das gleiche wie ihre österreichischen
Mmisterkollegen: sie verteidigten die ungarischen Wirtschaftsinteressen und
erreichten in den umstrittenen Angelegenheiten wenigstens Kompromisse. In
der Angelegenheit der strategischen Eisenbahnen standen - der unterschiedli¬
chen Ressortverteilung entsprechend - auf ungarischer Seite die Verkehrsmini¬
ster in der Frontlinie der Auseinandersetzung und verteidigten den Standpunkt
der ungarischen Regierung mit wirksameren Argumenten als ihre österreichi¬
schen Kollegen - Gabor Baross legte gelegentlich einen regelrechten Gegenan¬
trag vor --, aber auch ihre wirksameren Argumente zeitigten keine günstigeren

Ergebnisse. Bei Fejerväry, dem ungarischen Landesverteidigungsminister, lag
die Ambivalenz sozusagen in seiner Persönlichkeit: seine militärische Vergan¬
genheit band ihn an den Hof, seine Position aber an die ungarische Regierung.

Den Widerspruch löste er in einem Soldaten würdiger Art und identifizierte sich
eindeutig mit dem Standpunkt der ungarischen Regierung; wenn es sich um die
ungarische Honved handelte, kannte er weder Pardon noch Hindernis.

   An den Beratungen des gemeinsamen Ministerrates nahm häufig auch der
Monarch teil und hatte dann selbstverständlich den Vorsitz. Seine Stellung

525 Deäk Ferenc beszedei 1861-1866 314.
526 Vgl.Anm.375.
527 Vgl. Anm. 384.

528 Vgl. Anm. 302 und 303.
|| || 184 Einleitung

innerhalb der Staatsstruktur nach 1867 war ziemlich kompliziert und wider¬
sprüchlich. Seine frühere absolute Herrscherbefugnis bewahrte er zum Teil
dadurch, daß er die gemeinsamen Minister nach seinem persönlichen Gutdün¬
ken ernannte und Führung, Kommando und innere Organisation sämtlicher
Streitkräfte als Angelegenheiten der Krone galten, zugleich mußte er die auf
verfassungsmäßiger Grundlage beruhende Souveränität der Regierungen beider
Staaten zur Kenntnis nehmen. Im Spiegel der Protokolle des gemeinsamen
Ministerrates scheint sich der Herrscher der Schranken seiner Position bewußt
gewesen zu sein und in dieser verfassungsmäßigen Körperschaft keine absoluten
Herrscherallüren ausgespielt zu haben. Es kam allerdings vor, daß er aus seiner
Rolle fiel: 1889 kanzelte er den ungarischen Ministerpräsidenten wegen der
angeblichen Presseindiskretion wie einen Höfling ab,529 und 1891 wies er den
österreichischen Handelsminister einfach an, für die Streckenfestlegung der
strategisch wichtigen Eisenbahnlinie Stanislau-Woronienka zu sorgen.530 Sol¬
ches blieb aber die Ausnahme, Teilnahme und Vorsitz des Monarchen im
gemeinsamen Ministerrat beschränkte sich zumeist darauf, das bereits erörterte
und angenommene gemeinsame Budget in einem formellen Akt zur Kenntnis
zu nehmen und die Regierungen aufzufordern, dieses vor den Delegationen mit
vollem Nachdruck zu vertreten. Freilich kam es auch vor, daß der Herrscher
die bereits ausgehandelte Vereinbarung nicht bloß zur Kenntnis nahm, sondern
sich auch selbst in die Debatte einschaltete. Bei solchen Gelegenheiten vermittel¬
te er ebenso wie der regelmäßig den Vorsitz führende gemeinsame Außenmini¬
ster auch selbst, stellte sich auf die Seite einer Partei oder äußerte geradewegs
seine eigene abweichende Meinung, letzteres besonders bei Fragen der Streit¬
kräfte, die ihm vor allem am Herzen lagen. So bestand er auf der Schaffung des
Landsturms, auf dem baldigen Bau der strategischen Eisenbahnen und oft auch
- gegen seinen eigenen Außenminister - auf der ständigen Erhöhung des Mili¬
tärbudgets. Der gemeinsame Ministerrat respektierte die Meinung des Monar¬
chen nicht immer. Im Jahre 1891 kam es zu dem beispiellosen Fall, daß über
einen ausländischen Kredit für die Aufrüstung die ganze Körperschaft gegen ihn
stimmte.531 Der Herrscher nahm dieses Ergebnis ohne weiteres zur Kenntnis.
Wie er solche Niederlagen aufnahm und verarbeitete, ist eher schon eine psycho¬
logische als eine amtsgeschichtliche Frage. Aus der Sicht der letzteren ist es
beachtenswert, was er im ungarischen Ministerrat erklärte, daß nämlich die
Minister eine selbständige Meinung haben könnten, nach der Entscheidung
aber den Regierungsstandpunkt vertreten müßten.532 Es scheint, daß er diese
Regel auch für sich als verbindlich betrachtete.

 529 Vgl. Anm. 391.
 530 Vgl. Anm. 311.
 531 Vgl. Anm. 267.
 532 8/MT. Protokoll der am 24. Februar 1892 in Budapest abgehaltenen Ministerkonferenz unter

      dem Ah. Vorsitze Sr. k. u. k. apost. Majestät, OL., K. 27, Karton 51.
|| || Einleitung  185

                                         VIII. Die Protokolle

 Die technischen Fragen des gemeinsamen Ministerrates, also die Absendung der
 Einladungen, die Protokollführung und -beglaubigung sowie die Einholung der
 Kenntnisnahme des Monarchen erledigte die Präsidialsektion des gemeinsamen
Außenministeriums. Diese war im Dezember 1867 ursprünglich als „Reichs¬
kanzlei entstanden, galt aber auch damals weder als administrative noch als
exekutive Behörde, sondern nur als geschäftsführende Kanzlei des Reichskanz¬
lers und erhielt kurz darauf die Bezeichnung Präsidialsektion. Ihr Aufgabenbe¬
reich wurde durch ein Statut von Ende 1867 als Erledigung der mit der Tätigkeit
des gemeinsamen Ministerrates verbundenen technischen Aufgaben be¬
stimmt.533 Obwohl es im Statut nicht erwähnt wurde, kam es gelegentlich vor,
daß diese Funktion die Militärkanzlei des Monarchen versah. In solchen Fällen
kamen die mit dem gemeinsamen Ministerrat verbundenen Dokumente (Einla¬
dungen, Protokolle) ins Archiv der Militärkanzlei, und die Präsidialsektion
registrierte den betreffenden offiziellen Akt.534 Es kam aber auch vor, daß von
einem unter Mitwirkung der Militärkanzlei einberufenen gemeinsamen Mini¬
sterrat die Präsidialsektion überhaupt keine Kenntnis erlangte.535

   Miklös Komjäthy stellte zu den Formfragen der Protokolle des gemeinsamen
Ministerrates fest, daß diese Protokolle hinsichtlich ihrer Form in die Reihe der
Protokolle des österreichischen Reichsministerrates gehören. Die Protokolle
wurden mit zwei Aktennummern versehen, von denen die erste die Nummer der
Konferenz im jeweiligen Kalenderjahr und die zweite die laufende Nummer des
gemeinsamen Ministerrates war. Das Rubrum der Protokolle bestand aus zwei
Blättern, auf dem ersten befanden sich die Unterschriften der Teilnehmer, auf
dem zweiten waren die Teilnehmer und der Gegenstand der Beratung angeführt.
Hierauf folgte der Text des Protokolls selbst, und auf der letzten Seite befand
sich die Unterschrift des Protokollführers, das Vidi des gemeinsamen Außenmi¬
nisters und die Kenntnisnahme des Herrschers.536

   Die Protokolle aus der Zeit von 1883 bis 1895 weisen ebenfalls diese Form
auf. Sie schließen sich mit ihrer laufenden Nummer den Protokollen der vorher¬
gehenden Epoche an und tragen bis zum 26. September 1884 die Signatur RMP
(Reichsministerratsprotokolle) und vom 7. April 1885 an RMRZ (Reichsmini¬
sterratszahl). Auf dem einen Rubrumblatt ist die mit Datum versehene Unter¬
schrift der Anwesenden zu finden. Aus der Datierung ist ersichtlich, daß die
Beglaubigung in der Zeitspanne von einer Woche bis zu einem Monat nach der
Beratung erfolgte. Im Zusammenhang mit der Beglaubigung ist die amtshistori-

      Punktationen zum organischen Statute der Präsidialsektion des mit Ungarn gemeinschaftlichen
      Ministerium für auswärtige Angelegenheiten (Reichskanzlei). Genehmigt mit Ah. Entschlie¬
     ßung v. 23. 12. 1867 und 19. 2. 1868, HHStA., PA. I, Karton 558.
534 Siehe die Aufzeichnungen im Zusammenhang mit den Ministenäten vom 11. bzw 25 November
     1883, HHStA., PA. XL, Karton 293.

535 Gern. Beratung v. 20.11.1884, KA„ MKSM. 20-1/12-2 de 1884, bzw. Konferenz v. 30.10 1887
     ebd. 20-1/9-2 ex 1887.

536 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates 88-89.
|| || 186 Einleitung

sehe Kleinigkeit zu erwähnen, daß der ungarische Ministerpräsident Kälmän
Tisza das Protokoll stets mit der Formel „lättam Tisza" (gesehen, Tisza) in
ungarischer Sprache beglaubigte. Auf dem zweiten Rubrumblatt sind der Zeit¬
punkt und der Vorsitzende der Beratung angeführt, dem folgt die Liste der
Teilnehmer und dann die Bezeichnung des Beratungsgegenstandes. Auf der
letzten Seite ist die Unterschrift des Protokollführers und des gemeinsamen
Außenministers sowie die Kenntnisnahme des Monarchen zu finden, allerdings
fehlen diese in einigen Fällen, wie etwa auf dem Protokoll 325 RMRZ vom 27.
September 1885. Die in der Militärkanzlei angefertigten Protokolle des gemein¬
samen Ministerrats weichen in einigen Formalbezügen von denen aus der
Präsidialsektion ab. Die Protokolle erhielten nicht in jedem Fall eine laufende
Nummer und Zeitpunkt, Vorsitzende und Tagesordnung wurden in einem
einleitenden Titel angeführt. Auf der letzten Seite ist der Zeitpunkt der Anferti¬
gung des Protokolls vermerkt, aber ohne Kenntnisnahme des Monarchen. Den
in der Präsidialsektion angefertigten Protokollen sind - mit wenigen Ausnah¬
men - keine Beilagen beigefügt, bei den von der Militärkanzlei angefertigten
kamen fast in jedem Fall Promemorien und Vorlagen vor. Auf die Beilagen wird
auf den Rubrumseiten des Protokolls verwiesen, sie selbst sind jedoch nicht
immer vorhanden.

   Die Protokolle des gemeinsamen Ministerrats zitieren die Diskussionsbeiträ¬
ge Wort für Wort. In dieser Beziehung unterscheiden sie sich von den Protokol¬
len des ungarischen Ministerrats, die nur die Vorlage und den Beschluß wieder¬
geben, nicht aber die Diskussionsbeiträge (abgesehen von solchen Fällen, wo
der Monarch den Vorsitz führte; dann wurde nach der Praxis des gemeinsamen
Ministerrats vorgegangen537). In den Protokollen des gemeinsamen Ministerrats
fehlt jede Spur von stenographischen Aufzeichnungen, die Detailliertheit und
Gründlichkeit der Protokolle läßt aber darauf schließen, daß die Reden steno¬
graphisch aufgezeichnet wurden. Dennoch war die wörtliche Wiedergabe nicht
vollkommen, da sehr oft summarische Sätze zu finden sind, irgendein Minister
habe seine Meinung in einem längeren Vortrag expliziert538 oder die Teilnehmer
hätten längere Zeit debattiert.539 Nach den stenographischen Aufzeichnungen
wurden die Protokollkonzepte angefertigt, die bereits im Archiv aufbewahrt
wurden. Das endgültige, zur Beglaubigung und zur Kenntnisnahme des Monar¬
chen bestimmte Protokollexemplar war eine Reinschrift, die ein Schreiber vom
Konzept angefertigt hatte. Für gewöhnlich wurde eine Reinschrift verfaßt, und
es galt als Ausnahme, wenn ein Protokoll oder Protokollteil, wie einige Seiten
des Protokolles Nr. 338 RMRZ vom 30. Januar 1887, noch ein zweites Mal
abgeschrieben wurden. Ebenso war es eine Ausnahme, daß von einer Beratung,
wie von dem am 28. Juni 1896 in der Militärkanzlei abgehaltenen gemeinsamen
Ministerrat, kein Protokoll angefertigt wurde,540 oder daß vom Protokoll 326

537 Vgl. Anm. 532.
538 GMR. v. 22. 9. 1885, RMRZ. 322.
539 Ebd.
540 K.A., MKSM., Separatfaszikeln, Fase. 90, Nr. 13.
|| || Einleitung                                                                   187

 RMRZ sowohl das Konzept als auch die Reinschrift verlorengingen. Letztere
 sind nur durch einen Hinweiszettel mit dem halben Satz „wird umgearbeitet"
 bezeugt.

    Die Teilnehmer an der Beratung bestätigten - wie bereits erwähnt - mit ihrer
 Unterschrift auf dem Rubrum, daß der Protokollinhalt mit dem übereinstimm¬
 te, was sie in der Konferenz gesagt hatten. Sofern sie es für nicht richtig hielten,
 führten sie Änderungen durch. Die Änderungen waren in der Mehrzahl Korrek¬
 turen: Die für ungenau erachteten Wörter oder Sätze wurden durchgestrichen
 und die Richtigstellung in den Text oder auf den Seitenrand geschrieben, es
 kamen aber auch längere Einfügungen vor.541 Die Korrekturen oder Einfügun¬
 gen änderten manchmal den ursprünglichen Protokolltext völlig und verliehen
 diesem einen ganz anderen Sinn. Obzwar in der Archivkunde der verbesserte
 Text als authentisch gilt, kann die Forschung auf einen Vergleich des ursprüngli¬
 chen Textes mit dem verbesserten nicht verzichten. Es ist nicht auszuschließen,
 daß der Originaltext des Protokollführers und nicht der geänderte Text die in
 der Konferenz abgegebenen Äußerungen richtig wiedergab. In einer früheren
 Studie meint der Autor bewiesen zu haben, daß die „Richtigstellung" Andrässys
im Protokoll des gemeinsamen Ministerrates vom 18. Juli 1870 falsch und der
Originaltext des Protokolls authentisch ist.542 Daß die sehr viel korrigierenden
Teilnehmer sich nicht ganz sicher waren, das verrät eine einmalige Randbemer¬
kung von Dunajewski und Pino, wonach keiner der beiden genau wiederholen
konnte, was er in der Beratung gesagt hatte.543

    Was im gemeinsamen Ministerrat wirklich geäußert und welche Entschei¬
dung getroffen wurde, ist freilich nicht erst ein Problem des Forschers, sondern
war schon eins der Teilnehmer selbst. Der ungarische Ministerpräsident Kal¬
man Tisza wandte sich am 7. Juni 1876 brieflich an den gemeinsamen Außenmi¬
nister Andrässy und beanstandete, daß das gemeinsame Kriegsministerium die
Summe für die Renovierung der Kavalleriekaserne in Nagyenyed nicht überwei¬
se, wo doch seines Wissens dieser Betrag im gutgeheißenen Haushaltsplan des
Ressorts für gemeinsames Kriegswesen enthalten war, und er erst jetzt erfahre,
daß laut dem gemeinsamen Kriegsministerium dieser Betrag gestrichen worden
sei. Gleichzeitig verlieh er seinem Wunsch Ausdruck, daß die ungarische Regie¬
rung über jene Beschlüsse des gemeinsamen Ministerrates, die sie betreffen
einen Protokollauszug erhalte.544

   Dieser Reklamation verdankt der Forscher, daß er in die Zirkulierungspraxis
der Protokolle des gemeinsamen Ministerrates bzw. in deren Neuregelung Ein¬
sicht nehmen konnte. Für die Angelegenheit interessierte sich nämlich auch der
Monarch selbst, und der Sektionschef im Außenministerium Orczy erteilte dem
ihn aufsuchenden Ministerialrat Braun eingehende Auskunft. Demnach wurde
das Protokoll vor der Kenntnisnahme des Herrschers den Teilnehmern einmal

` Vgl- z- B- Einfügung Dunajewskis im Protokoll v. 30. 6. 1887, RMRZ. 338.
- - Diöszegi, Österreich-Ungarn und der französisch-preußische Krieg 52-54.
543 GMR. v. 7.-8. 4. 1885, RMRZ. 321, Anmerkung b.
544 Tisza an Andrässy v. 7. 6. 1876, HHStA., PA. I, Karton 558.
|| ||  188 Einleitung

zugesandt, sie erhielten aber im allgemeinen keine Kenntnis über die von ihren
Kollegen durchgeführten Änderungen. Orczy hielt den Wunsch des ungarischen
Ministerpräsidenten auf Zusendung von Protokollauszügen für undurchführ¬
bar, wohl aber für möglich, daß die Regierungen eine komplette Abschrift des
Protokolls erhielten oder die Protokolle - damit die Regierungen von den
durchgeführten Änderungen Kenntnis erhielten - ein zweites Mal zirkulierten.
Braun fand dies von der bisherigen Praxis so sehr abweichend, daß er eine
Genehmigung des Herrschers für erforderlich hielt.545 Dementsprechend erhielt
Orczy die Weisung, eine diesbezügliche Vorlage anzufertigen.546 In dieser wie¬
derholte Orczy im Namen Andrässys seinen Standpunkt über eine zweite Zirku-
lierung, fügte jedoch hinzu, daß die nachträglichen Bemerkungen nicht ins
Protokoll zu schreiben, sondern in einer gesonderten Notiz mitzuteilen seien,
aufgrund deren der gemeinsame Außenminister im Text des Protokolles Ände¬
rungen durchführen konnte. Statt der Protokollauszüge bevorzugte Orczy aber¬
mals eine Zusendung von Abschriften.547 Der Monarch stimmte dem zu, und
Andrässy verständigte beide Ministerpräsidenten von der neuen Vorgangs¬
weise.548

   Diese minutiöse Regelung ging - wie auch Miklös Komjäthy feststellte - nicht
in die Praxis über.549 Es gibt keinerlei Hinweis dafür, daß die Teilnehmer das
Protokoll zum zweiten Mal erhalten hätten, und auch kein Beispiel dafür, daß
die Protokollabschriften den Regierungen übermittelt worden wären. Wenn ein
Teilnehmer an den früheren Protokollen interessiert war, dann verlangte und
erhielt er das Original, wie z. B. am 1. Mai 1884 der ungarische Landesverteidi¬
gungsminister das Protokoll der Beratung vom 25. September 1882.550 Aber
auch ein derartiges Ansuchen kam sehr selten vor. Die Protokolle ruhten
zumeist nach ihrer Anfertigung unangetastet im Archiv, und ihr Nachleben
begann erst, als sie zur Quelle der Geschichtsforschung wurden.'

     Orczy an Andrässy v. 16. 12. 1876, HHSxA., PA. I, Karton 558.
546 Schwegel an Orczy v. 27. 12. 1876, HHStA., PA. I, Karton 558.
547 Au. Vortrag in betreff der Zirkulation der Ministerratsprotokolle v. 9. 1. 1877, HHStA., PA.

     I, Karton 558.
548 Andrässy an Tisza bzw. Auersperg v. 17. 1. 1877, HHStA., PA. I, Karton 558.
549 Komjäthy, Die Entstehung des gemeinsamen Ministerrates 93.
550 HHStA., PA. I, Karton 561.
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